Zwei Herzen, ein Takt
Wie betäubt trottete sie zur Schule und nahm ihre Umgebung nur mäßig wahr.
Seit der Nacht mit Tai fühlte sie sich einfach nur noch leer.
Den gesamten Sonntag hatte sie in ihrem Zimmer verbracht, kaum etwas gegessen und auch das Vibrieren ihres Handys weitestgehend ignoriert.
Sie wollte weder jemanden sehen, noch sich aus ihrem Bett bewegen, dass sie panisch neu bezogen hatte.
Sie konnte nicht in dem Bett liegen, in der gleichen Bettwäsche, in der beide miteinander…
Mimi presste die Lippen aufeinander und unterdrückte den Schmerz, der ihren Hals hoch kroch.
Ein paar Schüler rannten an ihr vorbei, doch sie konzentrierte sich nur darauf nicht in Tränen auszubrechen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie auf ihn reagieren würde, wenn er auf einmal vor ihr stand und sie gezwungen war mit ihm zu reden.
Sie hatte das Bedürfnis ihn anzuschreien und immer wieder zu fragen, was er sich nur dabei gedacht und ob sie sich alles nur eingebildet hatte.
Waren diese Momente so wertlos für ihn? Wollte er sie einfach nur flachlegen, weil Sora ihn nicht ranließ?
Ihr drehte sich der Magen herum und die Übelkeit stieg in ihr auf.
Sie war ein verdammtes Trostpflaster. Das Mädchen, dass man vögeln konnte, wenn einem danach war. Das Mädchen, das es einfach so zuließ, weil sie so schrecklich verliebt gewesen war.
Ihre Wut wuchs ins Unermessliche und richtete sich nicht nur gegen Tai.
Auf sich selbst war sie mehr als nur wütend.
Noriko hatte sie gewarnt, doch sie wollte nicht auf sie hören, in der Hoffnung, es könnte sich doch noch irgendetwas zwischen ihnen entwickeln.
Doch nichts dergleichen würde geschehen. Es war eine Nacht, mehr nicht.
Sie war die Dumme, die sich mehr erhofft hatte, obwohl sie es besser hätte wissen müssen.
Schwerfällig setzte sie einen Fuß vor den anderen und bemerkte erst gar nicht, wie jemand ihren Namen rief und auf sie zusteuerte.
Erst als die Person sie erreichte und zart an der Schulter berührte, drehte sie sich ruckartig herum.
Zuerst dachte sie es wäre Tai, doch dann sah sie in das Gesicht ihrer besten Freundin, die sie vor Freude förmlich anstrahlte.
„Ach, du bist es Sora“, sagte sie erleichtert und blieb stehen.
„Wer soll es denn sonst sein?“, fragte sie ein wenig verdattert und war nach Mimis Ansicht definitiv zu gut gelaunt.
„Ach niemand“, sagte sie schnell und merkte wie Sora sich bei ihr unterhakte.
„Ich muss dir einiges erzählen“, eröffnete sie ihr relativ fix, als sie in Richtung Schulgebäude gingen.
Mimi konnte sich schon denken, was sie ihr berichten wollte.
Doch sie wollte nichts darüber hören.
Bestimmt hatten sie sich wieder vertragen, nachdem er bei Mimi Dampf abgelassen hatte.
Sie sog scharf Luft ein, als sie sich daran zurückerinnerte.
Seine Berührungen. Seine Küsse. Die Verbundenheit, die sie für diesen einen Augenblick spürte.
Ein tiefsitzender Schmerz machte sich in ihr breit, als Sora ihr tatsächlich erzählte, dass Tai von Paris wusste, tierisch sauer wurde, aber am nächsten Tag sich mit ihr getroffen hatte, um mit ihr zu reden.
Am nächsten Tag!
Da war ihre gemeinsame Nacht noch keine vierundzwanzig Stunden alt. Und schon rannte er an Soras Rockzipfel, um sich bei ihr zu entschuldigen.
„Er war enttäuscht gewesen, dass ich es ihm nicht früher gesagt hatte, aber er hat eingesehen, dass es ein großer Traum von mir ist. Er will mich deswegen auch unterstützen“, sagte sie freudestrahlend, so als wäre ein Zentner Last von ihrer Brust gefallen. „Ich werde es auch bald den anderen sagen!“
Mimi nickte nur beiläufig, bekam aber kein einziges Wort heraus.
Bei Sora entschuldigte er sich? Wegen so eine Lappalie? Und bei ihr?
Fand er es etwa in Ordnung, einfach mit ihr zu schlafen und danach abzuhauen?
Verzweifelt kaute Mimi auf ihrer Lippe herum und versuchte sich aus Soras Klammergriff zu lösen.
„Ist wirklich alles in Ordnung? Du bist so komisch…ist irgendwas vorgefallen? Mit deinem Vater?“, spekulierte sie und Mimi dachte darüber nach, ihr einfach die Wahrheit zu sagen, doch kein einziges Wort kam über ihre Lippen. Das Bedürfnis zu weinen wurde immer größer und veranlasste sie dazu, ihren Kopf zu senken und sich hinter ihrem Haarvorgang zu verstecken.
„Nein, es ist alles gut“, log sie mit schwerer Zunge, fixierte einen Punkt auf dem Boden, um nicht zu weinen.
„Wirklich?“, hinterfragte Sora spitzfindig, so als hätte sie sie bereits durchschaut.
Widerwillig nickte Mimi mit dem Kopf und hatte sich wieder etwas beruhigt, sodass sie ihrer Freundin ins Gesicht schauen konnte.
„Schön, dass ihr euch wieder vertragen habt“, sagte sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, der Sora keinesfalls zu beruhigen schien, aber ihre nervigen Fragen einstellte.
Beide blieben kurz vor dem Eingang des Schulgebäudes stehen, als Sora erneut das Wort ergriff.
„Du sag‘ mal, weißt du vielleicht warum Tai so neben der Spur ist? Es ist mir schon länger aufgefallen und ihr verbringt ja wirklich ziemlich viel Zeit miteinander.“
Sora hatte sie inzwischen losgelassen und musterte sie interessiert.
Mimi zog nur die Stirn kraus und wusste nicht, auf was sie hinaus wollte.
„Keine Ahnung, ist mir nicht aufgefallen“, meinte sie abweisend und wollte gerade reingehen, als sich Sora nachdenklich durchs Gesicht fuhr.
„Komisch, ich dachte dir wäre auch etwas aufgefallen. Am Sonntag war er richtig komisch drauf!“
Mimi blieb stehen.
„Komisch drauf? Inwiefern?“, hakte sie neugierig nach.
„Er schien mit den Gedanken manchmal woanders zu sein und als ich ihn darauf angesprochen hatte, meinte er, es wäre nichts. Aber als wir im Café waren hat er ständig auf sein Handy geguckt“, erzählte Sora verwundert.
Erst jetzt fiel Mimi ein, dass sie ihr Handy vollkommen vergessen hatte. Sie hatte es so lange ignoriert, bis irgendwann der Akku leer war. Heute Morgen hatte sie es noch aufgeladen, aber seither nicht mehr eingeschaltet.
Sie dachte, dass nur Noriko ihr geschrieben hätte. Im Notfall würden ihre Mutter, oder auch die Jungs sowieso auf ihrem Festnetztelefon anrufen, da sie es so abgesprochen hatten.
Sie wollte keine Nachricht über das Handy bekommen, dass mit ihrer Schwester etwas nicht stimmte.
Doch das was Sora ihr erzählte, ließ sie stutzig werden.
Etwas abrupt verabschiedete sie sich von ihr und steuerte direkt zu den Toiletten, um ungestört ihr Handy zu prüfen. Sie ging in eine Kabine und lehnte sich erwartungsvoll gegen die Wand.
Kaum hatte sie es eingeschaltet, überschlugen sich ihre Nachrichten.
67 Anrufe in Abwesenheit. Und 32 neue SMS.
Mit zitternden Fingern wühlte sie sich durch den Posteingang und stellte fest, dass die meisten Anrufe und SMS tatsächlich von Tai waren.
Sie klickte sich durch und war überrascht, dass seine letzte SMS tatsächlich mitten in der Nacht abgeschickt wurde.
Bitte melde dich! Es tut mir leid – Tai.
Ruf mich zurück, wenn du das hier liest – Tai.
Mimi, bitte lass uns nochmal darüber reden – Tai.
Unzählige Nachrichten in einem ähnlichen Wortlaut hatte er ihr geschickt. Die Verzweiflung stieg, aber auch die Wut, was seine vorletzte Nachricht deutlich machte.
Ich weiß ich habe mich wie ein Arschloch verhalten, aber warum antwortest du nicht? Es ist ja nicht so, dass du es nicht auch wolltest und darauf angelegt hast – Tai.
Ihr stockte der Atem. Ihre Hände finden an zu zittern und sie hielt sich augenblicklich den Mund zu. Ein unterdrückter Laut entwich ihren Lippen und salzige Tränen bahnten sich ihre Wangen hinunter.
Wie konnte er nur sowas schreiben?
Sie wusste selbst, dass sie es gewollt hatte, aber hatte sie es wirklich darauf angelegt?
Er hatte doch angefangen sie zu küssen und hatte eine klare Grenze überschritten.
Von Wut gepackt, löschte sie seine letzte Nachricht, ohne sie vorher gelesen zu haben.
Sie fuhr sich mit dem Handrücken über ihre nasse Augenpartie, bevor sie die Kabine entriegelte und direkt auf einen der Spiegel zusteuerte.
Sie sah kurz hinein, schnappte sich ein Tuch und fuhr mit der Spitze unter ihren Augen entlang.
Etwas Wimpertusche wurde auf dem Papiertuch sichtbar, als sie nochmal ihr Aussehen checkte und ihre Haare richtete.
Sie räusperte sich, schulterte ihre Tasche und ging zu ihrem Klassenzimmer.
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Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, als sie ihre Tasche nach der letzten Stunde langsam zusammenpackte.
Heute ließ sie sich extra viel Zeit, da sie Tai auf gar keinen Fall begegnen wollte.
Sogar in der Mittagspause schaffte sie es ihm aus dem Weg zu gehen und nur mit Sora zu Essen.
Sie sagte ihr einfach, dass sie etwas Ruhe bräuchte und auch Sora schien der Abstand zu den Jungs ganz recht zu sein, besonders seit Matt ab und an wieder mit ihnen gemeinsam aß.
„Bis morgen“, verabschiedete sich auch Izzy von ihr und ging mit ein paar Mitgliedern des Computerclubs aus dem Raum.
„Bis morgen“, murmelte Mimi niedergeschlagen und blieb einen kurzen Moment an ihrem Platz stehen, bevor sie sich aufraffte und langsam aus dem Klassenzimmer verschwand.
Sie ging schleppend die Treppe hinunter und wurde beim Gehen von einigen Schüler überholt, die lachend und unbeschwert an ihr vorbei liefen.
Mimi trottete hingehen nur sehr schleichend aus der Schule, überlegte, ob sie noch irgendwo hingehen, oder sich doch lieber gleich in ihrem Bett verkriechen sollte.
Völlig in Gedanken versunken, bekam sie gar nicht mit, dass jemand auf sie wartete.
Erst als sie ruckartig am Arm gepackt und zur Seite gezerrt wurde, nahm sie die Person, die sich vor ihr aufgebaut hatte, wahr.
„Was willst du?“, brachte sie erstickt hervor, konnte ihm aber nicht ins Gesicht schauen.
Sie sah zu ihrem Rock und spielte am Saum, während er die Arme neben ihrem Kopf abgestützt hatte und sie somit zwischen der Mauer und ihm gefangen hielt.
Mimi hatte nicht damit gerechnet, dass er noch auf sie wartete. Eher hatte sie gehofft, dass er wie alle anderen das Schulgebäude schon längst verlassen hatte.
Doch dem war nicht so. Er stand direkt vor ihr und drängte sich ihr regelrecht auf, sodass ihr das Atmen bereits schwer fiel.
„Was willst du?“, wiederholte sie und steifte kurz seinen Blick, der außerordentlich traurig auf sie wirkte.
„Ich will mit dir reden!“, brachte er hervor, ließ etwas von ihr ab und stellte sich ihr gegenüber.
„Hast du nicht schon genug gesagt?“, entgegnete sie verletzt und wollte sich an ihm vorbeidrängen, als er sie sanft an den Schultern packte und gegen die Mauer presste.
„Es tut mir unheimlich leid. Ich hätte das nicht tun dürfen!“, kam es von ihm, während Mimi immer noch zur Seite schielte und ihn nicht ansah. Zu sehr hatte er sie verletzt und ihre Gefühle mit Füßen getreten, auch wenn er offiziell nichts von ihnen wusste.
„Deine SMS hat sich aber ganz anders angehört“, zischte sie und drückte ihre Zunge gegen ihren Gaumen. „Hab es wohl darauf angelegt.“
Aus ihrer Stimme war sehr wohl herauszuhören, dass seine Worte sie sehr gekränkt hatten. Der ganze Abend hatte eine tiefe Wunde bei ihr hinterlassen, die wohl nur sehr schwer wieder zuwachsen würde. Mit schmerzverzehrtem Gesicht wandte sie sich ihm zu. Ihre Blicke trafen sich unweigerlich, wenn auch nur kurz.
„Du hast die andere SMS nicht mehr gelesen, oder?“, fragte er auf einmal.
Mimi schüttelte nur den Kopf und überlegte fieberhaft, wie sie aus dieser Situation entkommen könnte.
Seine Nähe bereitete ihr Unbehagen. Sie wollte am liebsten schreien, riss sich aber zusammen, da sie sich immer noch auf dem Schulgelände befanden.
„Ich hätte sowas nicht schreiben dürfen“, platzte aus ihm hervor, „es ist ja nicht so, dass ich es nicht auch darauf angelegt hätte.“
Mimi schluckte, als seine Worte sie erreichten. „Also, hast du es geplant gehabt?“, schlussfolgerte sie und hob zornig den Kopf an. „Wolltest du mit mir vögeln, weil Sora dich nicht rangelassen hat?“
Verdutzt erwiderte er ihren Blick und wirkte zuerst verwirrt, bis er realisierte, was sie zu ihm gesagt hat.
Erbost blitzten seine Augen auf und er nahm einen etwas größeren Abstand zu ihr ein.
„Halt Sora da raus! Mit ihr hat das nichts zu tun!“
„Und mit was dann? Warst du etwa so untervögelt und wolltest einfach mal wieder zum Schuss kommen?“, entgegnete sie hitzig und achtete gar nicht mehr darauf, was sie eigentlich sagte.
Tai klappte der Mund auf und blankes Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht wider.
„Da fällt dir wohl nichts mehr ein“, giftete sie, drückte sich an ihm vorbei und schaffte es zum Tor, als er sie erneut einholte und am Arm packte.
„Man Mimi, hör auf so ‘ne verdammte Zicke zu sein und lass‘ mich ausreden!“, flehte er sie an.
Doch Mimi hatte genug und riss sich von ihm los.
„Ich habe aber keine Lust mir anzuhören, dass es nur für einen Abend war und ich dein beschissenes Trostpflaster bin!“, krächzte sie verzweifelt und trieb sich die Tränen in die Augen.
„Trostpflaster? Aber so ist das doch…“, er hielt kurz inne und starrte verwirrt hinter sie, „nanu, wer bist du denn?“, fragte er überrascht. Sie folgte seinem Blick und erstarrte.
„Was machst du denn hier?“, fragte sie fast ehrfürchtig, als die Person lächelnd einen Schritt auf sie zuging.
Die Reifen ihres tragbaren Sauerstoffgeräts quietschten etwas, als sie sich auf beide zubewegte.
Sie trug einen dicken Schal und eine passende Mütze, die ihre Haarlosigkeit vor Tai kaschierte.
Auch ihre Jacke sah mollig warm aus und versteckte ihren zierlichen Körper.
Nur das Sauerstoffgerät wies daraufhin, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
„Wie bist du hier her gekommen?“, flüsterte Mimi ihr zu und packte ihren Jackenärmel.
„Ich bin mit dem Bus gefahren“, antwortete sie verständnislos, „ein paar Sachen kannst du mir schon noch zutrauen.“
Immer wieder huschte sie mit dem Blick zu Tai, der hinter den beiden Mädchen stand und nervös mit seinem Fuß auf und ab wippte.
„Ich bringe dich nach Hause!“, beschloss Mimi und wollte sich schon in Bewegung setzen, als Tai sich erneut zu Wort meldete.
„Hey! Wir waren noch nicht fertig!“
Er ging ein paar Schritte auf sie zu, doch Mimi nahm eine abweisende Haltung ein.
„Ihr könnt euch ruhig noch zu Ende unterhalten. Ich warte da hinten“, meinte sie und deutete auf die andere Straßenseite.
„Nein! Ich bringe dich jetzt nach Hause, Noriko“, erwiderte sie ernst und drehte den Kopf leicht zu Tai, der angespannt hinter ihnen stand. „Dir habe ich nichts mehr zu sagen!“
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Sie atmete tief ein, als sie sich im Sand niederließ und aufs Meer blickte.
Noriko saß direkt neben ihr, in ihren Augen ein Funkeln, dass sie schon länger vermisst hatte.
Im Nachhinein war sie froh gewesen, dass sie sie doch noch dazu überreden konnte, hier her zu kommen.
Sie hatte sich rausgeschlichen, nachdem ihre Mutter zur Arbeit verschwunden war.
„Die Luft ist hier einfach so frisch, ich habe das Gefühl, ich kann viel besser atmen“, meinte sie und sog die Luft durch ihre Lungen. „Zuhause ist mir praktisch die Decke auf den Kopf gefallen.“
Ein mildes Lächeln zog sich über ihre Lippen, als Mimi ihre Beine dicht an ihren Körper zog und bedrückt zu Boden stierte.
„Ihr beide scheint ja ein ernstes Gespräch geführt zu haben. Um was ging es denn?“, fragte sie interessiert und spielte natürlich auf Tai an.
Mimi presste ihr Kinn gegen ihre Knie und seufzte deprimiert. Sie hatte Noriko noch nichts davon erzählt gehabt, weil sie ihre Probleme nicht zu Norikos machen wollte. Zumal sie auch wusste, dass sie das gesamte Wochenende mit Chiaki verbracht hatte und sie die beiden bei ihrer Zweisamkeit nicht stören wollte. Doch jetzt brauchte sie jemanden. Jemanden wie Noriko.
„Du hattest Recht, er wollte mich nur flachlegen“, murmelte sie wehmutsvoll und studierte ihre Reaktion aufmerksam.
„Und ich war so dumm und habe mich flachlegen lassen.“
„Du hast mit ihm geschlafen?“, hinterfragte sie entsetzt, rutschte aber automatisch näher an sie heran. „Und wie war’s?“
Mimi drehte den Kopf zu ihr und blickte nachdenklich in die Ferne. Sie schloss die Augen und versetzte sich die vergangene Situation. Sie spürte noch genau seine Hände und seine Küsse auf ihrer Haut.
Die ungestillte Sehnsucht fand endlich einen Weg gestillt zu werden, auch wenn es ein hoffnungsloser Irrglaube war.
„Es war atemberaubend. Noch nie habe ich so viel für einen Menschen empfunden, wie in diesem Moment. Und dann steht er einfach auf und geht“, brachte sie verzweifelt hervor und erkannte wie ihr Traum, mit ihm zusammen zu sein, wie eine Seifenblase zerplatzt war.
Sie redete sich komplett in Rage, merkte gar nicht, dass sie bereits weinte und immer wieder betonte, wie weh Tai ihr getan hatte.
Und Noriko? Sie saß einfach nur dicht neben ihr, hörte geduldig zu und nickte mit dem Kopf, während sie wutentbrannt ihrer Verzweiflung freien Lauf ließ.
„Ich hatte gedacht, dass sich etwas zwischen uns entwickelt hat, aber…“, sie zog die Nase hoch und wusch mit dem Handrücken über ihre nassen Augen, „ich habe wohl nur das gesehen, was ich sehen wollte. Er liebt Sora und nicht mich.“
Diesmal war es Noriko, die hilflos zu Mimi starrte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihrer Schwester die Worte fehlten, da sie mit Chiaki das komplette Gegenteil erlebte.
Mimi merkte wie glücklich die beiden miteinander waren und auch viele intime Momente miteinander teilten.
Noriko schwärmte regelrecht davon, wie sie zusammen einschliefen und am nächsten Tag gemeinsam aufwachten, frühstückten und in den Morgen starteten.
So eine Verbindung würde sie zu Tai niemals haben.
Selbst Matt, der oft das Bett mit verschiedenen Frauen teilte, hatte sie so nicht behandelt.
Er wollte damals mit ihr darüber reden, auch wenn sie sich stillschweigend darauf geeinigt hatten, es nicht zu tun.
Tai hatte sie einfach im Stich gelassen und bewusst auf ihren Gefühlen herumgetrampelt, um seine Bedürfnisse zu stillen.
„Er ist so ein Arsch“, sagte sie zitternd, als ein kaltes Lüftchen sie erfasste.
Die Wellen schlugen wild durcheinander und ein gleichmäßiges Rauschen war zu hören. Der Himmel war wolkenverhangen und ließ die Sonne einfach nicht durch.
Es passte perfekt zu ihrer bedrückten Stimmung, bis Norikos Stimme ertönte und sie vom Gegenteil überzeugen wollte.
„Aber über was habt ihr geredet? Er hat jetzt nicht den Eindruck gemacht, dass ihm die Sache egal wäre.“
„Auf welcher Seite stehst du überhaupt?“, fragte Mimi empört, „du warst doch diejenige, die meinte das ich nur eine Lückenbüßerin sei.“
Noriko ließ die Schultern hängen und zog ebenfalls ihre Beine an.
„Ich weiß, aber ich habe auch gesagt, dass ich ihn ja nicht kenne und vorhin hat er auf mich richtig verzweifelt gewirkt.“
„Schön für ihn“, entgegnete Mimi augenverdrehend, „vielleicht hat er ja doch noch sowas wie ein Gewissen.“
„Hey“, sagte sie behutsam und legte ihr Kinn auf Mimis Schulter, „das wird schon alles werden. Vieles ist auf den ersten Blick nicht so wie es scheint, das müsste dir doch gerade bei uns bekannt vorkommen.“
Mimi wandte sich ihr zu und blickte sie grübelnd an.
Genau genommen hatte sie Recht. Wenn sie an ihre erste Begegnung und das, was sie anfangs von ihr hielt, zurückdachte, merkte sie relativ schnell, dass Welten dazwischen herrschten.
Noriko war ganz anders, als Mimi sie sich vorgestellt hatte.
Im ersten Moment wirkte sie so einschüchtern auf sie, dass sie hoffte, ihr nie wieder zu begegnen.
Mimi war froh, dass das Gegenteil eingetroffen war.
Sie war ein Mensch, den sie nicht mehr missen wollte. Ein Mensch, bei dem sie sie sich geborgen und wohl fühlte, egal welche Hürden noch auf sie zukamen. Sie würden sie meistern – wie alles in ihrem Leben.
Mimi legte ihre Hand auf ihren Arm und hielt Noriko so fest sie nur konnte.
„Ich bin froh, dass wir uns kennengelernt haben“, hauchte sie vor sich hin.
Noriko lächelte milde, als sie kurz ihren Sauerstoffschlauch in ihrer Nase richtete.
„Ich werde immer bei dir sein, egal wo mich mein Weg auch noch hinführt. Ich bin bei dir. Für Immer.“
Mimi nickte schwach und kontrollierte ihre Gefühle, die in ihrem Inneren zu tanzen begannen.
Sie war so unfassbar froh, jemanden zu haben, der sie aufrichtig und bedingungslos liebte.
Bei Noriko musste sie sich nie verstellen, konnte rumzicken und ihre tiefvergrabenen Empfindungen preisgeben, ohne sich nackt zu fühlen.
Es war eine andere Form der Liebe, die sie bisher noch nie empfunden hatte.
Sie war ihre Schwester, ein Teil von ihr, ihr Blut.
Nichts auf dieser Welt konnte es schaffen, ihre Verbindung zu durchtrennen, noch nicht mal der Tod, der hinter jeder Ecke auf sie warten könnte.
Gedankenversunken blickten beide in die Ferne und beobachten die tosenden Wellen, die sich vor ihnen erstreckten.
Allmählich kämpfte sich die Sonne durch die Wolkenfront und entfaltete ihre volle Pracht vor ihnen.
Sie spiegelte sich im Wasser und wärmte ihre durchgefrorenen Körper, die dicht aneinander gepresst saßen. Die Zeit schien für den Moment still zu stehen. Es gab nur sie und das fest verwurzelte Band der Schwestern, das sie auf ewig miteinander verbinden würde.