Kai war spät dran. Er hatte Sorge, dass er zu spät käme, darum hetzte er durch die Wohnungstür direkt ins Bad, um sich schnell zu duschen. Der Termin war wichtig für Yuriy, er musste sich also beeilen.
„Tut mir leid für die Verspätung! Du glaubst nicht, was heute wieder los war!“, rief er durch die Wohnung, noch während er im Gehen seine Kleidung loswurde. „Die Fünfer kriegten sich in der Vertretung gar nicht mehr ein, nur weil ich so oft ‚Schwanz‘ gesagt habe – dabei ging es schlicht um das Bemalen eines buschigen Eichhörnchenschwanzes! So kindisch einfach!“
„Nun, es sind Kinder...“, kam es schlicht aus Richtung ihres Schlafzimmers. Mehr hörte Kai nicht, das Wasserbrausen war zu laut.
„Und dann musste ich noch die neue Kollegin trösten, Mathilda ... Die Arme eh, neu an der Schule und schon so frustriert – meine Klasse hat es echt geschafft, sie zum Weinen zu bringen. Hinter geschlossenen Türen des Lehrerzimmers zwar, aber immerhin! Ich hab den Chaoten erstmal n richtigen Einlauf verpasst. Das hat sie nicht verdient!“
Er trug schon Socken und Unterwäsche, als er ihr Schlafzimmer betrat, um seine schon am Morgen auf dem Bett bereitgestellte Abendgarderobe anzuziehen.
„Sie ist erst frisch aus dem Ref. Das wird schon. Den ersten Nervenzusammenbruch haben wir alle mal, danach wird’s zwar nicht besser, aber man gewöhnt sich dran. Frag Borya.“
„Ich werd mich wohl nie dran gewöhnen...“
„Und deshalb bist du zum Glück auch nur abgeordnet und nicht fest dort. Bin ich froh, wenn du wieder regelmäßig in unserem Lehrerzimmer bist“, seufzte Yuriy und rauschte – nicht zum ersten Mal – eilig an ihm vorbei. Er schien etwas zu suchen. Kai nickte bedächtig und schlüpfte in seine dunkelblaue Stoffhose.
„Hast du meine Socken gesehen?“
Kai sah sich kurz auf dem Bett um und reichte ihm das Knäuel.
„Und meine silbernen Manschettenknöpfe? Die mit dem Wolf?“
„Ui, na jetzt wird’s fancy.“ Kai schmunzelte amüsiert, während er Yuriy dabei zusah, wie dieser wuschig durch Schlafzimmer – Bad – Anziehzimmer – sogar Küche hin- und hertingelte.
„Was rennst du denn wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend? Bleib mal hier. Zieh deine Socken richtig an und atme tief durch.“
Yuriy setzte sich zu ihm aufs Bett. Kai hatte es mittlerweile geschafft, sich ausgehfein zu machen. Yuriy sah aus, als wäre er noch später nach Kai erst nach Hause gekommen.
„Was, wenn ich mich verhasple?“
„Was bist du denn so nervös? Das ist doch sonst nicht so. Es ist schließlich eine Auszeichnung, keine Prüfung.“
„‘Ne Prüfung wäre mir lieber!“, rief Yuriy aus und fummelte seine Manschettenknöpfe an sein Hemd.
Kai stützte sich auf seine Ellbogen ab und lehnte sich auf dem Bett zurück. Er betrachtete Yuriy bei dessen Tun. Er musste nicht auf die „große Bühne“ – auch wenn er auf ähnlichen bereits etliche Male aus verschiedensten Gründen gestanden hatte. (Die flüchtige Erinnerung verursachte in ihm diesmal nur ein schwaches Gefühl des Unbehagens gegenüber dieser Zeit seines Lebens.) Dennoch würde er als moralische Stütze in der ersten Reihe sitzen und voller Stolz zu Yuriy aufsehen, wenn dieser seinen wohlverdienten (!) Preis als „Bester Lehrer“ in der Kategorie „Unterricht innovativ“ für seine Arbeit in der Kunstfachschaft für und mit seinen Lernenden entgegennahm. Kai fehlten jetzt nur noch die frisch geputzten Budapester an den Füßen, dann könnte er aufspringen und gehen. Yuriy dagegen schien ... unschlüssig. Der Rotschopf wechselte zum siebten Mal in eine andere Hose – die Anzughose gegen eine dunkle, feine Jeans getauscht, die ihm wie eine zweite Haut saß.
„Yura... Du siehst fantastisch aus. Mach dich nicht verrückt.“
Kai richtete sich auf, fing Yuriy bei der Hand ein und zog ihn zwischen seine Beine. Von dort sah er zu ihm auf. Von den zwei Krawatten, die Yuriy über die Schulter hingen, wählte Kai die mit dem Blickfang-Muster, wie es einem Kunstlehrer wie Yuriy entsprach: Genau die richtige Menge an Exzentrik bei angemessener Coolness.
Kai wechselte behände ihre Positionen durch eine rasche Drehung, so dass Yuriy nun an seinem Platz am Bettende saß, und Kai vor ihm stand. Kai strich ihm liebevoll über den Kopf, küsste seinen Scheitel und hob sein Kinn, so dass Yuriy ihn ansah.
„Du wirst das gut machen, so wie du immer alles gut machst. Und wenn du dich verhaspelst, dann überspielst du das so galant und scharfzüngig wie immer.“
„Mir fiele jetzt eine anzügliche Retorte ein, aber dann würde ich den ganzen Abend daran denken, und du auch, und dann würdest du mich anlächeln, und ich würde wieder an die Antwort denken und mich erst recht verhaspeln auf der Bühne.“
Kai lachte leise. Weil er wusste, wie sehr Yuriy Krawattenbinden hasste, schlüpften seine Finger flink an dessen Kragen. Mit geübten Griffen zog er das Krawattenende durch verschiedenste Schlaufen, bis er sein Ergebnis zufrieden betrachtete.
„You’re good to go.“
Yuriy seufzte erleichtert. „Danke, dass ich dich hab.“ Er griff nach Kais linker Hand, streichelte mit dem Daumen über dessen Fingerknöchel und küsste sie zärtlich. Das funkelnde Gold schimmerte sanft im dimmen Licht der Deckenlampe und seine Lippen berührten das kühle Metall.
Kai lächelte zufrieden: „Mhm. Ich bin dein Fachidiot. Für immer.“