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Zu den Strömen von Babylon

eine schier endlose Wandung
von

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Tage 21 bis 27

GLOSSAR

 

- Lewanon(-gebire): Libanon(-gebirge)

 

- Schalom alejchem!: hebr., Friede sei mit euch!

 

- David, Schelomoh: Vater und Sohn; die beiden einzigen Könige Jisraels,  unter denen es angeblich (lt. Bibel, vgl. 2 Sam u. 1 Kön etc.) eine geeinte Monarchie gegeben haben soll, was jedoch sehr zweifelhaft ist.

 

- Jitzchak, Ja’akow: gelten zusammen mit Awraham als die Erzväter der Jisraeliten (vgl. Gen) und mithin der heute lebenden Juden.

 

- Baruch hu!: hebr., Gelobt sei er! ‚Er‘ gilt als Synonym für Adonaj / den Ewigen = Gott.

 

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Tag 21

Hannah möchte nicht ins Bett, bevor sie nicht in den Nachthimmel hat sehen können.

 

 

Tag 22

Wir haben das Lewanongebirge schon vor Tagen hinter uns gelassen. Vor uns öffnet sich eine weite Hochebene.

 

 

Tag 23

Wir übernachten heute nahe einer Ruine, die auf einem Hügel direkt am Orontes liegt. Es heißt, dass es sich bei diesen Mauerresten um einen Teil einer mehr als 1000 Jahre alten Stadt handelt, die einst Qatna hieß. Auf dem Hügel soll es einen Palast geben. Mir ist das alles egal, weil ich müde bin und schlafen möchte.

 

Außerdem hat es leicht zu regnen begonnen und meine Mutter ist verzweifelt, weil sie nicht weiß, wie sie Hannah erklären soll, dass der Blick in den Nachthimmel heute ausfallen muss. Vielleicht, so überlegt sie leise, sollte sie Hannah eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte über den großen König David und seine Heldentaten? Oder Schelomoh, seinen weisen Sohn? Oder über Ja’akow und Jizchak, die das Land Jisrael lange, bevor wir geboren wurden, mit ihren Herden durchzogen? Die gleichen Geschichten, die sie auch uns erzählte. Sie wirkt aufgelöst, weil auch sie so müde ist und nicht weiß, wie sie Hannah ruhig stellen soll.

 

 

Tag 24

Der Regen hält an.

 

Wir haben Hannah ein Tuch um den Kopf gebunden, damit sie nicht so nass wird. Die Kasdim zwingen uns, weiterzugehen. Durch den Schlamm, der bis hoch an die Rocksäume spritzt. Zu unserer Linken ist der Fluss und ich wünsche mir trotz des Regens und der kälteren Temperaturen, dass uns die Kasdim heute Abend wieder den Befehl geben, zu baden. Hannah läuft an der Hand meiner Mutter, mein Vater neben ihr. Meine drei kleineren Geschwister und ich hinter ihnen. Plötzlich sehe ich vor uns diesen Mann wieder. Er läuft am Rande, dort, wo die Kasdim entlang zu gehen pflegen. Auch Hannah hat ihn entdeckt und reißt sich von meiner Mutter los. „Der Sternemann“, ruft sie und läuft, noch ehe wir es verhindern können, zu ihm. Und er, er nimmt sie einfach auf den Arm ohne sich umzusehen. So geht er weiter mit ihr. Schon will ich los, doch meine Mutter hält mich zurück und deutet nur mit ihrem Blick nach rechts. Aus dem Augenwinkel kann ich gerade noch erkennen, dass neben dem Mann einer der Kasdim geht. Ich sehe, wie er zuerst das Wort an diesen Mann richtet und ihn dann mit Hannah auf dem Arm aus der Reihe treten lässt. Wir können nichts anderes tun, als an ihnen vorüberzugehen, so wie vor Tagen an dieser Frau, die ihre Tochter beweinte. Das Letzte, was ich sehe, ist, dass der Kasdu den Mann zwingt, Hannah abzusetzen und sich selbst niederzuknien. Und dann höre ich einen Schrei und schließe die Augen.

 

Erst viel später an diesem Tag komme ich wieder zu mir. Da sind Mutter und Vater und meine drei Geschwister. Sie laufen alle schweigend neben mir her. Ich fühle die Hand meiner Mutter in der meinen. Sie ist eiskalt. Und mir zittern bei jedem Schritt die Knie.

 

Als wir am Abend unser Zelt aufbauen, will ich etwas sagen, doch weiß ich nicht, was. Also schweige ich. Meinem Vater geht es offensichtlich ebenso, denn er tut so, als hätte er mit der Konstruktion des Zeltes zu tun. Meine Mutter hockt daneben und starrt vor sich hin. Nur Simche, mein kleinster Bruder, stellt die Frage, die wir uns alle nicht zu beantworten trauen: „Ist Hannah tot?“

 

Wir schauen ihn an und er zuckt unwillkürlich zurück.

 

„Ja, das ist sie“, flüstert mein Vater und meine Mutter schlägt die Hände vors Gesicht: „Sie war doch so klein. So klein! Zuerst ihre Eltern und jetzt sie … was musste sie auch zu diesem Mann gehen. Hätte ich sie doch nur besser festgehalten!“

 

Sie jammert und schlägt die Hände vors Gesicht.

 

„Es ist nicht deine Schuld“, versucht mein Vater sie zu beruhigen.

 

Ich halte es nicht mehr aus, muss ins Zelt. Ich greife mir mein Bündel, presse es mir aufs Gesicht und weine. Endlich kann ich, endlich darf ich. Immer wieder kehren meine Gedanken zu diesem Moment zurück, da Hannah zu diesem Mann gegangen, er sie hochnahm, einige Schritte mit ihr ging, um dann von dem Kasdu aus der Reihe geholt zu werden. Warum tun sie uns das an? Warum sind sie so grausam? Nur weil ein kleines Mädchen aus der Reihe tritt und ein Mann sie auf den Arm nimmt?

 

Es ist reine Willkür, mit der sie morden. Reine Willkür. Es hätte jeden von uns treffen können. Jeden. Ich weiß, dass sie uns, die wir weiter gehen, nicht nur demütigen, sondern auch brechen wollen. Brechen. Ich weiß es. Ich schniefe in mein Bündel. Es ist nass von meinen Tränen.

 

Ich höre Mutter neben mir sprechen. Sie sagt etwas. Zu mir. Aber ich kann nicht verstehen, was. Wieder sagt sie es und dann spüre ich eine Berührung am Arm. Sie ist mir nah, das weiß ich, denn ich spüre ihren Atem auf der Wange.

 

„Beruhige dich, es ist alles gut“, sagt sie und ich fahre hoch.

 

„Alles gut? Alles gut?“

 

Sie nickt nur, dann erhebt sie sich und geht zum Zelteingang. „Komm!“

 

So einen Tag wie diesen möchte ich nie wieder erleben, und doch weiß ich, dass es noch Dutzende solcher Tage geben wird. Tage der Verzweiflung, der Zermürbung. Jetzt, da ich erneut auf meinem Lager liege, treten mir wieder Tränen in die Augen. Hannah ist nicht tot. Hannah lebt. Sie liegt in meinem Arm und schläft. Noch brennt meine Öllampe, sodass ich sie in ihrem Schlaf betrachten kann. Ihre leicht gewölbte Stirn, die geschlossenen Augen, die langen schwarzen Wimpern, den geschwungenen Mund und die Bäckchen. Ich streiche ihr mit einem Finger über die Stirn und schniefe. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hinausgegangen, denn plötzlich ist mir hier im Zelt alles zu klein. Ich habe das Gefühl, zu ersticken, wenn ich nichts tue. Aber ich darf nichts tun, denn die Kasdim sind uns nah. Sie überwachen uns. Wer sein Zelt verlässt … Ach, verdammt! Ich hasse dieses Leben. Ich hasse diese Angst.

 

Vielleicht hätte ich vorhin einfach loslachen sollen, als dieser Mann mit Hannah auf dem Arm vor unserem Zelt stand und sagte: „Der Kasdu packte mich am Ohr und fragte mich, ob dieses kleine Mädchen meine Tochter sei. Ich bejahte und dann fragte er, wo ihre Mutter sei und ich sagte …“ Er unterbrach sich und deutete auf mich und senkte den Blick. „Es tut mir leid“, fügte er hinzu. Niemand sagte ein Wort. „Und dann fragte mich der Kasdu, warum wir dann nicht zusammen gehen würden und ich sagte ihm, dass wir uns gestritten hätten und er sagte nur: ‚Vertrag dich wieder mit ihr, sonst bringe ich dich um.‘ Das ist es. Mehr ist nicht geschehen. Nur, dass mich der Kasdu lange daran hinderte, weiterzugehen und wir dann den Weg fast gerannt sind.“

 

Wir standen wortlos vor dem Mann, der über und über verdreckt war.

 

„Es tut mir so leid“, wiederholte er.

 

Mein Vater schüttelte den Kopf, trat einen Schritt auf den Mann zu und reichte ihm die Hand.

 

„Schalom, Bruder. Heute ist ein Glückstag für uns. Du hast uns unsere Tochter wiedergebracht“, sagte er und legte ihm die Hand auf die Schulter.

 

„Ich bin Jehoschua, das ist Jedidah, meine Frau und das sind Michal, Jochanan, Schimschon und Simche, meine Kinder.“

 

„Schalom, Bruder, ich bin Jechonja.“

 

„Wie der Sohn unseres Königs Jehojachim?“, fragte mein Vater.

 

Er nickte. „Nur ein paar Tage älter als der“, lachte Jechonja. „So, und jetzt werde ich gehen. Schalom alejchem!“

 

„Nichts da, du isst mit uns, denn du bist ab heute unser Bruder“, erwiderte mein Vater.

 

„Danke“, begann Jechonja und lächelte. „Und es tut mir wirklich leid, euch da mit hineingezogen zu haben. Ich hätte ja auch sagen können, dass ich der Großvater oder Onkel von Hannah bin“, fügte er hinzu, sah sich um und fuhr sich durchs leicht ergraute Haar. In der Tat schien er um einiges älter als meine Eltern zu sein. „Aber darauf bin ich leider in diesem Moment nicht gekommen“, beendete er seinen Satz.

 

„Das macht doch nichts“, erwiderte mein Vater und zuckte mit den Schultern. „Baruch ha Schem! Ihr beide lebt!“

 

„Und Hannah? Sagte sie nichts?“, fragte meine Mutter.

 

„Nein, sie war ganz still. Ein kluges, kleines Mädchen.“

 

„Wir haben sie erst vor einigen Tagen aufgenommen, weil ihre Eltern umgebracht wurden“, sagte mein Vater.

 

Jechonja nickte nur und nahm einen Bisschen, dann holte er tief Luft, gab ein kleines Seufzen von sich und sagte: „Wir haben Glück.“

 

„Was? Glück?“, ließ ich mich vernehmen und er sah mich einen Moment lang an.

 

„Ja, Michal, Glück. Wie dein Vater schon sagte, leben wir. Immerhin hätte es ja auch anders kommen können.“

 

 

Tag 25

Jechonja ist heute den ganzen Weg mit uns gegangen und nahm Hannah auch ab und zu hoch, wenn sie nicht mehr laufen mochte. Einmal schien es mir auch so, als sei sie auf seinem Arm eingeschlafen. Es besteht kein Zweifel, sie mag diesen Mann. Sie nennt ihn Konja, weil sie das Jechonja noch nicht hervorbringen kann. Meine Mutter nennt sie Dida und meinen Vater Schua. Ich bin Kal und meine Brüder Schon und Hannah. Immer wenn sie Jochanan anspricht, dann lacht sie: „Hannah wie ich.“ Und der findet das gar nicht toll, wie ein Mädchen zu heißen und verkriecht sich dann immer hinter unserer Mutter. Nur Simche heißt Simche.

 

 

Tag 26

Ich habe meine Eintragung des vergangenen Tages noch einmal gelesen und muss noch zwei Dinge hinzufügen: Am Abend war der Himmel wieder klar und Hannah stand wieder neben Jechonja … und ich fühle mich seit langer Zeit wieder unbeschwert.

 

Wieder regnet es, nur diesmal so stark, dass wir nicht weiterziehen müssen. Die meisten nutzen die Zeit, um sich auszuruhen. Auch ich werde das tun, doch vorerst möchte ich einen Blick hinaus werfen.

 

Unser Lager befindet sich auf einer Art Hochufer, das den Blick auf den Verlauf des Flusses freigibt, der sich wie eine Schlange durch das Land hindurchbewegt. Ein seltsamer Anblick. Ich stehe nur da und weiß nicht, was ich denken und fühlen soll. Aber vielleicht kommt es darauf auch nicht an. Ich hole tief Luft. Ich bin hier. Ich lebe. Hannah lebt. Meine Eltern leben. Meine Geschwister ebenso und auch Jechonja. Dass es noch immer regnet, meine Sachen schon fast durchnässt sind, stört mich nicht. Ich bleibe stehen, dann setze ich mich auch und fahre mit der Hand durch die lehmige Erde nahe dem Fluss. Sie ist weich und klebt leicht. Ich nehme ein wenig in die Hand und beginne es zu formen, dann hebe ich es an meine Nase. Es riecht fremd, aber nicht abstoßend. Es ist das Land, in dem ich mich gerade befinde, am Orontes, der träge dahinfließt. Der Regen steht wie eine gläserne Wand über diesem Fluss und dahinter erhebt sich dunkel das Gebirge. Ein Anblick, den ich wohl meinen Lebtag nicht vergessen werde.

 

„Michal“ höre ich es rufen und wende mich nur widerwillig um. Da stehen Vater, Jechonja und meine Brüder. Ein jeder eine Schnur in der Hand.

 

„Die Kasdim haben uns erlaubt, zu fischen und uns frei zu bewegen.“

 

„Wirklich? Ist das wahr?“

 

Vater nickt.

 

„Wie kommen sie dazu?“

 

„Ich weiß es nicht“, erwidert er.

 

„Vielleicht wollen sie zur Abwechslung einmal fröhliche Gefangene sehen?“, sagt Jechonja und lächelt.

 

Ich sehe ihn einen Moment lang an und er nickt mir zu.

 

Gemeinsam steigen wir vom Hochufer zum Fluss hinab. Wir stehen alle klitschnass am Wasser, jeder eine Angel in der Hand und ich begreife, dass hier gerade etwas ganz Seltsames geschieht, denn unter normalen Umständen wären wir bei Regen nicht draußen. Aber jetzt, jetzt ist alles anders. Und wenn ich mich am Ufer umsehe, dann bemerke ich da noch vielmehr Menschen, die alle fischen. Aufgereiht wie die Perlen an einer Schnur, so stehen wir da. Und auch ihnen ist es ganz egal, ob sie nass werden. Und ehe ich’s mich versehe, bücke ich mich und nehme mir eine Hand voll Lehm, forme ihn und werfe ihn ins Wasser.

 

„Na, he, was machst du denn? Vertreibst uns ja alle Fische“, höre ich meinen Vater rufen, doch mich hält es nicht mehr. Und obwohl ich Angst davor habe, dass die Kasdim kommen könnten, um uns etwas anzutun, werfe die Angel weg und beginne zu springen, dann renne ich los und schließlich höre ich mich auch schreien. Ich kann es nicht mehr länger anhalten. Es muss raus! Und ich schreie so lange und laut, bis ich nicht mehr kann und mir die Tränen in die Augen schießen, dann lasse ich mich einfach fallen. Ganz egal, ob es glitschig ist, denn dreckig und nass bin ich sowieso schon. Und ganz egal, ob sie Kasdim jetzt kommen und mich packen! Sollen sie doch! Sollen sie mich an den Haaren wegziehen … Ich wühle im Lehm herum und sehe meinen Händen dabei zu, wie sie immer tiefer gleiten. Dann packe ich den Lehm, forme kleine Klekse und werfe sie, egal wohin, bis ich plötzlich von einem ebensolchen Kleks getroffen werde und innehalte. Simche steht vor mir, feuerrot im Gesicht und hinter ihm erkenne ich Jochanan und Schimschon. Plötzlich umringen sie mich und kreischen und rufen sich etwas zu und schon spüre ich viele Klekse auf der Haut. Ich hab gar nicht so viele Hände, wie ich Klekse formen müsste, um diese Übermacht abzuwehren. Ich schreie und werfe die Arme wild in die Luft. Dann schnappe ich mir Simche und raufe ihn, bis er laut krakeelt.

 

Als wir nach einer Weile wieder bei meinem Vater und Jechonja angelangt sind, schauen die uns nur mit großen Augen an. Jechonja findet die Sprache als erster wieder: „Und was, wenn uns die Kasdim jetzt nicht erlauben, ins Wasser zu gehen?“

 

Einen Moment lang herrscht Stille, dann beginnen wir alle gleichzeitig zu lachen.

 

„Dann ist das die schlimmste Folter!“

 

Wir sehen uns alle an, denn wir wissen, dass dieser Witz sehr bitter schmeckt.

 

„Na, zum Glück regnet es!“, kollere ich daraufhin los und schon wieder hüpfen wir umher und jagen einander. Zum Glück hatten mein Vater und Jechonja schon einige Fische gefangen, denn jetzt ist’s vollkommen aus mit der Fischerei.

 

Wir alle wissen genau, dass wir auch jetzt, da wir so ausgelassen sind, in Todesgefahr schweben. Aber das kümmert uns nicht. Nicht in diesem Moment. Und so als hätten die Kasdim die Notwendigkeit eines reinigenden Bades eingesehen, geben sie wenige Augenblicke später den Befehl, dass das Angeln einzustellen sei und jedermann zum Baden an den Fluss treten solle, Männer, Frauen, Kinder. Alle zusammen. Auch die sich nun formierende Reihe hat keinen Einfluss auf meine Stimmung. Mich kann heute nichts schrecken und so entledige ich mich kurzerhand meiner schmutzig verklebten Kleider und stelle mich neben meine Mutter, die Hannah an der Hand hält. Einen Moment später dürfen wir alle ins Wasser gehen. Und auch wenn ich Angst habe, kann ich mich nicht halten und renne los und lasse mich flach ins Wasser fallen. Dann schöpfe ich mir Wasser und trinke es. Oh, wie gut das schmeckt! Wie gut das tut! Davon brauche ich mehr. Und schon schöpfe ich mir wieder Wasser, trinke und lasse meinen Blick schweifen. Überall sehe ich Menschen, die sich waschen. Und dann sehe ich auch Jechonja. Wieder steht er etwas abseits und lässt seine Hände durchs Wasser gleiten. Diesmal überlege ich nicht lange und paddle zu ihm hinüber.

 

„Jechonja, was machst du?“, rufe ich. Er wendet sich um und lächelt.

 

„Wonach sieht’s denn aus?“

 

Ich zucke mit den Schultern. „Weiß nicht.“

 

Er erwidert nichts, schmunzelt nur und lässt seine Hände wieder durchs Wasser gleiten. Ich beobachte ihn.

 

„Versuch’s mal“, sagt er da und kommt mir etwas näher.

 

„Ja?“

 

Er nickt, macht es mir wieder vor und ich folge ihm. Unwillkürlich schließe ich die Augen und lasse meine Hände wieder ganz leicht über die Wasseroberfläche gleiten und spüre wie weich es ist, aber da ist noch viel mehr. Noch viel mehr. Ich spüre das Wasser. Es trägt meine Hände. Ja, ich muss schon etwas drücken, um sie untertauchen lassen zu können. Das fasziniert mich. Bisher war Wasser nur Wasser gewesen und jetzt scheint es mich förmlich zu streicheln und lässt meine Hände nicht untergehen! Als ich die Augen wieder öffne, steht Jechonja lächelnd vor mir und schaut mich mit leicht schräg gelegtem Kopf an.

 

„Na, hat es dir sein Geheimnis verraten?“

 

Ich nicke.

 

„Das ist schön, sehr schön, dann kannst du dich ja jetzt waschen.“

 

„Bin ich noch immer dreckig?“

 

„Aber ja, hier und hier.“

 

Er deutet sich auf Stirn und Wangen.

 

„Du auch“, entfährt es mir und ich grinse.

 

„Wo?“

 

„Genau auf der Nasenspitze.“

 

Der Tag ist ein Wunder! Anders kann ich es mir nicht erklären, dass sich alles so gut anfühlt. Nach dem Baden – der Regen hat aufgehört – sitzen wir alle dick angepackt vor unseren Zelten und braten unsere selbstgefangenen Fische und trinken dazu das köstliche Wasser des Flusses. Später spielen wir Murmeln und wärmen uns am Feuer. Den Gedanken, dass wir den Kasdim auch jetzt vollkommen ausgeliefert sind, verdränge ich. Den will ich heute – jetzt – nicht zulassen. Wir sitzen alle, die ganze Familie und die kleine Hannah und Jechonja um ein großes, in den Sand gemaltes Quadrat und versuchen mit etwas Geschicklichkeit kleine Lehmklumpen in Form von Murmeln in die vorgegeben Mulden zu werfen.

 

Wenn ich mich recht besinne, ist das der erste Moment auf der Reise, da wir als Familie beisammen sind und miteinander lachen können. So fern der Heimat sitzen wir bis in den Abend hinein am Feuer und reden und lachen. Es ist fast genauso wie in Jeruschalajim, als ich mit meiner Freundin Hannah und deren Bruder Tovia durch die Stadt zog und abends total müde wieder nach Haus kam. Dort saßen wir dann manchmal noch zusammen und unterhielten uns bis tief in die Nacht. Ich sehe in die vom Feuer hell erleuchteten Gesichter meiner Familie. Da ist Ima, die die schon schlafende Hannah auf dem Schoß hält. Neben ihr Abba, der sich mit Jechonja unterhält. Dieser Jechonja. Ihn zu fragen, woher er genau kommt und was er in Jeruschalajim getan hat, verbietet die Gastfreundschaft. Wenn er nicht von allein davon erzählt, werden wir es nicht erfahren. Aber ich ertappe mich dabei, mich zu fragen, was er gemacht haben könnte? Doch ich komme zu keinem Schluss. Nur eines weiß ich mit Sicherheit: Seit er bei uns ist, hat sich unser aller Leben geändert. Er bemerkt, dass ich ihn betrachte und nickt mir übers Feuer lächelnd zu. Er besitzt einen freundlichen und wachen Blick.

 

 

Tag 27

Wegen starker Regenfälle sind wir noch immer nicht weitergezogen. Wir nutzen die Zeit zum Ausruhen und Schlafen.



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