Ein leiser Abschied
Das Leben konnte in einer unheimlichen Geschwindigkeit an einem vorbeiziehen. Ein Jahr verging so unfassbar schnell, dass man sich nur noch an die Hälfte erinnern konnte.
Mimi hatte keinerlei Erinnerungen an ihr diesjähriges Weihnachtsfest und die nachfolgenden Tage, die in einem Tränenmeer endeten.
Alles war grau und traurig geworden, seit sie gegangen war. Das neue Jahr hatte noch nicht mal angefangen, als sie sich alle versammelt hatten, um sich von ihr zu verabschieden.
Mimi durfte sie gemeinsam mit Chiaki und Masaru ein letztes Mal alleine sehen, auch wenn es ihr sehr schwer gefallen war. Ein Priester stand ebenfalls im Zimmer und bereitete alles für die bevorstehende Sutrenlesung vor.
Sie lag vor ihnen und sah so aus, als würde sie einfach nur seelenruhig schlafen. Mimi bildete sich sogar ein, dass sich ihre Brust hob und wieder senkte, je länger sie sie anstarrte.
Sie trug ein weißes Totengewand und wurde in dem kleinen Wohnzimmer aufgebahrt. Sechs Münzen wurden ihr zur Seite gelegt, die symbolisch dafür galten, den Eintritt ins Totenreich bezahlen zu können.
Der Geruch von Räucherstäbchen zog sich durch den Raum und reizte Mimis Lungen merklich.
Norikos haarloser Schopf glänzte leicht, während ihre Wangen rosa hervorstachen und ihr fehlendes Leben einhauchten. Sie trug die filigrane Herzkette und auch ihren Ehering, die die einzigen Schmuckstücke waren, die sie zierten. Mimi umfasste das Gegenstück zu Norikos Kette, das um ihren Hals lag, während ihr Herz zu Rasen begann.
Mimi konnte ihren Anblick kaum ertragen und verließ das Zimmer abrupt.
Sie hatte nicht geweint, aber den Schmerz, den sie empfand, zertrümmerte ihr Herz. Sie wollte nicht wahrhaben, dass es vorbei war. Das nur noch eine leblose Hülle vor ihr lag und sie schon längst nicht mehr hier war.
Dennoch wollte sie sich zusammenreißen, besonders vor Ayame, die vollkommen überfordert der Situation gegenübertreten musste. Von Etsuko wusste sie bereits, dass sie kaum etwas gegessen hatte oder genügend Schlaf fand, um diesen Abend halbwegs gut zu überstehen.
Mimi ging in die kleine Küche, in der sie die anderen eng versammelt vorfand.
Ayame wurde von Ren gestützt und auch Etsuko stand in ihrer Nähe.
Mimi hatte sich zu ihrer Mutter gesellt, die ihren Arm liebevoll um ihre Schulter legte.
Auch wenn sie Nähe zurzeit nicht ertrug, ließ sie sie einfach zu.
Yasuo saß teilnahmslos auf dem Stuhl und starrte ins Leere.
Nach einer kurzen Verschnaufpause, von wenigen Minuten, gingen sie alle gemeinsam wieder ins Wohnzimmer und steuerten auf die bereitstehenden Stühle zu.
Chiaki und Masaru saßen bereits, als der Rest von ihnen eintraf und sich neben ihnen niederließ.
Mimi ließ sich von ihrer Wärme ihrer Mutter umhüllen, die sie festumklammert hielt, während der Priester mit seiner Sutrenlesung begann.
Sie hörte seine Worte, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Mit starren Augen blickte Mimi zu ihrer aufgebahrten Schwester. Eine Schwere machte sich in ihrer Brust breit, nahm sie ein, vernebelte ihr den Kopf und scheuchte jeden klaren Gedanken beiseite.
Nichts ist für immer. Wir sind dazu gezwungen loszulassen, ob wir wollen oder nicht. Abschied begegnet uns tagtäglich, zerreißt unser Herz und hinterlässt eine Lücke, die keiner füllen kann. Es ist ein unausgesprochener Schmerz, der nach Heilung verlangt, diese aber nicht so einfach erhalten wird.
Wie hypnotisiert richtete sie den Blick zu den Menschen, die Noriko einst so nahe standen. Mimi konnte den meisten gar nicht ins Gesicht schauen, da sie Angst hatte, von ihren eigenen Gefühlen übermannt zu werden. Sie sah an sich hinab und krallte ihre Fingernägel in den rauen Stoff ihres schwarzen Kleides und ballte ihre Hände zu Fäusten.
Sie konnte immer noch nicht fassen, was hier gerade passierte…
Wenn ein Mensch geht, den wir lieben, vermissen wir ihn. Meist für immer. Ein Teil von uns ist gegangen. Ist ein Stück des hellblauen Himmels geworden, um von nun an, über uns zu wachen. Tag und Nacht. Stunde um Stunde.
Der Priester beendete seine Sutrenlesung und verschwand nach kurzer Zeit bereits wieder, um die Familie und Freunde in Ruhe trauern zu lassen. Die Nacht verging nur schleppend und quälte Mimi mit der beißenden Gewissheit, dass alles endgültig vorbei war.
Sie war gegangen.
Für immer.
Erst jetzt wurde ihr all das schlagartig bewusst und zerschmetterte ihre Illusionen, die sie einst hegte.
Sie war so dumm gewesen, hatte die Krankheit komplett unterschätzt und sich lieber ihrem eigenen Kummer hingegeben, der irgendwann vorbeigezogen wäre.
Doch jetzt hatte sie jemanden verloren, der ihr in kurzer Zeit so wichtig geworden war, ohne ihr jemals ihre wahren Gefühle ins Gesicht gesagt zu haben.
Liebe. Freundschaft. Verbundenheit. All das würde sie vermissen, denn es würde nichts mehr so sein, wie es einmal war.
Nun war sie gegangen und hinterließ eine tiefe Lücke in ihrem Herzen.
Keiner kann sagen, was nach dem Tod kommt, wir können nur hoffen. Hoffen auf das Paradies, einen Neuanfang, oder das Finden von Wunderland.
Denn die Hoffnung gibt uns in den schweren Stunden den Mut, nicht aufzugeben.
Am nächsten Tag ging alles relativ schnell. Einige Nachbarn, Bekannte und Klassenkammeraden kamen vorbei, um von Noriko Abschied zu nehmen.
Sie legten kleine Opfergaben am heimischen Schrein nieder und zündeten Räucherstäbchen an, die die drückende Atmosphäre untermauerten.
Keiner von den Anwesenden hatte mehr als zwei Stunden geschlafen. Es wurde viel gebetet und auch wenn jeder nur für sich sprach, war das Gefühl der Zusammengehörigkeit allgegenwärtig.
Einige Trauergäste überreichten Ayame Geldgeschenke, um die Beerdigung bezahlen zu können.
In Japan war üblich sich finanziell zu beteiligen, da die ganze Zeremonie, alles andere als günstig war.
Gerührt von der ganzen Anteilnahme, standen Ayame die Tränen in den Augen, die sie versuchte zu verbergen.
Doch als der Bestattungsunternehmer an der Tür klingelte, um Noriko abzuholen, konnte sie sich nicht länger zusammenreißen und weinte stumme Tränen, während Mimi schmerzvoll ihre eigenen Gefühle hinten anstellte und sie qualvoll hinunterschluckte.
Noriko wurde in einen Sarg gelegt, der traditionell von ihren nahestehenden Liebsten mit Nägeln verschlossen wurde. Danach machten sie sich auf den Weg zum Krematorium.
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Ihr Kopf schwirrte, als sie sich kraftlos auf ihr Bett niederließ und halbherzig aus ihren Schuhen schlüpfte. Sie waren noch nicht lange zu Hause, doch Mimi war einfach nur noch müde.
Der Tag schritt nur langsam voran, für einen kurzen Moment schien sogar alles stillzustehen.
Mimi ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen und fuhr mit ihren Handflächen über ihre Augen.
Sie hatte nicht geweint, fühlte sich betäubt und schwach, sodass sie am liebsten schlafen wollte.
Gerade als sie sich zu ihrem Kopfkissen hochgeschafft hatte, klopfte es ausgerechnet an ihrer Zimmertür.
Eigentlich hatte sie keine Lust mit ihrer Mutter zu reden, doch sie konnte sie nicht ignorieren, da sie sich ja nur Sorgen machte, weshalb sie sie hineinbat.
Verwirrt starrte sie zu ihr, als sie plötzlich mit einem Strauß Gardenien vor ihr stand.
„Woher hast du denn den Strauß?“, fragte sie interessiert und musterte die weißen Blüten aufmerksam.
„Er lag vor unserer Haustür. Es hat wohl jemand geklingelt und sie davor gelegt“, schlussfolgerte sie und schnupperte an dem Strauß, der einen süßliche Duft im Zimmer verbreitete.
„Okay“, machte Mimi nur und drückte ihren Rücken in die Matratze. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah herausfordernd zu ihrer Mutter, die sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen konnte.
„Er ist für dich“, sagte sie nur und reichte ihn an ihre verwunderte Tochter weiter.
Mimi nahm die Gardenien entgegen und runzelte fragend die Stirn.
Wer sollte ihr wohl Blumen schicken?
Sie sah wieder zu ihrer Mutter, die sie erwartungsvoll anschaute.
„Da ist ein kleines Kärtchen dabei“, meinte sie und deutete auf den Stiel. Verwundert ertastete Mimi ein kleines Kuvert, auf dem lediglich ihr Name drauf stand.
„Du kannst mir ja später erzählen, von wem du diesen unfassbar schönen Blumenstrauß bekommen hast. Du weißt hoffentlich, was Gardenien bedeuten“, erinnerte sie sie verheißungsvoll, ließ sie aber kurz danach alleine in ihrem Zimmer zurück.
Früher hatten ihre Mutter und sie oft über die Bedeutung von Blumen gesprochen, besonders weil ihr Vater ihrer Mutter häufig einen Blumenstrauß schenkte.
Gardenien. Mimi überlegte fieberhaft welche Bedeutung Gardenien hatten.
Gedankenversunken pfriemelte sie das kleine Kuvert vom Strauß und legte ihn sachte vor sich aufs Bett.
Sie begutachtete den wundervoll zusammengesteckten Strauß und öffnete behutsam den kleinen Umschlag.
Gardenien. Blumen, die die geheime Liebe symbolisierten.
Irritiert über ihren eigenen Gedanken, nahm sie das kleine Kärtchen hervor und klappte es auf.
Augenblicklich stockte ihr der Atmen und ihr Herz setzte aus.
Mit zitternden Fingern hielt sie sich die Hand vor den Mund und unterdrückte einen schmerzvollen Aufschrei, indem sie ihre Lippen fest aufeinander presste.
Ihr Herz zog sich stechend zusammen und trieb ihr die Tränen in die Augen.
Fassungslos fixierte sie die Worte, die darin geschrieben standen und in ihr ein wirres durcheinander der Gefühle auslösten.
Warum ausgerechnet jetzt, schoss ihr sofort durch den Kopf, als sie immer wieder das Gleiche las.
Sie schüttelte ungläubig den Kopf und ließ das Kärtchen auf ihren Schoss sinken.
Ihre Gesichtszüge entglitten ihr und sie verzog schmerzerfüllt ihr Gesicht.
Sie ließ den Kopf auf die Matratze sinken, unfähig ihre Emotionen zu kontrollieren.
Die Tränen rannen ihr über die Wangen, so als hätten sie nur auf den richtigen Moment gewartet, sich qualvoll mitzuteilen.
Neben ihr lag immer noch das Kärtchen, dessen Inhalt alles zum Wanken brachte:
Es war nicht bedeutungslos – Tai.