Kleine Schritte
Der Brief hatte sie eiskalt getroffen, bewegte jedoch etwas in ihr. Feuerte ihren inneren Antrieb an und half ihr sich wieder aufzuraffen, auch wenn sie nach dem Lesen völlig zusammengebrochen war. Sie brauchte diesen Moment, um zu erkennen, dass Noriko sie nicht verlassen hatte, sondern immer noch ein Teil von ihr sein würde.
Ihre Mutter hatte sie unter Tränen in ihrem Zimmer sitzend vorgefunden. Den Brief hatte dicht an ihr Herz gedrückt, um die Worte von Noriko zu verinnerlichen und in ihrem Leben etwas zu verändern.
An diesem Tag hatte sie sich nicht mehr Tai getroffen, da sie zu sehr durch den Wind war und Zeit für sich brauchte. Dennoch hatte sie sich vorgenommen mit ihm zu reden.
Mimi konnte seine Bemühungen nicht länger ignorieren. Jedes Mal, wenn sie an seine Blumensträuße und dazugehörigen Kärtchen dachte, machte ihr Herz einen kleinen freudigen Hüpfer. Es war das erste Mal, dass sie wahrhaftig an eine Chance zwischen ihnen glaubte.
Direkt nach der Schule hatte er noch Fußballtraining, weshalb sie ihn vor der Sporthalle abfangen und mit ihm reden wollte.
Fieberhaft hatte sie sich die Worte zusammengelegt, die sie zu ihm sagen wollte, in der Hoffnung, sie würden ihr noch einfallen, wenn sie ihm tatsächlich gegenüberstand.
Sie wartete vor der Sporthalle auf seine Ankunft. Es war immer noch recht frisch, weshalb sie sich in ihren Mantel kuschelte.
„Hey, was machst du denn hier?“, ertönte unvermittelt eine bekannte Stimme und ließ sie herumwirbeln. „Willst du uns vielleicht etwas anfeuern?“
Ein schelmisches Grinsen legte sich auf Toyas Lippen, als er direkt vor Mimi zum Stehen kam. Auch er hatte Fußballtraining, was man an seiner Sporttasche unschwer erkennen konnte.
Mimi erwiderte sein Lächeln milde.
„Eigentlich warte ich auf Tai“, antwortete sie wahrheitsgemäß und presste die Lippen aufeinander.
Verdutzt sah er sie an, nickte daraufhin jedoch bestätigend.
„Stimmt ja, er ist dein Nachhilfelehrer, oder?“
„Ja war er, aber ich wollte mit ihm über etwas sprechen“, antwortete sie bedacht und wandte den Blick von Toya. Aus der Ferne sah sie Taichi auf sie zukommen.
Mimi wurde, je näher er kam, umso nervöser. Auch Toya schien die angespannte Situation mitzubekommen. Kurz bevor er bei den beiden ankam, verabschiedete er sich von Mimi.
„Man sieht sich sicher noch“, kam es hinzufügend, bevor er in der Halle verschwand.
Etwas verunsichert wippte sie mit den Beinen auf und ab, als Tai die Treppen zur Halle hinaufging.
Mimi drehte sich zu ihm und schenkte ihm ein Lächeln, das er mürrisch erwiderte.
Er kam direkt vor ihr zum Stehen und hatte seine Tasche lässig geschultert.
Ihr Körper begann zu beben, als er unmittelbar vor ihr stand. Selten war sie so nervös gewesen, wie in diesem Moment.
„Hey“, brachte sie kleinlaut hervor und spielte auffällig am Saum ihres Rockes. Mit gesenktem Blick schielte sie zu ihm und wartete auf eine Reaktion.
„Was ist?“, fragte er ruppig und nahm seine Tasche von seiner Schulter.
Völlig aus ihrem Konzept gebracht, rang Mimi nach den passenden Worten.
Genervt verdrehte Tai die Augen und fixierte sie mit einem feindseligen Blick, den Mimi zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte.
„Kommt da noch was? Ich hab‘ jetzt Training!“, meinte er schroff und wandte die Augen von ihr.
Mimi schluckte und nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Ich möchte nochmal mit dir reden. Ich habe es am Wochenende…“
„Schon gut“, unterbrach er sie, sah sie jedoch nicht dabei an, „ist in Ordnung. Ich habe schon verstanden.“
„Nein, so war das wirklich nicht. Ich wollte kommen, aber…“
„Du wolltest kommen? Willst du mich verarschen? Ich habe über zwei Stunde, wie ein Depp vor dem Brunnen gestanden und gewartet. Von SMS hast du noch nie was gehört, oder?“
Gekränkt schaute er direkt in die Augen, während Mimi beschämt den Blick senkte.
Sie hatte so sehr geweint gehabt, nachdem sie Norikos Brief gelesen hatte, dass sie ihn vollkommen vergaß. Als sie sich wieder beruhigt hatte, war es bereits zu spät und Mimi kam sich dämlich vor, ihm im Nachhinein noch eine SMS zu schreiben.
„Ich kann dir das erklären“, meinte sie verzweifelt, bereit ihm die Wahrheit zu offenbaren.
Doch Tai schüttelte nur den Kopf.
„Du brauchst mir gar nichts zu erklären! Sora hat mir erzählt, was los ist“, erwiderte er in einem seltsamen Tonfall, bei dem sich Mimis Herz zusammenzog.
Er klang abweisend und zu tiefst verletzt, dass sich Mimi am liebsten selbst Ohrfeigen wollte.
Sie hatte ihn versetzt und war letztlich keinen Deut besser gewesen als er.
Allerdings verwirrte sie die Sache mit Sora komplett. Sie wusste, dass sie sich am Wochenende meist zum Lernen trafen, aber was meinte er damit nur? Was hatte sie zu ihm gesagt?
Bevor sie ihn fragen konnte, hatte er wieder das Wort ergriffen und schnaubte frustriert.
„Ich hoffe du findest dein Glück mit ihm! Ich werde dich ab heute in Ruhe lassen“, eröffnete er ihr unruhig. Bevor Mimi etwas erwidern konnte, warf er seine Sporttasche über die Schulter und ging in die Halle. Perplex starrte sie ihm nach, unfähig zu reagieren. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet.
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„Danke, dass du dich mit mir triffst“, sagte sie gerührt und schämte sich ein wenig, wenn sie an ihre letzte Begegnung zurückdachte.
Er startete den Laptop und lächelte leicht, als er zur Seite schielte.
„Du weißt doch, dass ich gerne Zeit mit dir verbringe“, antwortete er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
Doch Mimi haderte nach wie vor mit ihrem Gewissen.
Beschämt senkte sie den Kopf und berührte seinen Arm zaghaft. Sie drückte die Stirn gegen seinen Oberarm und kämpfte mit den Tränen.
„Es tut mir leid“, murmelte sie heiser und drückte ihr Gesicht noch ein wenig fester gegen ihn.
Sie spürte nur noch, wie er sanft ihren Hinterkopf tätschelte, danach aber etwas Abstand nahm, um ihr in die Augen sehen zu können.
„Ist doch alles wieder in Ordnung. Du warst verzweifelt und traurig gewesen. Ich kenn‘ sowas und bin dir auch nicht böse“, erwiderte er behutsam.
„Aber ich habe dich getreten und war überhaupt nicht mehr bei Sinnen!“
„Und weiter? Soll ich dich jetzt dafür hassen?“, stellte er die Gegenfrage.
„Nein, aber ich könnte verstehen, wenn du sauer auf mich wärst. Wenn alle sauer auf mich wären. Ich kannte sie noch nicht mal ein Jahr, während ihr sie ein halbes Leben begleitet habt. Für euch muss es doch viel furchtbarer sein, als für mich, besonders für Chiaki“, gab sie ihre Bedenken preis und senkte den Kopf.
Sie hatte sich unmöglich aufgeführt und die Gefühle der anderen unter ihre eigenen gestellt, obwohl es ihnen wohl sogar noch schlechter ging als ihr. Chiaki hatte sie seit ihrem Wutausbruch kaum noch gesehen, da er Zeit für sich brauchte.
Ayame besuchte sie auch nur sporadisch, da sie es einfach nicht ertrug sich in ihrer Wohnung aufzuhalten. Besonders schwer fiel es ihr Norikos Zimmer zu betreten, da es einfach noch genauso aussah, wie sie es verlassen hatte. Allerdings drückte die Gewissheit, dass sie nie wieder zurückkommen würde, auf ihren Schädel und machte ihr tagtäglich bewusst, welchen wertvollen Schatz sie verloren hatte.
Bisher hatte sie sich nur dazu durchgerungen Masaru von dem Brief zu berichten. Auch wenn ihre letzte Begegnung einen bitteren Beigeschmack hatte, vertraute sie ihm.
Er verstand ihre komplexen Gedankengänge und abstrusen Gefühlswelten, in denen sie sich ab und an befand. Er verurteilte sie nicht, gab ihr zwar manchmal komische Ratschläge, hörte ihr jedoch immer aufmerksam zu und konnte sie meist auch wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen.
„Es ist für uns alle gleich schwer“, antwortete er nach einer Weile des Schweigens. „Es ist egal, wie lange du sie kanntest. Ihr hattet eine besondere Verbindung zueinander, die euch keiner mehr nehmen kann.“
Gerührt sah sie ihn an, Tränen standen in ihren Augen.
„Danke“, wisperte sie erstickt, als das Geräusch des hochfahrenden Laptops beide wieder zurück in die Realität holte.
„Okay, dann zeig mal her, was Noriko dir geschickt hat“, meinte er freudig und nahm den USB-Stick entgegen.
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Sie gingen den leeren Schulflur entlang. Nach sieben war meist keiner mehr in der Schule, auch wenn Mimi gar nicht aufgefallen war, wie schnell die Zeit voran schritt.
Sie hatten sich schon oft nach der Orchesterprobe getroffen, waren aber nie länger als halb sechs in der Schule geblieben. Für Mimi war die Hiroo Oberschule ein zweites Zuhause geworden.
„Der Song ist wirklich unfassbar schön“, meinte Masaru plötzlich zu ihr und zauberte ein zurückhaltendes Lächeln auf die Lippen.
„Ich glaube, ich habe ihn mir hundert Mal hintereinander angehört, auch wenn sie nur eine kurze Passage singt“, räumte Mimi nachdenklich ein.
„Naja, für den Text bist du ja auch zuständig. Jedenfalls zu neunzig Prozent“, antwortete er grinsend.
„Ich werde mein Bestes geben“, sagte sie nur, als sie an der großen Vitrine vorbeiliefen und Mimi abrupt stehen blieb.
Sie sah hinauf und ihr Atem stockte für den Moment.
Auch Masaru blieb stehen und stellte sich neben sie. „Das Bild wurde erst vor kurzem reingestellt. Sie war zwar schon lange nicht mehr hier gewesen, aber sie gehörte auch zum Abschlussjahrgang und unsere Jahrgangssprecherin hatte sich dafür eingesetzt, dass man sich an sie erinnert.“
Bewegt starrte sie auf das Bild, dass sie regelrecht anstrahlte. Mit einem herzerwärmenden Lächeln sah sie auf Mimi hinab und ließ alte Erinnerungen aufleben.
„Ich war immer neidisch auf ihre langen Haare gewesen“, murmelte sie rührselig und betrachtete das Foto genau. Es zeigte Noriko in ihrer Schuluniform. Ihre langen Haare lockten sich leicht und gingen ihr bis über die Brust. Es erinnerte an einen komplett anderen Menschen, wenn Mimi daran zurückdachte und sie sich mit Glatze vorstellte. Doch sie war immer dieselbe geblieben.
„Ihr seht euch echt verdammt ähnlich“, ertönte überraschend eine Stimme hinter ihnen.
Perplex drehten sich beide dem Unbekannten zu und Mimi musste feststellen, dass er ihr sehr bekannt vorkam.
„Was machst du denn hier?“, fragte Masaru abweisend und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wir haben noch gelernt und ich hatte noch ein paar Sachen in meinem Spint vergessen“, antwortete er nur und starrte ebenfalls auf das Bild.
„Die Ähnlichkeit ist echt frappierend, wenn man sich dich mit Pony vorstellt“, meinte er nachdrücklich und betrachtete Mimi genauer.
Ihr war bewusst, dass nicht jeder aus ihrer Schule über sie Bescheid wusste, aber dennoch war ihr nach wie vor unangenehm sich rechtfertigen zu müssen.
„Sag‘ mal, was willst du überhaupt von uns, Hideaki? Dein Spint ist dahinten“, knurrte Masaru schroff und deutete auf den hinteren Gang.
„Warum so bissig? Erträgst du meine Nähe etwa nicht mehr?“, erwiderte er nur mit einem selbstgefälligen Lächeln.
„Deine Nähe erträgt auf Dauer überhaupt niemand“, giftete er aufbrausend.
„Was ist dein Problem?“, raunzte Hideaki und baute sich vor Masaru auf.
Automatisch legte Mimi die Hand auf Masarus Arm, um ihn zu beruhigen. Doch sie merkte, dass sich jeder Muskel in seinem Körper angespannt hatte und sich seine Miene verfinsterte.
„Keine Ahnung? Du vielleicht?“
Seine Stimme war scharf und wirkte bedrohlich.
Hikeaki ging auf einmal auf Abstand und schüttelte nur den Kopf.
„Komm‘ endlich darüber hinweg! Ist besser für uns beide“, meinte er barsch und setzte sich augenblicklich in Bewegung.
Mimi merkte, dass Masaru noch etwas erwidern wollte, sich aber instinktiv auf die Zunge biss und seine gedachten Worte lieber hinunterschluckte.
Sein Körper entspannte sich, nachdem Hikeaki aus ihrem Sichtfeld verschwunden war.
„Lass‘ uns jetzt besser gehen“, wisperte er, wurde jedoch von Mimi aufgehalten, die ihn verwirrt musterte.
„Was war das denn? Was meinte er damit denn, dass du drüber hinwegkommen sollst?“, fragte sie interessiert und legte ihre Hand fester um seinen Arm.
Doch Masaru machte sich los und nahm eine abweisende Haltung ihr gegenüber ein.
„Ist doch egal, lass uns jetzt einfach verschwinden“, entgegnete er und zerrte sie in Richtung Ausgang.