Nachhilfestunden und Zukunftsaussichten
Der Wochenanfang kam schneller als Mimi eigentlich lieb war. Es war bereits Dienstag.
Ganz hibbelig saß sie in der Mathestunde und hatte Schwierigkeiten sich auf den Stoff zu konzentrieren.
Sie war einfach zu nervös, obwohl es eigentlich gar keinen Grund dazu gab.
Schließlich war es nicht das erste Mal, dass sie bei ihm Nachhilfe genommen hatte. Okay, es war das erste Mal im neuen Schuljahr.
Normalerweise freute sie sich, ein wenig Zeit nur mit ihm allein zu verbringen, doch seit Samstag fühlte sie sich komisch.
Sora hatte ihr erzählt, dass Tai und sie noch Pizza essen waren, aber irgendwie hatte die Brünette das Gefühl, dass ihre beste Freundin ihr etwas verheimlichte. Etwas essenziell Wichtiges.
Sie wusste nur nicht was.
Gelangweilt hatte sie ihren Kopf auf ihre linken Handfläche abgestützt und begann zu träumen.
Seit sie wieder hier war, hatte sich einiges verändert. Mimi fühlte, dass sich alle nicht mehr so nahe standen, wie früher.
Wie vor Amerika.
Der Umzug damals hatte einiges verändert, dass wusste Mimi. Zu vielen hatte sie den Kontakt verloren, besonders zu den Jüngeren.
Auch zu Sora hatte sie eine Zeitlang so gut wie gar keinen Kontakt gehabt. Sie spielte in der Schulmannschaft Tennis, hatte viele Turniere und natürlich auch ein Sozialleben, zu dem Mimi nur noch teilweise dazugehörte.
Erst als sie vor ungefähr einem Jahr zurückkam, integrierte sie sich langsam wieder in die Gruppe, die deutlich kleiner geworden war, als früher.
Ihr Blick wanderte kurz zu Izzy, der wissbegierig wie immer, zur Tafel stierte.
Mimi war froh mit ihm in einer Klasse zu sein, obwohl sie privat fast nichts zusammen unternahmen. Er war im Computerclub und hatte auch außerhalb ihrer kleinen Gruppe einige Freunde gefunden, die mit Mimis überdrehten Art einfach nicht zurechtkamen.
Sie wusste auch, dass er einer der einzigen war, der noch regelmäßigen Kontakt zu Joe hatte. Sein Studium hatte er bereits begonnen und von Izzy wusste sie, dass es zurzeit ziemlich rund lief.
Er hatte sogar seinen Führerschein vor kurzem bestanden.
Sie wandte ihren Blick wieder von ihm ab und sah ebenfalls zur Tafel, an der Herr Kuura irgendetwas mit Erwartungswert und Wahrscheinlichkeiten erklärte.
Mimi verstand wieder mal nur Bahnhof und schaltete automatisch ab. Ihren Gedanken kreisten immer noch um ihre Freunde und die Veränderungen, die sie nicht wirklich akzeptieren wollte.
Die Jüngeren sah sie kaum noch. Abgesehen von Kari und Yolei.
Mit Kari war sie zusammen im Tanzverein, doch seit sie mit Takeru zusammen gekommen war, hatte ihre Freundin natürlich auch weniger Zeit für sie.
Das Gleiche galt für Yolei, die sich bei drei verschiedenen außerschulischen Aktivitäten angemeldet hatte und so verrückt war, sie auch noch durchzuziehen.
Takeru und Davis waren beide eigentlich immer die Anhängsel gewesen.
Der Blondschopf war genau genommen immer da, wo Kari war, genauso wie Davis, der sich anscheinend wirklich mit der Beziehung der beiden zu arrangieren schien.
Vielleicht hatte er auch wieder vermehrt Kontakt zu Ken, der leider auf eine andere Schule ging und den Mimi fast eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte.
Und dann gab es auch noch die siamesischen Zwillinge, besser bekannt unter den Namen Matt und Tai. Beide machten wirklich alles zusammen. Tai besuchte fast jedes Konzert von Matt und sah ihm beim Aufreißen sämtlicher unschuldiger Fans zu, während er jedes Fußballspiel von ihm sah, obwohl er genau wusste, dass sie verlieren würden.
Und auch Sora klebte wie Kaugummi an den beiden, so als würde sie ohne sie nicht länger überleben. Vielleicht sollte Mimi sie doch siamesische Drillinge nennen, obwohl auch Sora viel mit ihr alleine unternahm. Und jetzt gab es sogar einen ominösen Freund, der sich zwischen das Trio quetschte.
Mimi fragte sich wirklich, wie Matt und Tai darauf reagieren würden, Sora plötzlich mit einem weiteren Jungen teilen zu müssen.
Obwohl sich Mimi noch nicht mal sicher war, ob nicht einer der beiden Jungs ihr „Freund“ war.
Sora hatte genau genommen die große Auswahl gehabt. Zwei beste Freunde, die wirklich alles für sie taten – da konnte schon das ein oder andere Mädchen schwach werden.
Sie schüttelte sich leicht und biss sich auf die Unterlippe.
Bitte lass es nicht Tai sein, schoss ihr plötzlich durch den Kopf. Sie verstärkte den Druck auf ihre Unterlippe und dachte automatisch an Samstag.
Sie war Luft für die beiden gewesen und Mimi hasste es unsichtbar zu sein. Sie wollte bemerkt werden. Vor allem wollte sie von Tai bemerkt werden.
Plötzlich merkte sie, wie ihr jemand am Arm ruckelte. Sie erschrak kurz und sah auf einmal in Izzys Gesicht, der sie dringlich anstarrte.
„Was ist denn?“, flüsterte sie.
„Herr Kuura hat dir eine Frage gestellt. Hast du das nicht mitbekommen?“
Sie sah erschrocken zu ihrem Lehrer, der bereits die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
„Tut mir leid“, wisperte sie, „wie lautete die Frage nochmal?“
„Also wirklich. Fräulein Tachikawa, Sie sollten besser aufpassen, als vor sich hinzuträumen!“, ermahnte er sie streng und ein allgemeines Kichern zog sich durch den Klassenraum.
Mimis Gesicht wurde augenblicklich heiß und sie hatte die Befürchtung einer Tomate gar nicht mal so unähnlich zu sehen. Sie brachte nochmals eine leise Entschuldigung hervor, saß aber recht angespannt auf ihrem Stuhl, bis Herr Kuura den Blick von ihr wandte und die Frage in die allgemeine Runde stellte.
Mimi kniff leicht die Augen zusammen und blickte wieder zu Izzy, der sie sorgenvoll musterte.
„Geht es dir gut? Du siehst so komisch aus“, flüsterte er ihr zu.
Mimi verrollte daraufhin nur die Augen. So eine unüberlegte Aussage konnte auch nur von Izzy kommen. Sie konnte doch nichts dafür, dass ihr die Peinlichkeit immer gleich ins Gesicht schoss.
„Es ist alles in Ordnung. Ich war nur in Gedanken“, grummelte sie und versuchte sich die letzten zwanzig Minuten nur auf den Unterricht zu konzentrieren.
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„Hast du heute überhaupt aufgepasst? Ich habe nämlich das Gefühl, dass ich mit einer Wand rede“, knurrte er verärgert und verschränkte die Arme vor der Brust.
„I-Ich hab wohl nicht richtig zugehört“, stammelte sie unwirsch und wich seinen dringlichen Blicken aus.
Er schnaubte nur und lockerte seine Beine, die anscheinend eingeschlafen waren.
„Toll und ich hab´s jetzt auszubaden“, nuschelte er gereizt und schürte Mimis Verzweiflung.
Sie saßen schon über eine Stunde auf seinem Fußboden und versuchten die Aufgaben über Wahrscheinlichkeiten und Erwartungswert zu lösen, doch heute war wirklich der Wurm drinnen.
„Ich verstehe nicht, warum du nicht aufpassen kannst! Du weißt doch, dass du Probleme in Mathe hast“, warf er ihr an den Kopf und sah sie missbilligend an. „Mit dir hat man wirklich nur Ärger“.
„Mit mir?“, entgegnete Mimi schnippisch. „Wer läuft denn einem bescheuerten Ball hinterher und schießt auf Fensterscheiben?“
„Oh mein Gott, das war nur einmal passiert. Davis ist darin um einiges geschickter als ich“, antwortete er lässig und grinste sie schief an. „Ich versteh‘ es nur nicht. Wenn ich doch weiß, dass ich es nicht kann, höre ich doch wenigstens zu“.
„Ich hatte halt andere Dinge im Kopf“, verteidigte sie sich und war gerade im Begriff ihre Sachen zusammen zu packen und zu gehen.
„Ach und was? Überlegst du dir welche Farbe deine Nägel als nächstes haben sollen?“, fragte er spöttisch und sah auf ihre Finger.
Ihr pinker Nagellack war etwas abgesplittert und sie zog automatisch die Finger ein, sodass er sie nicht mehr sehen konnte.
„Du bist so ein Idiot!“, giftete sie und packte ihren Kram zusammen.
„Wer gibt dir denn Nachhilfe?“
„Nur weil du vielleicht in Mathe was kannst, heißt das noch lange nicht, dass du kein Idiot bist“, murrte sie angesäuert und verstaute ihre Sachen in ihrer Tasche.
Sie hätte doch gleich wissen müssen, dass es heute ausarten würde.
Wieso war auch ausgerechnet keiner bei ihm zuhause? Wieso hatte seine Mutter gesagt, dass sie noch einkaufen gehen wollte? Und warum konnte Kari mit TK nicht einen Tag in ihrem Zimmer verbringen und für fünf Sekunden ihren hormongesteuerten Triebe vergessen?
Sie wusste ja, dass Kari meistens die Zeit bei Takeru verbrachte, weil Tai regelrecht zum Anstandswauwau mutiert war. Mimi konnte sich vorstellen, dass es unangenehm war, wenn der ältere Bruder beim Knutschen dazwischen funkte.
„Ich geh‘ jetzt lieber. Deine schlechte Laune ist wirklich kaum zu ertragen!“.
„Das gebe ich gern an dich zurück! Hast du deine Tage oder warum bist du so ätzend?“
Er hatte sich ebenfalls hingestellt. Seine Arme waren immer noch vor der Brust verschränkt und in seinen Augen lag ein herausfordernder Blick.
„Boah Taichi!“, zischte sie empört.
„Was denn? Du bist schlecht gelaunt und wirklich unausstehlich!“
„Ach ja? Das Gleiche kann ich an dich zurückgeben! Hast wohl deine weibliche Seite entdeckt, oder was?“, antwortete sie gereizt und piekte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust.
Sie sah ihm dringlich in die Augen und bemerkte plötzlich einen Umschwung.
Er wirkte traurig.
„Du verstehst sowas nicht“, gab er von sich und ließ sich geräuschvoll auf sein Bett fallen.
Mimi sah ihn daraufhin nur verwirrt an, ließ ihre Tasche auf den Boden sinken und setzte sich neben ihn. Er hatte den Arm vor sein Gesicht gezogen und sah sie nur kurz an, als sie sich auf seinem Bett niederließ.
„Was verstehe ich nicht?“
Erwartungsvoll schaute sie auf ihn herab. Er stöhnte nur, schaute sie aber wieder an und setzte sich auf. „Irgendwie habe ich mir mein Abschlussjahr anders vorgestellt“.
Mimi zog die Augenbraue nach oben. „Und wie? Ich mein‘ ich kann ja verstehen, dass du es blöd findest, nicht mit Sora und Matt in einer Klasse zu sein, aber du tust ja fast so, als würdest du sie nie wiedersehen“, untermalte Mimi anschaulich und gestikulierte leicht mit ihren Händen.
Ein müdes Lächeln zog sich über seine Lippen. „Vielleicht passiert ja genau das.“
„Hä? Wie meinst du das jetzt?“ Sie runzelte die Stirn und sah ihn verwirrt an, bis er zu erzählen begann.
„Ich habe absolut keine Ahnung, was ich nach der Schule machen will. Sora und Matt hingegen schon.“
„Aber du hast doch noch ein bisschen…“.
„Ja ich weiß“, unterbrach er sie sanft. „Aber trotzdem ändert es alles. Die unbeschwerte Zeit ist endgültig vorbei. Matt wird versuchen mit seiner Band international berühmt zu werden und Sora wird sicherlich irgendwann mal als Designerin in Paris oder Mailand landen, da bin ich mir ziemlich sicher“.
Mimi hielt kurz inne. Sie kannte die Träume ihrer besten Freundin. Sehr gut sogar.
Genau genommen verstand sie Tais Angst sehr gut. Sora hatte schon oft darüber gesprochen, irgendwann ein Praktikum im Ausland zu machen. Sich von anderen Ländern inspirieren zu lassen, hatte sie es genannt. Doch Mimi hatte diese Tatsache immer verdrängt, da bis dahin noch so viel Zeit war. Allerdings befand sich ihre beste Freundin schon im Abschlussjahr. Was danach kam, wusste schließlich keiner. Vielleicht bewarb sie sich ja auch auf einer internationalen Modeschule.
Mimi konnte sich das gut vorstellen, so wie sie für ihren Traum arbeitete.
„Aber noch ist es nicht soweit. Vielleicht läuft es ja auch ganz anderes und ihr besucht euch gegenseitig in den tollsten Städten der Welt“, versuchte sie ihm optimistisch zu erläutern.
Doch sein Blick sagte alles.
„Wie war es denn bei dir gewesen?“, stellte er die Gegenfrage.
„Bei mir? Wie meinst du das denn?“
„Naja als du in Amerika gelebt hast, haben wir doch eigentlich alle den Kontakt zu dir verloren“, meinte er nur.
„Ähm ja, aber…naja“, stotterte sie. „w-wir hatten ja auch nicht die engste Beziehung zueinander. Bei Sora und Matt ist das sicher anders und außerdem denk‘ doch mal an die schönen Dinge im Leben. Du hast doch schließlich auch bald Geburtstag“, erinnerte Mimi ihn, doch er sah sie so an, als hätte er es vergessen gehabt.
„Oh, stimmt ja“.
Er grinste und fuhr sich durch seine wilde Mähne. „Vielleicht sollte ich wirklich etwas positiver denken. Auch, wenn mir manchmal meine nervige Nachhilfeschülerin ganz schön auf den Zeiger geht“, lachte er und stupste sie leicht an.
Auch sie musste lächeln und sah etwas unsicher zur Seite.
„Du bist echt blöd, weißt du das?“
„Ach so blöd bin ich gar nicht, ansonsten wärst du wohl kaum hier“.
Sie lachte gestellt und boxte ihm gegen den Arm.
„Aua, wie kannst du nur deinen Nachhilfelehrer verprügeln?“, fragte er gespielt empört.
„Ach, das hast du verdient“, meinte sie und strich ihren Rock glatt.
„Charmant wie immer“. Er grinste und stand auf.
Danach setzte er sich wieder auf seinen Fußboden und schaute sich die Aufgabe, an der sie gehangen hatten, nochmal an. Auch Mimi ließ sich wieder auf dem Boden nieder und betrachtete sie missmutig. Wahrscheinlich hatte er seine Motivation wieder gefunden, doch ihr schwirrte immer noch der Kopf, bei dem Gedanken an die Horroraufgabe.
„So, ich glaube ich weiß jetzt, wie wir das hinkriegen“.
„Ach echt?“
„Ja, außer du willst immer noch nach Hause gehen“.
Mimi schüttelte nur den Kopf und lächelte schwach. Auch, wenn sie sich gegenseitig auf die Nerven gingen, half ihr Tai sehr, mehr als ihm bewusst war. Nur er hatte es bisher geschafft, ihr den Stoff anschaulich zu vermitteln und dafür war sie unendlich dankbar – auch wenn sie es nicht immer zeigte.
Sie sah ihn an und hörte ihm nur zu. Ihr Blick war auf seine Lippen gerichtet, die sich leicht öffneten und wieder schlossen. Ein paar Mal grinste er und zeigte seine strahlend weißen Zähne.
Ihr Blick verfing sich kurz im seinem und auch, wenn sie gerne mit ihm noch über andere Dinge gesprochen hätte, konzentrierten sie sich auf Mathe.
Sie saßen dicht nebeneinander, während Tai anschaulich alles erklärte.
Mimi lächelte nur süß, bis sich ein anderer Gedanke in ihrem Kopf ausbreitete. Sein baldiger Geburtstag schoss ihr erneut ins Gedächtnis und sie wusste, dass sie ihm unbedingt etwas Besonderes schenken wollte.