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Der Untergang der Isekai

von

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Der Nebelberg

Langsam wurde ich wach und versuchte mich in der Dunkelheit zu orientieren. Die tanzenden Strahlen des Feuers außerhalb unseres Zeltes waren die einzige schwache Lichtquelle. Heute war es soweit. Heute sollte ich den Pfad über den Nebelberg beschreiten. Wieder wurde ich nervös. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich schlug die Decke zur Seite und die Kälte die mich mit einem Schlag umfing vertrieb auch die letzte Müdigkeit aus meinem Körper. Leise, um Haou nicht zu wecken, der friedlich neben mir schlief, schnappte ich meine Sachen und verließ das Zelt. Yubel saß am Feuer und warf mir einen kurzen Seitenblick zu, ehe die ihren Blick wieder in die Flammen richtete. „Willst du dich nicht etwas ausruhen?“ fragte ich. „Ich übernehme die Wache für dich.“

„Ich brauche keine Pause“ antwortete sie schlicht. „Aber du brauchst deine Kräfte. Bei Sonnenaufgang musst du aufbrechen.“

„Ich kann nicht mehr schlafen“ sagte ich und setzte mich zu ihr. Am Feuer war es bedeutend wärmer und ich hob meine Hände etwas näher an die Flammen.
 

Stille. Eine ganze Weile waren das Knistern des Feuers und Rascheln des Windes in den Bäumen die einzigen Geräusche. Mein Blick wanderte in den sternklaren Himmel. Direkt über uns war die Sichel eines zunehmenden Mondes. Der laute Sturm meiner Gedanken um das Ritual verzog sich und ich fühlte einen seltsamen inneren Frieden. Ein kleines Schmunzeln legte sich auf meine Lippen. Wenn man von der eisigen Kälte mal absah, war das hier eine wundervolle Gegend. Mein Blick wanderte wieder zu Yubel und mein Lächeln intensivierte sich. Ihre Augen waren geschlossen und der sonst so grimmige Blick war verschwunden. Sie schien friedlich zu schlafen. Anscheinend brauchte sie doch eine kleine Auszeit. Kein Wunder. Sie hatte darauf bestanden die Nacht am Feuer zu verbringen und mein gestriges Angebot die erste Wache zu übernehmen abgelehnt. Nach einer Weile färbte sich der Himmel heller und ich hörte Geräusche aus dem Zelt hinter mir. Schlagartig war Yubel wieder wach und wir sahen in Richtung des Zeltes, aus dem kurze Zeit später Haou stieg. „Guten Morgen“ sagte ich verwundert und betrachtete ihn. In seiner Hand hielt er etwas, das in dünnes Leder eingeschlagen war. „Was ist das?“ fragte ich neugierig.
 

Ein warmes Lächeln legte sich auf seine Lippen und er setzte sich zu uns. Das Lederbündel legte er in meinen Schoß und ich sah ihn verwirrt an. „Guten Morgen“ sagte er und sein Lächeln intensivierte sich. „Und alles Gute.“ Noch immer war ich irritiert, was mir ein leises Lachen von Haou bescherte. Mein Gesicht wurde ganz warm. Ich liebte die seltenen Augenblicke, in denen er lachte. „Hast du deinen Geburtstag wieder vergessen?“

„Oh“ brachte ich nur heraus und mein Gesicht wurde noch wärmer. Stimmt, heute ist mein 18. Geburtstag. Das hatte ich völlig vergessen. Haou schüttelte nur belustigt den Kopf und deutete auf das Lederbündel. „Willst du es nicht öffnen?“
 

Zögerlich nickte ich und sah zu dem Geschenk. Ich schlug die Seiten des Leders zur Seite und legte etwas Schwarzes frei. Yubel zog neben mir überrascht die Luft ein. „Ich wollte es dir eigentlich erst am Tag deiner Prüfung geben“ sprach Haou, während ich den Inhalt des Geschenks gänzlich freilegte. „Aber heute wirst du es sicher brauchen können.“ Meine Finger wanderten über das weiche Material. Es fühlte sich fest wie Metall an, war aber dünn und biegsam wie Stoff. Irgendwie seltsam. Es entfaltete sich, als ich es anhob und ich sah überrascht zu Haou. „Eine Rüstung?“ fragte ich verwundert.

Er nickte. „Es ist eine Mythrilrüstung, die mein Vater vor vielen Jahren entwickelt hatte. Sie war für die Elite unserer Späher gedacht, aber das Material war zu aufwändig in seiner Herstellung. Die Rüstung wurde erst kurz vor Ende des Krieges fertig. Durch ihre Beschaffenheit kann man sich nahezu lautlos bewegen. Gleichzeitig ist das Material so fest, dass keine Klinge es durchtrennen kann.“
 

Wieder sah ich zu der Rüstung in meiner Hand. Der Brustpanzer, sowie die Arm- und Beinschienen und die Stiefel, die noch in meinem Schoß lagen, waren aus dickerem Material als der Rest. Sie war nicht viel schwerer als mein Alltagsgewand, aber leichter als meine Trainingsrüstung. „Danke“ murmelte ich mit einem Lächeln, konnte meinen Blick aber nicht von der schwarzen Rüstung lösen. Mein Bauch kribbelte angenehm. Ich war so unglaublich dankbar, ich konnte es nicht beschreiben. „Probier sie doch mal an“ antwortete er.
 

Wenig später hatte ich mich umgezogen und bekam das Lächeln einfach nicht aus meinem Gesicht. Diese Rüstung war das erste Geschenk, das ich je bekommen hatte. Natürlich hatte ich immer genügend Kleidung und alle nötigen Materialien und Ausrüstungen für meinen Unterricht, aber das hier war etwas ganz anderes. Etwas Besonderes. Nicht, weil sie einzigartig war, sondern weil ich sie von ihm erhalten hatte. Die Rüstung saß perfekt und ich konnte mich absolut frei darin bewegen. Und dieses Material soll wirklich einer Klinge wiederstehen können? Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Ich trat aus dem Zelt heraus und König Haou nickte zufrieden. „Wir sollten aufbrechen“ bemerkte er.
 

Wir machten uns nicht die Mühe das Lager abzubauen, da Haou ohnehin annahm, dass ich vor Sonnenuntergang nicht zurück sei. Also sattelten wir lediglich die Pferde und ritten auf den Nebelberg zu. Vor einem gigantischen Steintor kamen wir zum Stehen und stiegen ab. „Ab hier musst du allein weitergehen“ sagte der König. Noch einmal holte ich tief Luft und stellte mich direkt unter das Tor. Der Pfad war gut zu erkennen, verlaufen konnte ich mich also nicht, wenn er weiter oben auch so sichtbar war. Ein letztes Mal sah ich zurück. König Haou nickte mir aufmunternd zu, Yubel hatte einen unergründlichen Ausdruck in ihren Augen. Als wolle sie mich zurück halten. Ich richtete meinen Blick wieder nach vorn. Mein Herz schlug in einem so wilden Tempo gegen meine Brust, dass es schmerzte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, versuchte die Nervosität abzuschütteln und setzte meinen Weg allein fort. Mit jedem Schritt flaute die Übelkeit ab, mit jeder Biegung beruhigte sich mein Herz. Yubel und Haou waren schon lang nicht mehr zu sehen. Hier und da stieg ich über einen umgestürzten Baum oder kletterte über einen im Weg liegenden Felsen. Davon abgesehen war der Aufstieg fast schon entspannt. Die abnehmenden Temperaturen spürte ich nur in meinem Gesicht. Mein Körper wurde von der Rüstung angenehm warm gehalten. Als die Sonne bereits im Zenit stand, hörte ich ein Geräusch. Meine Hand legte ich an mein Schwert und sah mich suchend um. Das Rascheln kam aus einem kleinen Strauch, nicht weit von mir entfernt. Der Griff um mein Schwert verstärkte sich, doch ich ließ es noch in seiner Halterung. Plötzlich hüpfte etwas Rosafarbenes aus seinem Versteck. Ein Küken? Große, grüne Augen musterten mich neugierig. Meine Anspannung verschwand. Ein Schutzgeist. Und wie es aussah, war er friedlich. Das Küken legte den Kopf schief, musterte mich einen Augenblick und verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war. Unwillkürlich musste ich über meine Nervosität lächeln und setzte meinen Weg fort. Wenn mich ein so kleiner Schutzgeist schon aus der Fassung brachte, konnte das ja noch was werden.
 

Ab und an sah ich weitere Geister. Ihre Reaktionen waren aber immer dieselben. Sie musterten mich kurz und verschwanden wieder. Nach etwa drei Stunden wurde der Aufstieg anstrengender, die Wege steiler und die Geister weniger. Dafür wurde ihre Aura immer stärker. Doch noch immer verschwanden sie, wenn sie mich sahen. Langsam schlichen sich die Zweifel wieder in meine Gedanken, ob mich überhaupt ein Schutzgeist auswählen würde, doch ich schüttelte sie ab. Wenn ich jetzt anfange zu zweifeln, kann ich gleich wieder umdrehen. Wieder tauchte ein Schutzgeist neben mir auf. Eine schwarz gefiederte Kreatur, etwas größer als ich, mit langen, scharfen Krallen. Auch er sah mich abwartend an, doch ich lief langsam weiter. Madame Tredwell sagte doch, ich solle meinen Weg fortsetzen und nicht auf sie zugehen. Doch dieser Geist verhielt sich anders. Er folgte mir. Ob er mich auswählen wollte? Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm. Sah ihn abwartend an. Ein eisiger Wind zog auf und wirbelte Staub vom Boden durch die Luft. Plötzlich schnellte er auf mich zu. Reflexartig zog ich mein Schwert und konnte im letzten Moment seine Klauen aufhalten, die geradewegs auf mein Herz zielten. Ein Schlag seiner mächtigen Flügel und er war gen Himmel verschwunden. Was war das? Ich suchte den Himmel ab, sah mich hektisch um. Achtete auf jede noch so kleine Bewegung, auf jedes noch so kleine Geräusch, doch da war nichts. Alles war still. Mein Herz beruhigte sich langsam wieder. Ist er verschwunden? Hat er mich angegriffen, weil ich stehen geblieben bin? Nein, in dem Fall hätte auch das Küken von vorhin versucht mich zu attackieren. Seufzend steckte ich mein Schwert wieder in die Halterung und ging weiter.
 

„Yusei?“ hörte ich eine mir bekannte Stimme. Verwundert sah ich in die Richtung aus der der Ruf kam. Hinter der nächsten Biegung stand Mai und sah mich ebenso irritiert an wie ich sie.

„Was machst du denn hier?“ fragte ich.

Ihre Augenbraue erhob sich. „Die Schutzgeistzeremonie. Was soll ich sonst so weit oben auf dem Nebelberg wollen? Aber was will ein Mensch wie du hier? Noch dazu in dem Aufzug.“ Was sollte ich schon sagen? Sie hatte Recht. Es gab keine andere logische Begründung hier zu sein. Aber ich durfte es niemandem erzählen. Schlimm genug, dass Yugi und Mana es herausgefunden hatten. „Warte“ holte mich Mai aus meinen Gedanken und betrachtete mich skeptisch. „Willst du etwa auch versuchen dich mit einem Schutzgeist zu verbinden? Glaubst du wirklich, dass du das schaffen wirst?“

Es bringt nichts es abzustreiten. Ich seufzte und ging an ihr vorbei. „Keine Ahnung“ antwortete ich dabei. „Deswegen bin ich ja hier.“

Stillschweigend folgte sie mir und ich sah unschlüssig über meine Schulter. „Schau nicht so. Es gibt nur einen Pfad, wir haben buchstäblich denselben Weg.“

„Du hattest auch noch keinen Erfolg?“ schlussfolgerte ich.

Ein kleines Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Nein, aber ich bin auch nicht böse drum. Je näher man der Spitze kommt, umso stärker werden die Geister. Wenn ich die stärkste Schwertkämpferin der Isekai werden will, habe ich keine Verwendung für einen schwachen Geist.“

Ich sah mich um. In einiger Entfernung beobachtete uns ein gepanzerter Panther mit einem Krummsäbel aufmerksam. Doch seine Körperhaltung ließ nicht vermuten, dass er uns angreifen wollte. „Welche Klasse die Geister hier wohl haben?“ fragte ich gedankenverloren.

Mai hatte zu mir aufgeschlossen, ihr Blick war ebenfalls auf den Panther gerichtet. „Keine Ahnung. Vermutlich Klasse C, vielleicht B. Man kann die Spitze dieses verdammten Berges ja noch immer nicht sehen.“

„Bist du eigentlich auf eine bestimmte Kategorie aus?“

„Angriff“ antwortete sie ohne zu zögern. „Ich will stärker werden, und mich nicht besser schützen, also fällt Schild raus. Und mit Magie habe ich nichts am Hut. Was ist mit dir?“
 

Ich zuckte mit den Schultern. Haou wünschte sich zwar einen Geist der Kategorie Magie für mich, aber ich hatte ohnehin keine Hoffnung, dass das auch klappen würde. Ich wäre schon froh, wenn sich überhaupt ein Schutzgeist mit mir verbinden würde. Egal welcher Kategorie er angehört. Mai verschränkte ihre Arme und blieb stehen. Verwundert drehte ich mich zu ihr. Sie sah mich genervt an. „Also ehrlich, wenn du diesen Weg schon auf dich nimmst, solltest du dir sicher sein was du willst. Deine Unsicherheit geht mir echt auf die Nerven. Was ist der Grund warum du überhaupt einen Schutzgeist haben willst?“ Ich wich ihrem durchdringenden Blick aus. Die Antwort auf ihre Frage war mir selbst ein Rätsel. Vor ein paar Tagen noch hätte ich gesagt, dass es König Haous Wunsch war. Dass ich es nur für ihn versuchen wollte. Aber irgendwie schien mir diese Antwort nicht mehr passend. Ich wollte es nicht mehr nur für ihn, sondern auch aus einem anderen Grund. Aber meine Gedanken waren zu durcheinander, als dass ich hätte sagen können warum. „Warum willst du dich mit einem Schutzgeist verbinden?“ drängte Mai noch einmal.

„Warum ist das so wichtig für dich?“ entgegnete ich.

Ihr Blick wurde ernst. „Ganz einfach. Wenn du dir nicht im Klaren darüber bist was du willst, wie soll sich dann ein Schutzgeist für dich entscheiden? Die Geister haben die Fähigkeit das wahre Selbst einer Person zu sehen. Ihre Hoffnungen und Ängste. Wenn du selbst nicht weißt wer du bist, wird sich kein Geist mit dir verbinden.“ Wieder wich ich ihrem Blick aus und sah an ihr vorbei. Wer ich bin… Eine schemenhafte Bewegung riss mich aus meinen Gedanken. Mai sah meinen suchenden Blick und drehte sich ebenfalls um. „Was ist denn?“ fragte sie.

„Ich weiß es nicht“ murmelte ich und sah mich suchend um. „Ich habe irgendwas gesehen, aber jetzt ist es wieder weg.“ Nicht ein einziges Geräusch deutete darauf, dass sich hinter den Felsen etwas versteckte. Habe ich mir das eben eingebildet?

Sie drehte sich skeptisch zu mir. „Wenn du jetzt vom Thema ablenken wolltest, war das ein wirklich trauriger Versuch.“
 

Plötzlich sprang eine Kreatur mit rasiermesserscharfen Krallen aus den Schatten der Felsen und stürzte direkt auf Mai zu. „Vorsicht!“ schrie ich, überbrückte die kurze Distanz zwischen uns. Hob mein Schwert schützend vor mich. Ich wurde umgerissen und zog Mai mit mir. Ein dumpfer Schmerz an meinem Hinterkopf ließ mich keuchen. Am Boden liegend versuchte ich das Vieh mit meinem Schwert zurückzudrängen. Es war zu stark. Die unzähligen roten Augen, die sich über seinen grünen Körper verteilten waren auf mich gerichtet. Sein faulig stinkendes Maul kam mir bedrohlich nahe. Immer näher drückte es mein Schwert zu mir und ich knurrte leise. Währenddessen wand sich Mai unter uns hervor und brachte atemlos etwas Platz zwischen uns. Mit einem Knacken bildete sich ein gewaltiger Riss in meinem Schwert. Lange würde es nicht mehr halten. Mein Herz raste. Verdammt. Was soll ich tun? Plötzlich gab das Vieh einen markerschütternden Schrei von sich. Es war abgelenkt. Ich winkelte meine Beine an und trat das Monster mit voller Kraft von mir herunter. Rappelte mich auf. Mai stand mit einem entschlossenen Blick an meiner Seite. Ihre Klinge gezückt, an welcher schwarzes Blut in dünnen Rinnsalen auf den Boden tropfte. Sie hatte das Vieh an der Seite verwundet. Kreischend richtete die Kreatur seine volle Aufmerksamkeit wieder auf uns. Erneut griff es uns an, ich wich nach links aus, Mai nach rechts. Ich rammte meine Klinge in die Flanke des Monsters. Mit aller Kraft zog ich an meinem Schwert. Ein erneutes Knacken, dann ein Knall. Ich stolperte rückwärts, konnte mich noch abfangen. Das Vieh sprang weiter nach vorn, wand sich unter seinen Verletzungen, gab noch einmal ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich und verschwand in den Schatten der umliegenden Felsen. Außer Atem sah ich mich um. Achtete auf jede Bewegung. Ob es jetzt wirklich verschwunden ist?
 

„Warum hast du mir geholfen?!“ keifte Mai.

Ich sah sie irritiert an. Warum war sie plötzlich so sauer auf mich? „Das Vieh hätte dich sonst erwischt. Ich wollte nicht, dass dir etwas passiert.“

„Normalerweise sollten wir unseren Pfad ohnehin selbst beschreiten. Wir dürfen uns nicht gegenseitig helfen!“

„Du hast mir doch auch geholfen“ fragte ich verständnislos. Hätte sie ihre Klinge nicht in dieses Monster gerammt, wäre ich nicht unverletzt aus der Sache rausgekommen.

Sie wich meinem Blick aus und steckte ihre Klinge wieder in seine Halterung. „Weil ich… nicht in deiner Schuld stehen wollte. Das ist alles.“ Ich musterte sie skeptisch. Das war nicht ihr eigentlicher Grund, da war ich mir sicher. „Sieh mich nicht so an!“ sagte sie, während sie erhobenen Hauptes an mir vorbei ging. „Wir müssen weiter, ich will nicht warten bis das Vieh wieder zurückkommt!“ Nach ein paar Schritten blieb sie stehen, hatte mir aber noch immer den Rücken zugewandt. „Und… Danke.“ Ich musste unweigerlich schmunzeln. Hinter dieser harten Fassade steckte eigentlich ein wirklich guter Kern. Bevor ich ihr folgen konnte, hörte ich wieder ein Kreischen. Heller. Über uns. Mein Blick wanderte gen Himmel, der Griff um mein Schwert verstärkte sich. Aus den Wolken schnellte eine neue Kreatur auf uns zu. Eine rothaarige Frau mit grünen Flügeln und scharfen Klauen. Meine Muskeln spannten sich an, mein Blick fiel auf Mai. Ich stutzte. Statt sich in Verteidigungsstellung zu begeben, sah sie völlig fasziniert in den Himmel. „Was machst du denn?!“ rief ich um sie aus ihrer Starre zu befreien. Der Geist flog direkt auf sie zu! „Mai!“ versuchte ich sie wieder in die Realität zu holen, doch sie beobachtete weiterhin den Schutzgeist, der direkt vor ihren Füßen landete. Er grinste. Einen nahezu endlosen Moment standen die beiden einfach nur da und sahen sich in die Augen. Schließlich legte sich ein sanftes Lächeln auf Mais Lippen. Noch nie hatte ich sie so lächeln sehen. Auch das Gesicht des Schutzgeistes wurde sanfter. Mai streckte ihren Arm nach dem Gesicht der Frau aus. Plötzlich blendete mich ein unglaublich helles Licht und ich hob die Arme schützend vor meine Augen. „Mai!“ rief ich wieder, doch bekam keine Antwort. Was ist hier los?!
 

Langsam verebbte das Licht und ich nahm die Arme vorsichtig wieder runter. Wo vorher der Geist stand, wurde eine kleine Staubwolke von der sanften Brise weggetragen. „Mai, geht’s dir gut?“ fragte ich und lief auf sie zu. Sie stand regungslos da, die Augen geschlossen. „Was ist passiert?“ fragte ich besorgt, als ich mich direkt vor sie gestellt hatte. Langsam öffnete sie die Augen und sah mich glücklich an. „Das ist unglaublich“ sagte sie mit brüchiger Stimme.

Ich sah sie verständnislos an. „Was?“

„Dieses Gefühl… Ich kann es nicht beschreiben. Ich…“ Eine einzelne Träne kullerte über ihre Wange. „Das war immer mein größter Wunsch. Es ist… als wäre die Einsamkeit einfach verschwunden.“

„Einsamkeit?“

Sie nickte und strich sich die Träne aus dem Gesicht. „Nicht so wichtig.“ Neben ihr materialisierte sich wieder der rothaarige Geist und ich sah überrascht zu Mai. „Das ist mein Schutzgeist“ sagte sie glücklich. „Sag Hallo zu meiner schönen Harpyie.“

Mein Blick wanderte zu Mais Schutzgeist und ich lächelte. „Hallo.“ Die Harpyie gab ein unverständliches Kreischen von sich und Mai lachte leise. „Was ist?“ fragte ich verwundert.

Sie schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß nicht. Es ist, als könnte ich genau verstehen was sie sagt. Als würde ich ihre Stimme in meinem Kopf hören.“
 

Mein Lächeln intensivierte sich. Ich freute mich wirklich für Mai. Sie sah so unendlich glücklich aus. Warum auch immer sie sich einsam fühlte, ihr Schutzgeist hatte ihr irgendwie geholfen das zu überwinden. Sagte sie nicht, das wäre ihr größter Wusch gewesen? Ich glaube, ich lag die ganze Zeit falsch. In den letzten Tagen wollte ich mich nur mit einem Schutzgeist verbinden um Haous Erwartungen gerecht zu werden. Aber es war anders. Bezogen auf meinen größten Wunsch gab es einen so viel wichtigeren Grund. Ihr Geist verschwand und sie zog ihr Schwert in einer fließenden Bewegung aus seiner Halterung. Reichte es mir und sah mich abwartend an. Ich erwiderte ihren Blick irritiert. „Nimm schon“ sagte sie. „Ich habe mein Ziel erreicht. Aber für dich wäre es besser, wenn du dich weiterhin verteidigen kannst. Mit dem Haufen Schrott in deiner Hand bist du schutzlos.“

Mein Blick wanderte zu dem Schwert in meiner Hand. Die Hälfte der Klinge war abgebrochen, durch den Rest zog sich ein langer Riss bis zum Knauf. Das muss passiert sein, als ich die Klinge nicht aus dieser Bestie herausbekommen habe. Ich könnte es nicht einmal mehr als Kurzschwert gebrauchen. Wahrscheinlich würde sie beim nächsten Schlag in tausende Stücke zerbersten. „Bist du sicher?“ fragte ich und sah sie ernst an. „Was, wenn dieses Monster wieder auftaucht? Dann kannst du dich auch nicht verteidigen.“

Sie schmunzelte. „Ich habe jetzt meine Harpyie. Bis nach Hause wird mir mit ihr nichts passieren. Aber wenn du dich dann besser fühlst, lass uns einfach tauschen. Dann kann ich zumindest einen Schlag parieren, bevor mir das Schwert zerbricht. Und es ist auch nur geliehen. Spätestens zu unserer Prüfung gibst du mir meine Klinge wieder.“

Zögerlich nickte ich und reichte ihr mein Schwert. Als ich ihres annahm, wiegte ich es in meinen Händen. Es war bedeutend leichter als mein eigenes. Die dünne, scharfe Klinge war gut verarbeitet. Ihr Schwert war mehr auf Schnelligkeit und Präzision ausgerichtet, statt auf Kraft. Sollte es wieder zu einem Kampf kommen, musste ich darauf achten.

„Gewöhn dich nicht zu sehr daran“ sagte sie mit einem kleinen Lächeln. „Spätestens zu unserer Prüfung bekomme ich es wieder zurück.“

Ich nickte. „Danke.“

Sie winkte ab und wandte sich um zum Gehen. Doch stoppte sie in ihrer Bewegung. „Du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet.“ Ich sah ihr verwirrt nach. Was meint sie? „Was ist der Grund dafür, dass du dich mit einem Schutzgeist verbinden willst?“

Ich gab ein belustigtes Schnaufen von mir. Ach das. „Ich… will meine Heimat beschützen.“ Sie warf mir einen fragenden Blick über ihre Schulter zu. „Ich weiß, die meisten Dämonen hegen einen Groll gegen mich. Aber ich glaube sie haben nur Angst. Nicht vor mir, sondern vor den Erinnerungen an den Krieg. Viele von ihnen haben ihr Zuhause verloren, oder Personen, die sie liebten.“ In Mais Augen blitzte ein tiefer Schmerz auf, sie wandte sich mir zu. „Ich will nicht, dass die Dämonen diesen Schmerz noch einmal spüren müssen. Es gibt so viele, denen ich viel zu verdanken habe. Ich will stärker werden um die zu beschützen, die mir wichtig sind. Und die, die bereits so viel verloren haben. Sie und ihre Heimat. Meine Heimat.“
 

Mit jedem meiner Worte wurden ihre Augen größer. Tränen sammelten sich darin. Wortlos wandte sie sich von mir ab und ging. „Viel Glück“ hörte ich noch ihre leise Stimme. Dann war sie hinter der nächsten Biegung verschwunden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Bei Yuseis neuer Rüstung hatte ich im Übrigen etwa die Nachtigallrüstung aus Skyrim im Kopf. Nur ohne Umhang, weil… Mal ehrlich. Ein Umhang? Das Ding behindert doch nur xD Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: ShioChan
2022-05-24T07:17:09+00:00 24.05.2022 09:17
Huhu ^___^,

Die Prüfung auf dem Nebelberg geht los! Und dann auch noch an Yuseis Geburtstag. Wobei... ist damit wirklich sein Geburtstag gemeint oder der Tag an dem Haou ihn gefunden hat? Aber egal was, die Geste von Haou, ihm die Rüstung zu schenken, war wirklich nett. Und man merkt dabei gleich, dass Yusei für ihn mehr ist, als er immer vorgibt - und Jesse hat das ja schon bemerkt. Yubel schien auch überrascht darüber, schweigt sich aber dazu aus. XD Naja was sollte sie auch sagen? Ihr König kann ja machen, was er für richtig hält. XD

Und welche Zufall, dass Mai auch an diesem Tag ihre Prüfung hat. Aber so ist Yusei wenigstens nicht alleine. An sich ist Mai ja doch ne nette Person. Sie schien ja selber schon ihre Zweifel an bestimmten Dingen - wie ihrem Meister - zu haben.
Und gut, dass sie dabei war. Immerhin konnten sie sich so gegenseitig helfen - auch wenn Mai das erst nicht so recht gepasst hat.

Ich bin auf jeden Fall gespannt, wie Yusei sich weiter schlägt und freue mich schon auf das nächste Kapitel.

LG
Shio~
Antwort von:  stardustrose
24.05.2022 09:39
Mit dem Geburtstag ist beides gemeint :) haou hat yusei an seinem 5. Geburtstag gefunden :) und da es für yusei ohnehin Recht schwierig ist Freundschaften zu schließen (eben weil ihn keiner näher kennenlernen will), musste ich Mai Mal ins kalte Wasser werfen :) außerdem fand ich sie als Charakter immer schon großartig und wollte ihr Mal mehr als eine Erwähnung am Rande in einer Geschichte geben^^

Außerdem musste irgendjemand dafür sorgen, dass yusei sich Mal fokussiert und seine Zweifel los wird ;)


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