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Das Auge des Phönix'

Fernandez' und Alsters erster Fall
von

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Kapitel 4

Kapitel 4
 

5 Tage vermisst
 

Natürlich bekam die Presse Wind von Hiwataris Verschwinden. Auf einmal war er auf den Titelseiten der Zeitungen. Und so langsam war er lange genug verschwunden, dass ein Verbrechen immer wahrscheinlicher wurde.

Die Befragungen von Kuznetsov und Tachibana hatten nicht viel gebracht. In Julias Augen hatten die beiden keinen Grund, Hiwatari etwas anzutun. Die Beziehung zwischen ihm und Tachibana verlief augenscheinlich harmonisch. Und Kuznetsov bekam ein nicht zu verachtendes Gehalt und schien darüber hinaus zufrieden mit seinem Job. Außerdem schienen die beiden ehrlich besorgt um den Vermissten zu sein.

Ivanov hingegen war schwer zu fassen. Die Nummer, die Kuznetsov ihnen gegeben hatte, gehörte zu seinem Diensttelefon; dort nahm aber entweder niemand ab, oder es war ausgeschaltet. Ein Rückruf kam natürlich auch nie.

Der Tag, an dem Hiwataris Verschwinden durch die Presse ging, war der, an dem Julias Geduldsfaden riss.

„Ich fahre hin”, verkündete sie, während sie schon von ihrem Schreibtisch aufstand.

Mathilda sah ihr stumm dabei zu, wie sie sich ihren dünnen Mantel überzog.

„Vielleicht kriegst du ja raus, ob Hiwatari Enterprises die Journalisten selbst angerufen haben”, schlug sie vor.

Julia nickte. „Kriegst du das mit der Pressekonferenz alleine hin? Könnte länger dauern”, sagte sie.

Natürlich hatte die Polizei auf die Artikel reagieren müssen. Sie würden ein paar Eckdaten zu ihren Ermittlungen verkünden, aber nicht zu viel. Vielleicht passierte ja doch das Unwahrscheinliche und Hiwatari meldete sich, wenn er erkannte, welche Aufregung er ausgelöst hatte.

„Ich weiß, wie ich mit der Presse umgehen muss”, versicherte Mathilda. „Sorg du lieber dafür, dass wir hier weiterkommen.”

„Ich gebe mir Mühe.” Sie warf Mathilda ein verschmitztes Lächeln zu und war beinahe überrascht, als ihre Kollegin dieses erwiderte.

Julia wollte glauben, dass sie sich langsam aneinander gewöhnten. Mit Mathilda zusammenzuarbeiten fühlte sich immer noch neu an, was auch daran lag, dass sie wenig über Privates sprachen. Anders als Mariam hatte Mathilda scheinbar nicht das geringste Bedürfnis, viel über sich preiszugeben. Immerhin wusste Julia inzwischen ungefähr, in welchem Stadtteil sie wohnte und wie sie ihren Kaffee mochte. Sie kleidete sich immer noch so sorgfältig wie am ersten Tag, also war auch das nicht nur Show gewesen. Sie war akribisch, hatte eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe und sagte nie ein Wort zu viel. Im Grunde ergänzten Julia und Mathilda sich gut. Und es passierte immer öfter, dass sie ein Lächeln tauschten oder Witze machten. Mathildas trockene Bemerkungen trafen Julia meist unvorbereitet, waren dadurch aber nicht weniger willkommen.

Beim Rest des Kollegiums galt Mathilda allerdings als unterkühlt, manche sagten „kratzbürstig”. Einige Männer schienen sich von der Gleichgültigkeit, die sie ihnen entgegenbrachte, persönlich angegriffen zu fühlen. Wenn es sich dabei nicht um ein institutionalisiertes Problem handeln würde, hätte Julia darüber gelacht. Das Arbeitsklima im Präsidium war nie sonderlich angenehm gewesen, auch mit Mariam nicht, und erst recht nicht allein. Über die Zeit hatte sie sich behaupten können, sodass niemand sie mehr in Frage stellte, aber Gott, sie hatte zu viele unnötige Kämpfe dafür führen müssen.

Julia konnte also nicht verleugnen, froh über ihren Außeneinsatz zu sein. Es war schon später Nachmittag. Sie hatten den Tag mit der Organisation ihrer spontanen Pressekonferenz verbracht. Und mit Papierkram. Es tat ihr ein wenig leid für Mathilda, aber diese hatte in Tokio sicher Schlimmeres erlebt. Das war eine gute Chance für sie, dem Kollegium ihre „no bullshit”-Attitüde noch einmal zu verdeutlichen.
 

Hiwatari Enterprises ließ sie anstandslos ein. Leider war es dieses Mal nicht Smith, der sie in die oberen Stockwerke geleitete. Julia führte etwas Smalltalk mit ihrer Begleitung, stellte aber schnell fest, dass diese absolut ahnungslos war.

Ob Smith doch die Konsequenzen für seine Gesprächigkeit hatte tragen müssen?

Sie wurde zu einem Konferenzsaal gebracht, in den man, ganz nach den Wunschvorstellungen unternehmerischer Transparenz, durch eine verglaste Wand hineinsehen konnte. Das Meeting darin befand sich wohl in den letzten Zügen. Ein Haufen alter Männer stand herum. Dem Schweiß auf den Stirnen und den gestressten Mienen nach zu urteilen, war es kein angenehmer Termin gewesen. Dann fiel Julias Blick auf Ivanov, der inmitten der grauen Eminenzen ein wenig fehl am Platz wirkte. Allerdings schien er auch der einzige zu sein, dem es gelang, Ruhe zu bewahren. Julia beobachtete, wie ihre Begleitung in den Raum hineinging und ihm etwas zuraunte. Daraufhin wanderten die blauen Augen zu ihr. Ivanov sagte etwas in die Runde und verließ dann den Konferenzraum mit langen Schritten. Julia machte sich darauf gefasst, abgewimmelt zu werden, und war entsprechend erstaunt, als Ivanov sie mit einem Wink aufforderte, ihm zu folgen, und sagte: „Sie schickt der Himmel, Fernandez. Ich hätte es keinen Augenblick länger in diesem Altenheim ausgehalten. Kommen Sie.”

Sie liefen einige Flure entlang, und Julia erhaschte flüchtige Blicke in weitere fast komplett verglaste Zimmer, in denen Menschen geschäftig auf Computerbildschirme starrten, dann landeten sie erneut in Hiwataris Büro. Ivanov griff nach dem Telefon, das auf dem Schreibtisch stand, und wies die Person am anderen Ende an, seine nächsten Termine abzusagen, bevor er sich in den Stuhl fallen ließ. Julia hob die Augenbrauen. Räumte Ivanov etwa seinen Kalender für sie frei?

„Setzen Sie sich”, sagte er, als er feststellte, dass sie immer noch mitten im Zimmer stand. „Wollen Sie einen Drink? Ich brauche einen Drink.” Er erhob sich von dem Stuhl, als wäre eine Sprungfeder in die Sitzfläche eingelassen, und ging vor einem Sideboard in die Hocke. „Immerhin ist nur Kai verschwunden, nicht sein Whisky.” Er sah sie fragend an.

„Nein danke”, sagte Julia. „Ich würde ein Wasser nehmen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.”

Ivanov nickte beinahe resigniert und goss Wasser in ein Whiskyglas, bevor er sich selbst zwei Finger Alkohol einschenkte.

„Cheers”, sagte er mit einem bitteren Unterton. „Auf Kai, der sich keinen besseren Moment hätte aussuchen können, um vom Erdboden verschluckt zu werden. Sie sind nicht zufällig hier, weil Sie ihn gefunden haben, oder?”

„Leider nein”, antwortete Julia mit einem mitfühlenden Lächeln, das nur halb gespielt war. „Aber ich brauche Ihre Hilfe. Ich hätte mich gern angekündigt, aber Sie sind wirklich extrem schlecht erreichbar.”

„Das, ähm…” Ivanov rieb sich die Stirn. „Das tut mir leid.”

Julia musste ihren ersten Eindruck korrigieren. Ivanov war komplett durch den Wind. Bei genauerem Hinsehen wurde deutlich, wie übernächtigt er war. Daran änderte auch der perfekt sitzende Anzug (der sie in Frage stellen ließ, warum um Himmels Willen Mathilda Ivanovs Arsch für flach hielt) nichts. Als er sich das nächste Mal setzte, tat er es mit einem müden Seufzen.

„Das Altenheim ist wohl nicht Ihr favorisierter Arbeitsplatz, hm?”, fragte sie.

Ivanov schnaubte belustigt. „Keine Ahnung, wie Kai das gemacht hat”, sagte er. „Das sind die letzten Überbleibsel aus Soichiros Generation. Wir warten eigentlich nur noch darauf, dass sie in Rente gehen oder den Löffel abgeben.” Er hielt inne. „Bitte sagen Sie mir nicht, dass alles, was ich hier zum Besten gebe, gegen mich verwendet wird.”

„Nun, erstmal sind Sie nur eine Informationsquelle für uns”, meinte Julia betont sorglos. Sollte er sich ruhig in Sicherheit wiegen.

„Also gut. Wie kann ich dienen?”, fragte er.

Erneut zog Julia ihren Notizblock hervor und klickte ihren Stift. „Waren das eigentlich Sie mit der Presse?“, fragte sie wie nebenbei. „Die Schlagzeilen haben uns ganz schön kalt erwischt.“

„Warum, denken Sie, haben die grauen Eminenzen mir heute die Tür eingerannt?“, entgegnete Ivanov und schwenkte mit leiser Ungeduld sein Glas. „Ich hätte das Ganze auch gerne noch eine Weile unter Verschluss gehalten. Aber manchmal habe ich das Gefühl, die Wände hier haben Ohren. Also nein, ich habe nichts damit zu tun, aber es würde mich nicht wundern, wenn jemand, der hier arbeitet, zur Presse gerannt ist.“

Julia brummte. Womöglich hatte Hiwataris Assistent irgendetwas ausgeplaudert.

„Nur für’s Protokoll”, fuhr sie fort. „Was haben Sie eigentlich in der Nacht gemacht, in der Hiwatari verschwand? Vor knapp einer Woche?”

Ivanov beugte sich vor und schlug in dem Kalender, der auf dem Schreibtisch lag, ein Blatt zurück. „Kai und ich hatten am Nachmittag ein Gespräch mit einigen Investoren”, las er vor. „Ach ja, ich erinnere mich. Kai hat sich am Abend mit Volkov getroffen, ich habe ihn also zuletzt gegen 16 Uhr gesehen. Bin dann so gegen 20 Uhr nach Hause gefahren. Ich lebe allein”, fügte er hinzu, wahrscheinlich, weil er bemerkt hatte, wie Julia den Mund zu einer Frage öffnete. „Ich gehe für gewöhnlich etwa um elf ins Bett und schlafe bis vier.”

„Bis vier?”, wiederholte Julia ungläubig.

Ivanov warf ihr einen Blick unter schweren Lidern zu. „Ich würde gerne sagen, dass ich nicht viel Schlaf brauche, aber die Wahrheit ist: Insomnia.”

„Und was machen Sie dann mit Ihrer Zeit?”

„Ich gehe meistens ins Fitnessstudio. Die haben rund um die Uhr geöffnet, aber so früh ist niemand sonst da. Also keine Zeugen. Vielleicht gibt es Kameras, ich bin nicht sicher. - So gegen halb sieben fahre ich meist von dort ins Büro, das heißt, ich war um sieben hier.”

Julia machte sich Notizen. Sie würde das nachprüfen müssen, natürlich, aber für’s erste blieb ihr nichts weiter übrig, als anzunehmen, Ivanov würde die Wahrheit sagen.

„Habe ich Sie richtig verstanden”, sagte sie. „Volkov war, abgesehen von Kuznetsov, der letzte Mensch, der Hiwatari gesehen hat?”

Ivanov sah sie einen Moment lang stumm aus seinen kalten Augen an.

„Wenn Sie das sagen…”, antwortete er langgezogen.

„Gibt es irgendeine Möglichkeit, herauszufinden, worum es bei den Gesprächen ging, die Hiwatari und Volkov führten?”

„Es gibt sicher einen E-Mailwechsel. Aber Kai hat seinen Laptop immer mitgenommen. Also, wenn Sie ihn nicht haben … „

Wieder antwortete Julia nicht auf die implizierte Frage. Den Laptop hatten sie tatsächlich sichergestellt. Aber bisher hatten sie noch nicht gewusst, nach welcher Art von Information sie suchen sollten. Außerdem hatte es eine Weile gedauert, an die Daten zu kommen.

„Oh, aber da fällt mir etwas ein”, sagte Ivanov. Er stürzte den Rest seines Drinks in einem Zug herunter und stand erneut auf. Er blieb vor dem Sideboard stehen und schnalzte nachdenklich mit der Zunge, bevor er eine der Türen öffnete und den Arm weit in das Möbelstück hineinsteckte.

„Ah!” Als er den Arm wieder hob, hielt er einen kleinen Schlüssel in der Hand, mit dem er die Schreibtischschublade öffnete. Aus dieser zog er ein schmales Buch.

„Kai hat mal sein Handy auf der Terrasse liegen gelassen, und dann hat es geregnet. Hat einige Daten dadurch verloren”, erklärte Ivanov. „Seitdem ist er ein wenig altmodischer unterwegs.” Er hielt Julia das Buch hin. „Nehmen Sie. Vielleicht finden Sie ja etwas Nützliches.”

Julia behielt ihre Mimik unter Kontrolle. Nichts an ihrem Gesichtsausdruck verriet, wie sehr ihre Gedanken zu rasen begonnen hatten. Beim letzten Mal hatte Ivanov noch behauptet, dass Hiwatari und er sich nicht nahestanden – und trotzdem kannte er alle geheimen Verstecke in diesem Büro? Oder hatte das schlicht mit dem Vertrauen zu tun, das Hiwatari angeblich so schätzte?

Bevor Julia das Buch in eine Plastiktüte schob, zog sie sich ein paar Handschuhe über. Ivanov beobachtete sie etwas amüsiert dabei – natürlich dauerte das mit den Handschuhen länger als gedacht, weil ihre Hände etwas schwitzig waren.

„Sagen Sie”, fragte sie wie nebenbei, „beunruhigt es Sie gar nicht, dass Hiwatari verschwunden ist? Sie scheinen recht souverän mit der Situation umzugehen.”

Das Lächeln auf Ivanovs Gesicht verblasste, und einmal mehr wurde deutlich, wie erschöpft er war.

„Natürlich mache ich mir Sorgen”, sagte er leise. „Die alten Aasgeier sind viel zu gut gelaunt, seit Kai nicht mehr hier ist. Und Sie können sich vorstellen, wie gut ich darin bin, zwei entscheidende Rollen in diesem Unternehmen zu spielen. Die anderen haben genug Angst vor mir, aber ich habe nicht Kais … Charisma.”

Julia hob den Kopf und warf ihm einen verwirrten Blick zu. Nach allem, was sie über Hiwatari gehört hatte, war sie sich sicher, dass Ivanov mindestens fünfmal so viel Charisma hatte, wie sein Boss.

„Sie sind der erste, der Hiwatari nicht als kompletten Langweiler beschreibt”, gab sie zu.

Wieder einmal zeigte Ivanov das süffisante Lächeln, das sie inzwischen ganz automatisch mit ihm assoziierte. Es ließ ihn arrogant wirken, ja, aber Julia ahnte, dass er es sich erlauben konnte. Man bullshittete sich nicht einfach an die Spitze eines globalen Großunternehmens.

„Es ist nicht so sehr, was er tut”, sagte Ivanov. „Aber er gehört zu den Menschen, die ganz automatisch jede Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn sie einen Raum betreten. Bei Kai hat man immer das Gefühl, dass da irgendwas unter der Oberfläche brodelt. Etwas, das jeden Moment hervorbrechen kann.”

„Das klingt für mich nach Jähzorn.”

„Ah.” Ivanov wirkte erstaunt. „Nein, so meine ich das nicht. Eher … energetisch, würde ich sagen. Man darf nie davon ausgehen, dass Kai unaufmerksam ist. Oder sich belügen lässt. Sein Kopf arbeitet immer auf Hochtouren.” Er machte eine Pause. „Wissen Sie, ich habe meinen Stolz, ich arbeite nicht für jeden. Aber Kai ist faszinierend. Mir jedenfalls ist in seiner Gesellschaft noch nie langweilig geworden.”

Julia nickte. Vielleicht kam sie so dem Rätsel etwas näher. Alle Menschen in Hiwataris unmittelbarer Umgebung schienen loyal zu ihm zu halten. So etwas passierte nicht einfach so.

„Mag er seinen Job?”, fragte sie.

Ivanov ließ sich Zeit mit der Antwort. Seine Finger zuckten nervös, hielten aber sofort wieder still, als Julias Augen zu ihnen wanderten.

„Ja”, sagte er schließlich. „Ja, ich würde sagen, er mag seinen Job. Anders geht es ja gar nicht. Nicht wahr?!”
 

Als Julia zurück ins Präsidium kam, war die Pressekonferenz bereits beendet. Mathilda war allerdings noch im Büro.

„Hey”, grüßte Julia sie und stellte ihr eine Papiertüte auf den Tisch. „Ich bin an einer Konditorei vorbeigekommen und dachte mir, ich bringe dir einen Cupcake mit. Glückwunsch zum ersten öffentlichen Auftritt in Bakuten!”

Mathilda sah zu ihr auf und zum ersten Mal kam es Julia so vor, als wäre sie um Worte verlegen. Sie hatte sie anscheinend kalt erwischt. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, ihr einfach Kuchen mitzubringen. Sie wusste ja nicht einmal, ob Mathilda so etwas mochte…

„Danke, Julia”, sagte Mathilda. Sie griff nach der Tüte und spähte hinein. „Oh!”, machte sie und klang tatsächlich ein kleines bisschen verzückt.

In Julia wallte Stolz auf. Sie hatte lange überlegt, ob sie Vanillecreme mit Sprinkles nehmen sollte oder doch lieber dunkle Schokolade. Dunkle Schokolade war definitiv die richtige Entscheidung gewesen. Zumal der Cupcake mit ein wenig Goldstaub garniert war.

„Sollen wir teilen?”, schlug Mathilda vor. „Ich muss sowieso nur noch ein wenig Papierkram…”

Sie wurde vom „Ping!” ihres E-Mailfaches unterbrochen. Ihr Blick wanderte zum Monitor.

„Die Laborergebnisse sind da!”, stellte sie fest.

Julia zog sich einen Stuhl heran. Keine Zeit, zu ihrem eigenen Platz zu gehen. Sie schob die Tüte mit dem Cupcake beiseite und beugte sich vor, um den Anhang der Mail mitlesen zu können.

Was dort stand, veränderte den Fall Hiwatari mit einem Schlag.

Das Blut auf dem Gehweg und am Türrahmen war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Kais. Aber das war tatsächlich das am wenigsten überraschende Ergebnis. Viel beunruhigender war, dass an den Wassergläsern aus dem Wohnzimmer Spuren von Betäubungsmittel gefunden worden war. Und, dass es tatsächlich Fingerabdrücke im Haus gab, die niemandem zugeordnet werden konnten, der dort regelmäßig ein und aus ging.

„Holy shit”, murmelte Mathilda. „Da haben wir unser Verbrechen.” Doch sie wirkte nicht im Geringsten besorgt. Ganz im Gegenteil. Sie sprang auf und lief zur Flipchart, die in einer Ecke des Büros stand. Mit dem Stift in der Hand fing sie erneut an zu sprechen. „Am wahrscheinlichsten ist das: Jemand steht vor Hiwataris Haustür. Unangemeldet oder nicht wissen wir nicht, aber Hiwatari kennt ihn. Er lässt ihn rein. Unser Verdächtiger mixt Betäubungsmittel in Hiwataris Drink, aber eventuell nicht genug. Hiwatari wehrt sich, will vielleicht fliehen. Irgendwie stößt er dabei mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Oder wird gestoßen. Vermutlich knockt ihn das komplett aus. Unser Verdächtiger hat eventuell die Nerven verloren, weil sein Plan nicht aufgegangen ist. Er bugsiert Hiwatari aus der Wohnung raus und lässt ein paar Gegenstände mitgehen. Vielleicht, um es wie einen Raubüberfall aussehen zu lassen. Dabei vergisst er aber die Gläser.”

„Das heißt, es ist doch Entführung?” Julia hob eine Augenbraue. „Eine Entführung ohne Lösegeldforderung? Ohne sonstige Bewegungen auf Hiwataris Konto?”

Mathilda schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das alles ist so chaotisch. Als wäre etwas gewaltig schief gegangen. Oder…” Sie verstummte.

„Oder”, fuhr Julia fort, die denselben Verdacht hegte. „Jemand hat mehrere Spuren gelegt, um das eigentliche Verbrechen zu verschleiern.”

Und das eigentliche Verbrechen konnte Mord sein.

Julia sah Mathilda an, sah die Notizen auf der Flipchart an, dann sprang sie auf.

„Ivanov hat mir Hiwataris Kalender gegeben”, erklärte sie, während sie schon bei ihrer Handtasche war und den Beutel mit dem Buch herauszog. Erneut zog sie sich Handschuhe über.

„Ivanov hat was?”, fragte Mathilda skeptisch, doch Julia war schon dabei, den Kalender durchzublättern.

„Shit!”, entfuhr es ihr. „Das hier ist alles auf Russisch!”

Erstaunt betrachtete sie die gleichmäßige, kursive Schrift, in der regelmäßig mehrere Buchstaben zu einer gezackten Linie zu verschmelzen schienen. Sie schlug das Datum auf, an dem Hiwatari verschwunden war. Für den Abend war ein Wort vermerkt, aber natürlich auch hier in kyrillischer Schrift.

„Ich habe einen Übersetzer.” Mathilda hielt ihr Handy hoch.

Julia legte das Buch auf den Tisch, damit Mathilda das Wort scannen konnte.

Es handelte sich um einen Namen. Einen, den sie schon kannten. Eine Person, die Hiwatari definitiv am Tag seines Verschwindens getroffen hatte. Jedoch nicht zu dieser Uhrzeit.

Volkov.



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