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Im Himmel ist der Teufel los

Apokalypse Reloaded
von

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Per Anhalter durch die Hölle

Nervös und mit rasendem Herzschlag wartete Nazir in der Nähe des großen Höllentors versteckt hinter ein paar Felsen. Nachdem er und Malachiel aufgebrochen waren, hatte der Halb-Seraph kurz innegehalten und gemeint, ihm wäre da noch etwas eingefallen was er erledigen müsse. Also hatte er seinen Schüler schon mal vorausgeschickt und ihn angewiesen, sich erst mal zu verstecken. Über die Details hatte Malachiel ihn im Dunkeln gelassen aber so wie Nazir ihn inzwischen kannte, war es garantiert wieder irgendeine Verrücktheit. Gleich nachdem er schon von weitem das dunkle mit Schädeln und Knochen dekorierte Tor gesehen hatte, war er in Deckung gegangen und hoffte nur, dass er nicht allzu lange warten musste.

Vier Jahre war es her, seit er einst durch diese Pforte gegangen und die Hölle hinter sich gelassen hatte. Nie im Leben hätte er es für möglich gehalten, eines Tages wieder hierher zurückzukehren und ihm war auch nicht sonderlich wohl bei diesem Gedanken. Allein das Schild an der Pforte war alles andere als einladend: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren! Dieses „Begrüßungsschild“ hatte sich damals Dante einfallen lassen, nachdem er der gesamten Höllenbelegschaft mit seinen vielen Reformationsideen für die Hölle auf den Zeiger gegangen war. Ein paar kreative Dinge waren schon dabei gewesen, aber im Großen und Ganzen viel zu viel griechische Mythologie und zu wenig tatsächlich christlicher Einfluss. Aber zumindest das Eingangsschild hatte positiven Anklang gefunden. Sonderlich wohl war dem dämonischen Haushälter nicht unbedingt dabei, als er das Tor betrachtete. Aber er sah es auch als seine Pflicht an, seinen Herrn durch die Hölle zu führen und hoffentlich in einem Stück in der Dämonenhauptstadt Pandämonium anzukommen. Diese lag im Zentrum der Hölle und dazu musste man durch sämtliche neun Kreise gehen. Zumindest war es ein kleines Trostpflaster, dass der erste Höllenkreis eher ein harmloser Spaziergang war und sich im sechsten Höllenkreis die brennende Stadt Dis befand. Dort war Nazir aufgewachsen und er war guter Dinge, dass ihn seine Geschwister dort mit offenen Armen empfangen würden. Naja… zumindest ein paar von ihnen. Zumindest hoffte er das. Die meisten von ihnen waren wesentlich älter als er und er konnte sich nur allzu gut daran erinnern, wie seine älteren Brüder ihn immer wieder gehänselt hatten. Aber er bezweifelte, dass sie ernsthaft versuchen würden, ihn den Vollstreckern auszuliefern. Seine Geschwister mochten nicht gerade die Sozialsten sein, aber sie waren immer noch seine Familie und er hoffte darauf, dass ihnen das auch etwas bedeutete. Und dann war da auch noch seine Mutter. Bei ihr machte er sich keine allzu großen Sorgen, aber die Sache konnte unter Umständen schwierig werden, wenn sein Vater von irgendetwas Wind bekam.

Nazir spürte, wie ihm vor Aufregung flau im Magen wurde und er versuchte ruhig zu atmen, um nicht gleich durchzudrehen. Verdammt… wo blieb Malachiel eigentlich und was hatte er überhaupt vor? Es kam ihm fast wie eine Ewigkeit vor, seit er sich hier versteckt hatte.
 

Eine plötzliche Berührung auf seiner Schulter genügte um den jungen Dämon erschrocken zusammenfahren zu lassen und für einen Moment fürchtete er, dass seine Deckung aufgeflogen war. Ruckartig drehte er sich um und sah einen in knappem Lederoutfit und hochhackigen Stiefeln gekleideten Succubus mit aschblondem Haar vor sich. Beinahe hätte sein Herz vor Schreck einen Schlag ausgesetzt und das Weite gesucht, doch dann bemerkte er die glutroten von Schatten umrandeten Augen, deren Ausdruck ihm ziemlich vertraut war. Sein Schreck schlug dann kurzzeitig in Verwirrung um und einen Moment lang starrte er ungläubig die recht aufreizend gekleidete Dämonin an. Dann klappte ihm die Kinnlade herunter und ein „Meister? Seid Ihr das etwa?“ entwich ihm. Malachiel war kaum wiederzuerkennen und schien sichtlich stolz auf sein Erscheinungsbild zu sein. Er nahm eine kokette Pose ein und grinste breit. Zwar wusste Nazir, dass Engel und Dämonen ihre Gestalt anpassen konnten, aber er hatte seinen Meister noch nie in knapper Ledermontur und engem Korsett gesehen. Es kam aber auch sonst eher selten vor, dass sein Mentor sich in Frauengestalt herumtrieb. Meist nur dann, wenn ihm dieser Aufzug besondere Vorteile in Clubs verschaffte.

Zugegeben, er sah wirklich wie ein waschechter Succubus aus, aber man musste sich trotzdem erst mal an den Anblick gewöhnen. Vor allem weil man ihn sonst nur in Priesteruniform sah. „Na, was meinst du? Wie sehe ich aus?“ fragte der Halb-Seraph und war sichtlich stolz auf seine Aufmachung. „Ich dachte mir es wäre wesentlich leichter, wenn wir incognito reisen könnten. Vor allem weil ich keine Lust habe, alle fünf Schritte von irgendwelchen leichtsinnigen Halbstarken überfallen zu werden. Ansonsten kommen wir nie zum Fegefeuer.“

„Und da musste es ausgerechnet eine Succubus-Verkleidung sein?“

„Ich hatte halt Lust darauf“, meinte Malachiel und richtete sich dabei ein wenig sein Outfit. „Ist schon lange her, dass ich endlich mal wieder dazu komme, hautenge Lederklamotten und Absätze zu tragen. Vielleicht wäre Latex ja besser gewesen, aber ich habe dann immer das Gefühl, wie eine Presswurst auszusehen. Ganz zu schweigen davon, dass mein Arsch darin immer so fett aussieht…“

„Die Verkleidung passt perfekt“, versicherte Nazir. „Ich denke, Ihr werdet mit dieser Aufmachung garantiert nicht auffallen. Ich hoffe nur, dass keiner merkt, dass ich ein Deserteur bin…“

Damit zog er sich nervös die Kapuze seiner Jacke tiefer ins Gesicht. Zwar glaubte er kaum, dass sich die Nachrichten derart weit herumgesprochen hatten, aber eine gewisse Angst war trotzdem da. Außerdem hatte er wirklich keine Lust, seinem alten Herrn zu begegnen. Der würde alles andere als erfreut sein, ihn wiederzusehen.

Malachiel entging die Angst seines Schülers nicht und mit einem leisen Seufzer meinte er „Du musst nicht mitkommen, wenn du dich fürchtest. Ich kriege das auch schon so irgendwie hin. Vielleicht kann ich ja per Anhalter reisen.“

„Nein, es ist schon in Ordnung“, versicherte der dämonische Haushälter hastig und sah sich nervös um. Er wollte wirklich helfen und beweisen, dass er auch in solchen Situationen nützlich und verlässlich war. Außerdem wollte er unbedingt den anderen Dämonen erzählen, welche Fortschritte er gemacht hatte, damit sie nicht die Hoffnung aufgaben. Das hier war viel zu wichtig um einfach den Schwanz einzuziehen. Allerdings bereitete ihm das bevorstehende Familiendrama gewisse Bauchschmerzen. Er hatte mit Malachiel nie über seine genaue Herkunft gesprochen weil er nicht sonderlich stolz darauf war und ihn sein Vater sowieso enterbt und verstoßen hatte. Allerdings ließ sich dieses Wiedersehen leider nicht vermeiden und es war besser, reinen Wein einzuschenken. „Die Sache ist die, Meister… Mein Vater ist ein ziemlich hohes Tier in der Hölle und das könnte Schwierigkeiten geben.“

„Ach mach dir da mal keine Sorgen“, versicherte Malachiel und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. „Ich kriege das schon gedeichselt. Notfalls auch mit roher Gewalt, wenn diese Spatenköpfe nicht zuhören wollen.“

„Ja aber… mein Vater ist gewissermaßen Satan persönlich“, gestand der junge Dämon und senkte beschämt den Kopf. „Er wollte aus mir so eine Art Antichrist machen, aber das hat leider nicht so funktioniert wie er es sich vorgestellt hat. Also hat er mich verstoßen und gesagt, ich solle mich nie wieder blicken lassen. Und wenn er weiß, dass Ihr mich als Euren Schüler aufgenommen habt, wird er fuchsteufelswild werden. Tut mir leid, dass ich das nicht früher gesagt habe, aber ich wusste nicht ob Ihr mich dann überhaupt als Schüler aufgenommen hättet wenn ich gesagt hätte, dass ich Satans Sohn bin. Aber ich will nicht, dass Ihr meinetwegen…“

„Schon gut“, unterbrach Malachiel ihn und sah nicht einmal überrascht aus, dass sein Schüler ausgerechnet der Sohn von Gottes ärgstem Feind war. Er hätte wenigstens mit Erstaunen oder Verwirrung gerechnet, aber nicht mit einem solchen Maß an Gelassenheit. Kümmerte es Malachiel denn überhaupt nicht, dass er etwas derart Wichtiges verschwiegen hatte? War er denn gar nicht erstaunt darüber, dass Satans Sohn ein derart jämmerliches Bild abgab? Alles, was er dazu nur sagte war „Man kann sich die Eltern halt nicht aussuchen. Aber trotzdem danke für die Info und für dein Vertrauen. Und mach dir keinen Kopf wegen deines Vaters. Wir kriegen das schon hin.“

Das beruhigte den nervösen Dämon fürs Erste und so gingen sie gemeinsam in Richtung Höllentor, um ihren Abstieg zu beginnen.
 

Von ganz weit außen betrachtet sah die Hölle mehr oder weniger wie ein riesiger Abgrund aus, der immer tiefer ging. Insgesamt gab es zehn Ebenen, die auch schlichtweg „Kreise“ genannt wurden, da sie rings um diesen Abgrund errichtet worden waren. Der Gedanke lag natürlich nahe, einfach hinabzufliegen und direkt nach unten zu gelangen. Allerdings waren die Schwefeldämpfe, Lavaströme und Rauchschwaden so extrem, dass nicht einmal Dämonen diesen direkten Abstieg so leicht überstanden. Außerdem wollten Malachiel und Nazir lieber unerkannt bleiben und da war es wesentlich einfacher, die zehn Ringe nacheinander zu durchschreiten und auf den Grund des Abgrunds zu gelangen, wo sich die Dämonenhauptstadt Pandämonium befand. Je tiefer man gelangte, desto ungemütlicher wurde es. Erschwerend kam hinzu, dass jeder Kreis an sich so gigantisch war, dass man schnell die Orientierung verlieren konnte. Jede Ebene war mehrere Kilometer breit und ganze Zivilisationen hätten dort Platz gehabt. Auch wenn die Hölle nicht unbedingt einladend für Besucher war, bot sich ein nicht weniger gewaltiger und majestätischer Anblick wie im Himmel. Die erste Ebene, die sich quasi an der Oberfläche und dicht darunter befand, war ein leichter Spaziergang und hatte nicht einmal annähernd etwas Düsteres oder Bedrohliches an sich. Es wirkte sogar überraschend friedlich und überall sah man Menschen, die frei von irgendwelchen dämonischen Folterknechten ihr Dasein fristeten. Es waren all jene arme Seelen, die nicht rein genug für den Himmel waren, allerdings auch nicht genug auf dem Kerbholz hatten, um bis in alle Ewigkeit gequält zu werden. Der sogenannte Limbus war eine Art neutrale Zone, in der sie friedlich leben durften, bis sie eines Tages endlich durch das Fegefeuer gereinigt werden und in den Himmel aufsteigen konnten.

Gleich als sie den Limbus betraten, mussten Malachiel und Nazir feststellen, dass der Ort hoffnungslos überfüllt war und es schlimmer zuging als auf einem Großstadt-Basar. Überall drängte sich dicht an dicht und ein paar Dämonen, die als Ordnungshüter eingeteilt worden waren, hatten sichtlich Mühe, um das Durcheinander unter Kontrolle zu halten. In einer solchen Umgebung, wo sich alles dicht an dicht drängte, war die Stimmung verständlicherweise gereizt und überall konnten sie Proteste und Geschrei hören. Malachiel und Nazir hatten erhebliche Mühe, sich durch diese ganzen Menschenmassen durchzudrängen und den Überblick zu behalten. In der Hoffnung, über die Nebenstraßen besser voranzukommen, bogen sie von der Hauptstraße links ab und quetschten sich durch eine Reihe von verwinkelten Gassen, bis der Weg durch einen großen Karren blockiert wurde, der von zwei Skelettpferden gezogen wurde. Ein Schild hing am Wagen und geschrieben stand „Freuds Mobiler Therapieservice“.

Drei sehr vertraute Gestalten saßen auf dem Wagen, von denen sich zwei hitzig am Streiten waren. Der Patient, der auf einer provisorisch gezimmerten Couch lag und die Hände auf dem Bauch gefaltet hatte wie ein Toter, war ein bleicher und etwas nervös ausschauender Mann in einem etwas abgenutzten Anzug. Die beiden Streithähne links und rechts von ihm waren eine alte Dame, die wie eine indische Ordensschwester gekleidet war und ein bärtiger Mann mit Brille, Halbglatze und schwerem österreichischen Akzent. „Und ich sage es dir zum letzten Mal, Sigmund: die Alpträume und Pein sind Gottes Strafe für seine blasphemischen Werke!“ rief die alte Dame wütend und schwang dabei ihre Faust in der Luft, als wolle sie jeden Moment zuschlagen. Mit der anderen Hand hielt sie einen Rosenkranz fest, den sie um ihre Fingerknöchel gewickelt hatte, als wolle sie diese als Schlagringersatz benutzen. „Was da hilft sind Buße und Gebete! Teufelsaustreibung und Selbstkasteiung sind der einzige Weg zum Heil für diese verlorene Seele!“

„Und ich sage dir zum tausendsten Mal, dass ich die Nase voll habe von deinen infantilen Illusionen, meine liebe Agnes!“ gab der alte Mann gereizt zurück und lief dabei hochrot im Gesicht an. „Immerzu musst du meine Patienten mit deinem Geschwätz von Buße und Bekehrung belästigen und glaubst allen Ernstes, Weihwasser würde eine vernünftige Therapie ersetzen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du vollkommen hysterisch bist. Hast du nicht noch irgendwelche Spendengelder, die du unterschlagen kannst? Vielleicht hast du ja Glück und du findest unterwegs noch ein paar halbtote Leprakranke, die du zu Tode quälen und gegen ihren Willen bekehren kannst.“

„So etwas muss ich mir von einem kokainabhängigen Quacksalber nicht anhören, für den alles nur ein Sexkomplex ist!“ giftete die alte Dame zurück und es sah nicht wirklich danach aus, als würde ihr Streit bald ein Ende finden. Selbst dem armen Kerl, der auf der Couch lag und darauf wartete, endlich therapiert zu werden, wurde es langsam doch etwas zu bunt. Etwas verzagt seufzend meinte er in einem leichten Bostoner Akzent. „Dürfte ich die Herrschaften bitten, sich endlich darauf zu einigen, wer mich von meinen Alpträumen befreit und wer nicht?“ fragte er und rieb sich etwas nervös die Stirn. „Ich habe schon wieder diese furchtbaren Visionen von schrecklichen Ungeheuern aus der Tiefe und es treibt mich noch irgendwann um den Verstand. Ich kann schon keinen Fisch mehr sehen, ohne gleich Panik zu bekommen.“

„Da hörst du es, Agnes. Diese Alpträume sind nicht verarbeitete Traumata zu den tragischen Umständen seiner Mutter und der Perspektivlosigkeit durch seinen Jobverlust und der Krankheit seiner Ex-Frau“, meinte der alte Mann und nahm seine Brille ab, um sie mit seinem Taschentuch zu putzen. „Herr Lovecraft leidet unter einer besonders stark ausgeprägten Kombination verschiedener Phobien, die seinen neurotischen Zustand erheblich verschlechtert haben. Ein derartiges Hirngespinst wie Gott hat damit überhaupt nichts zu tun. Herr Lovecraft mag fremdenfeindlich, misogynistisch und paranoid sein, aber er ist ganz gewiss nicht von Dämonen besessen. Also verschone mich mit deinem lächerlichen Hokuspokus.“

„Sag das mal meinem Friedensnobelpreis, du alter Zausel!“

„Ein Preis, der an ausbeuterischen Heuchlern, Gaunern und Kriegstreibern verliehen wird, ist nicht einen Groschen wert. Und für eine Mutter, mit der niemand freiwillig schlafen würde, solltest du den Mund nicht so weit aufreißen!“

„Hey, könnt ihr den Wagen beiseite fahren?“ unterbrach Malachiel die beiden Zankenden, die vermutlich nicht so schnell damit aufhören würden, sich gegenseitig verbal zu zerfleischen. Naja, was hatte man von der Vorhölle auch anderes erwartet? „Wir wollen hier vorbei und ihr blockiert hier den Weg!“

Nun hielten die zwei inne und schauten die beiden Hinzugekommenen an. Etwas erstaunt und verwundert rückte Dr. Freud seine Brille zurecht und brauchte einen Moment um zu erkennen, wen er da vor sich hatte. „Oh, entschuldigen Sie bitte, werte Dame. Ich werde sofort weiterfahren.“ Dann wandte er sich wieder Mutter Teresa zu und baute sich zu seiner ganzen Größe auf. „Und du verschwindest jetzt augenblicklich aus meiner Praxis. Und lass gefälligst deine Finger von meinen Patienten!“

Sichtlich zerknirscht entschied sich die alte Ordensschwester dann doch für den Rückzug und stieg vom Wagen herunter. Nachdem sie gegangen war, nahm Dr. Freud die Zügel und die Peitsche in die Hand und brachte die beiden Skelettpferde, die vor den Wagen gespannt waren, dazu, sich in Bewegung zu setzen. „Wohin geht denn die Reise, wenn ich fragen darf?“ erkundigte sich der Psychologe dabei. Malachiel und Nazir tauschten kurz einen Blick aus und dann antwortete der Halb-Seraph „Wir wollen weiter nach unten, aber leider scheint hier viel los zu sein. Deshalb versuchen wir es abseits der Hauptstraße.“

„Wenn ihr wollt, könnte ich euch gegen eine kleine Bezahlung in meiner mobilen Praxis ein Stückchen mitnehmen“, bot Dr. Freud an und hielt die Pferde an. „Ich fürchte, dass die gute Agnes sonst wieder auftauchen wird und mir schlimmstenfalls auch noch diesen alten Rassisten Gandhi auf den Hals hetzen wird. Und dann darf ich sowohl ihm als auch Herrn Lovecraft diese verrückte Vorstellung von der weißen Vorherrschaft austherapieren.“

„Ich bin kein Rassist, ich habe bloß Angst vor Ausländern“, verteidigte sich der Horrorschriftsteller, fand aber wenig Zustimmung mit seiner Entschuldigung. Da eine Reise mit dem Wagen vielleicht keine so schlechte Idee war, nahmen Malachiel und Nazir das Angebot an und kletterten hinauf.
 

Nachdem sie Platz genommen hatten, ließ Dr. Freud die Pferde wieder loslaufen und der Wagen setzte sich in Bewegung. Malachiel, der schon seit der Beinahe-Apokalypse nicht mehr in der Hölle gewesen war, fand allmählich Gefallen an diesem Ort. Zwar war es ziemlich dicht besiedelt und etwas ungemütlich, aber man traf hier zumindest ein paar interessante Leute. Gemächlich fuhr der Wagen durch die engen Gassen und schaffte es, sich überall durchzuquetschen. Während Lovecraft damit begann, Nazir von seinen schrecklichen Alpträumen und Visionen zu erzählen, wandte sich Malachiel an Dr. Freud. „Selbst der Tod scheint Sie nicht von der Arbeit abzuhalten, wie?“

„Selbstverständlich nicht“, verkündete der Psychologe mit einer Mischung aus Stolz und Ernst. „Dieser Ort ist voller Menschen, die dringend Hilfe benötigen. Und weil der Ort so groß ist, habe ich meine mobile Praxis gegründet. So finde ich nicht nur zu meinen Patienten, sondern kann mich auch mit Kollegen austauschen. Die Schulmedizin hat sich seit meiner Zeit stark verändert… Meine Methoden sind nicht mehr die modernsten, aber ich gebe trotzdem mein Bestes, um zu helfen.“

„Macht Ihnen das nicht zu schaffen, dass Sie aus der Mode gekommen sind und zudem noch in der Vorhölle festsitzen, obwohl Sie nicht an Gott glauben?“

Der alte Mann schnaubte amüsiert bei diesen Worten und schüttelte den Kopf. „Das ist ja das Wunderbare an der Medizin und der Wissenschaft: sie ist immer im stetigen Wandel und passt sich an. Es ist nur ein natürlicher Schritt, dass meine Methoden irgendwann widerlegt werden, aber es erfüllt mich mit Stolz, dass ich genug Vorarbeit leisten konnte, um den nächsten Generationen den Weg zu ebnen. Und nur weil ich an diesem Ort gelandet bin, heißt das noch lange nicht, dass ich meine Meinung zur Religion geändert habe. Ich glaube nach wie vor nicht an diesem infantilen Hirngespinst.“

Nazir, der das trotz des Gejammers von Lovecraft gehört hatte, runzelte irritiert die Stirn und konnte nicht so ganz verstehen, wie jemand immer noch nicht an die Existenz von Himmel und Hölle glauben konnte, wenn er sich doch eindeutig in der Hölle befand… oder zumindest im überfüllten Vorhof. So etwas musste doch an Trotz und Ignoranz grenzen. Doch Dr. Freud war da anderer Ansicht und meinte „Wie man diesen Ort hier bezeichnen will, ist reine Ansichtssache. Für die einen ist es die Vorhölle, für andere ist es bloß eine Zwischenstufe zur nächsten Existenzebene. Für mich ist es eine Chance, dort weiterzumachen wo ich aufgehört habe. Die Hölle wird nur dann zur Hölle, wenn wir sie dazu machen.“

„Eine Antwort, wie man sie von einem Psychologie-Urgestein erwarten kann“, kommentierte Malachiel und beließ es dabei. Er war nur heilfroh, zumindest für die erste Ebene einen fahrbaren Untersatz zu haben. Sie würden noch genug laufen müssen, bis sie endlich ihr Ziel erreichen würden. Als sie dann nach einer Weile auf die Hauptstraße abbogen, um die Abzweigung zum nächsten Höllenkreis zu erwischen, sahen sie allerhand vertraute Gesichter. Prominente Schauspieler und Sänger, die die Bewohner unterhielten oder Schriftsteller und Dichter, die Poetry Slams veranstalteten und Politiker, die angeregte Diskussionen miteinander führten. Es wirkte tatsächlich nicht unbedingt wie die Vorstufe zur Hölle wie man es vielleicht vermutet hätte. Vielleicht war ja etwas Wahres an dem dran, was Dr. Freud gesagt hatte und die Hölle wurde erst dann wirklich zur Hölle, wenn man sie dazu machte. Es war zumindest beruhigend zu sehen, dass die Menschen hier nicht irgendwelche Höllenqualen durchstehen mussten.
 

„Meine Güte, ich fühl mich hier fast wie auf einer Promi-Gala“, kommentierte Malachiel als sie an der Musikergasse vorbeikamen, wo sich eine Gruppe weltberühmter Komponisten hitzig über neue Opern und Sinfonien unterhielten. Mit der Ausnahme von Beethoven, der von all diesen Gesprächen nicht das Geringste mitbekam und nur schweigend da saß. Nazir folgte seinem Blick und meinte „Ja hier gibt es so einige berühmte Leute. In den unteren Ebenen werden wir vermutlich auch noch ein paar von denen begegnen. Allerdings sind die eher weniger freundlich gesonnen.“

„Lass mich raten: Mörder, Vergewaltiger, Kriegstreiber, Diktatoren und Faschisten.“

„Ganz richtig“, bestätigte der dämonische Haushälter. „Der Abschaum der menschlichen Gesellschaft halt. Aber da sie größtenteils in Gefängnissen untergebracht sind, sollten wir nicht allzu vielen von denen über den Weg laufen. Wir laufen durch bis wir die brennende Stadt im sechsten Kreis erreichen. Dort leben meine Freunde und Geschwister und das wäre eine gute Zwischenstation, bevor wir weitergehen.“

Klingt nach viel Lauferei, dachte sich Malachiel und war eher wenig begeistert davon. Aber es ließ sich halt nicht vermeiden. Wenigstens brauchten sie dann keine unnötigen Umwege gehen, da die unteren Ebenen eigentlich etwas dünner besiedelt sein sollten. Zumindest hoffte er das, denn er hatte nicht wirklich eine Ahnung davon, wie sich die Hölle seit seinem letzten Besuch verändert hatte. Wenn ihn nicht alles täuschte, waren der erste und zweite Kreis durch einen riesigen kochenden Teer-See voneinander getrennt, den man mit dem Boot überqueren musste, wenn man keine Flügel hatte. Er erinnerte sich noch lebhaft daran, wie Luzifer und seine Gang versucht hatten, ihn in den See zu schubsen und damit auszuschalten. Natürlich hatte das nicht funktioniert, aber es hatte auch nicht unbedingt dafür gesorgt, dass sich Malachiel in der Nähe von Teer sonderlich wohl fühlte. Aber manche Dinge ließen sich halt schlecht vermeiden.

Nachdem sie an der Grenze zum zweiten Höllenkreis angekommen waren, stiegen Malachiel und Nazir vom Wagen ab. Der Halb-Seraph materalisierte ein kleines Kokstütchen und drückte es dem Psychologen mit einem Augenzwinkern und dem gut gemeinten Rat „Nicht alles auf einmal aufschnupfen, Siggy“ in die Hand und verabschiedete sich damit von ihm und dem neurotischen Mr. Lovecraft, der nun endlich seine Therapiestunde fortsetzen konnte. Zusammen mit seinen Schülern ging er zu den Docks, wo die nächste Fähre abfahren würde. Und um sich die Kräfte gut einzuteilen, entschieden sie sich, lieber mit diesem Transportmittel den Teer-See zu überqueren anstatt drüberzufliegen. Die Luft war sowieso nicht unbedingt das beste Klima dafür. Glücklicherweise war auf der Fähre nicht allzu viel los und keiner erkannte sie. Die Fahrt war erstaunlich ruhig und auch die Durchquerung der nächsten Kreise war nicht allzu schwer. Nazir fand sich hervorragend zurecht und erwies sich als ziemlich gute Führung durch die Hölle. Im Großen und Ganzen waren die zweiten bis fünften Höllenkreise nicht wirklich spektakulär. Viele Lavaflüsse, Gefängnisse mit verdammten Seelen und Schwefelgruben. Hier und da kamen sie an ein paar Siedlungen vorbei, in denen die dämonischen Vollstrecker ihre Feierabende nach der harten Arbeit verbrachten. Im fünften Höllenkreis gerieten sie in einen riesigen Auflauf, denn eine Gruppe Dämonen setzte sich lautstark für die Freilassung für Baal, Beelzebub und Eurynome ein, die nach ihrem Versuch, eine Gewerkschaft zu gründen und gerechte Löhne für die schwer arbeitenden Höllenbewohner zu fordern, in Haft genommen worden waren. Trotz der Gefahr einer weiteren Verhaftung waren die treuen Anhänger der eingesperrten Dämonenfürsten nun dabei, Unterschriften für ihre Petition zu sammeln. Wie sich durch ein paar kleine Gespräche mit den Gewerkschaftsbefürwortern herausstellte, hatten sie sich dabei Inspiration von den Umweltaktivisten und Gewerkschaftsvertretern aus dem ersten Höllenkreis geholt.

Kaum, dass sie auch nur in geringer Sichtweite waren, hatten sich die Protestler wie die Aasgeier auf sie gestürzt und sie um eine Unterschrift gebeten. Um sich schnellstmöglich wieder aus dem Staub zu machen, hatten sie mit falschen Namen unterschrieben und hastig das Weite gesucht, bevor sie noch tiefer hineingezogen wurden. Sie hatten durchaus Wichtigeres zu tun, als sich um Arbeitsrechte für Dämonen Sorgen zu machen. Aber zumindest musste man der Hölle anrechnen, dass sie in Sachen Veränderungen deutlich progressiver war als der Himmel. Nachdem sie die Demonstranten erfolgreich abgeschüttelt hatten, waren sie an der Pforte zum sechsten Höllenkreis angelangt. Eine hohe Mauer erstreckte sich vor ihnen und das Tor war fest verschlossen. Also flogen sie hinauf und kaum, dass sie die Spitze der Mauer erreichten, schlug ihnen eine starke Hitzewelle entgegen. Hinter der Mauer erstreckte sich eine riesige Stadt, die von einem riesigen Lava-See eingeschlossen war und deren Hausdächer und Bäume in Flammen standen. Der Boden glühte wie heiße Asche und die Atmosphäre war erdrückend und hochgiftig. Es war bei weitem der ungemütlichste und düsterste Ort, den Malachiel in seinem Leben gesehen hatte und jeder Nicht-Dämon wäre allein schon beim Überqueren der Mauer augenblicklich gestorben.

„Tja… da wären wir nun“, meinte Nazir mit gemischten Gefühlen. „Das hier ist meine Heimat: die brennende Stadt Dis.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Charly89
2020-11-06T20:03:17+00:00 06.11.2020 21:03
Du hast mich gekillt mit diesem Kapitel XD

Ehrlich, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Ich meine:
Malachiel als Succubus!
Nazir ist Satans Sohn!
Mutter Theresa, Freud und Lovecraft!

Ehrlich, da waren so viele wirklich großartige Momente!
Ganz großes Kino :D
Antwort von:  Sky-
06.11.2020 22:28
Ja, ich hatte mit diesem Kapitel richtig Spaß gehabt. Wenn die schon einen Abstecher in die Hölle machen, ist es die perfekte Gelegenheit, um mal ein paar berühmte Persönlichkeiten mit einzubauen. Mit Malachiel wollte ich auch zu irgendeinem Zeitpunkt mal einen Genderswap machen. Wenn es schon heißt, dass Engel und Dämonen ihre Gestalt anpassen können, sollte man das auch mal nutzen XD
Der Höllentrip wird weiterhin spannend bleiben und Freud, Mutter Teresa und Lovecraft werden definitiv nicht die letzten berühmten Persönlichkeiten sein, die auftauchen werden.


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