Zum Inhalt der Seite

Elias

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Samstagnacht, irgendwo im Nirgendwo

Samstagnacht, irgendwo im Nirgendwo:
 

Eigentlich wäre es ja höflich, mich erst mal vorzustellen, doch dazu habe ich im Moment nicht so wirklich den Nerv.
 

Ich stehe nämlich gerade irgendwo in der norddeutschen Pampa, ohne jegliche Orientierung und leider auch ohne Klamotten, meine, irgendwo einen Wolf heulen zu hören, und mache mir fast ins nicht vorhandene Hemd. Kurz will ich mich selbst erwürgen. Anschließend dieses Arschloch von Elias. Und zu guter Letzt bekomme ich wieder Panik.
 

Es ist Sommer, doch so ganz ohne Kleidung mitten auf einem Feldweg kann es einem schon ganz schön kühl werden. Außerdem beißen einen die Mücken einfach überall. Ein Mückenstick am Sack? Super, einfach super! Ich fühle mich wie das allerletzte Hörnchen. Ich korrigiere: Ich bin das allerletzte Hörnchen! Selbst schuld! Aber sowas von! Ist ja nicht so gewesen, als hätte es keine Anzeichen gegeben, dass das nur bös enden konnte! Leider war mein Hirn zwischenzeitlich ziemlich außer Funktion.
 

Das habe ich nun davon.
 

Der Kies unter meinen Füßen schmerzt an meinen nur weiche Schuhe gewohnten Sohlen. Ich laufe, aber ich habe keine Ahnung wohin. Wenn ich Glück habe, treffe ich irgendwann im Morgengrauen irgendwelche Dackelbesitzer, die nackten Typen, die aus dem Feld kommen, wohlgesonnen sind und mir diskret weiterhelfen. Wenn ich Pech habe, lande ich ihm Knast, in der Klapse oder verhungere schlichtweg. Okay, unwahrscheinlich inmitten eines reifen Maisfeldes. Gott sei Dank sind meine Beißerchen noch gut in Schuss.
 

Scheiße!
 

Wie konnte es noch so weit kommen!
 

Vor knapp einer Woche war die Welt noch in Ordnung. Das war, bevor ich Elias getroffen habe. Diese linke und rechte Hand des Satans! Und ich habe sie beide ergriffen. Warum nur habe ich mich so zum Idioten machen lassen! Vermutlich weil Schwanz und Herz das Hirn zuweilen überstimmen. Sie sind ja auch in der Mehrzahl. Unfair! Aber was hilft’s.
 

Es wird nicht besser, wenn ich mich darüber aufrege. Wenn es einen Weg zurück geben soll, dann hilft es gewiss nicht stehenzubleiben. Immer schön weiter. Vielleicht komme ich sogar zu einem Dorf, wo irgendwer seine Wäsche über Nacht zum Trocknen draußen gelassen hat. Omas Spitzenschlüpfer wäre wir aktuell sogar ganz recht. Egal was! Alles wäre eine Abmilderung der totalen Demütigung.
 

Meine Eltern fänden das vermutlich sogar witzig. Da sind sie so tolerant, dass einem davon nur schlecht werden kann. Zumindest mir. Ich will gerade keine Toleranz für nackte Nieten, sondern schleunigst was anzuziehen und dann nichts wie raus aus dieser Misere! Das ganze Debakel schnellstmöglich vergessen.
 

Und vor allen Dingen: Elias!
 

Aber ich greife vor. Wenden wir doch den Blick zurück auf den vergangenen Montag, wo das Unheil seinen Ursprung hatte.

Montag, sieben Uhr

Montag, sieben Uhr
 

Noch ein bisschen schlaftrunken lasse ich den Rasierer über mein Kinn gleiten. Das kann ich notfalls auch im Schlaf, außerdem ist der overprotected. Da muss man sich schon anstrengen, um sich damit zu massakrieren. Und Anstrengung ist zu dieser Urzeit nicht mein Ding, außerdem bin ich weder tollpatschig noch suizidal veranlagt. Ich mache nur, was sein muss. Ein „gepflegtes“ Aussehen ist Muss bei meiner Arbeit, da kann man nicht antanzen wie Bob Marley.
 

Mit dem habe ich sowieso wenig Ähnlichkeiten. Zunächst bin ich dafür viel zu hellhäutig, mit Dreadlocks kann ich auch nicht punkten. Das wäre auch sehr, sehr unangebracht, grinse ich in mich hinein.
 

Denn ich bin ein Banker! Nun gut, ein Lehrling zum Bankkaufmann im ersten Lehrjahr, doch damit der absolute Alptraum meiner Eltern. Oh, ich liebe meine Eltern. Aber zwanzig Jahre lang ihre linke Alternativ-Masche, das kann einen schon in die Arme einer renommierten Privatbank direkt an der Binnenalter in Hamburg führen. Ich kleiner Revoluzzer, ich. So haben sich das meine Eltern zwar nicht gedacht, aber kapiert haben sie es dennoch und zähneknirschend für ‚mutig‘ befunden. Wahrscheinlich denken sie, ich würde schon wieder zu Besinnung kommen, und dann hätte ich den Klassenfeind sauber ausspioniert. Meine Eltern sind Kommunisten. Glauben sie zumindest. West-Kommunisten. Ja, so etwas gibt es, auch wenn sie von den realen Gegebenheiten vermutlich nur die Vorführ-Fassung kennen. Die deutsche Wiedervereinigung in dieser Form: Alptraum! Sie haben geschätzt zehntausend Bücher über den Kommunismus gelesen, waren überall zu Besuch, aber haben ihr Leben lieber dem Vorantreiben der Revolution in der alten BRD gewidmet. Nun ja.
 

Dementsprechend haben sie mich Fidel genannt. Nein, nicht weil ich so mopsfidel wäre, sondern nach Fidel Castro, der selbstredend kein Diktator ist in ihren Augen. Mein pubertärer Bruder heißt Che. Noch Fragen?
 

Was haben die mich in der Schule verarscht wegen dieses Namens! Fidel Castro kennt kein Grundschüler, aber die Fiedel, die kennt jeder.
 

Nichtdestotrotz sehe ich nicht aus wie ein versiffter Guerilla-Kämpfer, stattdessen schmiere ich mir jetzt Gel in das braune, leicht lockige Haar. Prima. Rasiert, gegelt, geschäftsmäßiges Lächeln, was will man mehr? Meine Augen sind hellgrün, meine Figur manierlich für jemanden, der nicht viel Zeit für Sport hat. Im Anzug komme ich gut rüber.
 

Ich frühstücke gewissenhaft meinen Bio-Joghurt mit Müsli, dann putze ich meine Zähne und ziehe mich an.
 

Another day, another dollar!
 

Komme, was da wolle, ich bin gewappnet.

Montag, zehn Uhr

Montag, zehn Uhr
 

Mein Chef, Herr Breker, hat mich hereingerufen. Ich bin aufgeregt. Ich habe alles richtig gemacht! War immer pünktlich, fleißig, habe alles drei Mal durchgerechnet, war charmant zu den Kunden, denen mein jugendlicher Charme runtergeht wie Öl.
 

Er ist ziemlich wohlbeleibt, hat dichte, graue Augenbrauen und sieht irgendwie gutmütig aus, obwohl er das nicht ist. Er hat den Laden hier gut im Griff. Er dreht sich in seinem opulenten schwarzen Leder-Bürostuhl zu mir.
 

„Herr Braune!“, grüßt er mich und weist auf den Besucherstuhl. Ich setze mich artig hin. Was kommt nun? „Ich hätte da was für Sie!“, meint er und lächelt mich strahlend an.
 

„Oh, schön!“, behaupte ich und nicke wild, obwohl ich keinen Plan habe, was er von mir wollen mag.
 

Er räuspert sich und drückt die Fingerspitzen vor seiner Wampe jovial gegeneinander.
 

„Wir sind ja eine Privatbank!“, eröffnet er das Gespräch.
 

„Sicher!“, pflichte ich ihm bei.
 

„Das heißt, es gibt einen Eigentümer“, führt er weiter aus.
 

„Ich bin ihm begegnet. Herr Wennström war sehr entgegenkommend!“, behaupte ich, obwohl Herr Wennström nur einen Schemen in meinem Hirn hinterlassen hat. Einer der üblichen Endfünfziger, der mich zwar verbindlich angelächelt hat, dem ich aber im Grunde als Azubi scheißegal war. Bis der mich ernsthaft zur Kenntnis nimmt, muss ich was geleistet haben. Das habe ich vor.
 

„Es geht um den Firmenerben“, verkündet mir Breker und wippt in seinem Stuhl.
 

Ich halte die Klappe und nicke eifrig, wie es von mir erwartet wird.
 

„Herr Wennström ist der Meinung, dass es an der Zeit ist, dass er sich hier einarbeitet. Er wird ein Praktikum bei uns absolvieren“, erklärt mir Breker. „Sie sind vom Alter her am nahesten an ihm dran. Er ist einundzwanzig. Ich habe mit Herrn Wennström gesprochen, und er hielt es für das Beste, wenn ein Altersgleicher ihn betreut, für ihn da ist, ihm beisteht. Was sagen Sie?“
 

„Ich freue mich!“, schleime ich gedankenlos. Hätte ich mal lieber nicht. Habe ich aber. „Das ist auch für mich eine Bereicherung!“, setze ich noch einen drauf. „Was soll ich denn genau tun?“, frage ich.
 

„Hier ein wenig ein Auge auf ihn haben. Ihn durch die Abteilungen führen. Die Abteilungsleiter stehen bereit. Ihm die Arbeitsabläufe erklären. Und ihn nach Feierabend ein bisschen umsorgen?“
 

„Sicher!“, lobhudele ich. Dann kann ich mich morgen eben nicht mit Sophia treffen. Sie wird’s verkraften.
 

„Wann kommt er denn an?“, will ich wissen.
 

„Morgen früh geht’s los. Sie sind vom regulären Dienst befreit. Viel Glück! Er soll … äh … etwas spezieller sein“, zwinkert Breker mir zu.
 

„Kein Problem!“, jubele ich. „Das kriege ich schon hin! Wie heißt er überhaupt?“
 

„Elias“, antwortet Breker gedehnt.

Montag, zwanzig Uhr

Montag, zwanzig Uhr
 

„Hallo, Schatz!“, begrüßt mich Sophia und drückt mir ein Küsschen auf die Lippen.
 

Ich schmatze pflichtschuldig zurück und setze mich ihr gegenüber hin. Sophia und ich sind seit einem knappen Monat zusammen. Sie ist meine erste Freundin. Ich bin da ein Spätzünder. Wenn sie das nicht so direkt angepackt hätte, wäre ich wohl immer noch solo.
 

Sie ist schon cool, studiert Jura und ist richtig gut dabei. Sie weiß, was sie will, dazu gehöre wohl auch ich. Sie ist eine zierliche Blondine, alle beneiden mich um sie. Hübsch und tough in einem. Absolute Idealbesetzung. Finden alle. Nun ja, meine Eltern vielleicht nicht. Mein Freund Hannes hat es auf dem Punkt gebracht: Wir passen zusammen. Wenn der das sagt, wird es schon stimmen.
 

Sie trägt ein Kleidchen, auf dem kleine blaue Blumen abgebildet sind. Das ist vermutlich sehr süß. Der Kellner fällt ihr beinahe in den Ausschnitt, als er uns die Karten reicht. Ich sehe ihn strafend an, und er verdrückt sich mit schuldbewusster Miene.
 

Wir palavern ein wenig über das Essen, bis wir uns entschieden haben. Ich will eine Pizza, Sophia nimmt Nudeln Arrabiata. Ich denke, sie achtet auf ihre Linie. Mir ist das zwar egal, ob sie so ist oder ein paar Gramm mehr auf den Hüften hat, doch ihr wohl nicht.
 

„Mit morgen wird das nichts“, verkünde ich schließlich, als unsere Getränke kommen.
 

Ihre Lippen Formen ein enttäuschten ‚Oh‘, aber sie spricht es nicht laut aus. „Was ist denn?“, fragt sie stattdessen.
 

„Der Sohn des Big Boss‘ macht bei uns ein Praktikum, und ich soll ihn betreuen“, erkläre ich ihr.
 

Sie runzelt die Stirn, dann lächelt sie wieder. „Hey, Glückwunsch! Die müssen viel von dir halten, wenn sie dir so etwas anvertrauen! Nicht, dass ich Zweifel daran gehabt hätte, doch schön, dass das dein Chef das genauso sieht!“
 

„Danke!“, freue ich mich. Für solche Sachen hat Sophia Verständnis. Sie würde niemals rumschmollen, weil ich beruflich verpflichtet bin und ihr daher absagen muss. Andersherum erwartet sie das natürlich auch von mir. Damit habe ich kein Problem. Außerdem bin ich im Geheimen froh darüber, noch einen Tag Aufschub zu bekommen. Sie hat mich nämlich zum DVD-Gucken zu sich nach Hause eingeladen. Ihre Mitbewohnerin ist verreist. Man kann ahnen, worauf das hinauslaufen soll. Wenn ich daran denke, wird mir mulmig zumute. Was sie nämlich nicht weiß: Ich habe nämlich noch nie. Höchstens in Gedanken und da fand ich die Sache auch irgendwie nicht so hundertprozentig überzeugend. Ich habe ja meine Eltern und ihren übertriebenen Freiheitsdrang in Verdacht, andererseits sind die auch nicht an allem Schuld. Vielleicht bin ich schlichtweg eine lahme Socke, was das angeht. Ich werde es wohl herausfinden – müssen. Denn Sophia ist gewiss nicht von der Sorte, für die gilt: Sex erst in der Ehe. Vor mir hatte sie auch schon Beziehungen. Oh weh, das könnte peinlich werden für mich. Egal, Augen zu und durch, soll ja ganz toll sein, wird schon werden, toi, toi, toi.
 

Sie lächelt mich strahlend an. „Wie sieht es mit Mittwoch aus?“, zeigt sie ihren Willen, mich nicht entkommen zu lassen.
 

„Ich versuche es!“, verspreche ich ihr. In mehr als einer Hinsicht …

Dienstag, neun Uhr

Dienstag, neun Uhr
 

Mann, bin ich aufgeregt! Sophia hat natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen: Das hier ist ein ganz schöner Vertrauensbeweis. Und eine Herausforderung. Das darf ich echt nicht vermurksen. Elias Wennström ist ja kein normaler Praktikant, sondern der Sohn des Eigentümers. Hoffentlich ist er nicht so ein verwöhntes Söhnchen, das mich behandelt wie seinen Lakaien! Selbst wenn, dann heißt es gute Miene zum bösen Spiel machen. Das hier ist ja kein Privatvergnügen, sondern etwas Berufliches. Ich muss zusehen, mit dem Kerl klarzukommen, damit er nicht zu Papi rennt und mich zur Sau machen lässt. Ach Quatsch, was denke ich da! Welchen Anlass sollte ich ihm schon bieten?
 

Nach der Essensverabredung mit Sophia habe ich gestern Abend noch fast bis Mitternacht daran gesessen, die Sache durchzuplanen, damit er einen guten Einblick in sein Familienunternehmen bekommen kann. Für abends habe ich Karten für „Den König der Löwen“ geordert. Normalerweise gehen wir mit unseren Geschäftskunden eher in die Oper oder ins Theater. Er ist hingegen nicht halb so alt wie die meisten von denen, da erschien mir ein Musical wie ein guter Kompromiss. Falls er Musicals hasst, muss ich noch umdisponieren, mal sehen. Das wäre schade, denn ich würde verdammt gern den „König der Löwen“ sehen und das auch noch auf Firmenkosten.
 

Ich linse auf die Uhr. Es ist zehn nach neun. Um halb zehn soll ich ihn bei Breker in Empfang nehmen. Ich gehe noch mal meinen Plan durch. Die Geräusche um mich herum künden von emsiger Betriebsamkeit. Bei uns sieht es nicht aus wie in einer normalen Sparkasse, einen Schalter gibt es nicht. Wir verwalten größtenteils Geschäftskonten und sehr potente Privatvermögen. Wer zu uns kommt, hat einen Termin. Es gibt mehrere opulent-hanseatisch ausgestattete Konferenzzimmer sowie hinter den Kulissen die Büros, die wir uns immer zu Zweit teilen. Mir gegenüber steht Claudias Schreibtisch. Sie telefoniert gerade. Claudia ist Mitte vierzig, würde ich schätzen, eine perfekt gestylte hagere Brünette, die ein ziemliches Genie ist, wenn es um die Aktienkurse geht. Ich kann nicht sagen, ob sie nett ist oder nicht, zu mir ist sie lediglich korrekt und professionell umgänglich. Ich glaube, ich bin ihr scheißegal, nur Teil ihres Jobs eben. Nehme ich ihr nicht übel, ich bin ja auch schließlich nicht zum Spaß hier, sondern um zu lernen. Und lehren kann sie wirklich gut, keine Beschwerden meinerseits.
 

Ich stehe auf, trete zum Waschbecken in der Ecke, kontrolliere mein Aussehen. Meine Frisur sitzt perfekt, es hat sich über Nacht kein Wahnsinnspickel auf meiner Nase gebildet, mein Anzug hat keine Knitterfalten, mein Schlips passt farblich und – mal diskret schnuppern – ich rieche sauber und nach einem teuren Männerparfüm, das ich mir geleistet habe. Ich bin der wandelnde beste erste Eindruck.
 

Claudia legt auf und huscht aus dem Zimmer. Ich strecke mich kurz noch einmal wohlig, um mich anschließend in Position zu bringen. Während ich meine Muskeln straffe, um eine aufrechte Haltung einzunehmen, klappert die Tür erneut.
 

Ich rechne mit nichts Argem, vielleicht war Claudia nur kurz auf dem Klo, das hier natürlich nicht Klo, sondern „Waschraum“, bestenfalls „Toilette“ heißt. Letzteres ist schon grenzwertig. Man geht hier nicht kacken, sondern man geht ‚sich frisch machen‘.
 

Es ist jedoch nicht Claudias Stimme, die an mein Ohr dringt, oder die eines anderen meiner Kollegen.
 

Es ist eine mir fremde Männerstimme und sie sagt: „Hey! Geiler Arsch!“

Dienstag, nichtmal halb zehn

Ich fahre herum, wie von der Tarantel gestochen. Mal abgesehen davon, dass ich es absolut nicht gewohnt bin, so begrüßt zu werden, ist das hier obendrein noch der letzte Ort, an dem ich mit so einer vulgären Frechheit gerechnet hätte! Ich bin nicht mal wütend, ich bin total geschockt und glaube, mich verhört zu haben. Unsere Kunden sind zwar zuweilen etwas spleenig, darüber hat man allerdings hinwegzusehen. Die tauchen jedoch nicht in unseren Büros auf, da haben selbst die nichts zu suchen!
 

Ich bin mir auch verdammt sicher, dass ich mich an einen Kunden wie den da, der mich gerade dreist grinsend mustert, erinnern würde.
 

Meine Haltung ist dahin, ich glotze mit offenem Mund wie ein Atheist, durch dessen Kamin gerade das Christkind geflutscht gekommen ist. Nicht dass er mit dem Christkind irgendwelche Ähnlichkeiten hätte, lediglich der Effekt ist derselbe. So etwas habe ich echt noch nie gesehen. Okay, er ist ein Mensch, vermutlich, also eher: so jemanden – aber ganz sicher bin ich mir nicht. Er könnte auch ein Alien sein. Oder irgendetwas in meinem Hirn ist unbemerkt durchgeschmort, und ich sehe rosa Elefanten.
 

Elefant stimmt zwar nicht, aber rosa ist ganz richtig.
 

„Was?“, frage ich. Nein, das stimmt so nicht. Ich frage nicht, ich stammele, und es hört sich eher nach „Wa-wa-waaaas???“ an. In jedem Fall ist es nicht gerade elegant.
 

Er tritt auf mich zu und streckt mir die Hand entgegen. Er grinst immer noch. Ich schätze mal, er findet meine Reaktion höchst vergnüglich. Arschloch!
 

Ich starre seine Hand an. Er hat ganz lange Finger und eine sehr helle Haut. Ich gucke wieder hoch. Auch im Gesicht hat er die. Die Haut natürlich, nicht die Finger. Das würde ihn eventuell als Werbeträger für Cremes qualifizieren, wenn da nicht die Sache mit dem Rosa wäre. Er hat rosa Haare! Wer zur Hölle hat bitte rosa Haare! Außer irgendwelchen Anime-Figuren, meine ich. Sicher, die sind gefärbt, doch – um Gotteswillen! – wer macht sowas? Sie sind nicht pink oder purpur, sie sind wirklich rosa. Wie Zuckerwatte. Genauso. Er trägt sie adrett geschnitten, unten kurz, oben etwas länger. Nicht der schlechteste Haarschnitt. Aber sie sind rosa!
 

Er mustert mich interessiert, während ich brav innerlich ausflippe. Seine Augen sind blau. Hellblau. Passt ja gut. Aber er hat kein Mädchen-Gesicht. Breiter Kiefer, hohe Wangenknochen, Männernase. Überhaupt nicht Girlie-mäßig. Girlies sind auch selten so groß, denn ich bin kein Zwerg, und er ist trotzdem noch größer als ich und vor allen Dingen breitschultriger. Ich sollte dringend mehr Sport machen.
 

Irgendwie, irgendwann fange ich mich wieder so halbwegs. Ich habe mich hier gerade ziemlich zum Idioten gemacht, das verdränge ich besser mal. „Sie dürfen hier nicht rein!“, krächze ich.
 

Er zeigt sich unbeeindruckt. Ich habe ihm immer noch nicht die Hand gegeben. Habe ich auch nicht vor. Auf einmal ist das ansteckend!
 

„Klar darf ich“, erwidert er. „Denn wenn es nach meinem Alten geht, gehört dieser Laden eines Tages mir.“

Dienstag, halb Zehn, dem Herzinfarkt ein paar Schritte näher

Dienstag, halb zehn, dem Herzinfarkt ein paar Schritte näher
 

„Was?“, keuche ich erneut.
 

Er legt den Kopf schief. Eine rosa Strähne fällt ihm in die Stirn. Ich kriege plötzlich tierischen Hunger auf Zuckerzeug.
 

„Bist du Fidel?“, fragt er mich.
 

„Äh …? Ich bin Herr Braune …“, blablubbere ich.
 

„Fidel find ich besser. Wie kommt man denn zu so einem Namen? Und das als Banker! Egal, er gefällt mir. Ich bin Elias“, stellt er sich vor. Er hält mir immer noch die Hand hin, als sei ich ein scheues Eichhörnchen, das er mit Erdnüssen aus der Reserve locken will. Ich bin aber keine Baumratte! Und der soll mal ruhig sein in Bezug auf meinen Namen! Ich meine – wie sieht der denn aus?
 

Endlich bekomme ich es hin zuzugreifen. Vermutlich quetsche ich ihm versehentlich beinahe die Hand zu Brei, doch er beschwert sich nicht. Ein Strom süß-fauliger Peinlichkeit rinnt dickflüssig durch mein Rückenmark. Ach! Du! Scheiße! Das ist Elias Wennström? Der Sohn des Oberbosses? Der Firmenerbe? Ach, du heiliges Deutschland!
 

„Sehr erfreut!“, stoße ich hervor, obwohl das natürlich nicht stimmt. Eigentlich stimmt es nie, so ist das eben mit gutem Benimm. Gerade freue ich mich aber noch deutlich weniger als normalerweise. Nicht nur, dass ich mich total vorbeibenommen habe, ich muss den da jetzt betreuen! Ich ahne, das wird nicht ganz so einfach, wie gedacht. Er hat nicht nur diesen Totalausfall von Haarfarbe, obendrein trägt er eine verwaschene Jeans, halb offene, schmuddelig-weiße Chucks und ein T-Shirt, das vermutlich irgendwann mal schwarz gewesen ist. Jetzt hat es eher die Farbe von nassem Asphalt. Und unter dem fadenscheinigen Stoff zeichnet sich etwas ab, das ich nicht richtig zuordnen will, obwohl es mir schwant. Die natürliche Form von Brustwarzen sieht anders aus. Außerdem ist es trotz Klimaanlage nicht übermäßig kühl hier drin. Draußen sind es dreißig Grad.
 

Was ich auch keinesfalls vergessen habe, ist seine Bemerkung zu meinem Arsch. Scheiße, ist der schwul? Denn wer würde sonst sowas über meinen Hintern sagen? Oder ist der nur irre und labert wirres Zeug? Oder beides? Und was soll das mit den Haaren? Trägt man die so, wenn man schwul ist? Ich habe keine Ahnung, ich kenne persönlich niemanden, der das ist, habe mich immer vehement gegen die aufbauenden Worte meiner hypertoleranten Eltern gestemmt, die mir ständig gesagt haben, sie stünden voll hinter mir, wenn ich mich endlich outen wollte. Schon allein deswegen konnte ich keinen zweiten Gedanken daran verschwenden. Stattdessen war ich so brav und angepasst-normal, dass sie schier an mir verzweifelt sind. Ne, das mit den Haaren gehört nicht zur Standard-Ausrüstung. Guido Westerwelle hat auch keine rosa Haare. Er ist da leider der einzige, der mir spontan einfällt. Ach ja, Elton John gibt es auch noch. Und Wowereit. Der ist auch nicht rosa.
 

Soweit habe ich meine Sinne allerdings inzwischen wieder beieinander, dass ich ihn nicht obendrein noch nach seinen sexuellen Vorlieben frage. Das wäre der nächste Fauxpas. Eventuell wartet der auch nur darauf.
 

Stattdessen grinse ich wie auf Koks und schüttele und schüttele und schüttele seine Hand.

Dienstag, drei Minuten nach halb zehn

Dienstag, drei Minuten nach halb zehn
 

Er sieht hinunter, dann mir direkt ins Gesicht. „Wow“, sagt er. „Du kannst aber toll … schütteln. Ich bin begeistert.“
 

Hektisch lasse ich ihn los. Was auch immer er mir damit sagen möchte, ich will es gar nicht wissen. Mein Gesicht zeigt die Grimassen-Version meines Bankerlächelns. „Entschuldigen Sie! Ich hatte Sie hier nicht erwartet!“, rede ich mich heraus.
 

„Tja“, sagt er. „Ich mich auch nicht.“
 

„Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Tee?“, besinne ich mich auf das Routine-Programm.
 

„Für den Anfang täte es das Du“, empfiehlt er.
 

„Äh … Gerne …“, gehorche ich. Es macht natürlich irgendwie Sinn, er ist ja kein graumelierter Manager, sondern etwa so alt wie ich. Er ist aber immer noch der Sohn vom Chef. Was der Alte Wennström wohl davon hält? Weiß der überhaupt, wie sein Sprössling rumläuft? Das erste, was man hier eingehämmert bekommt, ist, wie man sich hier zu kleiden hat. Ich musste Hannes anpumpen, um mir meinen ersten passablen Anzug leisten zu können. Inzwischen bin ich schlauer und ersteigere Designer-Fummel second hand bei Ebay. Ansonsten wäre ich chronisch pleite. Elias Sachen wirken eher so, als habe er sie aus dem Altkleidercontainer geklaut. So wie der aussieht, würde er nie im Leben auf Pförtner vorbeikommen, wenn er nicht Wennström hieße.
 

„Ist was?“, fragt er mich amüsiert und lässt sich in meinen Bürostuhl fallen, als gehöre er ihm. Tut er ja auch indirekt oder eines Tages oder wie auch immer. Er ignoriert die ergonomische Formgebung, sondern fläzt sich breitbeinig hinein, als sei er ein Sponti-Freund meiner Eltern. Beim politischen Diskussionszirkel bei ihnen daheim würde er kaum auffallen. Er müsste sich lediglich die Haare auf Rot umfärben.
 

Ich zeige ganz viele Zähne, während ich mich darauf konzentriere weiterzulächeln. Scheiße, ein kurzer Blick in den Spiegel in der Ecke verrät, dass ich aussehe wie ein wahnsinniger Massenmörder. Ich räuspere mich und krächze: „Ich bin nur … überrascht.“
 

Er zwinkert mir zu. „Ach was“, erwidert er trocken.
 

„Kaffee? Tee?“, echoe ich wie eine der Stepford-Frauen.
 

„Platzt dir der Kopf, wenn ich nichts will?“, fragt er mit mitleidiger Miene. Ja, kein Zweifel, er hält mich für einen Vollidioten. Dass ich gerade einer bin, ist jedoch seine Schuld!
 

„Ich werde es vielleicht knapp überleben“, erwidere ich, bevor ich mich daran hindern kann. Mist! Ich muss höflich sein! Doch wie denn, bitte, wie denn?
 

„Naja, besser kein Risiko eingehen. Wäre schade um den weißen Teppich, den weißen Schreibtisch, den weißen Stuhl und natürlich um meine weiße Weste. Ich hätte gerne einen Kaffee. Schwarz, ohne Zucker“, ordert er.
 

Uff, Gott sei Dank!

Dienstag, eine Runde Kaffeeholen später

Dienstag, eine Runde Kaffeeholen später
 

„Bitteschön!“, serviere ich das Gebräu formvollendet. Er sitzt immer noch auf meinem Stuhl und wippt damit rum wie ein Kindergartenkind.
 

„Dankeschön!“, erwidert er. Ich habe das Gefühl, dass er mich nachäfft, doch das täuscht gewiss.
 

Als ich das Tablett vor ihm abstelle, dringt mir sein Geruch in die Nase. Er riecht nach gebrannten Mandeln, finde ich. Entweder waren die sein Frühstück oder diesen Duft gab’s bei der Haarfarbe umsonst mit dazu. Schonwieder bekomme ich Hunger auf Naschkram.
 

Er greift nach der Tasse und schnuppert daran. Ich stehe doof daneben, denn er sitzt ja auf meinem Stuhl. Eigentlich hatte ich mit ihm in eins der Konferenzzimmer gewollt, doch da war ich noch davon ausgegangen, dass ich ihn bei Breker abhole, er einen Anzug trägt, eine normale Haarfarbe hat und nicht irgendetwas Unanständiges mit seinen Brustwarzen veranstaltet. Das war wohl nichts. Aktuell bin ich ganz froh, dass ich ihn nicht im Beisein meines Vorgesetzen getroffen habe und dann mit ihm im Schlepptau durch die ganze Bank habe latschen müssen. Ich denke, dabei hätte ich mich noch viel weniger mit Ruhm bekleckert.
 

Erneut geht die Tür, Claudia tritt ein. Sie hat einen großen Aktenordner unter dem Arm. Als sie Elias sieht, erstarrt sie. Ihr Mund steht offen. Willkommen im Club.
 

„Herr Braune!“, empört Sie sich. „Sie können doch nicht irgendwelche Freunde von sich hier rein lassen!“
 

Als hätte ich solche Freunde! Herzlichen Dank!
 

Ich setze wieder mein dummes Grinsen auf. Elias sagt nichts, sondern schlürft laut seinen Kaffee.
 

„Darf ich vorstellen!“, flöte ich und versuche irgendwie warnend mit den Augenbrauen zu zucken, was allerdings nicht klappt. „Elias Wennström! Elias, das ist Frau Hermann!“
 

Jetzt sieht sie völlig verstört aus. Ein wahres Wunder. So hat sie nicht mal ausgesehen, als es den letzten Börsencrash gegeben hat.
 

Elias steht nicht auf, er winkt nur und sagt: „Huhu!“
 

„Guten … guten Tag, Herr Wennström!“, verhaspelt sie sich. Ich muss zugeben, sie beweist dennoch mehr Haltung als ich. Sie hat den aber auch nicht am Halse. „Schön, Sie kennenlernen zu dürfen!“
 

„Ganz meinerseits!“, strahlt Elias, zeigt jedoch immer noch keine Regung aufzustehen und ihr höflich die Hand zu schütteln. Wie zum Geier haben die Wennströms einen derartig unerzogenen Rotzlöffel zustande gebracht? Und was fällt denen ein, mir den unterzujubeln, sodass mein Wohl und Wehe von ihm abhängen! Ich bin Banklehrling, kein Sonderpädagoge!
 

Claudia scheint es aber gar nicht richtig mitzubekommen. Stattdessen setzt sie sich wieder und schüttelt dabei leicht den Kopf wie um ihre Hirnwindungen wieder sortiert zu bekommen. Obwohl sie sich Mühe gibt, kommt sie nicht umhin, ihn anzuglotzen.
 

Ich mustere ihn verhalten. Er weiß das haargenau. Und er lächelt dabei fröhlich.

Dienstag, unwesentlich später, dennoch um Jahre gealtert

Dienstag, unwesentlich später, dennoch um Jahre gealtert
 

Irgendwie habe ich es dann doch geschafft, ihn in eines der Konferenzzimmer zu schleifen, damit Claudia in Ruhe weiterarbeiten kann. Sie hat mich mit einem sehr mitleidigen Blick bedacht, die erste persönliche Geste, die sie mir gegenüber je gezeigt hat. Ich hätte auch drauf verzichten können.
 

Jetzt sitzt er mir gegenüber, die dreckigen Stoffschuhe auf der polierten Glastischplatte, und ich labere ihn auf Autopilot geschaltet mit all dem voll, das ich am Vorabend vorbereitet habe. Ich habe keine Ahnung, ob das alles Sinn ergibt oder ob er mir überhaupt ernsthaft zuhört. Er sieht zu mir herüber, zeigt jedoch kaum eine Regung. Seine Lider sind halb gesenkt, hoffentlich pennt er mir nicht ein. Das wäre die Krönung: Er schläft ein, fällt vom Stuhl, bricht sich den Arm, und ich bin schuld, weil ich so öde bin.
 

Entweder ist der so total verloddert, oder er will mich provozieren. Nun, vermutlich nicht mich persönlich, er kannte mich ja gar nicht, bis er in diesem Outfit hier eingestiefelt ist, sondern den ganzen Laden hier. Den ganzen Laden, den er erben soll. Wie undankbar kann man bitte sein? Das einzige, was ich jemals erben werde – möge Gott meinen Eltern ein langes Leben bescheren. Gott, nicht die Bionahrung oder Marx – sind zehntausend linke Bücher und ein Haus, gegen das die Villa Kunterbunt ein tolles Investitionsobjekt ist. Und das muss ich mir dann auch noch mit meinem Bruder teilen. Vielleicht wurden Elias und ich ja bei der Geburt vertauscht? Meine Eltern fänden ihn und sein Auftreten hier super, und ich fände es super, die Bank zu erben. Leider sehe ich meinen Eltern wirklich ähnlich, das haut also nicht hin.
 

Als ich das Musical für heute Abend erwähne, kommt zum ersten Mal wieder Leben in Elias. Ein bisschen muss er also doch zugehört haben.
 

„König der Löwen?“, versichert er sich.
 

„So ist es. Plätze im Parkett ganz vorne!“, verkünde ich stolz. Ist schließlich ein Geschäftstermin, da lädt man nicht auf einen Stehplatz ein.
 

Er verzieht amüsiert den Mund. „Du bist ja ein richtiger Romantiker. Erstes Date und schon ins Musical! Was kommt danach? Eine Tour mit der Pferdekutschte durch die Innenstadt bei Mondschein?“, spottet er.
 

„Wenn du lieber etwas Anderes machen möchtest, sage nur was. Ich kümmere mich darum“, biete ich ihm steif an. Verdammt, ich will aber ins Musical! Und das ist kein Date!
 

„Ne, schon okay. Schau ich mir eben singende Viecher an. Stehst du da drauf?“, will er wissen.
 

„Es soll dir gefallen“, erwidere ich.
 

Er hebt eine Augenbraue. „Ach was. Deine Mission ist es also, mir Spaß zu bringen?“
 

Mir wird seltsam zumute. „Ich soll dafür sorgen, dass du dich während deines Praktikums in Hamburg wohlfühlst und dass du einen guten Einblick in den laufenden Betrieb bekommst.“
 

„Wie schön“, grinst er schon wieder so komisch.

Dienstagmittag, Essenszeit

Der Rest des Vormittages hat sich hingezogen wie Kaugummi. Wenn ich daran denke, dass Elias mindestens einen Monat an mir kleben wird, eröffnen sich so keine schönen Aussichten. Er stellt keine Fragen, lässt sich lediglich vollsabbeln und herumschleifen, während ihn von überall her entsetzte Blicke treffen. Ich könnte meine Milz darauf verwetten, dass Breker längst am Telefon hängt, um Wennström senior über das grenzwertige Verhalten seines Sprösslings zu unterrichten. Breker kann das, ich hingegen habe die Fresse zu halten.
 

Irgendwann knurrt mein Magen ganz peinlich. Vermutlich, weil ich ständig gebrannte Mandeln rieche und an Zuckerwatte denken muss. Anders als auf meine Vorträge reagiert Elias auf diesen Laut.
 

„Ich hab‘ auch Kohldampf“, verkündet er. „Lass uns was futtern gehen!“
 

„In der Nebenstraße ist ein ausgezeichneter Franzose…“, setze ich an.
 

„Danke, ich will sattwerden. Lass mal zu Mac Dreck“, befindet er.
 

„Wenn du möchtest“, erwidere ich würdevoll. Insgeheim danke ich ihm, denn mit ihm in dieses schicke Restaurant, in das wir häufig wichtige Kunden ausführen, das wäre gewiss nicht lustig geworden.
 

„Sag: Ja, Meister!“, grinst er.
 

Das ist mir keine Antwort wert. Sich auf der einen Seite aufführen wie die Axt im Walde und auf der anderen Seite den Boss raushängen lassen wollen: Arschloch!
 

Auf der Straße trifft mich beinahe der Schlag. Dieses Mal ist nicht er daran schuld, sondern diese abartige Hitze. Ich trage ja einen Anzug. Normalerweise vermeide ich es, um diese Uhrzeit die klimatisierten Räume zu verlassen. Hastig streife ich mir mein Sakko ab. Während wir die Straße hinabgehen, starren uns Passanten an. Ich denke, es ist nicht mal sein Look an sich, hier rennen zu viele Paradiesvögel herum, als dass das die Städter noch schocken könnte, es ist vielmehr die Kombination aus uns beiden. Wenn es ein Bild im Lexikon gäbe, das den Unterschied zwischen seriös und unseriös darstellen sollte, würden wir beide uns gut eignen. Kurz beneide ich ihn um seinen dünnen Fetzen von T-Shirt.

Bei MacDonalds ist es höllisch voll. Ein Stimmen- und Sprachengewirr schwirrt durch den Raum. Immerhin ist es hier wieder ein bisschen kühler. Wir reihen uns brav in der Schlange ein. Vor uns steht ein bulliger Mann mit einem kleinen Mädchen im Schlepptau, das vermuten lässt, dass zumindest die dazugehörige Mutter halbwegs ansehnlich sein muss. Sie starrt zu Elias hoch, dann lacht sie vergnügt und zeigt mit dem Finger auf sein Haar. „Papa!“, quietscht sie. „Ich will auch rosa Haare!“ Der Muskelzwerg dreht sich um, glotzt Elias an und verzieht wenig angetan den Mund. Elias lächelt ihn freudestrahlend an. Ich finde, dass der Look dem kleinen Mädchen definitiv besser stünde. Nun ja, er würde eher zu ihr passen, denn man kann eigentlich nicht sagen, dass die Farbe ihm nicht steht. Es sieht aus anderen Gründen scheiße aus.
 

Der Mann brummelt irgendetwas und dreht sich wieder weg, während die Kleine weiter ungeniert Elias bewundert.

Ich schwanke derweil zwischen Chicken Mac Nuggets und einem Mac Rip-Menü.

Dienstag, Dinnertime

Dienstag, Dinnertime
 

Im Gepäck die braune Mac Donalds-Tüte sitzen wir auf einer Bank unter einem Baum an der Alster. Im Schnellrestaurant selbst war es viel zu voll. Hier hingegen krepiere ich fröhlich weiter an der Hitze. Elias reicht mir meinen Burger. Ich packe ihn aus und würde mich am liebsten schlagen. Warum habe ich Idiot einen Mac Rip bestellt? Nichts auf Erden kleckert derart unkontrolliert wie ein Mac Rip. Das macht sich nicht gut auf meinem weißen Hemd.
 

Elias erkennt das Dilemma und sagt: „Zieh’s doch solange aus!“
 

Ich sehe ihn strafend an. Soweit kommt’s noch – halbnackt im Anzug da, wo mich theoretisch auch Kollegen oder Kunden sehen könnten. Außerdem gefällt mir das interessierte Blitzen in seinen Augen gar nicht.
 

Als ich mich nicht rege, zuckt er mit den Schultern und streift seinerseits sein Shirt ab. Ohne Vorwarnung. Das ist nicht nett. Denn so kann ich es nicht mehr dabei belassen, gewisse Details mit Schwung auszublenden. Auch sein Oberkörper zeigt diese schöne Haut. Das interessiert mich natürlich nicht, und es interessiert mich auch nicht, dass er wirklich Nippelpiercings hat. Kein Stück. In beiden Brustwarzen. So kleine Silberstäbe sind das. Und an der Hüfte ist auch noch was, was da nicht hingehört, doch ich komme nicht dazu, es eingehend zu studieren. Elias hebt die Hände und zwickt sich ungeniert in die Brustwarzen, als wolle er mir diesen Wahnsinn auch noch stolz vorführen wie der Erstklässler seinen Eltern das erste Zeugnis.
 

„Geil, was?“, fragt er mich doch allen Ernstes. Ich sehe ihn nur blöde an. Mein Mac Rip wird derweil vermutlich von den Insekten gefressen. Denen kann es ja auch egal sein, wie sie aussehen.
 

Ich schüttele mich, um wieder klarzuwerden. „Nö!“, stoße ich hervor.
 

„So wie du glotzt, ist das nicht korrekt“, unterstellt er mir. „Damit dich die Ungewissheit nicht killt: Die sind total genial beim Sex. Kann man schön dran rumdrehen, mit den Fingern, mit dem Mund, da geh ich total ab!“
 

Diese Information tut meinem Hirn gar nicht gut. Und dann ist es auch noch so heiß hier! „Warum sagst du mir das!“, stöhne ich.
 

„Hilfsbereitschaft“, erklärt er mir. Dann drückt er mir die Schachtel mit den Chicken Mac Nuggets in die taube Hand. Er schnappt sich meinen Burger und beißt schwungvoll hinein. Eigentlich sehr klug und irgendwie nett, dennoch fühlt es sich nicht so an. Ein Schwall Soße kleckert über seine Brust. Jetzt sieht er endgültig aus wie eine durchgedrehte Wildsau.

Derweil registriere ich, dass das auf seiner Hüfte ein Tattoo ist, und zwar nicht gerade ein kleines, diskretes. Es ist eine so eine stilisierte Tribal-Ranke, die sich in alle Richtungen kringelt, nach vorne, nach hinten, nach oben – und auch noch nach unten, wo Gott sei Dank die Hose das Elend verbirgt.
 

Der Erbe der renommierten Privatbank Wennström hat, wenn ich das richtig folgere, einen tätowierten Arsch. Das sollte er besser beizeiten weglasern lassen, auch wenn das im Anzug keiner sieht.
 

Aktuell sieht er nicht danach aus, als würde er mir da zustimmen.

Dienstag, ein Mac Rip später

Elias fährt sich mit den Fingern über die Brust, sammelt die Soße auf und schleckt sich dann schmatzend die Finger ab. Ich sitze neben ihm. Mir tut der Bauch weh, weil ich völlig unbeherrscht die Chicken Mac Nuggets in mich hineingestopft habe, dann die Pommes und anschließend einen halben Liter eiskalte Cola hinter gesandt habe.
 

„Lecker!“, findet er.
 

„Schön“, erwidere ich schwächlich.
 

„Echt! Ich könnte den ganzen Tag hier sitzenbleiben!“, bezieht er mein Geröchel auf die Gesamtsituation und deutet auf die im Sonnenlicht glitzernde Alster, über die unzählige Segelboote dümpeln.
 

„Wir müssen zurück. Du macht ja dein Praktikum!“, erinnere ich ihn.
 

„Ach ja. Verdammt“, stöhnt jetzt er.
 

Ich drehe ihm den Kopf zu. Da sitzt er heiter in der Weltgeschichte. Gefärbt, gepierct und tätowiert.
 

„Du machst das nicht freiwillig?“, frage ich ihn, obwohl das ziemlich offensichtlich ist.
 

„Richtig!“, stimmt er mir zu. „Die Orte, die ich am wenigsten mag, sind die Hölle und die verdammte Bank!“ Jetzt ist er plötzlich gar nicht mehr heiter.
 

„Aber sie wird dir eines Tages gehören!“, erinnere ich ihn.
 

Er zuckt unwillig mit den Schultern. „Ich würde liebend gerne drauf verzichten. Aber mein alter Herr sieht das ja leider nicht ein.“
 

Das hatte ich mir ja auch schon gedacht.
 

„Das heißt“, folgere ich. „Du versuchst hier, das Ganze ordentlich in den Sand zu setzen?“
 

„Jein“, sagt er. „Ich muss das schon machen. Doch anschließend sollte klar sein, dass mich der Laden besser nicht wiedersieht.“
 

Ich seufze ergeben und stütze meine Stirn auf den Händen ab. Toll. Ganz toll. Und ich soll für ihn verantwortlich sein! Natürlich nicht nur, doch der Mist fällt auch auf mich zurück.
 

Er legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich zucke zusammen, aber er nimmt sie trotzdem nicht weg. „Hey, Kopf hoch!“, sagt er. „Ist nicht deine Schuld, das mache ich denen schon klar. Sieh’s doch positiv: Wir können derweil jede Menge Spaß haben!“
 

Ich hebe wirklich den Kopf, wenn auch nur im wortwörtlichen Sinne. „Ich arbeite da! Das ist keine Spaßveranstaltung für mich!“, versuche ich ihm klarzumachen.
 

Jetzt nimmt er doch die Hand weg. Prima, er hat einen riesigen Mac Rip-Soßenfleck auf meinem Hemd hinterlassen. Dem Schicksal entkommt man eben nicht. Doch da kann ich ja das Sakko drüber ziehen.
 

„Warum zum Teufel arbeitest du denn dann da?“, will er wissen.

Dienstag, kurz vorm Ende der Mittagspause

„Weil ich gerne Bankkaufmann sein will! Ein guter! Und gutes Geld damit verdienen!“, erläutere ich ihm. So lautet eben die offizielle Version.
 

Er zieht die Nase kraus, als hätte ich etwas arg Obszönes gesagt. Und das von ihm!
 

„Bist du echt so einer?“, wundert er sich. Dann lächelt er plötzlich wieder und sagt: „Nee, bist du nicht!“
 

„Oh doch!“, halte ich dagegen.
 

„Nö. Das hab‘ ich im Urin. Bei dir springt mein Langweiler-Radar nicht an. Unter deinen Nadelstreifen hast du Pfeffer im Arsch!“, unterstellt er mir.
 

Bei der Vorstellung bekomme ich Phantom-Brennen an prekärer Stelle. Unwillkürlich spanne ich die Hinterbacken an.
 

„Hör zu: Kannst du dich nicht ein bisschen zusammenreißen? Bitte? Und hör auf, ständig über meinen Arsch zu sprechen!“, beknie ich ihn.
 

„Ersteres: Okay, ein bisschen. Wie gesagt, ich muss diese Scheiße hier ja leider durchziehen. Du magst dir einreden, dass du das toll findest, doch in der Hinsicht bin ich intolerant. Es ist nicht toll. Und jemand, der das toll findet, der ist auch nicht toll. Dein Arsch hingegen, der ist toll. Der spricht arg für dich. Da solltest du wirklich offener sein“, belehrt er mich.
 

„Ich bin aber nicht schwul!“, rutscht mir in ziemlich brüskem Tonfall heraus.
 

Verblüfft sieht er mich an, dann lacht er mich lautstark aus. „Klar bist du das!“, erdreistet er sich. „Das steht in großen, leuchtenden Lettern auf deiner Stirn! Und ich kann lesen.“
 

„Offensichtlich nicht besonders gut“, knirsche ich, „denn du hast das ‚nicht‘ übersehen!“
 

Er schüttelt nur gönnerhaft den Kopf, sagt aber ausnahmsweise mal nichts. Dadurch bekommen seine Worte leider noch mehr Gewicht.
 

„Ich bin nicht schwul!“, kann ich meinen Mund nicht halten und mache einen auf Papagei. „Ich hab‘ ne Freundin!“
 

„Und? Bringt’s Spaß?“, will er falsch-harmlos wissen.
 

Ich kneife die Lippen zusammen. „Ich möchte hier nicht mein Intimleben durchdiskutieren! Lass und zurückgehen!“, fordere ich. Er gehorcht sogar, grinst mich aber dabei arg anzüglich an.
 

Ich ärgere mich derweil kräftig. Was fällt dem ein! Nicht dass ich was gegen Schwule hätte, aber ich will nicht über meine Sexualität beklugscheißert werden, denn er hat sich gerade angehört wie meine Eltern. Das mag ich gar nicht. Und außerdem hat er mich noch mal daran erinnert, dass ich bisher überhaupt kein Intimleben habe und dass das droht, sich zu ändern.
 

Dann werden wir ja sehen, wer hier schwul ist!

Dienstag, tausend Kaugummi-Stunden später

Ich bin echt erledigt. So fertig war ich noch nie nach einem Arbeitstag. Das liegt natürlich nicht an der Arbeit an sich, sondern an Elias. Ich habe wirklich mein Bestes gegeben, das mit ihm zu veranstalten, was er hier machen soll, und er war sogar so andeutungsweise kooperativ, auch wenn er so gewiss nicht zum Mitarbeiter des Monats gekürt wird. Es ist fast so, als würde er mir einen Gefallen tun, indem er hinter mir her watschelt und sich meinen Sermon anhört, und nicht anders herum. Hinzu kommt, dass er das mit dem ‚Ich bin nicht schwul!‘ gar nicht einsieht. Ich hätte es nie geglaubt, doch mein Hintern scheint über einen Siebten Sinn zu verfügen, der immer dann anspringt, wenn Elias mir mal wieder drauf glotzt. Dann bekomme ich eine Gänsehaut am Arsch, wie krank ist das denn?
 

Irgendwie habe ich es trotzdem überlebt. Jetzt kann ich kurz nach Hause, mich frisch machen und umziehen und dann geht’s ab ins Musical. Was habe ich mich heute Morgen noch drauf gefreut! Jetzt bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Ach, Quatsch, Elias hin oder her, das wird bestimmt klasse! Endlich mal was Gutes und nicht immer nur Wagner oder Goethe.
 

Kaum durch die Wohnungstür lasse ich mich mit Schwung aufs Sofa kippen. Uff! Meine Wohnung ist ziemlich klein und liegt in einem Außenbezirk, ansonsten hätte ich mir nichts Eigenes leisten können. Als Lehrling verdient man ja im Vergleich zu den anderen in der Bank ziemlich bescheiden, doch in einer Privatbank immerhin noch mehr als in den anderen Geldinstituten. Noch länger bei meinen Eltern zu wohnen, das hat nicht sein müssen. Aktuell bin ich einfach nur froh über diesen himmlischen Frieden hier, auch wenn draußen gerade ein Presslufthammer donnert.
 

Nachdem ich genug zusammengebrochen bin, raffe ich mich auf und gehe ins Bad. Den Anzug hänge ich sorgfältig zum Auslüften auf, das Hemd hingegen ist hinüber. Da freue ich mich schon drauf, die Flecken da wieder rauszukriegen. Ich stelle die Dusche an, teste vorsichtig die Wassertemperatur, der ist hier manchmal nicht zu trauen, dann nichts wie drunter. Ich schmiere mich mit einer üppigen Ladung Duschgel ein, nach dem Tag muffe ich garantiert wie ein verwesendes Lama. Während ich mich einseife, blicke ich an mir hinab. Keine Tattoos, keine Piercings, nix gefärbt. Puh. Ob der das nur macht, um seinen Alten auf die Palme zu treiben? Wennström senior gilt als sehr konservativ, der findet den rosa Schopf seines Sohnemanns gewiss nicht flippig. Oder findet Elias das wirklich toll? Die Haare lassen sich ja fix wieder anders färben, das mag reine Provokation sein, aber das Tattoo und die getackerten Nippel, die sind da schon krasser. Das muss auch schweineweh getan haben, oder? Wenn ich mir das vorstelle! Ich spähe auf meine Brustwarzen. Da so ein Metallding durch? Oh, Mann!
 

Einer spontanen Eingebung folgend kneife ich mir kurz in die rechte Brustwarze. Tut ein bisschen weh, ist aber gar nicht soooo übel. Trotzdem ist das ganz was Anderes, als da einen Metallspieß durch zu bekommen! Ich wiederhole: aua! Wie sich das wohl anfühlt, wenn man diese freiwillige Folter überlebt hat? Ich meine, so ein Fremdkörper im Eigenkörper? Ist doch seltsam. Vielleicht steht der auf Schmerz? So ein Tattoo tut doch auch scheißweh! Ich traue ihm jedenfalls einiges zu.
 

Plötzlich freue ich mich direkt auf morgen Abend. Sophia ist genau die Richtige! Nichts da mit schwul! Eine klasse aussehende Karrierebraut, so muss das sein! Jedenfalls für mich.
 

Da mag Rosahaar labern, was er will.

Dienstag, kurz nach neun im Musicalhimmel

Mann, ist das toll! Wie die singen! Und tanzen! Und das Bühnenbild! Ich liebe Musicals! Und Elias liebt meinen Oberschenkel, doch das vermiest es mir jetzt auch nicht, das verbiete ich mir. Er ist mir ganz schön auf die Pelle gerückt, mein ständiges ‚Ich bin nicht schwul!‘ komplett ignorierend. Jetzt klebe ich ganz weit rechts im Sessel. Die fette Frau neben mir hat wohl auch erst gedacht, ich will was von ihr, dann hat sie Elias erblickt, gelächelt und nichts gesagt. Entweder erkennt sie meine Lage oder sie denkt, es ist grad Krisenzeit im Happy-Homo-Land. Immerhin bietet sie mir Zuflucht an ihrem Schwabbelarm, während ich das Geschehen auf der Bühne verfolge. Sie riecht echt eklig, nicht nach gebrannten Mandeln, doch die gebrannten Mandeln sind echt scheiße-aufdringlich! Ich meine, ich hab’s ihm doch gesagt, dass ich nicht schwul bin, wie kann der da nur so auf Durchzug schalten! Spätestens jetzt dürfte klar sein, dass er es ist. Schön für ihn, soll er doch Westerwelle oder Elton John oder Wowereit anbaggern gehen, doch bitte nicht mich!
 

Sieht er anscheinend nicht so. Jedes Mal, wenn ich verhalten zu ihm rüber linse, um zu kontrollieren, ob er nicht noch mehr Blödsinn macht, erwischt er mich und zieht betont wissend die Augenbraue hoch. Wenn er nicht der Sohn vom Oberbosses wäre, würde ich ihm dafür eine langen!
 

Ich bin nicht, wie meine Eltern es gern hätten!
 

Wie auch immer, das Musical ist trotzdem der Wahnsinn. Trotz der Umstände lächle ich vermutlich dümmlich. Als es vorbei ist, komme ich aus dem Klatschen gar nicht heraus.
 

Immer noch ziemlich beduselt hole ich meine Sommerjacke von der Garderobe. Elias hat dasselbe an wie heute den ganzen Tag über und verpestet die Luft mit so viel Mandelgeruch, dass man beim Einatmen einen Zuckerschock erleiden könnte.
 

Kaum draußen schlingt er dreist einen Arm um meine Schultern und sagt: „Auf geht’s, Süßer!“
 

„Ich bin nicht dein Süßer!“, gifte ich.
 

Er sieht mich kurz prüfend an, was mich irgendwie verwirrt, dann meint er: „Oh doch! Du bist nicht gerade eine Zuckerfee, aber deine Locken sind süß. Und dass du so beleidigt aus der Wäsche guckst.“
 

„Okay, ich will jetzt nichts Falsches sagen. Ich mache gewiss keinen Aufstand, weil du schwul bist. Jeder so, wie er mag. Aber krieg doch endlich in dein Hirn, dass ich das nicht bin! Und dass ich es gar nicht mag, wenn du mich ‚Süßer‘ nennst!“, versuche ich ihm mit Anlauf zu verklickern. Angst, dass er mich bei seinem Vater anschwärzen könnte, habe ich ehrlich gesagt nicht mehr. Der alte Wennström dürfte bei einem Blick auf seinen Filius eh nichts mehr mitbekommen. Der kann nie im Leben geahnt haben, wie Elias hier aufschlägt. Breker hat es ihm heute garantiert gepetzt. So war vermutlich auch Elias Absicht. Das wäre alles nicht mein Problem, wenn ich nicht irgendwie meine Rolle zu spielen hätte. Und das ist die des braven Azubis, der den Sohn des Chefs zu betüdeln hat.
 

„Na gut“, gibt er – vermutlich kurzzeitig – nach und lässt mich los. „Dann nenn ich dich eben Stinkstiefel. Auch wenn du süß bist. Süßer Stinkstiefel!“ Er kichert blöde.
 

Ich schmolle vor mich hin.
 

„Hey, ist doch ein Kompromiss!“, behauptet er.

Dienstag, viel zu spät

Dienstag, viel zu spät
 

„Wir müssen morgen in die Bank!“, erinnere ich ihn mit Nachdruck.
 

„Na und?“, erwidert er uninteressiert und schleift mich am Handgelenk hinter sich her.
 

„Dazu muss man frisch sein!“, beharre ich. Er lacht mich selbstredend aus.
 

„Nein, dazu muss man tot sein. Meine Meinung. Los, lass uns Spaß haben!“, fordert er übermütig.
 

„Deine Vorstellung von Spaß entspricht höchstwahrscheinlich nicht der meinen!“, erwidere ich sauertöpfisch.
 

„Ach was! Warum hast du nur so einen Stock im Hintern? Sei doch mal locker! So ein Sahneschnittchen wie du – und dann machst du auf komplett spaßbefreit und den Oberspießer. Hast du ein Trauma oder so?“, grübelt er, während er mich weiter in Richtung Reeperbahn zerrt.
 

„Nein!“, widerspreche ich. „Nur Eltern, gegen die John Lennon und Yoko Ono gar nichts sind!“
 

Er hält inne. „Deine Alten sind Hippies?“, fragt er verblüfft.
 

„Hippies, Lebenskünstler, Kommunisten, die volle Packung!“, platze ich heraus.
 

„Und du bist Banker?“, fragt er mich mit baffer Miene.
 

„Exakt!“, grolle ich.
 

„Das erklärt so einiges“, folgert er. „Aber: Hey, Mann! Auch wenn dir deine Alten mit ihrer Masche auf den Sack gehen, sei froh! Meine Mutter hat Depressionen, weil sie nichts weiter gebacken gekriegt hat als verheiratet zu sein, und mein Vater ist ein ekliger, raffsüchtige, bigotter Tyrann!“
 

Alle Verspieltheit ist von ihm gewichen. Sein Gesicht ist verzerrt.
 

Atemlos starre ich ihn an. „Er ist mein Boss!“, hauche ich.
 

Er dreht sich zu mir um, packt mich bei beiden Schultern. „Fidel, echt. Du bist hier auf dem Holzpfad. Tu dir das nicht an, Süßer.“
 

„Ich bin nicht dein Süßer! Wie oft muss ich das eigentlich noch sagen!“, kreische ich ziemlich von der Rolle. Passanten sehen sich zu uns um. Kein Wunder.
 

Wider Erwarten verpasst er mir nicht noch eine seiner Dreistigkeiten, sondern lächelt nur. Er muss häufig lächeln, denn schon jetzt haben sich feine Lachfalten in sein junges Gesicht eingegraben. Seine Haut ist wirklich schön, die hätte ich auch gerne.
 

„Ich mein’s doch nur gut!“, eröffnet er mir. „Du bist echt eine harte Nuss. Aber ich weiß es. Das bist nicht du. Echt nicht. Ich sehe es. Frag‘ mich nicht wieso. Aber das bist du nicht. Das kann nämlich gar nicht sein, denn du bist wirklich … so schön!“

Dienstag, kurz nach ‚schön‘

Dienstag, kurz nach ‚schön‘
 

Schön? Völlig perplex sehe ich ihn an. Er hat immer noch die Hände auf meinen Schultern. Das höre ich zum ersten Mal. Ich bin schön? Süß war ja schon schräg genug.
 

Adrett, passend, gut gekleidet, na gut – aber schön? Und dieser durchgedrehte Typ sagt mir das einfach so? Und behauptet auch noch all diesen anderen Kram?
 

Rasch streife ich seine Hände ab. „Das solltest du nicht zu mir sagen“, meine ich und blicke belämmert zu Boden. Kein Loch in Sicht.
 

„Warum nicht?“, erwidert er. „Wenn ich‘s doch finde. Ich habe noch nie einen so schönen Mann gesehen. Ehrlich. Du bist der Wahnsinn. Ich dachte, dieses Praktikum wird die Hölle. Und dann habe ich deinen Arsch gesehen und dann dich. Deswegen habe ich dir die Hand gegeben im Gegensatz zu allen anderen. Nicht aus Höflichkeit, ich wollte dich anfassen. Du bist echt … irre!“
 

Komplett überfahren sehe ich ihn an. „Warum machst du überhaupt das Praktikum, wenn es dir so sehr stinkt?“, lenke ich vom Thema ab. Schön? Schön? Schön?
 

Er kneift seine Lippen zusammen. „Mein Alter erpresst mich“, erwidert er.
 

„Womit denn?“, frage ich hirnlos. Ich bin irre? Nein! Ich bin nicht irre!
 

Er senkt den Blick. „Warum sollte ich dir das sagen?“, fragt er vernünftiger Weise. Vernunft! Juhu!
 

Ich schlucke hart. „Stimmt“, muss ich zugeben. „Es besteht kein Anlass für dich, das zu tun.“
 

„Willst du es wissen?“, will er irgendwie lauernd aus mir herauspressen.
 

„Ich weiß nicht“, muss ich zugeben. Lebt es sich nicht unwissend viel besser?
 

„Ich würde es aber gerne sagen! Es laut und deutlich sagen, was für eine Scheiße hier läuft!“, ereifert er sich plötzlich. Ich sehe ihn an. Er ist ein großer, kräftiger Mann, trotz der Frisur. Der, den ich erwartet hätte, nur in andern Klamotten.
 

„Hast du … keine Freunde?“, will ich vorsichtig wissen.
 

„Nicht mehr“, erwidert er bitter. „Dafür hat mein Vater gesorgt. Als rauskam, wo ich herkomme und wo ich wieder hin zurückmuss, da haben sie mich einen Verräter geschimpft!“
 

„Das waren scheiß-Freunde!“, finde ich.
 

„Offensichtlich. Obwohl ich auch verstehen kann, warum sie denken, ich hätte sie verarscht. Hast du Freunde?“, will er wissen.
 

„Ja. Nicht viele, ein paar“, entgegne ich.
 

„Was würden die denn sagen, wenn du plötzlich ein ganz anderer bist, als sie denken?“, geht er mich an.
 

„Keine Ahnung“, gestehe ich aufrichtig.
 

Aber ich bin doch der, der ich sein will!

Dienstag, Zeit für Tacheles

Dienstag, Zeit für Tacheles
 

Abrupt bewegt er sich. Ehe ich mich besinnen kann, gleitet sein Daumen über meine Unterlippe. Ich bleibe erstarrt stehen, stiere ihn völlig überfordert an.
 

„Ach, Fidel. Die Welt ist echt voller Scheiße. Was soll das? Du bist keine Hete, kein Stück. Aber aus unerfindlichen Gründen willst du es nicht wahrhaben. Ich merke doch, wie du mich ansiehst! Ja, gerade so! So guckt keine Hete einen anderen Kerl an. Wenn du ne Freundin hast, dann verarscht du sie auch nur. Das hat sie bestimmt auch nicht verdient. Mein Vorschlag: Ich sage dir, was hier läuft. Aber dafür will ich was.“
 

„Was denn?“, frage ich tonlos.
 

Er lächelt wieder. „Einen Kuss. Mehr nicht. Küss mich und ich sage dir, warum ich diesen Affenzirkus hier mitmache.“
 

Jetzt glotze ich ihn erstrecht an. Ihn küssen? Sein Mund ist irgendwie gut geschnitten. Doch ich bin doch nicht schwul! Wenn ich das hier allerdings überleben will, dann brauche ich jede Information. Verdammter Despot! So schlimm ist das vermutlich gar nicht. Kenne ich ja, Sophie lutscht ja auch an meinen Lippen rum. Geht schon. Da stehe ich das ja auch immer durch, mache den Kram, den ich aus Liebesfilmen kenne. Aber er ist immer noch ein Kerl. Und ich mit Sophia zusammen. Das wäre Betrug. Oder? Gilt das auch für Männer?
 

Ich weiß echt nicht, was ich machen soll. Ich will wissen, was er mir zu sagen hat, obwohl das vermutlich keine gute Idee ist. Gute Ideen sind gerade leider aus.
 

Er greift mich bei den Wangen, sieht mich aus seinen babyblauen Augen an. „Nur ein Kuss!“, flüstert er.

Ich wanke wie eine Birke im Sturm. Wortwörtlich.
 

„Okay!“, höre ich mich krächzen. „Aber nur einer!“ Wer spricht da? Ich?
 

Und dann stehen wir da, an einer Kreuzung bei den Landungsbrücken, Passanten fluten um uns herum, er hält mein Gesicht in den Händen und Lippen drücken sich weich auf meine.
 

Was mache ich hier nur? Bin ich komplett irre geworden?
 

Ich muss doch irgendwie, nicht wahr? Und Himmel, ob Frau oder Mann, er kann küssen! Es ist gar nicht so wie mit Sophia, nicht Muskeln und Sabber. Okay, die sind auch beteiligt, aber vor allen Dingen ist es so … Erst ganz vorsichtig, ein Gleiten, dann ein Knabbern und Saugen. Ich weiche nicht. Ich glaube, mir stehen die Haare zu Berge, spätestens, als seine Zunge in meinen Rachen stößt und ich es reflexartig erwidere. Oh Schande …
 

Drei Liter Wodka sickern aus dem Nichts direkt in meine Nervenbahn. Dabei bin ich echt kein Säufer!
 

Ich bin völlig breit, komplett unzurechnungsfähig und ich küsse … küsse … diesen durchgedrehten Kerl.
 

Weil ich muss, natürlich …

Dienstag, Kuss vorbei

Dienstag, Kuss vorbei
 

Ich glaube, ich röchele. Scheiße, was geht hier vor sich?
 

Es mag zwar keiner merken, es ist dunkel und ich trage eine weite Stoffhose, aber der ist mir schon sonst wohin geschossen, dieser Kuss. Dieser strategische Kuss. Bin ich denn total bescheuert geworden? Warum habe ich mich dazu hergegeben? Neben allen anderen Erwägungen geht mir jetzt auch noch auf, dass ich es mit Elias ja noch wochenlang aushalten muss. So zumindest der Plan. Und das hier ist der erste Tag, und ich lasse mich schon von ihm abknutschen.
 

Und obendrein brennt es in meinem Schritt. Das muss an der Technik liegen! Scheiße!
 

Er hält mich immer noch bei den Wangen und sagt: „Mein Vater hat gesagt, dass er sich scheiden lässt, wenn ich das hier nicht mache. Das würde meine depressive Mutter umbringen. Ich liebe meine Mutter und sie perverser Weise meinen Vater. Deshalb bin ich hier.“
 

„Oh Gott!“, röchele ich.
 

„Jetzt weißt du’s“, erwidert er nüchtern. Ich röchele fröhlich weiter, einerseits wegen des Kusses, andererseits wegen dieser Eröffnung. „Da hast du’s“, fährt er fort, „warum ich mit der Bank nichts zu tun haben will! Oh, du und die anderen da machen eben ihren Job. Aber mein Vater? Ich hasse ihn! Ich will nicht wie er sein!“
 

„Das kann ich verstehen. Ich will auch nicht wie meine Eltern sein“, wispere ich.
 

„Was hast du denn gegen sie?“, will er wissen.
 

„Verbohrte Altkommunisten! Wissen alles besser!“, eröffne ich ihm.
 

Er sieht mich an, dann lacht er. „Das ist echt verrückt! Aber ich habe es schon geahnt. Du bist kein Lahmarsch! Überhaupt nicht! Komm her! Komm her …“
 

Ich bleibe überfordert stocksteif stehen, während er sich um mich windet. Oh, er riecht so gut! Gar nicht nach Parfüm, sondern echt. Kurz atme ich ihn einfach nur ein.
 

„Nein!“, murmele ich. „Ich bin doch gar nicht schwul …“
 

Sein Schenkel presst sich in meinen Schritt. „Du bist hart“, erwidert er heiser.
 

„Ich bin verwirrt!“, krächze ich. „Denn ich hab noch nie … habe nicht ...“
 

„Du bist noch Jungfrau?“, haucht er, mein Gestammele formvollendet übersetzend.
 

Beschämt nicke ich. Wahrscheinlich geht mit das hier auch gerade deswegen so nahe. Oder weil ich wissen will, was hier wirklich vor sich geht.
 

Oder weil ich noch nie so einen Kuss bekommen habe.
 

Oder was weiß ich.

Dienstag, lang nach Schlafenzeit

Dienstag, lang nach Schlafenzeit
 

Der kann doch nicht einfach so anmarschiert kommen, mir einreden, dass ich schwul sei, und dann werd ich’s plötzlich! Das haben meine Eltern schließlich auch schon jahrelang versucht und hatten keinen Erfolg damit. Ich bin kein Kommunist! Und ich bin auch nicht schwul! Verdammt noch mal!
 

Und selbst wenn ich’s wär, dann doch nicht er! Er ist völlig daneben! Und er ist rosa! Und gepierct! Und tätowiert! Und der Sohn vom Boss! Den er hasst! Und ich weiß das jetzt, sogar so ansatzweise wieso, und ganz ehrlich: Wenn das stimmt, würde ich den auch hassen! Meine Eltern nerven, aber sein Vater … Wenn das denn stimmt! Das kann ich auch nicht wissen.
 

Warum ist das hier so warm und riecht nach Mandeln?
 

Weil ich, wir, immer noch dastehen, direkt an der Ampel, und er mich umarmt hält, meinen Kopf gegen seinen Hals drückt, meine Organe Amok laufen, mir der kalte Schweiß ausbricht, sein Schenkel gegen mein irrsinnig gewordenes Genital drückt und er mich zu allem Überfluss mit der anderen Hand auch noch in den Hintern kneift.
 

„Nein!“, fahre ich auf und stoße ihn von mir. „Nein! Das stimmt einfach nicht!“
 

Er lässt mich los. Jetzt ist es nicht mehr so warm, und es riecht auch nicht mehr so gut.
 

„Nein!“, keuche ich und hebe die Hände, als sei er ein Tyrannosaurus Rex im Angriffsmodus.
 

Er breitet die Arme aus und sieht mich zweifelnd an.
 

„Ne Hete kriegt keinen Steifen, wenn sie ein Kerl küsst“, erinnert er mich indiskret.
 

„Ich kenn das nur nicht so!“, rechtfertige ich mich. „Das hat noch nie jemand …“
 

„Du knutscht mit deiner Freundin nicht rum?“, fragt er interessiert.
 

„Doch! Natürlich! Wenn sie will!“, quietsche ich hastig.
 

„Wenn sie will?“, echot er gedehnt. „Was ist denn mit dir?“
 

„Ich! Ich meine, wenn wir wollen! Sophia ist … toll! Sie ist smart und blond und süß und alles!“, doziere ich.
 

„Damit kann ich nicht dienen“, gibt er zu. „Ich habe allerdings einen entscheidenden Pluspunkt, egal, wie super sie ist, was dich angeht.“
 

„Kann mir’s schon denken!“, schnaufe ich. „Aber das hier, das war … ich war … Egal! Das bin ich nicht! Ich will das nicht sein!“
 

„Wieso? Du hast doch gesagt, du seist nicht homophob? Wo ist das Problem? War das nur Gelabere – was sehr unwahrscheinlich ist bei deiner Reaktion eben“, findet er.
 

Es hat echt keinen Zweck. Er schnallt es nicht. Er will es nicht schnallen.
 

„Einen schönen Abend noch!“, sage ich steif – leider nicht nur vom Habitus her. „Wir sehen uns morgen in der Bank!“

Dienstag, irgendwann nachts, vielleicht längst Mittwoch

Ich habe ihn einfach stehen gelassen. Er ist mir auch nicht gefolgt. Gott sei Dank. Vielleicht ist er auch nicht hinter mir hergekommen so, wie ich gerannt bin. Gar nicht so einfach mit einer Resterektion, doch ich hab’s hingekriegt.
 

Ich wollte höflich zu ihm sein, der perfekte Azubi, alle wären zufrieden gewesen. Was muss er … so sein? So anti. So dreist. So schwul. Okay, er hat es mir ja erklärt, zumindest die ersten beiden Punkte – aber warum ich? Warum stürzt der sich so auf mich? Weil er mich schön findet und denkt, ich sei kein Langweiler seiner Definition nach.
 

Bin ich aber! Ich bin öde! Ich will öde sein! Nicht so wie er. Er ist nicht öde. Die Pest war auch nicht öde. Oder der Untergang der Titanic. Oder der Ausbruch des Vesuvs über Pompeji.
 

Meine Eltern würden ihn echt lieben.
 

Ich kann nicht schlafen. Ich habe zwei Mal geduscht, trotzdem hängt er immer noch überall an mir. Die Berührung seines hoch aufgeschossenen, muskelösen Körpers. Sein enervierender Duft. Seine streichelnde Hand, die über meinen Rücken gen Horizont gleitet. Und sein Kuss, seine weichen, festen Lippen, seine nasse Zunge und dieses Gefühl, als würde ich mich in Zuckersirup auflösen.
 

Wahrscheinlich hat er schon eine Million Typen abgesabbert, sodass er mich einfach linken konnte. Genau, das war ein Könner bei der Arbeit, da hatte ich Dummchen einfach keine Chance. Was der wohl noch so kann?
 

Aufhören! Stopp! Aus! Vorbei!
 

Ich ziehe mir das Kopfkissen über den Kopf. Mein Leben ist gut. Kein Chaos. Nicht mal hier, mal das. Nicht alles auf einmal und alles ist okay, Hauptsache es ist schräg.
 

Ich mache meine Lehre. Habe einen guten Job. Lerne schnell. Mache alles gut. Werde meinen Lohn bekommen. Vielleicht eines Tages heiraten. Kinder. Haus. Dackel. Nun gut, letzeres muss doch nicht sein. Aber eben einfach normal! Keine Elias Wennströms, die mich aufmischen, abknutschen und mir unterstellen, das sei alles für den Arsch! Dabei steht er ja anscheinend auf Arsch.
 

Wie das Tattoo auf seinem wohl aussieht?
 

Hör auf, Fidel! Das ist wirklich kein Gegenstand, um darüber nachzudenken.
 

Ob seine Haut da auch so ist wie Sahnebaiser?
 

Gnade!
 

Ich hasse gerade mein Hirn, mein Unterbewusstsein, meinen Körper, meine Primaten-Reflexe, wer immer daran schuld ist!
 

Ich muss schlafen. Der morgige Tag wird gewiss der Horror. Morgen wird er wieder da sein, da kennt er gewiss kein Erbarmen. Und dann kommt Sophia. Oh weh …
 

Aber das ist vielleicht die Gelegenheit, um die Dinge wieder ins Lot zu rücken! Genau!

Mittwoch, kurz nach neun

Mittwoch, kurz nach neun
 

„Guten Morgen, Fidel!“ Er sitzt schon wieder auf meinem Stuhl. Irgendwer hat ihm bereits einen Kaffee kredenzt. Er sieht aus wie das blühende Leben, ich vermutlich wie ein Zombie, drei Mal ausgekotzt. Hat sich was mit „schön“.
 

„Morgen!“, knurre ich.
 

Claudia palavert in ihr Telefon, als sei nichts. Ich beneide sie.
 

„Schön geschlafen?“, fragt er.
 

Kein Stück. „Ganz super“, muffele ich. „Und du?“
 

„Klasse!“, strahlt er. „Ich hab die ganze Nacht davon geträumt, dich zu ficken! Ganz langsam und tieeeef.“
 

Claudia ist Gott sei Dank abgelenkt und kriegt das nicht mit. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Und außerdem: mich ficken? Von dem Gedanken wird mir ganz blümerant. Der Hintern ist zum kacken da – oh, sorry, zum ‚sich erfrischen‘! Da geht was raus, und nichts rein! Zumindest in meinen!
 

„Gratulation“, erwidere ich. „Heute: Buchhaltung. Ganz langsam und tieeef!“
 

„Du geile Sau, du!“, grinst er.
 

Klasse Ausgangsvoraussetzungen.
 

Wider Erwarten ist er ganz brav. Passiv wie zuvor, aber er macht auch keine Zicken. Eiert hinter mir her, lässt mich quatschen. Grabscht mich nicht an. Aber sein Blick ist irgendwie wie der eines Alligators beim Anblick eines minderjährigen Gnus.
 

Ich finde ihn eher wie eine fleischfressende Pflanze. Tarnt sich auch zuckerwattrig, riecht auch wie lecker-lecker, aber ich bin keine blöde Fliege. Ich mache gnadenlos weiter.
 

Dann kommt die Mittagspause. Auf zu Mac Do. Ich muss ja.
 

Ich sage kein Wort, während wir die Straße runter laufen.
 

„Hatte gestern noch meinen Alten auf dem AB“, sagt er zusammenhangslos.
 

„Und?“, frage ich schnippisch.
 

„Er hat sich tierisch aufgeregt“, grinst Elias.
 

„Was ein Wunder“, seufze ich. Das Einzige, was sich seit gestern geändert hat, ist sein Shirt. Das heutige ist ebenso verwaschen, aber blau.
 

„Bist du stolz auf dich?“, will ich wissen.
 

„Nein“, erwidert er ernst. „Auf diesen Kram hier bin ich überhaupt nicht stolz. Ich will hier raus! Die Kohle bedeutet mir nichts. Ich will frei sein.“
 

„Frei – wozu?“, rutscht mir heraus.

Mittwoch, Burgertime

„Du wolltest wissen, wozu frei?“, knüpft er an, als wir uns mit unserem grenzwertigen Mittagsmal auf der Wiese an der Alster ausbreiten. Heute war ich schlauer, und es gibt Chicken Mac Nuggets für mich.
 

Ich nicke und wühle nach meinen Pommes. Eigentlich ist es nur aus mir raus geblubbert, aber gesagt ist gesagt.
 

„Zu machen, was ich will!“, erklärt er.
 

„Und was willst du?“, frage ich.
 

„Gewiss kein BWL. Ethnologie wäre toll! Irgendetwas Kulturwissenschaftliches! Das wäre klasse! Wie Menschen leben!“, schwärmt er.
 

„Warum machst du’s nicht?“, will ich wissen.
 

Seine Miene verdüstert sich. „Erpressung“, erwidert er. „Wenn ich das wirklich richtig anfangen würde, dann ist meine Mutter übel dran. Leerlauf ging noch, aber keine Nägel mit Köpfen.“
 

„Und was hast du bisher getan?“, bohre ich weiter.
 

„Ich war die letzte zwei Jahre auf Kreta. Am Strand. Habe Freundschaftsbändchen geknüpft und an Touristen verkauft“, erzählt er.
 

„Was?“, keuche ich fassungslos.
 

„Ja, ganz im Ernst. Aber das hat mein Alter mir ja versalzen. Da wusste er schon wie. Da bin ich untendurch. Ich will ja was machen! Aber eben nicht das hier!“, seufzt er.
 

„Hattest du immer schon rosa Haare?“, nutze ich die Chance.
 

Er lächelt. „Nö. In Wirklichkeit bin ich aschblond. Straßenköterblond. Ich habe meinem Alten gesagt, dass ich das hier nicht will, sondern mein eigenes Leben, und dass ich schwul bin. Davon wollte er nichts wissen. Weißt du eigentlich, warum rosa heutzutage mit Schwulsein in Verbindung gebracht wird?“
 

„Nicht wirklich“, muss ich zugeben.
 

„Die Nazis haben den Schwulen im KZ einen rosa Wimpel verpasst. Damit sogar ihre Mitgefangenen auf sie herabblicken. Mädchenfarbe rosa. Absolut unmännlich und pervers. Dabei war rosa früher mal die Männerfarbe, in der Renaissance, habe ich mal gelesen. Um sie lächerlich zu machen und bloßzustellen. Und als mein Alter mir so kam … da hab ich sie mir rosa gefärbt. Verstehst du?“
 

„Die Bank ist doch kein KZ!“, protestiere ich.
 

„Nein, natürlich nicht“, gibt er zu. „Aber die Haltung meines Vaters ist ähnlich. Es hat alles zu passen, sonst ist jedes Mittel recht. Fidel, echt, er ist so ein übler Mensch. Ich wollte es lange nicht wahrhaben, aber das ist er. Ich wollte, dass er mich liebt, doch Liebe ist für ihn nur Mittel zum Zweck. Damit alles so ist, wie er es will. Ist dein Vater auch so?“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (55)
[1] [2] [3] [4] [5] [6]
/ 6

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Shunya
2012-12-02T22:54:48+00:00 02.12.2012 23:54
Hahaha~ Fidel hat vorgesorgt und Essen gekauft, das netter zu seinem Anzug ist. XD lol
Freundschaftsbändchen auf Kreta. Herrlich. XD lol
Wow, wieder was dazugelernt. O.o
Den Grund seiner Haarfarbe finde ich ja interessant, dumm ist der Junge ja echt nicht. *nodnod*
Tja, da hat er wohl wirklich Pech mit seinem Vater. Bin ich froh, dass ich so lockere Eltern habe. XD lol
Von:  Lotos
2012-12-02T09:26:53+00:00 02.12.2012 10:26
Ethnologie - Völkerkunde. Hm, interessantes Studienfach. Aber das mit Elias' Erzeuger ist ja echt hart. Und dass Elias' Haarfarbe nicht "nur" Rebellion aus einer Laune heraus ist, zeigt auch, dass der Kerl sich tatsächlich Gedanken gemacht hat. Das mit den rosa Wimpeln im KZ wusste ich wohl noch nicht, aber es ist ja allgemein bekannt, dass die Nazis auf solche "Kennzeichnungen" setzten, um die "Untermenschen" für alle anderen sichtbar zu machen.

Es ist ja völlig okay, dass Fidel gerne in der Bank arbeitet und sich so von seiner Familie abhebt. Aber seine Einstellung zu seinem Chef sollte er dringend überdenken.
Und außerdem gibt es ja auch noch andere Banken, die als Arbeitgeber in Frage kämen.
Von:  Shunya
2012-12-01T01:32:17+00:00 01.12.2012 02:32
Oho, da hat Elias ja Träume...ganz langsam und tieeef 8D höhöhöhö~
Mal sehen, wie lange der noch so brav bleiben wird. *denkt da an den Prolog zurück* ;D
Tjaja~ da soll Fidel sich mal erklären lassen, was es heißt frei zu sein. XD lol
Interessiert ihn das denn überhaupt? XD
Freue mich schon auf das nächste Kapitel! :D
Von:  brandzess
2012-11-27T19:09:05+00:00 27.11.2012 20:09
Ja *seufz-lach*...
Da war Fidel noch hetero (zumindest in seiner Welt :P) und die Welt in Ordnung xD
Von:  Shunya
2012-11-22T00:35:36+00:00 22.11.2012 01:35
Hach~ ich finde deine Kapiteltitel immer so toll. XD lol
Du meine Güte. XD *stellt sich Fidel rennend mit Erektion vor*
Fidel will öde sein, wie süß. :D
Hahaha~ ne doch nicht so ein langweiliger Vorstadtfuzzi. XD
Fidel braucht Elias, der ihn mal ordentlich aufmischt. ;P
Oha, wenn der Elias auf die Sophia trifft. Hahaha~ ;D
Ich bin schon mächtig gespannt, wie Fidel dann auf Elias reagiert, wenn sie sich in der Bank wieder über den Weg laufen. *g*
Von:  Shunya
2012-11-22T00:30:15+00:00 22.11.2012 01:30
Ach, komm schon Fidel. Der soll sich langsam mal eingestehen, dass es ihm durchaus gefallen hat, was der Elias so fabriziert hat. ;P
Och wie schade. Wieso muss Fidel denn ausgerechnet jetzt einen Rückzieheer machen? Er hat doch ne Latte und das muss Elias in Ordnung bringen. XD lol
Der hat aber auch nen Stock im Arsch! XD
Von:  Shunya
2012-11-22T00:25:37+00:00 22.11.2012 01:25
Ui, stimmt. Der erste Tag. Mann, Fidel, das wird eindeutig ne lange Woche! XD Mit hoffentlich vielen Küssen. ;P
Oha, jetzt kommt alles raus. XD lol
Wow! Elias sollte Übersetzer werden. XD
Haha~ da ist Fidel aber mächtig durch den Wind. Das ging ja mal in die Hose. ;D Bin schon gespannt, was die beiden noch so treiben werden. *g*
Von:  Shunya
2012-11-22T00:21:18+00:00 22.11.2012 01:21
Jetzt kommt's. XD Elias zeigt ihm was schönes und Fidel muss nen Kuss blechen. XD lol
Ah, da soll er nicht lange über seine Freundin nachdenken und Elias nen Schmatzer geben. Hahahah~ ;D
Da spricht wohl Fidel's Über-ich aus ihm heraus. XD Muahahaha~
Müssen wir nicht alle? Höhöhhöh~
Er hat ihn geküsst. Yay~ XD Das ist so genial! ;P
Und es gefällt Fidel auch noch, tja, damit muss er jetzt leben. =u=
Von:  Shunya
2012-11-22T00:16:15+00:00 22.11.2012 01:16
Kurz nach schön. Toller Titel. Hahaha~ XD
Und dann habe ich deinen Arsch gesehen und dann dich. Oha, so was bringt echt nur Elias. XD *lachflash*
Es lebe die Unwissenheit. Muahahahah~ Komm schon Fidel~ alle wollen's wissen. ;P
Wow, mal ein richtig ernstes Gespräch zwischen den beiden. O.o
Tja, da hat Elias schon recht, aber was verheimlicht er da noch? *grübel*
Von:  Shunya
2012-11-22T00:11:32+00:00 22.11.2012 01:11
Fidel auf der Reeperbahn! Oh Gott! *lacht sich schlapp* XD lol
Da ist so klasse. XD
Wow, so denkt Elias also über seine Eltern. Endlich kommt mal ein bisschen mehr über ihn zutage. O.o
Da denkt Fidel über Elias Haut nach. *lachflash*
Der Kerl hat echt nichts besseres zu tun. ;P
Oh, wie schön. Was Elias zum Schluss gesagt hat, gefällt mir wirklich gut. >.<


Zurück