Nachwirkungen
Ihr Kopf rauchte und sie hatte es gerade so geschafft ihre tiefen Augenringe abzudecken. Ihre Laune war im Keller.
Und ausgerechnet heute war wieder Schule. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt. Am liebsten wollte sie im Bett liegen bleiben.
Aber Mimi wusste, dass sie es nicht konnte. Zu Hause würde ihr erst Recht die Decke auf den Kopf fallen.
Sie hatte stundenlang damit verbracht, sich Gedanken über alles und jeden zu machen. Ihre Mutter hatte ihr ziemlich viel über ihre damalige Freundschaft zu Ayame und ihre Beziehung zu ihrem Vater erzählt. Dennoch fehlten so viele kleine Puzzleteile, die ihre Mutter ihr nicht liefern konnte.
Sie fragte sich, wann ihr Vater wieder bei ihnen auftauchen würde und ob sie die Gelegenheit hätte mit ihm zu sprechen. Sie brauchte Antworten.
Antworten auf unzählige Fragen, die ihr die ganze Nacht durch den Kopf gingen.
Sie war wirklich froh, wenn dieser Tag endlich vorbei war und sie sich in ihr warmes Bett legen und weinen konnte.
Doch die Schule hatte noch nicht mal angefangen. Mimi hatte gerade mal das Schulgelände betreten und suchte mit ihren Augen nach Sora, da sie sie an ihrem üblichen Platz nicht entdecken konnte.
Sie wanderte über den Schulhof und ging Richtung Eingang, als sie auf einmal ihren Namen im schrillsten Ton der Welt vernahm.
Sie wirbelte herum und erkannte, dass Yolei und Hikari auf sie zusteuerten. Sie hoffte wirklich, dass sie nicht zu verheult aussah.
„Guten Morgen“, begrüßte sie ihre Freundinnen und zwang sich zum Lächeln, doch die beiden grinsten sie nur breit an und zogen sie in eine nahegelegene Ecke.
„Was soll das denn?“, protestierte Mimi und sah die beiden fragend an.
„Was das soll? Ich habe dir unzählige SMS geschrieben und du hast auf keine geantwortet“, sagte Yolei empört und Mimi runzelte die Stirn.
Stimmt, nach dem ganzen Stress mit ihren Eltern und Tai, hatte sie ihr Handy einfach vergessen wieder einzuschalten. Heute Morgen hatte sie es einfach in ihre Tasche geworfen, ohne richtig draufzugucken.
„Ich hatte es aus“, verteidigte sie sich nur.
„Wie kannst du es nur ausmachen? Nachdem was passiert ist!“, nörgelte Yolei und packte sie am Arm und drückte ihn leicht.
Mimi zog die Augenbrauen zusammen und hatte keinen blassen Schimmer, von was sie überhaupt sprach.
Auch Karis Gegrinse ging ihr irgendwie auf den Wecker, auch wenn sie noch gar nichts gesagt hatte.
„Was ist hier überhaupt los? Habt ihr den Verstand verloren?“, fragte sie patzig und riss sich von Yolei los und wollte gerade ins Schulgebäude gehen, als Yolei endlich mit der Sprache herausrückte.
„Ich hab dich gesehen! Mit Tai!“
Ihr Grinsen wuchs ins Unermessliche und Mimi klappte leicht der Mund auf. Sie hatte Yolei doch gar nicht mehr in der Bar gesehen, woher konnte sie also wissen, was zwischen ihr und Tai vorgefallen war?
„Aber du warst doch schon weg!“, stellte Mimi fest und verschränkte die Arme vor der Brust.
Doch Yolei winkte sofort ab.
„Ach Quatsch, ich war nur kurz mit Davis und Ken frische Luft schnappen und dann habe ich euch beide in Aktion gesehen“, quietschte sie freudig.
„Yolei hat mich am nächsten Tag angerufen und ich war echt überrascht, aber ich freue mich natürlich sehr für euch“, ergänzte Kari und sah sie ebenfalls überglücklich an.
Anscheinend würde sie sich darüber freuen, wenn sie Tais neue Freundin wäre.
Doch das war sie nicht.
„Ich glaube, ihr habt da was missverstanden“, klärte Mimi auf und unterbrach die Mutmaßungen, die Kari und Yolei anstellten. „Wir haben nur rumgemacht, mehr nicht.“
Kaum hatte sie diesen Satz ausgesprochen, machte sich ein unheimlicher Schmerz in ihrer Brustgegend breit. Natürlich wünschte sie sich, dass es anders wäre. Besonders jetzt.
So allmählich verlor sie wirklich den Glauben an die Liebe.
„Wie? Aber man macht doch nicht ohne Grund miteinander rum. TK und ich sind danach…“
„Wir waren betrunken“, unterbrach sie Kari schroff. „Das hatte rein gar nichts zu bedeuten.“
Ihre Stimme war etwas lauter als sonst und brachte ihre beiden Freundinnen endgültig zum Schweigen. Mimi sah zu Kari, doch sie senkte den Blick, so als kannte sie die Wahrheit. Vielleicht hatte sie Mimi schon seit langem durchschaut gehabt, auch wenn sie ihre Gefühle stets vertuschte.
„Wir sollten reingehen, ansonsten kommen wir noch zu spät“, schlug Mimi vor. Yolei und Kari nickten nur verhalten und folgten ihr ins Schulgebäude.
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Sie quälte sich durch die Stunden und durch eine unfassbar lange Mittagspause, die noch nie so Wortkarg war, wie heute. Matt und Tai redeten über belanglose Dinge, während Sora und Izzy sich ihrem Essen widmeten.
Mimi hatte absolut keinen Hunger. Vielleicht lag es an der Anwesenheit von Tai, der sie kaum beachtete, obwohl er sie am Samstag geküsst hatte. Sora schien er jedoch auch nicht viel Beachtung zu schenken. Diesmal saß sie nicht wie gewöhnlich zwischen Matt und Tai, sondern neben Izzy, der der ganzen Sache lieber schweigend gegenüber trat. Matt schien von all dem noch nichts zu wissen, was auch besser war. Mimi wollte nicht wissen, wie er reagierte, wenn er wüsste, dass Tai Sora geküsst hatte. Eigentlich war er nicht der Typ, der komplett ausflippte, aber bei dieser Sache, konnte sie seine Reaktion absolut nicht einschätzen.
Sie hätte im Leben auch nicht daran gedacht, dass ihre liebenswürdige, herzensgute Mutter ihren Vater auf einmal rausschmiss, auch wenn es gerechtfertigt war.
Trotzdem war sie nicht der Typ, der ausflippte, die Wohnung auseinander nahm und danach im Selbstmitleid badete.
Das erste Mal seit langem, sah sie wieder auf ihr Handy und entdeckte tatsächlich unzählige SMS, die ihr Yolei geschrieben hatte. Doch nicht nur Yolei hatte ihr geschrieben.
Eine Nummer, die sie schon seit Tagen nervte, tauchte immer wieder aufs Neue auf.
Ich will mit dir reden! Du kannst mich nicht ewig ignorieren – Noriko
Was habe ich da gerade gesehen? Du und Tai? Du musst mir alles erzählen – Yolei
Sie drückte auf die nächsten SMS und sah, dass alle einen sehr ähnlichen Inhalt hatten.
Yolei wollte wissen, was zwischen ihr und Tai lief, während Noriko um ein weiteres Gespräch bat, dass sie nicht bereit war einzugehen.
Auch im Moment, wollte sie weder eine SMS von ihr lesen, noch ihr Gesicht sehen. Sie hatte alles kaputt gemacht. Ohne ersichtlichen Grund. Warum mischte sie sich aufgerechnet jetzt in ihr Leben ein? Warum hatte sie es nicht früher getan?
Mimi konnte sich nicht vorstellen, dass sie urplötzlich das Verlangen spürte ihre jüngere Halbschwester kennen lernen zu wollen.
Genau genommen war ihre erste Begegnung alles andere als freudig gewesen.
Sie hatte sie angesehen, als würde sie sie verachten. Sie hassen, nur weil sie das Glück hatte ihren Vater zu haben. Einen Vater, der sie jahrelang belogen hatte.
Mimi biss sich schmerzerfüllt auf die Unterlippe und betrachtete argwöhnisch den Eintopf, den sie sich geholt hatte. Jetzt hatte sie überhaupt keinen Hunger mehr.
Es wäre wohl besser sich in eine Ecke zu verkriechen und nie wieder hervorzukommen.
Plötzlich bemerkte sie, dass Sora sie besorgt musterte.
Na toll, jetzt fiel ihre schlechte Laune sogar schon auf.
Ihr Blick wurde immer dringlicher, je länger sie ihr Essen teilnahmslos stehen ließ und nicht anrührte.
Sie musste es also essen. Ob sie nun wollte, oder nicht.
Ihre Fassade durfte nicht bröckeln.
Vielleicht schaffte sie es ja, alles wieder in Ordnung zu bringen. Doch im Moment sollte niemand merken, wie schlecht es ihr wirklich ging.