Gute Briefe, Schlechte Briefe
~ Für meine liebste Chaos_Katze. Ich war sehr positiv überrascht, dass du das Kapitel direkt zu mögen scheinst. Das ist... nun ja... was Besonderes. *smile* ~
_____________________________
Hallo, ihr Lieben!
Bitte verzeiht den dusseligen Kapitel-Titel, aber ich konnte einfach nicht anders. ^___^ Nyo, jedenfalls bin ich mit meiner Bachelor-Arbeit fertig. Deshalb ist hier nun endlich das neue Kapi, das ich euch schon seit Wochen schulde. Hoffentlich seid ihr noch interessiert. o.o
Viel Spaß beim Lesen!
______________________________
„Und wenn Sie mit dem Sortieren der Kräuter fertig sind, dann stauben Sie die Bezoare ab und ordnen sie der Größe nach zurück in ihren Behälter. Mr. Filch wird zu gegebener Uhrzeit Ihre Strafarbeit für beendet erklären und das Klassenzimmer hinter Ihnen abschließen.“ Severus baute sich vor der sommersprossigen Hufflepuff-Drittklässlerin auf, die an diesem Abend nicht zum ersten Mal die zweifelhafte Ehre hatte, bei ihm nachzusitzen. „Ich werde mich später am Abend persönlich von der Qualität Ihrer Arbeit überzeugen. Seien Sie gewarnt, Miss Tingler: Sollte ich die Zutaten nicht zu meiner vollsten Zufriedenheit in einwandfreiem Zustand vorfinden, werde ich mich genötigt sehen, Sie die Arbeit morgen noch einmal tun zu lassen – und…“ Er lächelte gehässig auf das Mädchen hinab, bevor er den Satz beendete: „… mir noch weitere Aufgaben für Sie einfallen zu lassen, damit Sie lernen, wie es geht.“ Das Mädchen blickte zur Seite, verzog das Gesicht und tappte störrisch mit dem Fuß. Aber zu ihrem Glück unterdrückte sie jedweden Impuls zu einer Erwiderung. Severus entließ sie mit einem Nicken an ihre Arbeit. Dann glitt er mit langen Schritten aus dem Klassenzimmer und verriegelte hinter sich die Tür mit einem Zauberspruch, der sich erst beim Klang der Stimme des Hausmeisters auflösen würde. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck verließ er das Schloss, um außerhalb der Schutzzauber nach London apparieren zu können.
***
Etwas später am Abend stand Remus, den Oberkörper über das Bett gebeugt, in seinem Krankenzimmer und versuchte unter unbändiger Kraftanstrengung, sein rechtes Bein zu einer Bewegung zu überreden. Sein Gesicht hatte sich vor Anstrengung rot gefärbt und er schwitzte; aber er wollte, um Merlins Willen, dieses Bein bewegen!
„Noch ein bisschen mehr anstrengen“, feuerte Heiler Smelty, der gemütlich neben ihm auf dem Bett saß, ihn an. Zum Glück hatte Remus keine Puste übrig, sonst hätte er den Mann liebend gern angeknurrt. „Jaahh, noch ein bisschen!“ rief der Heiler euphorisch, während sich gleichzeitig Remus‘ Augen weiteten – sein nach dem Schlaganfall fast vollkommen tauber Fuß rutschte auf dem glatten Fußboden ein kleines Stück vorwärts, dann noch ein Stück, bis sein Bein sich gegen die Matratze seines Bettes schmiegte. Remus, der den Atem angehalten hatte, holte nun keuchend Luft und ließ sich erschöpft auf das Bett sinken. Ihm war so heiß, als würde er jeden Moment zerfließen. „Wunderbar, wunderbar!“ klatschte Smelty. „Das haben wir einfach wunderbar gemacht!“ Remus stöhnte, aber er war selbst froh über den kleinen Erfolg. Er konnte sein Bein wieder bewegen.
„Damit haben wir wortwörtlich den ersten Schritt getan“, sprach Smelty Remus‘ Gedanken aus. „Morgen wird alles schon ein bisschen leichter sein. Wir müssen nur immer schön das kranke Bein belasten und fordern und heute Nacht wieder auf der kranken Seite schlafen.“ Es fehlte nur noch, dass der Heiler Worte wie „brav“ oder „artig“ in seine Sätze einbaute oder Schokofrösche als Lob verschenkte; allein der Ton, den er immer anschlug, wenn er mit Remus redete, erweckte den Eindruck, als glaubte Smelty, es mit einem Kleinkind zu tun zu haben. Doch Remus war so erleichtert, dass er nicht sein Leben lang gehbehindert sein würde, sodass er lediglich müde die Hand hob, um Smelty zu signalisieren, dass er verstanden hatte.
„Schön, schön“, sagte der alte Mann mit diesem jungenhaften Grinsen, das er immer trug und das seine schiefen Zähne zur Schau stellte. Er stand vom Bett auf und lief hinüber zum Fenster. Remus konnte ihn aus seiner Position auf dem Bett nicht sehen, aber das Knacken und Quietschen sagte ihm, dass Heiler Smelty das Fenster geöffnet hatte. Zur Bestätigung strich kurz darauf eine frische Brise über Remus‘ verschwitzte Stirn. Ah, das tat gut!
Mit einer weiteren Erinnerung daran, dass Remus des Nachts auf seinem gelähmten Bein liegen sollte, damit sein Gehirn sich wieder an die Nervenimpulse gewöhnen konnte, verabschiedete sich Smelty fröhlich. Es blieb Remus überlassen, sich irgendwie wieder vollständig zurück ins Bett zu hieven, was sich wegen seiner eingeschränkten Gehfähigkeit und seiner Erschöpfung als recht knifflig erwies. Als er endlich wieder unter der Bettdecke lag, atmete er auf. Zwar wäre eine Dusche jetzt wundervoll gewesen, aber Remus war sich nicht sicher, ob er – selbst mit Hilfe des Hospitalpersonals – einer solchen Kraftanstrengung jetzt noch gewachsen war. Vielleicht am nächsten Morgen – irgendwann zwischen Physiotherapie, Frühstück und Logopädie. Oder danach. Ohnehin war das Sprachtraining noch die angenehmste und am wenigsten auslaugende seiner Übungen. Er lächelte ein wenig bei der Erinnerung daran, dass die junge Hexe, die für sein logopädisches Training zuständig war, sich sehr beeindruckt von der Farbe seiner Augen gezeigt hatte. Sie hatte ihn zur Übung schwere Wörter wie „honigfarben“ und „bernsteinfarben“ so deutlich wie möglich vor sich hin sprechen lassen.
„Bern-stein-far-ben“, versuchte Remus es mit geschlossenen Augen noch einmal. „Bern-stein-far-ben.“ Er wiederholte das Wort noch mehrere Male, bis er halbwegs zufrieden mit seiner Aussprache war, dann hing er eine Weile seinen Gedanken nach, bis er schließlich erneut die Lippen öffnete. „Se-ve-rus“, versuchte er und verzog das Gesicht. Der Name klang schrecklich, so wie er nuschelte und lallte. „Se-ve-rus, Se-ve-rus, Se-ve-rus.“ Als er nach dem x-ten Versuch noch immer nicht zufrieden mit dem Ergebnis war, stöhnte er frustriert. Es konnte doch wirklich nicht so schwer sein, einen simplen Namen vernünftig auszusprechen! Während er seinem eigenen verdrossenen Schweigen lauschte, kam ihm ein neuer Einfall und seine Züge hellten sich auf. „Sev.“ Ja. Es klang immer noch schrecklich, aber um Längen besser als sein Versuch, den gesamten Namen auszusprechen. „Sev. Sev. Sev. Sev. Sev…“
Als Remus die Tür zum Lehrerzimmer öffnete, stellte er mit einem lautlosen Seufzen resigniert fest, dass er nicht allein war. Minerva stand an einem der pompösen Eichenschränke und glitt mit dem Finger über die weitgehend unbeschrifteten Pergamentrollen, die darin aufbewahrt wurden. Eine große Ecke des langen Tisches war bereits übersät mit eben solchen Schriftstücken. Severus stand mit verschränkten Armen vor dem dampfenden Wasserkessel und schien seinem Gesichtsausdruck nach wie eh und je in grimmiger Laune zu sein. Remus wollte gerade unbemerkt den Rückzug antreten, als Minerva sich mit einem Stapel Schriftrollen auf dem Arm vom Schrank abwandte. „Oh, hallo, Remus. Du bist schon auf den Beinen?“
Der Angesprochene lächelte gequält. „Ich bin auf der Suche nach Kamillentee. Seit der Rückverwandlung quält mich mein Magen schon den ganzen Tag.“
„Ach herrj-“Der mitfühlende Blick, den Minerva ihm über den Schriftrollenstapel hinweg zuwarf, verwandelte sich in einen erschrockenen Ausdruck, als ein im Wege stehender Stuhl sie ins Stolpern brachte. Die Schriftstücke rutschten ihr aus dem Arm und rollten über den Fußboden. Auf seinen Stock gestützt, durchquerte Remus mit einem ergebenen Seufzen den Raum und ging neben Minerva langsam in die Hocke, um ihr beim Aufsammeln zu helfen.
„Lass gut sein“, sagte diese mit einem Blick, der halb sorgenvoll, halb tadelnd war.
Doch Remus hatte bereits die ersten Pergamentstücke unter dem Tisch hervor gefischt und betrachtete das vergilbte, bröselige Papier. „Wozu kramst du die alten Akten hervor?“ fragte er und ignorierte damit sowohl Minervas Einwand, als auch den seines revoltierenden Magens. Anstelle einer Antwort warf Minerva einen Blick über Remus‘ Schulter. Dieser wandte den Kopf und folgte ihrem Blick. Severus hatte ihnen halb den Rücken zugewandt und schien an ihrer Unterhaltung nicht interessiert. Remus meinte jedoch zu erkennen, wie Severus sich kaum merklich versteifte, als nun Stille eintrat. Vielleicht spürte er ihre Blicke in seinem Rücken.
„Jemand hat unserem Tränkelehrer einen Brief geschickt“, erklärte Minerva schließlich. Etwas an der Art, wie sie das Wort „Tränkelehrer“ aussprach, gefiel Remus nicht, aber ihre nächsten Worte ließen es ihn vergessen: „Einen Drohbrief.“
„Oh“, machte Remus überrascht und sah zwischen den anderen beiden hin und her. Die Schulleiterin, einige Pergamentrollen gegen ihre Brust drückend, richtete sich auf und sah sich prüfend auf dem Boden um, bevor sie die aufgelesenen Schriftstücke auf den Tisch legte. Severus tat noch immer, als nähme er keine Notiz von der Unterhaltung, und goss sich scheinbar gedankenverloren Tee ab.
„Der Verfasser des Schreibens“, fuhr Minerva fort, „tut kund, er habe einflussreiche Beziehungen, mit deren Hilfe er dafür sorgen wolle, dass… Severus bekommt, was er verdiene: den Kuss des Dementors.“
„Den Kuss des Dementors…“ Remus hatte sich inzwischen ebenfalls erhoben und kämpfte nun gegen eine neuerliche Welle der Übelkeit an. Er legte die aufgelesenen Schriftstücke zu den anderen, ließ sich auf einen nahen Stuhl fallen und atmete tief ein und aus, um seinen Magen zu beruhigen. Offenbar waren auch seine noch steifen Glieder nicht gerade glücklich über Remus‘ abendlichen Tatendrang; in ihrer Empörung schmerzten sie wieder stärker. Doch Remus versuchte, sein Unwohlsein zu ignorieren. Severus hatte einen Drohbrief erhalten – in Anbetracht der noch immer sehr instabilen politischen Situation womöglich eine ernst zu nehmende Sache. Er nickte nachdenklich. „Vielleicht ein Schüler, der ein Familienmitglied im Krieg verloren hat?“ Leider traf dies auf eine erschreckend hohe Zahl der Schüler zu. Es gab nicht sehr viele Mitglieder der Zauberergemeinschaft, die das Glück hatten, im Krieg nicht mindestens einen Familienangehörigen verloren zu haben – sei es durch den Tod, durch Gefangennahme, durch den Verlust des Verstandes oder durch andere, nicht minder grauenvolle Umstände.
„Möglich“, antwortete Minerva. „Oder ein Elternteil eines Schülers, der im Krieg umkam. Oder einfach nur jemand, der…“ Sie räusperte sich. Hinter Remus landete der Wasserkessel scheppernd auf der Kochstelle.
„Oder einfach nur jemand, der nicht einsehen kann, dass ich eine Rolle zu spielen hatte, die mich als loyaler Diener des Dunklen Lords erscheinen lassen sollte“, erklang Severus‘ gepresste Stimme aus jener Richtung.
„Oder das“, bestätigte Remus. Hätte er sich in jenem Moment nicht so ausgelaugt und krank gefühlt, so wäre er aufmerksam genug gewesen, zwischen den gesprochenen Zeilen zu lesen und die Spannung zu bemerken, die sich für einen Moment im Lehrerzimmer ausgebreitet hatte.
Doch der Moment verflüchtigte sich, als Minerva auf die Schriftrollen deutete. „Wir suchen in diesem Durcheinander von Akten nach einem magisch präparierten Vertrag, den Severus seiner Aussage nach unterschreiben musste, als Albus ihn damals als Tränkelehrer einstellte. Er soll“ – erneut warf sie Severus einen kurzen Blick zu – „eine Art Rückversicherung gewesen sein.“
„Eine Rückversicherung?“ fragte Remus. „Wozu?“
„Für den Fall, dass Severus unbemerkt erneut die Seiten wechseln würde. In diesem Falle würde unter Severus‘ Unterschrift das Wort ‚Verräter‘ erscheinen.“
„Aber…“ Remus sah von Minerva zu Severus. „Albus hat dir vertraut, Severus. Wozu dieser Vertrag?“
Die beiden anderen stießen gleichzeitig ein Schnauben aus. Remus blickte überrascht zwischen ihnen hin und her, nicht sicher, was er davon halten sollte. Minerva setzte zum Sprechen an, doch Severus kam ihr zuvor: „Dieser Vertrag war für den Fall gedacht, dass ich einst meine Unschuld beweisen müsste, ohne dabei auf die Hilfe Albus Dumbledores hoffen zu können.“ Der bittere Ton in Severus‘ Stimme war Remus inzwischen vertraut; doch noch immer weckte er in ihm ein leises Gefühl von Schuld. Hätten nicht er und die anderen Mitglieder des Phönixordens Zweifel daran hegen müssen, dass Severus auf den Befehl Voldemorts hin Albus getötet haben sollte? Stattdessen hatten sie ihn für einen Verräter gehalten, für einen Mörder.
„Wer wusste von diesem Vertrag?“ fragte er, als ihm ein schockierender Gedanke kam. „Wir hätten damit die ganze Zeit über feststellen können, dass Severus nicht die Seiten gewechselt hat?“
Minerva schüttelte den Kopf. „Severus hat mir erst heute davon erzählt – und zwar, weil er nicht wusste, dass ich die älteren Schulakten nicht in meinem Büro aufbewahre, sondern hier. Wie so Vieles war auch dieser Vertrag etwas, von dem Albus wohl meinte, dass es nur ihn selbst und Severus etwas anging.“
„Natürlich ging es nur ihn und mich etwas an!“ brauste Severus auf. Er starrte Minerva wütend an. Diese starrte nicht minder wütend zurück. Remus hatte das leise Gefühl, dass dies nicht der Beginn einer Meinungsverschiedenheit war, sondern die Fortsetzung eines handfesten Streits.
„Hätte der Orden von alldem gewusst-“, begann Minerva mit schneidender Stimme; doch Severus fiel ihr unbeherrscht ins Wort: „Hätte der Orden von alldem gewusst, wäre der Plan völlig umsonst gewesen. Jeder sollte glauben, ich hätte Dumbledore verraten!“
„Verraten?“ rief Minerva in einem schrillen Tonfall, den Remus noch nie von ihr gehört hatte. „Verraten?? Getötet haben Sie ihn, Snape! Sie-“
„Minerva! Was ist denn in dich gefahren?“ Remus sah sie erschrocken an. Augenblicklich schien sie wieder zu sich zu kommen. Was immer sie noch hatte sagen wollen, es blieb ungesagt. Sie wandte den Kopf von Severus ab. Remus konnte nicht fassen, dass Minerva eine solche Anklage gegen den Tränkemeister erhob. „Severus hat lediglich-“
„… hat lediglich Albus‘ Anweisungen befolgt, ich weiß“, erklärte Minerva. Sie nahm ihre Brille ab und fuhr sich über die Augen. Remus sah ihre Hand zittern. Severus sah es wohl ebenfalls, denn er bedachte sie zwar mit einem verächtlichen Blick, doch Merlin sei Dank beließ er es dabei und wandte sich wieder ab.
„Ehrlich gesagt hatte ich mich schon gefragt“, sprach Remus in die schwere Stille hinein, „ob Albus denn gar nicht vorgesorgt hat. Zwar hat Harry sich für dich ausgesprochen, Severus, aber wenn Harry…“ Severus wandte ihm den Kopf zu; und als ihre Blicke sich trafen, verstummte Remus. Severus hob eine viel sagende Braue. Remus räusperte sich und schüttelte den Kopf. Natürlich. Wenn Harry nicht mehr dagewesen wäre, um für Severus zu bürgen, dann wäre es ohnehin unnötig gewesen, für Severus zu bürgen. Er schwieg einen Moment, lehnte sich auf seinem Stuhl nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Er musste zurück ins Bett. Aber ihm kam ein weiterer Gedanke: „Was hat der Vertrag mit dem Drohbrief zu tun?“
Severus gab einen ungeduldigen Laut von sich. „Potters Wort mag gut und gern mit Gold aufgewogen werden. Aber mir ist es dennoch lieber, einen schriftlichen Beweis in der Hand zu halten, sollte ich noch einmal vor dem Zauberergamot stehen.“
Das… machte wohl Sinn. In den letzten Monaten hatten sich einige radikale Gruppen formiert, welche die Verurteilung eines jeden Menschen forderten, der auch nur in dem vagen Verdacht stand, in irgend eine Verbindung mit Voldemort gebracht werden zu können. Natürlich war es deshalb sicherer, wenn Severus einen handfesten Beweis für seine Unschuld hatte. Zwar würde niemand das Wort Harry Potters anzweifeln, aber womöglich könnte der Verdacht geäußert werden, dass Severus auch Harry getäuscht habe – so, wie der „Verräter“ sie alle getäuscht habe. Wenn jedoch der Zauber, der auf dem besagten Vertrag lag, noch immer wirksam war – und davon ging Remus getrost aus, denn Albus hatte zweifellos gewusst, wie wichtig dieses Schriftstück einst sein könnte – und wenn unter Severus‘ Unterschrift das Wort „Verräter“ nicht zu finden war – wovon Remus ebenso getrost ausging – dann würde niemand an Severus‘ Aufrichtigkeit zweifeln können.
„Braucht ihr Hilfe bei der Suche?“ bot er sich an. Minerva hatte inzwischen damit begonnen, die Schriftstücke auf dem Tisch der Reihe nach aufzurollen und sich anzusehen. Schon wollte Remus ebenfalls nach einer Pergamentrolle greifen, als plötzlich eine Teetasse in sein Blickfeld schwebte und vor ihm auf dem Tisch zu stehen kam. Der Dampf, der ihr entstieg, roch nach Kamille. Überrascht wandte Remus sich zu Severus um. Dieser hatte sich mit dem Rücken gegen ein Regal gelehnt, in seinen Händen eine Tasse, die er gerade an den Mund hob. Über die Tasse hinweg begegnete er Remus‘ fragendem Blick. „Ich gehe nicht davon aus, dass die Schulleiterin Hilfe braucht“, schnarrte er und beantwortete damit immerhin eine von Remus‘ Fragen, während er Minerva einen Blick zuwarf, der nicht anders als spottend zu nennen war. „In der Tat drängt sich mir inzwischen die Frage auf, wer von uns beiden den größeren Wunsch danach hegt, die Frage nach der Existenz dieses Vertrages zu klären…“
Als Remus‘ Augen dem Blick des Tränkemeisters folgten, sah er gerade noch den schmalen Strich, den Minervas zusammengepresste Lippen bildeten, bevor sie ein flüchtiges Lächeln für Remus formten. „Wir sollten dich wirklich nicht länger aufhalten. Sicher tut dir eine gute Mütze voll Schlaf weit besser als diese staubigen alten Akten.“ Womit sie zweifellos Recht hatte. Mit einem Nicken griff Remus nach seinem Stock, den er gegen die Tischkante gelehnt hatte, und stand mit dessen Hilfe auf. Mit der freien Hand griff er nach seinem Kamillentee – nicht ohne ein dankbares Lächeln in Severus‘ Richtung zu senden, das dieser mit einem halbherzigen Schulterzucken quittierte.
Bevor Remus die Tür erreichte, klopfte es von außen dagegen. Ein Schüler, noch so spät am Abend? Ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher war der regelmäßige Rhythmus, mit welchem das Klopfen erklang: Poch – pochpoch – poch – pochpoch – poch…
… pochpoch – poch – pochpoch... Remus schreckte auf.
Er musste wohl eingenickt sein, denn als er die Augen öffnete und die Silhouette eines großen Vogels in der Dämmerung auf seinem Nachttisch erblickte, fuhr er erschrocken zusammen. Der Vogel, der mit dem Schnabel auf den Nachttisch gehämmert hatte, hob den Kopf und krächzte. „Du“, stellte er fest und betrachtete den Raben. Er sah nicht anders aus als alle anderen Raben – besonders nicht im Halbdunkel des hereinbrechenden Abends – obwohl er wohl recht groß war. Aber die ungewöhnliche Art, wie der Vogel ihn aufmerksam musterte, kannte er bereits. Blinzelnd versuchte Remus den Schlaf aus seinem Kopf zu vertreiben. Er hatte einen Traum gehabt – einen Traum, der irgendwie wichtig war, so schien es Remus. Aber er konnte sich nicht recht erinnern. Vielleicht später, wenn er Zeit haben würde, darüber nachzusinnen.
Doch gerade streckte der Rabe ihm ein Bein entgegen und Remus sah das kleine Päckchen, das daran befestigt war. Er beugte sich zu dem Vogel hinüber und löste vorsichtig die Schnur, mit der das Päckchen befestigt war, sodass es in seine aufgehaltene Hand purzelte. Als er die Kerze auf seinem Nachttisch entzündet hatte, konnte er die winzige Schrift auf dem rechteckigen Gegenstand erkennen. Er nahm seinen Zauberstab zur Hand und einen Moment später lag ein beachtliches Paket neben ihm auf dem Bett. Die Schrift, die er zuvor in geschrumpfter Form gesehen hatte, gehörte, wie er vermutet hatte, Severus. Die Nachricht des Tränkemeisters lautete:
Lupin,
anbei die gewünschten Unterlagen.
S.S.
Lächelnd schüttelte Remus den Kopf. „So kurz“, murmelte er und erntete damit ein weiteres Krächzen des Vogels. Als er jedoch das Paket öffnete und die umfängliche Zusammenstellung von Zeitschriften entdeckte, die Severus ihm gesandt hatte, entfuhr ihm ein überraschtes „Oh“. Mit soviel Literatur hatte er nicht gerechnet. Allerdings war er höchst erfreut darüber, denn hier hatte er nun genügend Lesestoff, um sich die verbleibenden Tage im Hospital vertreiben zu können. Das war wirklich sehr gedankenvoll von Severus. Mit einem warmen, dankbaren Ausdruck auf der ungelähmten Gesichtshälfte breitete er den Inhalt des Paketes um sich herum auf dem Bett aus und blickte sich nach dem ältesten der Magazine um, mit welchem zu beginnen wohl das Klügste war. Als er auf allen Titelblättern die Datumsangaben überprüft hatte, griff er schließlich nach einer Ausgabe von „Potions Weekly“, deren Erscheinungsdatum etwa zweieinhalb Jahre zurück lag, und legte sie neben den Raben auf den Nachttisch. Gerade wollte er die anderen Zeitschriften zurück ins Paket stecken, als der große Vogel vom Nachttisch herab aufs Bett flatterte und mit dem Schnabel auf einem der Magazine herum zu picken begann.
„Na-nu“, murmelte Remus überrascht. „Hun-ger?“ Der Rabe wandte ruckartig den Kopf und blickte ihn starr an. „Hun-ger?“ wiederholte Remus und fischte in der Tasche unter seinem Bett nach einer Cookie-Packung, die Minerva ihm mitgebracht hatte. Doch der Rabe schien sich nicht für die Cookies zu interessieren, sondern wandte den gefiederten Kopf wieder von ihm ab und fuhr fort auf das Magazin einzupicken.
„Hey!“ Remus warf den dargebotenen Cookie nebst Packung achtlos auf den Nachttisch und scheuchte den Vogel vom Bett, bevor dieser noch ein Loch in die Zeitschrift hacken würde. Er konnte sich sehr lebhaft vorstellen, dass dies dem Eigentümer sowohl des Vogels als auch der Zeitschriften gar nicht gefallen würde. Während der Rabe eine Runde durch das Krankenzimmer flatterte und sich dann wieder auf dem Nachttisch niederließ, nahm Remus das malträtierte Magazin in die Hand um nachzuprüfen, ob der Rabe wirklich keinen Schaden daran hinterlassen hatte. Das Magazin war unversehrt. Und noch etwas anderes fiel Remus auf: Dieses Heft, ebenfalls eine Ausgabe der „Potions Weekly“, war einen Monat und eine Woche älter als dasjenige, welches bereits auf seinem Nachttisch lag und welches er für das älteste der ihm von Severus zugesandten Magazine gehalten hatte. Er warf dem Raben, der ihn mit schräg gelegtem Kopf anblickte, einen anerkennenden Blick zu. „Klu-ges Tier“, sagte er langsam. Der Rabe krächzte abfällig und machte sich über den Cookie her, den er zuvor verschmäht hatte. Remus lachte, musste sich dabei aber durch ein müdes Gähnen unterbrechen lassen. Trotz seiner Erschöpfung nach den verschiedenen Tests und den Rehabilitationsübungen an diesem Tag wollte er es sich aber nicht nehmen lassen, die Zeit, in welcher der Vogel auf dem Keks herum pickte, zu nutzen, um dem gefiederten Boten einige Worte für Severus mit auf den Weg zu geben. Er nahm sein Schreibwerkzeug zur Hand und schrieb:
Lieber Severus,
vielen Dank für die umfangreiche Lektüre. Hoffentlich hat es dich nicht allzu viel deiner wertvollen Zeit gekostet, diese Auswahl für mich zusammen zu stellen, denn ich stehe ja bereits in deiner Schuld dafür, dass du mich im Verteidigungsunterricht vertrittst.
Er hielt einen Moment inne und betrachtete den beschäftigten Raben, während er über seine nächsten Worte nachdachte.
Es würde mich glückl
Nein.
Wenn ich im Gegenzug einmal etwas für dich tun kann – was auch immer es sein möge – dann lass es mich wissen.
Ja, besser. Er dachte dabei freilich an ihre schief gegangene Wette. Vielleicht verstand Severus den vagen Hinweis darauf, dass Remus die Wettschulden, die der andere Mann bei ihm hatte, bereitwillig als beglichen betrachten würde, wenn Severus diesen Wunsch äußern sollte.
Während Remus ihn betrachtete, sah der Rabe von den Kekskrümeln auf, die er mittlerweile über den halben Nachttisch verstreut hatte. Remus lächelte ihm ermunternd zu und deutete auf die Krümel. Der Vogel krächzte und machte sich wieder ans Werk.
Einen klugen Vogel hast du da übrigens. Er hat nicht zufällig einen Namen? Ich wusste nicht, dass du ein Haustier hast, aber wenn ich so darüber nachdenke, scheint mir dieser Rabe eine gute Wahl zu sein. Hoffentlich hast du nichts dagegen, dass ich ihn gerade mit Cookies anfüttere. Aber er hat es sich verdient, denn er war mir gerade eine große Hilfe. Allerdings sollte ich ihn wohl nun nicht länger in Anspruch nehmen. Ich schicke ihn mit diesem Brief und lieben Grüßen umgehend zu dir zurück. Noch einmal danke für die Zeitschriften – du hast mir damit eine große Freude bereitet, Severus.
Auf bald, so hoffe ich wenigstens.
Remus
Er überflog den Brief noch einmal, zog bei dem einen oder anderen Satz die Nase kraus, entschied aber, alles unverändert zu lassen – bis auf die abschließende Grußformel, welche er auf die Worte „Auf bald. Remus“ reduzierte, weil er das Gefühl hatte, dass sie anderenfalls womöglich etwas zu dramatisiert geklungen hätte. Schließlich band er das geschrumpfte Pergament an das großzügig dargereichte Bein des Raben. Dieser krächzte ungeduldig, als Remus sich in seiner inzwischen immer spürbarer werdenden Erschöpfung mit dem Knoten etwas schwer tat. „Schon fer-tig, mein Schö-ner“, murmelte er und erschrak ein bisschen darüber, wie sehr er bei diesen Worten lallte. Er brauchte Schlaf.
Remus blickte dem schwarzen Vogel hinterher, wie er sich elegant aus dem Fenster schwang und in die Nacht hinaus segelte. Er sandte nicht nur den Brief und die lieben Grüße mit dem klugen Boten, wie er es Severus geschrieben hatte, sondern auch seine Gedanken. Manchmal, wenn Severus nach dem Sex vor Erschöpfung beinahe augenblicklich eingeschlafen war, hatte Remus die ganze Nacht an der Seite des anderen Zauberers verbringen können. Während er die Kerze auf seinem Nachttisch ausblies, sich auf seine rechte Seite legte und die Bettdecke bis ans Kinn zog, wünschte er sich in eine jener Nächte zurück, als er vorsichtig seinen Arm um Severus‘ schmale, nackte Hüfte geschoben und ganz nahe an ihn heran gerutscht war, um dann ebenfalls in einen seligen Schlaf der Erschöpfung zu versinken.
„Sev. Sev. Sev, Sev, Sev…“