Der große Auftritt
Die Schule hatte vor rund einer Woche wieder begonnen, doch die Ernüchterung kam schneller als erwartet.
Auch wenn Mimi mit Hilfe von Noriko und Masaru weiterhin ihre Mathenote hielt, waren die freundschaftlichen Verhältnisse zum Zerreißen gespannt.
Sora versuchte sich weiterhin mit Tai zu arrangieren, auch wenn es schwierig war nach all dem normal miteinander umzugehen.
Von Kari erfuhr Mimi, dass es ihm zurzeit nicht sonderlich gut ging, da er außer Sora und Matt kaum andere Freunde hatte.
Doch mit Matt unterhielt er sich kaum noch. Er ging sowohl Tai als auch Sora aus dem Weg und verbrachte die Pausen mit seinen Bandkollegen.
Auch Sora schien den Abstand zu suchen, da sie heute schon wieder nicht mit ihnen gemeinsam aß.
Missmutig saß Tai Mimi gegenüber und kaute schon eine geschlagene Viertelstunde auf einem Stückchen Fleisch herum, sodass Mimi nur mit dem Kopf schütteln konnte.
„Wie lange willst du noch darauf herum kauen?“, fragte sie genervt und erschrak Izzy wegen ihrer schrillen Stimme, da er sich bereits an die Stille gewöhnt hatte.
Tai hielt kurz inne, kaute danach weiter und schluckte schwerfällig sein Essen hinunter.
Mit einem bösen Blick funkelte er sie an.
„Zufrieden?“, zischte er bissig und spielte beiläufig mit den Erbsen auf seinem Teller.
„Man, wie kann man nur so schlechte Laune haben“, grummelte Mimi, obwohl sie genau wusste, was los war. Aber sie war genervt. Von der Situation. Von ihren eigenen Gefühlen. Von allem.
„Tja, ein Prinzesschen, dass alles von Papi in den Arsch geschoben bekommt, hat sicherlich nie schlechte Laune“, feuerte er zurück und Mimis Augen weiteten sich bedrohlich.
Wut stieg in ihr auf und brodelte. Doch Tai schien die deutliche Grenze, die er gerade überschritten hatte, nicht wahrzunehmen und bohrte unbeeindruckt weiter.
„So ein Leben hätte ich auch gerne. Sich um nichts Gedanken machen zu müssen, da ja der Papa alles für einen regelt“, tönte er spottend, als sich in Mimi plötzlich ein Schalter umlegte und sie vom Tisch aufsprang.
„Wie kann man nur so ätzend sein?“, brüllte sie, sodass auch andere Schüler ihren kleinen Disput mitbekamen. „Nur weil Sora dir ‘ne Abfuhr erteilt hat? Kannst du dich denn kein bisschen in ihre Situation hineinversetzten?“
Aufgebracht ließ Tai die Fäuste auf den Holztisch knallen und stand ihr überaus aufbrausend gegenüber. Izzy sah eingeschüchtert zwischen beiden hin und her, hielt sich aber bedeckt.
„Du verstehst rein gar nichts!“, erwiderte er erstaunlich ruhig, als sich sein Blick plötzlich veränderte.
Ein tiefer Schmerz war in seinen Augen zu erkennen, doch Mimi blieb unbeeindruckt und gab nur ein zischendes Geräusch von sich.
Sie hatte einfach keine Lust mehr, sich von ihm alles gefallen und sogar beleidigen zu lassen.
Auch wenn sie Gefühle für ihn hatte. Er hatte eine Grenze überschritten, sodass sich Mimi nicht mehr zurückhalten konnte.
„Ich sage nur die Wahrheit! Ich kann nichts dafür, dass du sie nicht erträgst“, antwortete sie zähneknirschend.
Ohne sich beirren zu lassen, hielt sie Tais Blick stand und versuchte sich nicht weiter von ihm provozieren zu lassen, auch wenn es ihr schwer fiel.
Doch Tai wandte den Blick von ihr, nahm sein Tablett und nuschelte etwas Unverständliches vor sich hin, ehe er an einen anderen Tisch verschwand.
Mimi blickte ihm traurig hinterher und bereute einerseits ihre Worte, wusste aber, dass sie genau genommen nichts Falsches gesagt hatte.
Tai hätte nicht von ihrem Vater anfangen sollen. Er war nach wie vor ein rotes Tuch für sie, auch wenn er es nicht wissen konnte. Seufzend ließ sie sich wieder neben Izzy nieder, der schweigsam in seinem Essen stocherte.
Selbst Mimi war der Appetit vergangen, auch wenn sie ihren Bauch deutlich grummeln hörte.
Wieso musste die Situation nur so eskalieren? Für einen Moment hatte sie wirklich Angst, dass Tai ihr eine Scheuern würde. Doch in seinem Blick hatte sie noch etwas anderes außer Wut gesehen. Es war fast so, als wollte er ihr viel mehr sagen, es aber bewusst zurückhielt, auch wenn seine Augen ihr durchaus etwas mitzuteilen versuchten.
Doch was hatte das alles nur zu bedeuten? Im Gedankenlesen war sie bisher immer kläglich gescheitert.
Vielleicht hätte sie sich doch besser etwas zurückhalten sollen.
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Den Rest des Tages war sie Taichi aus dem Weg gegangen. Niedergeschlagen machte sie sich auf den Heimweg und achtete nicht sonderlich auf ihre Umgebung, als sie plötzlich mit jemanden zusammenstieß und prompt auf dem Boden landete.
Sie rieb sich schmerzverzerrt den Po und säuselte ihrem Gegenüber eine Entschuldigung entgegen, ohne direkt hochzuschauen.
„Du solltest wirklich besser aufpassen“, ertönte eine sehr bekannte Stimme und Mimi sah erschrocken in Matts Gesicht, der ihr seine Hand hinhielt und ihr wieder auf die Beine half.
„Danke“, murmelte sie verlegen und senkte ihren Kopf, um ihn nicht direkt ansehen zu müssen.
Es war ihr immer noch peinlich mit ihm alleine zu reden, nachdem diese Nacht zwischen ihnen passiert war. Er schien weniger Probleme damit zu haben, doch Mimi war einfach nicht der Typ für One Night Stands, besonders nicht mit Freunden.
Beide setzten sich wieder in Bewegung und liefen schweigend eine Zeitlang nebeneinander, als Matt plötzlich das Wort ergriff.
„Und wie geht’s dir so? Alles klar bei dir?“
Überrascht musterte sie ihn, da sie mit einer solchen Frage nicht gerechnet hatte.
„Ja, eigentlich schon und bei dir?“, log sie und ignorierte die Tatsache, dass sie sich heute lautstark mit Taichi gestritten hatte.
„Man macht so weiter“, kam es von Matt, der seine Hände in seiner Hosentasche vergraben hatte und stur geradeaus schaute. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen.
„Ich habe gehört, dass du Tai heute den Marsch geblasen hast…wie kam es denn dazu?“, fragte er interessierte und drehte sich ihr wieder zu.
Mimi wurde leicht rot um die Nase und stammelte unvollständige Sätze vor sich hin, bevor sie ihre Sprache allmählich wiedererlangte.
„Naja…er lässt halt seine Laune an alles und jedem aus, weil…naja du weiß ja, dass die Dinge kompliziert sind.“
Er nickte nur bestätigend und ließ seine Schultern leicht nach unten hängen.
„Ja und ich bin gar nicht mal so unschuldig an der Sache“, räumte er ein, weshalb sich Mimi verwirrt zu ihm hindrehte.
„Du hast doch Sora für ihn freigegeben. Aber wenn sie…“
„Ich hätte nichts mehr mit ihr anfangen dürfen. Das war egoistisch“, unterbrach er sie.
„Aber du liebst sie doch, oder?“, entgegnete Mimi zweifelnd.
Matt blieb plötzlich stehen. Auch Mimi hielt in ihrer Bewegung inne und sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.
Ein leichtes Lächeln zog sich über seine Lippen und verunsicherte Mimi zusehends.
„Wir hatten mehr als eine Chance und es hat nie geklappt, weil ich Musik machen wollte und immer noch will. Sie stand dazwischen und war unglücklich damit, das weiß ich“, erwiderte er nachdenklich. „Und außerdem habe ich mich ziemlich schnell getröstet, findest du nicht?“
Mimi lief auf einmal knallrot an und bemerkte einen plötzlichen Schweißausbruch. Wollte er jetzt ernsthaft darüber reden? Warum war sie nur in ihn hineingelaufen?
„Matt…wir waren beide betrunken und verletzt“, antwortete sie vage, konnte ihm aber nicht in die Augen sehen.
Matt stöhnte herzlich und schüttelte seine blonde kurze Mähne. Er schloss etwas zu ihr auf und blieb dicht neben ihr stehen.
„Ich weiß, aber trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen“, flüsterte er betroffen.
Mimi hatte die Arme vor der Brust verschränkt und biss sich auf die Unterlippe.
Auch sie hatte ein schlechtes Gewissen, besonders Sora gegenüber.
„Die Sache wird doch unter und bleiben, oder?“, fragte sie nach einer Weile und wirkte alarmiert.
„Also, ich wüsste jetzt nicht wem ich es erzählen sollte“, antwortete Matt schulterzuckend und beide gingen weiter.
„Sag mal, warum arbeitest du jetzt eigentlich in diesem Bistro?“, hakte Mimi nach, nachdem ihr wieder eingefallen war, dass sie ihn letztens mit Noriko gesehen hatte.
Die Situation mit Matt war nach wie vor komisch für sie.
Doch sie schaffen es, ein halbwegs normales Gespräch miteinander zu führen. Er erzählte ihr, dass er noch etwas zusätzliches Geld für die spätere Tour in den USA benötigte, weshalb er unter der Woche und in den Ferien in dem kleinen Bistro arbeitete. Er befand sich gerade wieder auf dem Weg dorthin, als sie an der Kreuzung ankamen, in die Mimi einbiegen musste.
Einerseits war sie erleichtert endlich nicht mehr mit ihm reden zu müssen, doch andererseits merkte sie, dass ihn die Sache mit Tai und Sora mehr mitnahm als er zugab. Doch darüber hatten sie nicht gesprochen.
Gerade als Mimi in ihre Straße einbiegen wollte, hörte sie wie er ihren Namen rief. Sie drehte sich herum und erkannte einen ungewöhnlichen, aber auch herzzerreißenden Ausdruck in seinen Augen, den sie zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte.
„War es richtig, sie gehen zu lassen?“
Mimi legte den Kopf schief und fuhr sich mit ihren Händen über ihren Rock.
„Ich weiß es nicht, was sagt dir denn dein Gefühl?“
Matt legte die flache Hand in den Nacken, richtete seinen Blick immer wieder vom Boden zu Mimi und zurück. Er druckste ein wenig herum, verzog die Lippen und richtete den Kopf zum unendlich wirkenden Himmel.
„Es fühlt sich nach einem riesengroßen Fehler an…aber jetzt kann ich ihn nicht mehr ändern. Ich habe sie schon einmal verletzt und will, dass sie glücklich wird.“
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Seine Worte hallten ihr auch noch eine knappe Woche später durch den Kopf, auch wenn sie vor Aufregung fast platzte. Doch sie wollte weder an Matt, noch an irgendwen sonst denken.
Heute war der Tag der Tage gekommen. Sogar ihre Mutter wollte sich ihren ersten Auftritt ansehen, für den sie, mit den Jungs, wie eine Blöde geübt hatte.
Noriko und sie wollten auch ihren Plan, ihre Mütter wieder einander ein bisschen näher zu bringen, in die Tat umsetzen.
Ayame hatte versichert später nach zukommen und Mimi hoffte, dass ihre Mutter nach dem erneuten Zusammentreffen bereit war nochmal mit ihr zu reden.
Auch Chiaki und Noriko hatten sich ausgesprochen und er arrangierte sich allmählich mit dem Bandnamen, den sie ausgewählt hatten.
Mimi befand sich zurzeit gemeinsam mit Yasuo und Noriko in einem Nebenraum des Clubs, um sich fertig zu machen. Noriko schminkte sie, da Mimi viel zu nervös dafür war.
Ihr Outfit war etwas rockiger gehalten. Sie trug einen schwarzen Lederrock und ein weißes Shirt mit Aufdruck. Die Schuhe hatte ihre Noriko geliehen, da sie meinte, dass Boots mit Nieten besser zum Outfit passten, als ihre filigranen Pumps.
Ihre Haare hatte sie sich gelockt und Noriko hatte ihre Federextensions in die Haare gesteckt, die farblich zur schwarz-weiß Kombi passten.
Nur noch das Makeup fehlte.
„Ich bin schon total nervös“, gab Mimi zu, als Noriko ihre Lider schminkte.
„Das ist normal, aber wenn du erstmal auf der Bühne stehst…ach du wirst das Gefühl lieben“, antwortete sie euphorisch, da sie genau wusste, von was sie sprach. Mimi hatte sie oft von ihren Orchesterauftritten erzählt und das sie öfters ein Klaviersolo eingeräumt bekam.
Doch Mimi wurde bei dem Gedanken, auf einer Bühne zu stehen und vor wildfremden Menschen zu spielen, nur schlecht.
„Geht’s dir gut?“, fragte Yasuo auf einmal und erinnerte an seine Anwesenheit. „Du bist so blass.“
„Ehm…“, brachte Mimi hervor und betrachtete sich auffällig im Spiegel.
„Yasuo, sie ist nur aufgeregt“, beruhigte Noriko ihn und drehte ihren Kopf wieder zu ihr. „So jetzt halt bitte still, ich ziehe den Eyeliner.“
Mimi schloss die Augen und versuchte nicht allzu sehr zu wackeln, auch wenn sie sich kurz erschrak, als Noriko den Eyeliner ansetzte und mehrmals über den Wimpernkranz zog.
„Deswegen dauert das bei euch so lange“, hörte Mimi Yasuo erstaunt sagen. „Ich glaube, sowas könnte ich gar nicht.“
„Ist eben Präzisionsarbeit und Übungssache“, antwortete Noriko. „So du kannst die Augen langsam öffnen. Aber wirklich langsam!“
Mimi blinzelte leicht und tat was ihr gesagt wurde. Sie erkannte Noriko und Yasuo vor sich, der wieder seine Kamera gezückt und auf sie gerichtet hatte.
„Was kommt als Nächstes? Sieht noch unfertig aus“, meinte er zu Noriko.
„Die Wimperntusche fehlt noch, aber erst müssen wir sie noch ein bisschen biegen, damit sie einen schönen Schwung haben“, erklärte sie ausführlich und schnappte sich eine silberne Wimpernzange.
„Ich glaube, das werde ich noch selbst hinbekommen“, erwiderte Mimi, da sie es nicht mochte, wenn ihr jemand mit so einem Ding am Auge herumspielte.
Noriko überreichte sie ihr und Mimi drehte sich zum Spiegel, um die Zange an ihren Wimpern anzusetzen und hochzubiegen.
„Sieht ja abartig aus“, kommentierte Yasuo mit offenem Mund und hielt die Kamera direkt auf Mimi, die sich bei dieser Nahaufnahme alles andere als wohl fühlte.
Doch sie ließ sich nicht beirren, tuschte sich noch die Wimpern und betrachtete ihr fertiges Selbst im Spiegel.
Sie sah anders aus als sonst.
Normalerweise schminkte sie sich nicht so stark, sondern hielt alles sehr natürlich. Dennoch passte alles zusammen und ihr Magen beruhigte sich wieder etwas.
„Und wie sehe ich aus?“, stellte sie die Frage an Noriko und Yasuo gewandt.
„Super“, meinte Noriko strahlend.
„Gewöhnungsbedürftig“, kam es von Yasuo, der den Kopf schräg legte. Mimi wuschelte ihm nur mit einer Hand durch seine braunen Haare und lächelte.
„So, hilfst du mir jetzt auch dabei, mich ein wenig aufzuhübschen?“
„Klar“, antwortete Mimi sofort und machte für Noriko Platz, die jedoch zielstrebig zu ihrer Tasche lief und etwas hervorholte.
Mimis Lächeln versteinerte sich, als sie sich wieder herumdrehte und sie den Gegenstand sah, den sie in ihren Händen hielt.
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Nervös stand sie auf der Bühne. Das Licht war noch aus und somit noch nicht auf sie gerichtet.
Masaru und Chiaki hatten jeweils die Gitarre und den Bass umgeschnallt, während Yasuo hinter dem Schlagzeug saß.
Mimis Knie zitterten und sie haute ihre Schneidezähne in ihre Unterlippe, als Etsuko das andere Mikro in die Hand nahm und sie, neben Noriko stehend, ankündigte.
„Hallo, ich möchte euch ganz herzlich heute Abend bei uns begrüßen“, sagte Etsuko mit einem Lächeln auf den Lippen, dass Mimi sogar von der Bühne aus erkennen konnte.
Sie war mindestens genauso gespannt, wie das Publikum, das größtenteils aus Studenten bestand, auf sie reagieren würde.
„Wir haben heute ein wenig Frischfleisch für euch!“, tönte sie und streckte den Arm in Richtung Bühne. „Ladys und Gentleman: The Unwanted!“
Das Licht schaltete sich prompt ein und Mimi zuckte leicht zusammen. Sie krallte sich am Mikrofonständer fest, so als hätte sie Angst den Halt zu verlieren.
Ihr Herz hämmerte wild gegen ihre Brust als Masaru und Chiaki zu spielen begannen.
Dieses Lied war hart.
Sie hatten es in der Probe oft gespielt und Noriko hatte oft Tränen in den Augen, da es ihr sehr nah ging. Es ging ums Verlieren. Etwas zu verlieren, das einem wichtig war und man am liebsten sterben wollte.
Yasuo schlug auf das Becken und Mimi wurde bewusst, dass sie gleich mit dem Gesang einsetzte.
Sie blickte zu Noriko, die sie anstrahlte und ihr versuchte damit Mut zu machen.
Doch Mimi sah nur die kurz rasierten Haare, die selbst auch noch ausfallen würden.
Sie setzte ein und konzentrierte sich auf die Verbindung, die sie auf einmal spürte.
I had everything
Opportunities for eternity
And I could belong to the night
Ja, sie hatte ihr den Kopf rasiert. Noriko musste sie nicht lange dazu überreden, da sie nur einmal kurz an ihren langen Haaren zog und sich mehrere Strähnen auf einmal lösten.
Sie wollte selbst die Entscheidung treffen, wann sie ihre Haare verlor. Sie wollte nicht zusehen und feststellen, dass sie immer weniger wurden.
Daher tat Mimi ihr diesen Gefallen, auch wenn es ihr schwer fiel.
Sie umklammerte das Mikro und fuhr mit dem Mund dicht daran vorbei. Sie hatte das Gefühl, den Text teilweise zu krächzen, da ihre Stimme drohte sich bei manchen Passagen zu überschlagen. Doch das was sie hörte, war wie Magie, die ihre eigene Euphorie fütterte.
Sie blickte kurz zu Masaru, der bestätigend mit dem Kopf im Takt mitwippte.
Auch dem Publikum schien der Song zu gefallen, da sie taktvoll mitgrölten oder klatschten.
Ein Gefühl strömte durch ihren Körper, dass sie nicht beschreiben konnte, aber so belebend war, dass sie drohte sich selbst zu vergessen und nur für diesen einen Moment zu leben.
You make me wanna die
I'll never be good enough
And everything you love will burn up in the light
Beim Refrain setzte auch Masarus Stimme ein, die in das Mikrofon grölte. Mimi schüttelte ausgelassen ihre Haare und obwohl sie diesen Song immer so furchtbar traurig gefunden hatte, empfand sie in diesem Moment genau das Gegenteil.
Er war aggressiv, wild und unberechenbar.
Sie nahm das Mikro vom Ständer und ging näher zum Bühnenrand, wo sich das grölende Publikum ihr entgegenstreckte. Sie fuhr sich durch die Haare und bemerkte, dass sie leicht feucht waren.
Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, da durch die Lampen eine unheimliche Hitze auf der Bühne entstand. Doch sie genoss den Moment. Die Musik. Die Bestätigung. Und unbändige Leidenschaft.
Es fühlte sich alles so surreal an, doch sie stand tatsächlich hier. Und dieses Gefühl konnte ihr keiner mehr nehmen.
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Den letzten Song stimmte sie nur mit Masaru ein, der sie auf einer Akustikgitarre begleitete. Beide hatten zwei Hocker auf die Bühne gestellt bekommen, während sich Chiaki und Yasuo schon zu Noriko gesellen.
Es war abgesprochen, dass der letzte Song etwas Besonders sein sollte.
Nicht nur weil Mimi ihn geschrieben hatte. Nein, sie wollte etwas loslassen, das sie schon lange beschäftigt hatte.
Es war ein seichter Song mit einer beruhigenden Melodie, genau passend zum Ende.
Masaru strich über die Seiten und stimmte die Melodie an, während Mimi etwas unruhig auf ihrem Hocker hin und her zappelte. Sie sah zu Noriko, die gerade Yasuo umarmt hatte und nun Chiaki an sich drückte.
Doch etwas veränderte sich auf einmal, was Mimi gut beobachten konnte.
Sie wusste nicht genau, was Noriko mit Chiaki besprochen hatte, aber beide wirkten viel glücklicher auf sie.
Noriko ließ ihn wieder los, doch er hielt sie weiterhin in seiner Umarmung fest, fuhr ihr über die kurzen Haare, während Noriko schüchtern lächelte.
Plötzlich reckte sie sich ihm entgegen und Mimi sah, wie sie ihre Lippen aufeinander legten.
Für einen Moment blickte sie ungläubig in die Ecke, doch sie halluzinierte nicht.
Die beiden küssten sich tatsächlich.
You don’t want me, no
You don’t need me
Ein wenig wehmütig wandte sie den Blick von ihnen und konzentrierte sich ganz auf den Text, den mitten in der Nacht unter Tränen verfasste.
Sie erinnerte sich noch gut an das Gefühl des Schmerzes und der Hilflosigkeit, dass sie empfand und immer wieder empfinden würde, wenn sie nicht losließ.
Es verletzte sie, nicht so von ihm wahrgenommen zu werden, wie sie ihn wahrnahm.
Es verletzte sie, dass er kaum noch mit ihr sprach oder ihr Beleidigungen an den Kopf warf.
Doch am meisten verletzte sie, dass er sie nicht so lieben konnte, wie sie es tat.
Sie senkte den Kopf und kämpfte mit ihrer eigenen Stimme.
Die Emotionen übermannten sie und Mimi bemerkte nur noch eine Nässe, die ihre Wangen hinunter lief.
And I want you in my life
And I need you in my life
Man konnte sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebte. Aber man konnte selbst entscheiden, dem Schmerz ein Ende zu bereiten. Es half ihr ungemein über ihre Gefühle zu singen und sie war sich auch sicher, dass keiner im Publikum merkte, dass sie leise vor sich hin weinte.
Nur Masaru schenkte ihr einen kurzen aufmunternden Blick, den sie nur knapp erwiderte.
Es fiel ihr schwer, aber es war auch unsagbar befreiend, dass auszusprechen, was sie sonst immer für sich behielt.
Sie saß mitten auf der Bühne, hielt eine Hand am Mikro und ließ sich fallen, da sie wusste, dass jemand da, der sie wieder auffing.
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„Oh mein Gott, das war einfach unfassbar toll“, quietschte Noriko und fiel ihr um den Hals. Mimi strauchelte kurz, kam aber mit ihr zum Stehen und erwiderte ihre herzliche Umarmung.
„Du hast mir wirklich einiges zu erklären, meine Liebe“, flüsterte sie in ihr Ohr und grinste verschwörerisch.
Noriko löste sich von ihrer Umarmung und wurde prompt ein wenig rot um die Nase, dass das grelle Licht nur verschlimmerte.
„Später, okay?“, antwortete sie mit einem vielsagenden Lächeln und zwinkerte ihr zu.
Mimi lachte nur und hielt bereits Ausschau nach ihrer Mutter, die von der Bühne aus nicht finden konnte.
„Sag mal, hast du meine Mutter gesehen?“, fragte Mimi an Noriko gewandt, obwohl sie sie immer noch mit ihren Augen suchte.
„Ehm ja, vorhin. Ich glaube Etsukos Vater bespricht gerade mit ihr noch den Dienstplan für nächste Woche“, erklärte sie kurz und fuhr sich über ihre Haarstoppeln.
„Wird mich Deine umbringen, wenn sie das sieht?“
Etwas verunsichert starrte sie zu Noriko, die nur ein mattes Lächeln auflegte.
„Sie weiß Bescheid. Mach‘ dir da mal keine Gedanken.“
„Hast du dir schon überlegt, wie wir beide zum Reden bewegen wollen?“, hakte Mimi skeptisch nach.
Irgendwie war ihr immer noch nicht so ganz wohl bei ihrem Vorhaben. So richtig abgesprochen hatten sie das Ganze nicht. Sie hatten einfach etwas getrickst und ihre beiden Mütter zu ihrem Auftritt bestellt, ohne der jeweils anderen zu sagen, dass die andere auch käme.
Sie war sich nicht sicher, ob das die beste Idee war.
„Wie sie wohl reagieren werden…?“
Noriko legte den Kopf zu Seite und bewegte die Lippen von links nach rechts.
„Ich gehe davon aus, dass sie es schon längst ahnen. Wir unternehmen so viel miteinander, dass das wohl unvermeidlich bleibt“, sagte sie nüchtern und lächelte leicht.
Sie sah direkt hinter Mimi. Überrascht drehte sie sich herum und erkannte, wie ihre Mutter strahlend auf sie zugelaufen kam.
Sie stieß einen schrillen Schrei aus und umarmte Mimi stürmisch.
„Ihr wart so toll“, säuselte sie ihr ins Ohr und drückte sie so fest, dass Mimi zu ersticken drohte.
„Mama, ich bekomme kaum noch Luft“, krächzte sie außer Atem.
Abrupt ließ sie sie los. Das Strahlen war immer noch in ihren Augen zu sehen.
Sie strotzte vor Stolz und drohte ihr erneut um den Hals zu fallen, als ihre Mutter Noriko wahrnahm.
Beide hatten sich noch nicht so oft gesehen. Mimi konnte sich daher vorstellen, dass es für sie nach wie vor komisch war, dem Kind gegenüberzustehen, das aus einer Affäre ihres Mannes entstanden war.
„Hallo, wie geht es dir denn?“, fragte Satoe behutsam und musterte ihre kurze Frisur, was Mimi nicht unbemerkt blieb.
„Mama, starr‘ nicht so“, forderte sie sie auf und sah entschuldigend zu Noriko die nur mit der Hand abwinkte.
„Ich bin sowas gewöhnt. Aber mir geht es soweit gut, danke der Nachfrage“, antwortete sie ehrlich und entschuldigte sich kurz bei ihnen.
Mimi schluckte, da sie wusste, dass Noriko ihre eigene Mutter suchen wollte.
Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum und bemerkte erst gar nicht, dass ihre Mutter sie sorgenvoll betrachtete.
„Ist alles okay? Du bist so angespannt. Wartest du noch auf jemanden?“
Ihr Blick richtete sich in die Menge, doch Noriko blieb vorerst verschollen. Die Jungs hatten sich mit Etsuko an die Bar verzogen, während Mimi und ihre Mutter am Rande der Tanzfläche standen.
Neben ihnen wurde ausgelassen getanzt, als bei Mimi die Anspannung ins Unermessliche stieg und ihre Finger zu zittern begannen.
„Mimi?“ Ihre Mutter berührte sie sachte am Arm. Sie schrak kurz zusammen, blickte wieder zur Menschenmenge und entdeckte Noriko direkt auf sie zukommen.
„Mama, ich…“
„Satoe?“
Ihre Mutter drehte sich um, als sie ihren Namen hörte und blickte direkt in die Augen ihrer ehemaligen besten Freundin.
„Mimi, was ist hier los?“, brachte sie nur zu Stande und sah sie irritiert an.
Ayame wirkte weniger überrascht und schielte wissend zu ihrer Tochter, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
„Überraschung?“, meinte Noriko kleinlaut, während ihre Mutter herzlich seufzte.
„Das war geplant!“, stellte Ayame mit verschränken Armen fest und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht.
„Stimmt das etwa, Mimi?“ Satoe wandte sich ihr zu, während Mimi ihr einen gequälten Gesichtsausdruck zuwarf.
„Wir wollten einfach nochmal erreichen, dass ihr miteinander redet“, warf Noriko ein und zuckte mit den Schultern. „Es ist noch so vieles ungeklärt.“
„Ja, genau“, stimmte Mimi bedrückt mit ein und erntete von ihrer Mutter direkt einen bösen Blick.
Sie hatte zwar gesagt, dass ihr Ayames und Norikos Situation leidtat, doch das hieß noch lange nicht, dass sie bereit war mit ihr zu reden.
„Überlegt es euch doch nochmal! Für uns!“, bettelte Noriko hilflos.
Satoe und Ayame blicken sich kurz an. Keiner der beiden Mädchen konnte so richtig, deuten was in ihren Köpfen vorging.
Angespannt warteten sie auf eine Antwort.