Wiedersehensfreude
Der nächste Tag kam schneller als Mimi lieb war. Heute hatte sie wieder Nachhilfe, auf die sie wohl seit Samstag nicht mehr sonderlich viel Lust hatte. Wie sollte sie Tai nur gegenübertreten?
Beide hatten nicht mehr viel miteinander gesprochen, seit sie sich geküsst hatten. Und heute war sie dazu gezwungen mit ihm zu reden, auch wenn es nur über Mathe war.
Keiner konnte garantieren, dass es auch bei dem einen Thema blieb. Vielleicht hatte er sie schon längst durchschaut und hatte gemerkt, wie sehr sie den Kuss mit ihm genossen hatte.
Doch daran wollte sie lieber nicht denken.
Sie verabschiedete sich schnell von Izzy, der noch eine Sitzung seines Computerclubs leiten würde. Tai war bereits zu Hause und wartete auf sie. Er hatte eine Freistunde und ihr nur eine knappe SMS geschrieben, dass er bereits nach Hause gegangen war.
Auch wenn sie wusste, dass sie seine Hilfe in Mathe brauchte, um nicht durchzufallen, hatte sie eigentlich gar keine Lust mit ihm alleine in seinem Zimmer zu sitzen und zu lernen.
Es war ihr unangenehm. Sie wusste nicht was passieren würde, ob er darüber reden wollte, oder es einfach ignorierte.
Besonders schlimm empfand sie die Tatsache, dass sie die ganze Zeit Recht hatte. Er war in Sora verliebt, die auf sie sehr geistesabwesend wirkte.
Selbst Matt schien langsam bemerkt zu haben, dass etwas vorgefallen war. Sora hatte sich komplett von ihm distanziert und versuchte sich über ihre seltsamen Gefühle, die sie neuerdings bei Tai verspürte, klar zu werden. Sie hatte Mimi erzählt, dass sie diesen Abstand bräuchte, um sich zu ordnen. Natürlich hatte sie sie um Verschwiegenheit gebeten, die Mimi selbstverständlich einhielt, auch wenn es ihr schwer fiel.
Mimi ging verhältnismäßig langsam die Treppen hinunter und bemerkte, dass die meisten Schüler sie freudig überholten und nach draußen stürmten.
Sie hingegen wollte einfach nur Zeit schinden, um noch ein bisschen ihren Gedanken nachzugehen.
Noriko hatte zum Glück aufgehört ihr ständig SMS zu schreiben und sie um ein weiteres Treffen zu beten. Wahrscheinlich hatte sie es aufgegeben, da Mimi sowieso nicht reagierte.
Die Sache zwischen ihren Eltern war jedoch unverändert. Als Mimi gestern in der Schule war, hatte ihr Vater noch einige Sachen abgeholt und sich wieder mit ihrer Mutter gestritten.
Sie wusste zwar nicht genau, über was die beiden gestritten hatten, doch ihre Mutter hatte wieder geweint und wie ein Häufchen Elend auf der Couch gesessen, als sie gegen Abend nach Hause gekommen war.
Ihre Mutter war kaum ansprechbar und stierte nur teilnahmslos in die Ecke. Sie wirkte richtig apathisch, so als würde sie sie gar nicht mehr wahrnehmen.
Mimi wusste nicht, wo das Ganze noch enden sollte. Würden sich ihre Eltern etwa scheiden lassen?
Sie könnte es schon irgendwie verstehen, aber ihr inneres Kind hoffte auf eine Versöhnung. Schließlich war die Geschichte schon Jahre her, auch wenn es für sowas keine Verjährungsfristen gab.
Sie hätte wohl genauso wie ihre Mutter reagiert, wenn nicht sogar schlimmer.
Als Jason damals mit ihr Schluss machte, hatte sie ihn regelrecht aus dem Haus gejagt und ihm sämtliche Sachen beinahe gegen den Kopf geworfen. Hauptsächlich Schuhe.
Echt blöd, dass sie ihn nicht ein einziges Mal getroffen hatte, doch werfen war noch nie ihre Stärke gewesen.
Gedankenverloren schlenderte sie zum Haupttor und bemerkte erst gar nicht, dass jemand dort stand und wartete.
Erst als sie ihren Namen vernahm, wirbelte sie herum und erstarrte.
„Was willst du denn hier?“, fragte sie in einem herablassenden Ton und musterte ihr Gegenüber argwöhnisch.
Sie gab wohl niemals auf. Da half es wohl auch nicht, ihre SMS zu ignorieren.
„Ich will nochmal mit dir reden“, antwortete sie stur und blieb direkt vor ihr stehen. „Ich denke, dass bist du mir irgendwie schuldig.“
„Ich? Dir? Bist du irre!“, erwiderte sie empört und stemmte die Hände in die Hüfte. „Du tauchst doch einfach auf und machst meine Familie kaputt.“
Selbstverständlich wusste sie, dass das nicht stimmte. Noriko konnte am wenigsten etwas dafür. Sie war eine Leidtragende, genau wie sie.
„Ich mache deine Familie kaputt? Ich glaube, dass DEIN Vater dafür ausschlaggebend war“, betonte sie und sah sie mit einem verletzenden Blick an, sodass Mimi prompt ein schlechtes Gewissen bekam.
„Er ist auch dein Vater“, korrigierte sie Noriko kleinlaut und senkte den Kopf.
„Schön, dass du das auch mal einsiehst!“, murrte sie nur. „Mimi, das einzige was ich will, ist dich ein bisschen näher kennen zu lernen.“ Sie machte eine kurze Pause und sah sie dringlich an.
Mimi hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich kurz. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie exakt die gleiche Augenfarbe hatten. Auch ihre Nase war ihrer sehr ähnlich.
„Bitte, nur ein Gespräch. Wenn du mich danach immer noch ätzend findest, werde ich dich nie wieder belästigen, versprochen“, versicherte sie ihr glaubwürdig. Ihr Blick wirkte nicht mehr so einschüchternd auf sie. Ein wenig Verzweiflung spielte sich in ihren Augen wieder, die Mimi signalisierte, dass Noriko das Gespräch mit ihr sehr wichtig war.
Und auch wenn es ihr schwer fiel, ihr fehlten noch einigen Antworten, die wohl nur ihr Vater, Ayame oder vielleicht sogar Noriko beantworten konnten.
Was hatte sie schon zu verlieren? Noriko hatte ihr ein klares Angebot gemacht, dass sie einfach nicht ablehnen konnte.
Wenn sie Glück hatte, war sie sie am Ende wenigstens los. Eine Win-Win-Situation.
Und so lange würde das Gespräch sicher nicht dauern. Tai würde es sicher verkraften, wenn sie ein paar Minuten später kommen würde.
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„So, und jetzt?“, fragte sie, als sie sich auf der Bank im Park niedergelassen hatte.
Der heutige Tag war wirklich fabelhaft, um ein wenig raus zu gehen und den Kopf frei zu bekommen. Ein warmes Lüftchen wehte und die Sonne schien durch die Blätter des Baumes, unter dem sie es sich bequem gemacht hatten.
Noriko strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und sah Mimi an. Für einen Moment sagte sie gar nichts. Ihr Blick war intensiv, aber wirkte dennoch freundlich.
Nicht so wie bei ihrer allerersten Begegnung. Mimi erinnerte sich noch genau, wie herablassend und böse sie sie anschaute, so als wolle sie ihr am liebsten ins Gesicht springen.
Sie fragte sich, wie sie reagiert hätte, wenn sie das erste Mal wissend auf ihre Schwester getroffen hätte. Genau genommen war ihre Begegnung ja noch recht harmlos gewesen.
Jedenfalls waren sie nur verbal aufeinander losgegangen.
„Ich warte“, meinte Mimi ungeduldig, verschränkte die Arme vor der Brust und tippte unruhig mit dem Finger auf ihren Arm.
„Sorry, ich weiß irgendwie nicht so richtig wie ich anfangen soll“, erwiderte sie und kratzte sich an ihrem Hinterkopf. „Vielleicht sollte ich mich erstmal dafür entschuldigen, dass ich einfach so bei dir aufgetaucht bin. Das war wohl nicht so gut“, räumte sie ein und legte ein unschuldiges Gesicht auf.
„Nicht so gut? Meine Mutter hat meinen Vater rausgeworfen!“
„Okay. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet“, gab sie kleinlaut zu und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„Ach nein? An welche Reaktion hast du denn sonst gedacht? Dass sie ihm lachend in die Arme fällt?“, fragte sie sarkastisch und schlug die Beine übereinander.
Noriko sackte leicht die Bank hinunter und drückte sich gegen die Lehne.
„Sie hat es doch gewusst, oder wenigstens geahnt! Sonst hätte sie meinen Wink mit dem Zaunpfahl sicher nicht verstanden“, entgegnete sie nur.
Mimi schnaubte.
„Sie wollte es wohl nicht glauben“, antwortete sie und schüttelte den Kopf. „Und ich habe von all dem rein gar nichts geahnt.“
„Ich weiß es auch erst, seit ich dreizehn bin.“
Mimi sah sie kurz an und erinnerte sich an die Krebsgeschichte, die sie ihr erzählt hatte. Sie hatte Leukämie. Irgendwie hatte sie das komplett verdrängt gehabt.
„D-Dir geht es aber schon…naja du weißt schon…krank bist du nicht mehr, oder?“, stammelte sie sich zurecht, während Noriko belustig dem Gespräch folgte.
„Keine Sorge, ich bin in meinem fünften Jahr“, meinte sie locker und grinste leicht.
„In deinem fünften Jahr?“, wiederholte Mimi skeptisch und runzelte die Stirn. Sie hatte absolut keine Ahnung von was sie da sprach.
„Wenn du fünf Jahre keinen Rückfall mehr hattest, giltst du als komplett geheilt“, erklärte Noriko ihr strahlend. „Und ja, das ist fast so wie ein zweiter Geburtstag.“
„Oh“, brachte sie gerade noch hervor und wandte sich von ihr ab.
Sie schluckte hart und presste die Lippen aufeinander. Mimi hatte eigentlich noch nie mit kranken Menschen in ihrem Umfeld zu tun gehabt. Dementsprechend war sie von der neuen Thematik ein wenig überfordert gewesen. Was sollte man auch als Unbeteiligter sagen? Klang doch alles sehr seltsam, wenn man es nicht selbst durchgemacht hatte. Dennoch brannte ihr eine andere Frage auf der Zunge, die sie ihr unbedingt stellen wollte.
„Und wie geht es deiner Mutter?“
Mimi erinnerte sich daran, wie sie Ayame das erste Mal gesehen hatte und vollkommen geschockt über ihr Aussehen war.
Sonderlich gut, schien es ihnen sicher nicht zu gehen.
„Sie kommt klar“, antwortete Noriko zurückhaltend. „Es ist nicht einfach, aber es funktioniert irgendwie.“
„Wie meinst du das denn?“, hakte Mimi nach.
„Naja, viel Geld haben wir jetzt nicht, aber das wird sowieso überbewertet. Wir haben ja uns.“
Noriko lächelte sanft, doch Mimi war nicht zum Lächeln zu Mute.
Sie steckte nun in haargenau der gleichen Situation. Wahrscheinlich würden ihre Mutter und sie auch nur knapp über die Runden kommen. Das Haus müssten sie sicher aufgeben und in eine kleinere Wohnung ziehen. Neue Klamotten könnte sie sich dann auch nicht mehr leisten.
Ihr Leben würde den Bach runter gehen.
„Was ist los?“
„Nichts“, antwortete sie und blickte starr auf den Boden.
„Jetzt sag schon!“
„Nein…es ist alles…“
„Hasst du mich jetzt?“, fragte sie unverblümt.
„Was? Warum fragst du sowas?“
Mimi blickte sie irritiert an und zog ihre Augenbrauen zusammen.
„Naja, wenn ich du wäre, würde ich mich wahrscheinlich hassen. Ich habe mich eingemischt und jetzt ist alles chaotisch“, sagte sie und wurde mit jedem Wort leiser.
Mimi fuhr sich durch die Haare, sodass sie ihr nicht mehr ins Gesicht fielen.
Aus irgendeinem Grund konnte sie sie nicht hassen. Sie war genauso unschuldig an der Sache wie sie.
Es wäre nicht fair, ihr mit Hass gegenüber zutreten.
Im Moment hasste sie wirklich nur eine Person: Ihren Vater.
Er hatte sie angelogen und ihr etwas sehr wichtiges verschwiegen, dass ihr Leben von heute auf morgen einfach veränderte.
Selbst Norikos Mutter konnte sie nicht richtig hassen. Sie hatte alles verloren, was ihr lieb und heilig war. Und das spiegelte sich deutlich wieder.
„Ich hasse dich nicht, aber ich bin ganz schön überfordert“, gestand sie sich ein. „Im Moment würde ich einfach nur gerne meinen Vater anschreien und fragen, warum er das getan hat.“
„Für manche Ereignisse gibt es keine Erklärung. Sie passieren einfach.“
„Ja wahrscheinlich. Und wir müssen uns jetzt irgendwie damit arrangieren, toll oder?“
Noriko nickte nur und blickte in die Ferne.
Das Leben hatte wohl seine eigenen Regeln. Sie waren komplex, nicht rational und unergründlich.
Als Mensch würde man sie wohl nie ganz verstehen.
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Sie hatten sich völlig verquatscht. Komischer Weise fiel es beiden irgendwann überhaupt nicht mehr schwer über sämtliche Dinge zu sprechen. Es war zwar alles recht oberflächlich, aber was sollte man auch in einem öffentlichen Park erwarten? Tiefsinnige Gespräche? Das war wohl noch zu früh.
Sie lernten sich ja erst kennen und trotzdem hatte Mimi ein schlechtes Gewissen.
War es in Ordnung sich jetzt schon mit ihr zu verabreden? Jetzt wo es ihrer Mutter noch so schlecht ging und ihr Vater gerade ausgezogen war?
Doch wahrscheinlich gab es in diesem Punkt kein richtig oder falsch.
Und das sie sich so gut unterhalten konnten, war doch ein Zeichen dafür, dass es richtig war sich mit ihr nochmal zu treffen.
Die Zeit verging so unfassbar schnell, dass Mimi erst jetzt wieder auf ihr Handy schaute und plötzlich erstarrte.
„Scheiße“, fluchte sie, als sie erkannte, dass es schon nach sechs war.
Ihr Handy zeigte ihr, unzählige neue Nachrichten an, die nur von einer Person sein konnten.
„Was ist los?“, fragte Noriko interessiert und beugte sich zu ihr rüber. „Hast du deinen Freund versetzt?“
„Was? Nein, wie kommst du darauf?“
„Naja, du hast von ein und derselben Person ziemlich viele Nachrichten bekommen“, meinte sie unbekümmert und schielte zu ihrem Handy.
„Ach, das ist nur Tai gewesen“, sagte sie zähneknirschend und öffnete seine erste Nachricht.
Wo bist du? Ich warte schon ‘ne halbe Stunde auf dich! – Tai
Sie seufzte und blickte zu Noriko, die diabolisch grinste. „Und wer ist Tai? Dein Freund?“
Schön wär‘s.
„Er ist mein Nachhilfelehrer“, antwortete sie monoton und öffnete die Nächste.
Bist du sauer auf mich? Man, Mimi es tut mir leid. Ich weiß, ich habe Mist gebaut und hätte dich nicht einfach so küssen dürfen. Bitte lass‘ uns darüber reden. – Tai
„Aha, ein Kuss“, flötete Noriko und Mimi hob den Kopf an. Sie saß dicht neben ihr und las ihre SMS mit. Sie bewegte sich auf sehr dünnem Eis.
Gerade war sie wirklich dabei, sie zu mögen und jetzt rückte sie ihr schon auf die Pelle.
Zwischenschritte gab es bei ihr wohl nicht viele. Entweder ganz oder gar nicht. Tolle Devise.
„Hör bitte auf“, sagte Mimi ernst und packte ihr Handy weg. Ihm jetzt zu schreiben, würde eh nichts mehr bringen. Es war schon nach sechs und Nachhilfe hatte sich für heute sowieso erledigt.
Außerdem wurde es langsam dunkel.
„Wieso? Ist doch interessant!“
„Nein, ist es nicht.“
Tot traurig traf es wohl eher.
Mimi ließ die Mundwinkel hängen und Noriko bemerkte sofort ihren traurigen Blick.
„Hey, wenn du willst können wir uns am Freitag bei mir treffen. Ein bisschen Quatschen und so.“
Die Brünette legte den Kopf schief und musterte sie argwöhnisch.
„Bei dir? Das ist sicher keine gute Idee.“
Das ging ihr zu schnell. Sie wollte noch nicht auf die Frau treffen, mit der ihr Vater mal eine Affäre hatte.
„Ach, komm schon. Meine Mutter ist arbeiten und kommt nie vor ein nach Hause“, erklärte sie genauer.
„Okay…aber wollen wir uns nicht erstmal an neutralen Orten verabreden?“
„Sowas sagt man nur zu Kerlen, wenn man nicht will, dass sie einen ins Bett kriegen“, entgegnete sie und schüttelte ihre langen Haare.
Mimi sah sie mit geweiteten Augen an und realisierte erst langsam, was sie gesagt hatte.
Was antwortete man auf sowas nur?
Einfach nicken und lächeln war hier wohl fehl am Platz.
Noriko sah sie herausfordernd an und legte ihren Arm lässig auf die Banklehne. Sie hatte sich ihr voll zugewandt und starrte sie förmlich nieder.
„Also was ist? Kommst du oder, nicht?“