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Oh du fröhliche, oh du schmerzliche!

Weihnachten im Freundeskreis
von

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Nach lange Zeit...

Der Himmel war mit dichten Wolken hellgrau und der Wind säuselte mit eiskalter Stimme. Auf dem Friedhof herrschte eine unheimliche Atmosphäre. Überall ragten Steinplatten in verschiedenen Formen und Farben aus der Erde hinaus, wo die letzte Ruhestätte der Verstorbenen lag. Dazwischen wuchsen kahle Bäume und Sträucher heran. Letztendlich suchte eine Totenstille den Ort heim. Hier kamen selten Menschen her, vor allem wenn die Winterzeit herrschte.

Vor einem Grabstein aus schwarzem Marmor stand die 21-jährige Lilly und atmete tief durch. Dabei schmeckte die Winterluft sowohl kalt als auch bitter. Ihre grünen Augen wurden feucht, als sie von dem Grabstein zum Himmel hinaufschaute. Eine Vielzahl von Erinnerungen spuckten in ihrem Kopf herum. Körper und Seele schmerzten andauernd, wenn sie daran dachte. Sie strich sich eine Haarsträhne hinter dem Ohr. Die dunkelbraunen Locken reichten bis zur Rückenmitte und umrahmten ihr herzförmiges Gesicht. Zudem spiegelte sich Trauer in den Iriden wider. Sie trauerte und hoffte. Hinter ihr waren Schritte zuhören. Der Schnee knirschte unter dem Gewicht und die junge Frau drehte sich um.

„Lilly, du bist viel zu früh da“, tadelte ein Mann ihres Alters und hob zur Begrüßung die Hand hoch. Nachträglich schenkte er ihr ein schiefes Lächeln. Sein dunkelblondes, schulterlanges Haar hatte er zu einem Dutt zusammen gebunden. Dann wanderte sein Blick nach rechts. In den Baumkronen krächzten die Raben ihr Klagen über die Kälte und schmiegten die Flügel eng an das schwarze Federkleid an. Er hasste ebendiese abergläubischen Botschaften und schüttelte bloß den Kopf.

Ein stummes Nicken folgte von Lilly und sie erwiderte das Lächeln. Als er sich zu ihr gesellte und den Grabstein ebenfalls reumütig anstarrte, öffnete sie nach langer Zeit ihr Herz. „Das Gleiche könnte ich dich fragen. Du bist auch früh dran, Jason“, meinte sie leise. Aus seinem Mund entwich ein freudloses Lachen. Lilly konnte es ihm nicht verübeln und lauschte der Natur, als ein kühler Windhauch die Freunde von hinten erwischte. „Ich bin so früh aufgetaucht, weil ich wusste, dass du seit dem Tag des Unglücks niemals zu spät irgendwo ankommst.“ Die Feststellung klang resigniert und trostlos zugleich.
 

Zuerst zögerte Lilly, darauf zu antworten, doch eine Minute des Schweigens wollte sie offenbar vermeiden. Insofern seufzte sie und legte ihre Hand auf seine linke Schulter. Sein Bedauern erreichte auch Lillys Gefühle. „Das stimmt“, murmelte sie und wurde dann lauter. „Aber du trägst keine Schuld daran.“ Jedes Mal musste sie ihn davon überzeugen, dass er nicht allein auf der Welt mit dieser Last lebte. Schließlich trug sie die Erinnerungen und Schmerzen ebenso im Herzen wie Jason. Das war für sie ziemlich anspruchsvoll. Irgendwann hatten sie keine andere Wahl: Sie mussten loslassen. Leider fehlten ihnen die Kraft dazu. Selbst sie brauchte ewig, um über den Tod ihrer Schwester hinwegzukommen.

Jason schwieg einfach, dann rümpfte er die Nase. Offenbar hatte er keinen Gefallen an dem Satz und wich Lillys sanften Blick aus. Auf Mitleid konnte er getrost verzichten. Obwohl Lilly es gut meinte und er seine beste Freundin sehr mochte, wollte er dieses Gefasel nicht hören. „Deine Verwandten sehen das ganz anders“, knurrte er aufgebracht. Die Hand von Lilly zuckte bei dem rauen Tonfall. Allerdings blieb sie auf der Schulter liegen. Inzwischen war sie seinen Launen gewohnt, wofür Jason meist ein schlechtes Gewissen bekam. „Und was ist mit mir? Zählt meine Meinung nicht?“ Er spannte die Muskeln an und zog die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Ihre Reaktion verstand er sehr gut, trotzdem schloss er Lilly jederzeit aus.

„Verstehe“, sagte sie bedrückt. Zwar bereute sie, ihn soeben laut konfrontiert zu haben, aber sie wusste sonst nicht, wie sie an ihn herankam. Seit fast 12 Monaten wanderte er als Buch mit sieben Siegel durch die Welt, während sie in der Heimat auf ihn wartete. Es war eine schwere Zeit. Lilly biss sich auf die Unterlippe und hoffte inständig, dass der Alptraum sich bald auflöste. In Gedanken versunken, rutschte die Hand von Jasons Schulter ab und hing reglos an ihrer Körperseite. Voller Sorge betrachtete sie sein Verhalten. Ab und zu versuchte sie, die Stimme zurückzugewinnen. Bedauerlicherweise blieben die Lippen fest versiegelt. Kochend vor Wut über Jason und sich ballte sie die Hände zu Fäusten.

Plötzlich wurde es hinter ihm ruhig. Im Hintergrund heulte der Wind und die frostigen Äste flüsterten ein unheilvolles Gebet. Unwillkürlich lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Keinesfalls mochte er die Stille, vielmehr hörte er Countrymusik. Besser als die Einsamkeit, die ihn wie ein Schatten verfolgte. „Am besten zünden wir jetzt die Kerzen an“, ergriff Jason das Wort und holte aus der Jackentasche ein Feuerzeug heraus. Lillys Blick brannte weiterhin in seinem Nacken wie Feuer. Darüber hinaus verfiel sie selbst in Verschwiegenheit. Entweder grübelte seine beste Freundin über etwas nach oder sie respektierte seinen Wunsch, nicht darüber reden zu wollen. Dafür war er ihr dankbar. Sodann beugte er sich nach vorne und stockte, als ein winziges Eiskunstwerk auf sein Handrücken landete. Jason staunte nicht schlecht.
 

Im Himmelreich schüttelten die Wolken die eisigen Kristalle herab, sodass die ersten Flocken auf die Erde rieseln. Zart wie Federn tänzelten sie in der Luft. Alsbald formten sich die Schneeflocken zu einem weißen Schleier, der die Welt umhüllte und etliche Landschaften sowie Straßen unter den Neuschnee vergrub. Die Tannen auf dem Friedhof, die von den Gärtnern festlich geschmückt wurden, fingen die Eisflocken mit ihren Nadeln auf. Zwischen den abgestuften Ästen bildeten sich Schneeschichten und sahen aus der Ferne wie ringförmige Kleider aus. Das Winterbild wirkte wie ein Traum in Weiß.

Über die Lippen huschte ein Lächeln. Lilly streckte den Arm aus und öffnete die Hand. Einzelne Flocken fielen auf die Haut. Es fühlte sich eiskalt an, hinterließ aber ein warmes Gefühl im Herzen. „Es schneit“, schmunzelte sie. In den Augenwinkeln glitzerten Tränen der Freude. Vor ihrem Tod hatte ihre ältere Schwester Emilia immer laut herausgeschrien, dass sie Flocken gerne beim Tanzen zusah. Aus vollem Halse lachte und stimmte Lilly ihr zu. Die Zeit mit ihrer Schwester vermisste sie sehr. Diese Erkenntnis stach in ihr wie eine Nadel tief und spitz ein. Jedoch schluckte sie die bittere Pille herunter. An Weihnachten durfte sie in Traurigkeit versinken, sie musste auch an die wundervollen Dinge wie Freundschaft und Hoffnung denken.

Derweil zündete Jason die Kerzen an. Kleine, weiße Geschenkschachteln, getrocknete Nussschalen und silberner Schmuck sowie eine goldweiße Schleife verzierten den Kranz auf Emilias Grab. Das gelbliche Kerzenlicht strahlte eine Wärme aus und unweit schimmerte der Schnee. „Woran denkst du?“, fragte er Lilly. Wenngleich er die Antwort kannte, mochte er für diesen Moment die Stille zu durchbrechen. Somit entspannte er sich, stand auf und blickte seine beste Freundin an. „Ich sehe mir gerne den Schneeflockentanz an“, erklärte sie. Diesmal wurde ihre Stimme weich, genau wie ihr Gesichtsausdruck. „Und du?“ Jason zuckte mit den Schultern. Um ehrlich zu sein, dachte er gerade an viele Dinge. Das Rascheln von Kleidung folgte. Als Lilly die Arme vor der Brust verschränkte und schob eine Augenbraue hoch. „Und?“, hakte sie nach. Mit einem Murren rieb er sich den Nacken und knickte anschließend ein. „Was wäre wenn, ich das Auto fuhr und nicht Emilia.“

Zwischen ihnen schlich sich ein Akt des Schweigens ein. Im Nachhinein entwich Lilly ein Seufzer. Schon wieder stellte er seinen Wert infrage, nur weil Emilia damals den Wagen nahm und nicht er. „Es ist nicht deine Schuld. Auch ich bin mit Schuld an ihrem Tod. Hätte ich damals nicht den Zug verpasst, musste meine Schwester mich nicht abholen“, raunte sie gedämpft. Hier und jetzt wollte sie keinen Streit anfangen. Dagegen schien ihr bester Freund nicht zu haben. „Ich weiß, Lilly.“ Überrascht blinzelte sie, weil mit der Antwort hatte sie nicht gerechnet. „Und wieso...ich meine...du“, suchte sie nach den richtigen Worten und runzelte die Stirn. Manchmal wurde sie aus ihm nicht schlau.
 

„Es tut verdammt weh. Diese Schmerzen gehen nicht weg“, bedauerte er den Verlust sehr. Sofern er auf Reisen war, konnte er mit dem Leid umgehen. Jetzt stand er vor dem Grab. Alte Wunden rissen auf und die Erinnerungen kehrten zurück. „Ich habe sie geliebt. Wir waren glücklich und jetzt ist sie für immer fort.“ Mühsam unterdrückte er die Tränen und sein Körper bebte regelrecht. Anfangs weigerte er sich, hierherzukommen, doch er konnte Lilly keineswegs allein lassen. Immerhin war er es seiner großen Liebe schuldig. Noch eine Tragödie konnte er nicht überstehen.

Ohne eine Vorwarnung schloss Lilly ihn in einer Umarmung ein. Eine Sekunde lang stand Jason steif da, bis er mit dem Zittern aufhörte und die Muskeln auflockerte. „Sie lebt in unseren Erinnerungen und Herzen weiter“, glaubte Lilly daran. Sie stützte ihren Kopf gegen seine Brust. Sein Herz hämmerte wild gegen den Brustkorb. „Aus welchen Roman hast du diesen Kitsch her?“, lachte er kurz auf, dann umarmte er sie. Von ihr kam ein Schluchzen. Soeben genoss sie die Wärme, die ihr so lange gefehlt hatte. „Aus dem Roman Bis zum Seeufer“, war sie in Tränen aufgelöst. Behutsam strich Jason über ihren Kopf und bei der Antwort schaffte er sogar ein herzliches Lächeln. Die Frage gehörte eher in die ironische Abteilung, aber Lilly verstand den Sarkasmus nie gut. „Vielleicht lese ich mir das Buch auch mal durch“, munkelte er. Bei dieser Gelegenheit tauchte bei ihr ein Lachen auf und wischte sich die Tränen weg. „Du brauchst hundert Jahre für eine Seite, du Leseratte“, sagte sie.

„Gut gekontert, du Sarkasmusmaus“, erwiderte er und atmete erleichtert auf, als Lilly sich beruhigte. Danach lösten beide die Umarmung auf und guckten dieses Mal etwas befreiter auf Emilias Grab. Lilly roch den Kerzenduft und erinnert sich an den Kauf mit Emilia sowie Jason. „Ob sie ihren Frieden gefunden hat?“ Aus den Augenwinkeln riskierte er einen flüchtigen Blick auf, die auf dem ganzen Gesicht strahlte. Folgend widmete er sich erneut das Grab. „Ich glaube nicht daran. Ich weiß es ganz genau. Sie ist glücklich“, erzählte Jason. Dankend klopfte sie ihm gegen die Schulter. „Dann lass uns auch glücklich sein und sie endlich loslassen.“ Nachdem er seine Augen schloss und wieder öffnete, kam er zu einem Entschluss. „In Ordnung.“



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