Entweder…oder?
„Hallo Papa!“, rief sie freudig und stürmte auf ihn zu. Sie hatten sich schon eine Weile nicht mehr gesehen, da ihr Vater viel arbeiten musste und sogar für die nächsten drei Monate einen Auftrag in den USA angenommen hatte.
Mimi wollte sich heute nochmal mit ihm treffen und ihm eine gute Reise wünschen, bevor er sich am nächsten Montag auf den Weg machte.
Sie umarmte ihn kurz, drückte ihn fest an sich, bevor sie sich an einem Tisch niederließen.
„Wie geht’s dir? Was macht die Schule?“, fragte er interessiert und schlug sofort die Karte auf.
„Mir geht es soweit gut und in der Schule läuft es prima“, antwortete sie stolz, da sie sich wirklich nicht beschweren konnte. Alles lief wie am Schnürchen, auch wenn es Mimi sehr wunderte, dass auch Mathe ihr sehr wenige Probleme bereitete. Die Lerngruppe schien wirklich Früchte zu tragen.
„Willst du auch etwas essen? Die Pizza hier ist sagenhaft gut.“
Mimi lächelte verhalten und klappte die Karte, nachdem sie die Getränke durchgeschaut hatte, wieder zu.
„Nein, heute kommt Sora wieder und wir haben eine kleine Party für sie organisiert. Ich habe ziemlich viel gekocht und das muss ja auch irgendwer essen“, erzählte sie lachend und war schon etwas stolz auf sich. Normalerweise bereitete sie meist den Nachtisch vor, doch diesmal hatte sie sich an ein komplettes Abendessen ran getraut und viele kleine Leckereien für sich und ihre Freunde vorbereitet. Hilfe bekam sie von Yolei und Kari, die ihr heute Morgen beim Zubereiten assistiert hatten.
Tai hatte den Rest in die Hand genommen und eine kleine feine Party für Soras Rückkehr organisiert.
Er wollte sie später am Flughafen abholen und bei der ersten Gelegenheit zur Halle locken, in der sie auch schon ihre Abschiedsfeier gefeiert hatten.
„Erzähl‘ doch mal was es so Neues gibt! Mama hat erzählt, dass du vielleicht nach der Schule ausziehen möchtest und zwar nicht allein“, hakte er neugierig nach, als er die Bestellung bei dem Kellner aufgegeben hatte.
Mimi lief automatisch etwas rot an und krallte nervös die Finger in den seidigen Stoff ihres Tops. Eigentlich hatte sie es bisher nur ihrer Mutter erzählt, da es ja auch noch gar nicht spruchreif war, auch wenn sie sich immer wieder mal nach Wohnungen umschauten.
„Ach Papa, das dauert noch“, winkte sie schnell ab, lächelte aber glücklich.
Als der Kellner jedoch ihre Getränke gebracht hatte, legte er ein verschwörerisches Grinsen auf und ließ es sich nicht nehmen, etwas weiter zu bohren.
„Mimi lass‘ dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Ich möchte unbedingt wissen, wer mein kleines Mädchen so zu strahlen bringt.“
Verlegen wandte Mimi den Blick von ihm und rieb mit dem Daumen über den Henkel ihrer Teetasse.
„Naja, also…“, begann sie zu erzählen, als hätte sie den halben Tag darauf gewartet. Sie konnte ihr Grinsen nicht mehr kontrollieren, aber das ging ihr immer so, wenn sie über Taichi sprach.
Sie konnte nicht verbergen, wie glücklich er sie machte, wie sehr sie seine Nähe genoss und sich immer wieder nach seinen starken Armen sehnte.
Mimi redete ohne Punkt und Komma, während ihr Vater geduldig zuhörte und ab und zu an seinem dampfenden Kaffee nippte.
Gedankenverloren legte er sein Kinn auf seiner Hand ab und musterte seine Tochter genau.
Ein warmes Lächeln schob sich auf seine Lippen.
„Er scheint dich wirklich sehr glücklich zu machen“, stellte er mit Freuden fest und Mimi unterbrach ihren Redefluss abrupt.
Mimi nickte nur, als das Lächeln ihres Vaters plötzlich verschwand und einer traurigen Miene wich.
„Es tut mir so unendlich leid, wie alles gelaufen ist. Ich habe sehr viel auf Spiel gesetzt und viel verloren. Aber vor allem habe ich dich und deine Mutter sehr verletzt.“
Mimis Gesicht versteinerte sich augenblicklich.
„Ich hätte so viel anders machen müssen. Allein schon wegen Noriko. Es war nicht fair von mir, mich vor meiner Verantwortung zu drücken und sie dir vorzuenthalten“, murmelte er betroffen.
Es war das erste Mal, dass er ihren Namen in den Mund nahm.
Mimi presste die Lippen aufeinander und kämpfte gegen das Brennen in ihren Augen an. Ihr Mund stäubte sich die passenden Worte auszuspucken, da sich alles auf einmal so falsch anhörte.
Was sollte sie nur sagen? Sollte sie ihm Recht geben?
Ja, er hatte viele Fehler gemacht, aber welcher Mensch war schon fehlerlos?
Natürlich hatte sie sich die ganze Zeit erhofft, dass sich ihre Eltern doch noch vertragen würden, doch sie jagte einer Kinderfantasie hinterher.
Es war zu viel passiert. Beide hatten zwar einen Weg gefunden, wieder einigermaßen normal miteinander umzugehen, aber Mimi konnte auch ihre Mutter verstehen, die das Vertrauen komplett verloren hatte und ihrem Vater keine weitere Chance geben konnte.
Vielleicht war es besser so. Sie waren ja nach wie vor noch eine Familie, auch wenn sich ein paar Dinge verändert hatten.
„Mimi“, ertönte seine brüchige Stimme. Er beugte sich nach vorne und ergriff ihre Hand.
„Ich werde immer für dich da sein. Daran wird sich nichts ändern. Du bist alles was ich noch habe und ich möchte, dass du weißt, dass ich vieles anders gemacht hätte, aber nicht mutig genug war, zu meinen Fehlern zu stehen. Ich…ich kann dir nicht das zurückgeben, was ich dir genommen habe, aber ich werde immer an deiner Seite sein, egal was auch passiert. Und ich bin auch sehr froh, dass du jemanden gefunden hast, der dir zur Seite steht und dir ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann. Du hast es verdient, glücklich zu werden.“
Ganz ergriffen von seinen Worten, drückte sie seine Hand, während eine einzelne Träne ihre Wange hinunterkullerte.
Auch wenn nicht immer alles nach Plan lief, durfte man niemals, unter gar keinen Umständen, aufgeben. Es gab für alles eine Lösung. Man musste sie nur finden.
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Unbekümmert machte sie sich auf den Weg zur Halle, in der sie die Willkommensparty für Sora feiern wollten.
Sie war schon sehr gespannt, was sie alles erzählen würde, welche Erfahrungen sie gesammelt und ob Paris sie verändert hatte.
Sie freute sich natürlich auch sehr auf Tai, den sie in den letzten Tagen nur sehr selten alleine angetroffen hatte, da er alles in die Hand nahm und vorbereitete.
Sie fand es fast schon ein wenig süß, wie er sich für Sora ins Zeug legte, wenn da nur nicht schon wieder ihre Eifersucht wäre.
Mimi musste aufhören, ihre Freundin ständig als Bedrohung wahrzunehmen, auch wenn tatsächlich von Tais Seite Gefühle vorhanden gewesen waren.
Doch das war vorbei. Sie waren nun zusammen und sogar sehr glücklich miteinander. Sora würde sich sicher sehr für sein freuen und ihnen ganz sicher nicht im Wege stehen.
Jedenfalls versuchte Mimi sich das einzureden.
Jedoch drängten sich immer wieder die Zweifel an die Oberfläche, die sie ins Grübeln kommen ließen. Sie hatte Tais Euphorie und seinen funkelnden Blick durchaus mitbekommen, wenn er über Sora sprach. Mimi hatte nicht vor, sich etwas einzureden, doch ihre Angst vor Soras Ankunft und der bevorstehenden Veränderung, quälten sie schon seit Wochen.
Meist versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen, spielte ihre Sorgen geschickt hinunter und engagierte sich ebenfalls sehr für Soras Party, aber mehr um Tai zu gefallen, da sie wusste, wie glücklich sie ihn damit machte.
Er freute sich über die Rückkehr seiner besten Freundin, während Mimi mit ihren Unsicherheiten kämpfte.
Sie blieb mitten auf dem Weg plötzlich stehen. Warum machte sie sich nur so viele Sorgen? Sora war doch auch ihre Freundin.
Mimi fuhr sich durch ihr langes braunes Haar und seufzte leise, als sie sich zeitgleich wieder in Bewegung setze.
Lag es vielleicht daran, dass ihre Beziehung erst funktionierte, nachdem sich Soras Abschied ankündigte?
Sie schüttelte sofort den Kopf. Nein, sowas durfte sie auf gar keinen Fall denken.
Tai und sie hatten lange Zeit aneinander vorbeigeredet, Sora traf keine Schuld dran.
Die junge Frau beschleunigte abrupt ihre Schritte, lief über die Straße und sah bereits die Halle auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Schnell schob sie ihre störenden Gedanken beiseite und beeilte sich ein wenig, da sie bereits schon etwas zu spät dran war.
Sie sprintete in Richtung Eingang, als sie auf einmal Zeuge eines sehr innigen Moments wurde, der ihr Herz prompt in Stücke zerfetzte.
Ihr stockte der Atem und sie blieb wie angewurzelt einige Meter vor dem Eingang stehen. Die Szene, die sich vor ihr bot, raubte ihr die Luft zum Atmen und ließ die Zweifel in ihr hochkriechen.
Sie hatte es gewusst. Sie war nur die zweite Wahl.
Verbittert biss sie sich auf die Unterlippe und versuchte ihre Tränen zurückzuhalten, als sich die beiden aus ihrer herzlichen Umarmung lösten und sie bemerkten.
Er lächelte leicht, als er sie sah, während in ihr der Brechreiz raufstieg.
„Da bist du ja endlich“, sagte er fröhlich, während er immer noch dicht neben ihr stand und sie verlegen nach unten sah.
Mimi stolperte leicht rückwärts, als er einen Schritt auf sie zukam.
Sie schüttelte nur den Kopf, spürte, dass sich eine Träne löste und langsam ihre Wange hinunterwanderte.
Warum tat er ihr so etwas an? Ein unbeschreiblicher Schmerz drückte auf ihre Brust und ihre Sicht wurde von den aufkommenden Tränen getrübt.
Er bemerkte relativ schnell, dass etwas nicht stimmte und wollte gerade nach ihrem Arm greifen, als sie auf Abstand ging, sich in Bewegung setzte und loslief.
Sie wollte beide nicht mehr sehen. Jedenfalls nicht im Moment.
Warum umarmten sie sich nur so innig? Hatte sie etwas verpasst? Oder hätte sie es ahnen müssen?
Ihre Lunge brannte bereits nach wenigen Metern, da ihre Gefühle sich machtvoll an die Oberfläche kämpften und ihr sämtliche Kondition nahm.
Sie blieb stehen, als sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatte. Mimi ging leicht in die Knie und schnaubte kraftvoll, als einige Tränen auf den Bürgersteig tropften.
Sie wollte so schnell es ging hier weg. Doch gerade als sie sich in Bewegung setzte, wurde sie abrupt nach hinten gerissen.
Ohne es zu wollen, drehte sie sich reflexartig herum und sah in seine wundervollen braunen Augen, die ihr Atmen erneut zum Stocken brachte.
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„Was machst du denn? Warum haust du einfach so ab?“, fragte er etwas gereizt und hielt ihre Handgelenke fest umschlossen.
Mimi versuchte sich aus seinem Griff zu winden, scheiterte aber kläglich, da er viel zu stark für sie war.
„Lass‘ mich gefälligst los! Du tust mir weh“, brachte sie gerade noch hervor und konnte damit bewirken, dass er seinen Griff um sie lockerte. Ruppig riss sie sich von ihm los und ging auf Abstand.
„Was sollte das gerade? Sora fragt sich auch schon, was plötzlich in dich gefahren ist.“
„Es ist überhaupt nichts in mich gefahren!“, verteidigte sie sich weniger überzeugend und senkte den Kopf. Sie konnte ihm nicht in die Augen blicken.
„Du lügst doch!“, stellte er aufgebracht fest und konnte die Reaktion seiner Freundin wohl ganz und gar nicht verstehen.
„Warum wundert dich mein Verhalten so? Ich komme hier an und muss sehen, wie ihr euch innig in den Armen liegt! Was soll ich davon denn halten?“
„Nicht die Leier schon wieder“, grummelte er genervt und verdrehte die Augen. „Warum bist du nur so eifersüchtig auf sie? Darf ich jetzt noch nicht mal mehr meine beste Freundin umarmen, oder was?“
„Das sah aber mehr als nur freundschaftlich aus“, erwiderte sie nur und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was? Sag‘ mal hast du sie noch alle? Du kommst hier an und machst hier voll die Szene, weißt du das? Echt Mimi, krieg‘ dich mal wieder ein“, antwortete er verständnislos.
Sein Ton ärgerte sie ungemein. Er wirkte gleichgültig, fast schon ein wenig überheblich.
„Ich hätte es von Anfang an wissen müssen“, murmelte sie und richtete das Gesicht von ihm.
„Was hättest du von Anfang an wissen müssen?“, hakte er nach und ging ein paar Schritte auf sie zu.
„Bleib‘ da stehen, Taichi!“, sagte sie und signalisierte ihm mit den Händen, dass er ihr nicht zu nah kommen sollte.
„Ich verstehe dein Problem nicht! Was glaubst du denn gesehen zu haben?“
Mimi schluckte.
Er dachte sicher, dass sie überreagierte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, ständig im Schatten ihrer besten Freundin zu stehen. Er hatte sie früher kaum bemerkt, wenn Sora in der Nähe war, hatte sie ihr immer vorgezogen, weil die beiden eine tiefe Freundschaft verband, bei der Mimi einfach nicht mithalten konnte.
„Hast du noch Gefühle für sie?“, fragte sie unvermittelt und kämpfte mit den Tränen.
Völlig perplex sah Taichi sie an und konnte scheinbar nicht fassen, was sie gerade gefragt hatte.
„Was? Sag‘ mal geht’s dir etwa darum? Nur weil ich sie umarmt habe?“
„Beantworte einfach meine Frage!“, brüllte sie und wusch sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Ganz ehrlich, du spinnst!“, gab er zurück. „Komm‘ jetzt erstmal wieder runter und dann gehen wir zu den anderen.“
„Warum kannst du meine Frage nicht beantworten? Vorhin habt ihr so vertraut auf mich gewirkt und du hast mir auch mal gesagt, dass du in sie verliebt warst! Sie war sechs Monate weg und erst dann hat es mit uns geklappt und jetzt…jetzt ist sie wieder da und wird alles kaputt machen“, murmelte sie immer leiser werden und konnte selbst nicht fassen, was sie da gerade von sich gegeben hatte.
Doch genau das, dachte sie sich schon die ganze Zeit. Sie wollte es nur nicht wahrhaben, vergrub es tief in ihrem Innern und versuchte die kurze Zeit, die sie mit Tai vermeintlich noch hatte, zu genießen. Sora würde immer ein wichtiger Teil seines Lebens bleiben, egal was mal zwischen ihnen passiert war.
„Was redest du für einen Unsinn? Sora freut sich für uns!“
„D-Du hast es ihr erzählt?“, hakte sie nach und blickte ihm ins Gesicht.
Seine Gesichtszüge wurden auf einmal ganz weich, als er wieder auf sie zuging und ihren Kopf anhob.
„Wir haben uns nur umarmt, weil sie mir erzählt hat, dass Matt ebenfalls wieder nach Japan zurückkommt. Er will sogar ein Studium beginnen!“, erklärte er freudig, doch Mimi war dies nicht genug.
Sie ging wieder auf Distanz, merkte wie Tai hörbar seufzte und sich durch sein Haar fuhr.
Wieso konnte er ihre Frage nicht einfach beantworten? Warum wich er ihr aus?
„Was soll ich denn noch machen? Du bist gerade echt verdammt anstrengend!“, meinte er leicht vorwurfsvoll.
„Warum kannst du meine Frage nicht beantworten? Hast du etwa noch Gefühle für sie? Willst du es nur nicht vor mir zugeben, oder was? Warum hast du dich damals überhaupt für mich entschieden?“
Verdutzt blickte er sie an und rang mit seiner Fassung.
„Stellst du etwa gerade unsere Beziehung in Frage? Mimi, ich weiß, dass gerade die Eifersucht aus dir spricht, aber hör dir doch mal zu! Was erwartest du denn von mir? Eine Entscheidung zwischen dir und Sora?“
Sie überlegte einen Moment und hielt inne.
Mimi schloss die Augen und versuchte das Pochen ihres schmerzenden Herzens zu ignorieren.
Reagierte sie gerade wirklich über? Setzte sie somit ihre Beziehung aufs Spiel?
Sie konnte so eine Entscheidung doch nicht von ihm verlangen, auch wenn ihr Herz genau nach einer solchen schrie.
Konnte er wirklich beide Frauen an seiner Seite haben? Konnte er die damaligen Gefühle für Sora wirklich abstellen, oder war Mimi wieder nur Mal ein Mittel zum Zweck, weil er die Frau, die er liebte nicht bekommen konnte?
Ihr wurde auf einmal schlagartig bewusst, dass so viel Unausgesprochenes ihre Beziehung belastete.
Mimi war es immer sehr schwer gefallen, mit ihm über Sora zu sprechen, da sie von seinen Gefühlen zu ihr wusste und Angst hatte, dass er ihr etwas sagte, mit dem sie nicht umgehen konnte.
Vielleicht war es nun soweit. Vielleicht musste sie diese entscheidende Frage stellen, um in seiner Reaktion lesen zu können, wer ihm wichtiger war.
Sie schluckte, benetzte ihre trockenen Lippen mit ihrer Zunge und sah ihn mit einem starren Blick an.
„Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit. Entweder Sora, oder ich!“