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Nacht im Wunderland

Gespräch mit einem Schatten
von

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Geschichten sind wichtig

Der Gast weint – hemmungslos. Der Körper bebt und zittert, das Schluchzen ist laut und verzweifelt.

Hatch war der erste, bei dem er das Gefühl hatte, das er sich um ihn kümmert. Dass er etwas wert ist. Der Mann mit Hut war nicht nur Mentor, er war auch Freund und … irgendwie auch Vater. Bei ihm hatte John das Gefühl von Wärme, wie er es ganz früher bei seiner Mutter hatte, damals, als er ihr noch wichtiger war, wie der nächste Schuss.

John hat es bildlich vor Augen.

Er war guter Dinge als in die kleine Halle gegangen war. Er wollte Hatch sagen, dass er den Platz im Wohnheim hatte, dass er einen Job in Aussicht hatte. Als er um die Ecke ging, blieben seine Gedanken stehen, die Welt stoppte und alles zerfiel.

Der kalte Körper lag wohl schon ein paar Tage dort. Die Haut war fahl, gräulich. Insekten hatten begonnen sich über den Kadaver herzumachen.

Der junge Mann hatte das Gefühl sein Herz schrumpfte zusammen und seine Lungen schienen nicht richtig zuarbeiten. Er fiel auf die Knie und schrie …

„Den Hasen?“, fragt der Gastgeber hörbar irritiert nach.

Der Besucher schnieft und nickt. „Ja“, krächzt er. „Er hat ihn gegessen – oder zumindest angefangen.“ Langsam setzt sich John wieder auf. Er zieht die Knie an den Körper und schlingt die Arme darum. „Der Hase lag dort, dass Fell war teilweise abgezogen und eines der Hinterbeine fehlte. Es … es lag neben Hatch, es waren Bissspuren am Fleisch.

Der Notarzt meinte später, er hätte sich daran verschluckt und wäre erstickt. Wäre … wäre ich da gewesen, hätte ich davon abhalten können, oder wenigsten helfen können, oder …“ Wieder weint John und schluchzt. Er vergräbt das Gesicht hinter seinen Knien und wiegt sich leicht vor und zurück.

Der Besucher verliert sich zusehens in seinen Erinnerungen. Sein Blick ist entrückt und er summt.

Der Gastgeber scheint ebenfalls abwesend. Er hat die Augen geschlossen und lauscht dem Summen.
 

Gemächlich vergeht die Zeit. Moment um Moment vergeht sie und kehrt nicht zurück. Unaufhaltsam schreitet sie voran.
 

John wiegt sich immer noch. Vor, zurück, vor, zurück ...

Jack liegt auf dem Sessel, die Augen geschlossen und rührt sich nicht.

Plötzlich hält der Besuch inne und hebt den Kopf. Sein Blick geht immer noch ins Leere. „Du bist dran.“

Der Gastgeber öffnet die Augen, erst das eine, dann das andere. Er mustert seinen Gast eingehend und setzt sich langsam auf. „Nun gut.“ John streckt sich ausgiebig. „Es war einmal eine Raupe. Sie war klein und dick und hässlich. Doch die Zeit war ihr hold. Sie wurde schön - unbeschreiblich schön. Ein Schmetterling, filigran und bunt. Ihre Flügel schimmerten in allen Farben.

Ein Sturm kam auf und fegte den Schmetterling davon. Er strudelte im Wind und als es vorbei war, war er in einer fremden Stadt. Der Schmetterling wusste weder ein noch aus.

Eines Tages traf sie einen Freund - ein falscher Freund. Er säuselte sie wäre sooo hübsch. Ja, ja. Sie könnte tanzen und Geld verdienen. Und sie tat es ...“

John schluckt. Molly? Redet er von Molly?

„Sie tanzte und tanzte. Sie verdiente viel Geld. Doch der Freund meinte es nicht gut mit ihr. Er brachte sie ins Paradies - in eine Welt voller bunter Farben. Eine Welt ohne Schmerz und Dunkelheit.

Der Schmetterling konnte nicht mehr ohne das Paradies leben. So tanzte sie nicht mehr für sich, sondern für das Paradies.“

Der Gast keucht kurz. Definitiv redet John von Molly, aber ... Warum?

„Die Zeit, die der Raupe einst hold, wurde nun ihr Feind. Sie ließ den Schmetterling hässlich werden - so hässlich, dass ihn niemand mehr tanzen sehen wollte.

Der Schmetterling wurde davongejagt. Doch in der dunkelsten Stunde fand sie etwas wieder - einen Freund. Ein Freund aus alten Tagen und ihrer alten Welt.“

„Warum erzählst du mir das?“ Die Stimme des Gastes ist durch das Weinen fürchterlich kratzig. Immer noch starrt er vor sich hin.

Der Gastgeber springt geräuschlos von dem wuchtigen Sessel. Ganz langsam schleicht er um John herum und setzt sich vor ihn. „Warum?! Warum nicht?“

Der Besucher braucht einen Moment, bis er seinen Blick auf das Tier fokussiert hat. John huscht augenblicklich ein Schauer über den Rücken. Die schwarzen Augen sind groß und klar, der Mann hat das Gefühl er könnte das Universum darin sehen. Er verliert sich mehr und mehr in dieser unendlichen Dunkelheit.

„Nun?“

John zuckt zusammen. Er schüttelt den Kopf um sich zu sortieren. „Ähm. Was hast du davon, mir diese Dinge zu erzählen?“ Er begreift es nicht. Was hat Jack davon, wenn er diese Geschichten preis gibt?

Das Tier grinst geheimnisvoll. „Vielleicht möchte ich, dass du sie erfährst. Ja, ja. Vielleicht sind sie ... wichtig.“

Der Gast mustert Jack und runzelt die Stirn. Wichtig? Wieso sollten sie wichtig sein? „Wichtig ... für ... mich?“, fragt er unsicher.

„Uns, mein Lieber. Uns“, schnurrt der Gastgeber sinnlich.

John öffnet den Mund um etwas zu sagen, aber kein Wort verlässt seine Lippen. Seine Augen folgen unfreiwillig der Bewegung des Schweifs des Tieres. Gemächlich schwingt dieser hin und her.

Hin, her.

Hin und her.

Hin ... und ... her.

Hin ... ... und ... ... her.

„Uns“, flüstert John völlig abwesend.

„Ja, ja. Du und ich. Wir sind verbunden. Gehören zusammen. Ich und du.“

„Zusammen. Wir ... Was?!“

Jack hat aufgehört den Schweif zubewegen und der Gast ist wieder im 'hier'.

„Worum ging es?“, hakt John verdutzt nach.

„Geschichten sind wichtig - sie sagen uns wer wir sind.“ Das Grinsen des Tieres ist breit und selbstgefällig.

Der Besuch beginnt zu lachen; laut, schrill und hysterisch. Die Augen scheinen ihm fast aus dem Kopf zu quellen und sein Gesicht wirkt grotesk verzerrt.

Der Gastgeber verzieht das Gesicht. Er legt die Ohren an und schüttelt den Kopf. Wütend murrt er und erhebt sich. Verfolgt von dem bizarren Gelächter seines Besuchers schleicht er davon und verschwindet in den Schatten.

John lacht … und lacht … und lacht.

Geschichten sagen uns wer wir sind! Was soll der Quatsch?! Seine Mutter hat Geschichten erzählt; und was für welche. Eine bizarrer als die andere. Was sagt das über sie? Das sie verrückt ist? Und Jack; was für Geschichten erzählt er? Genauso absurde Storys und …

Der Gast stutzt.

Aber sie sind wahr – egal wie fantastisch sie sind. Die Geschichte von Molly, die von seiner Mutter wahrscheinlich auch …

„Jack?“

„Hm?“, säuselt es quer durch den Raum und wieder zurück.

„Lebt sie noch?“

Es kichert, leise und ein wenig böswillig. „Quid pro Quo, mein Lieber. Du bist dran!“

Der Besucher schnauft und sinkt merklich in sich zusammen. Wovon soll er erzählen? Davon das alles den Bach runter ging? Nach Hatchs Tod war ihm alles egal gewesen; er hatte den Job nicht angertreten, er hatte den Platz im Wohnheim verloren, er hatte … Molly.

„Ganz genau“, haucht es dicht an Johns Ohr.

Panisch schüttelt der Gast den Kopf. „Bitte nicht“, wimmert er und versteckt das Gesicht wieder hinter den Knien. Während ihm wieder Tränen über die Wangen laufen, spürt er wie sich das Tier an ihn schmiegt und um ihn herumschleicht.

„Johnny Boy“, schnurrt es schmeichelnd.

Langsam versiegen die Tränen. Der Besucher schluchzt noch einige Male und atmet kurz durch. „Ich bin aus dem Wohnheim geflogen. Wochenlang bin ich umhergeirrt. Ich war wütend - fürchterlich wütend. Kopflos habe ich mich in jede Auseinandersetzung gestürzt. Blut und Schmerz beherrschte meine Welt. Und ich wollte es so. Ich ... wollte leiden, weil ich Hatch im Stich gelassen hatte.

Molly hat mich dann irgendwann in einer Gasse gefunden. Ich war kein Mensch mehr. Ich ...“, John stockt. Dunkle Bilder und Erinnerungen laufen in seinem Inneren ab; so viel Leid und Elend. „Mein Gesicht war zugeschwollen und voller verkrusteten Blut und Rotz. Mein Körper war grün und blau. Mein ... mein Hintern war verstopft mit einem Pfropfen aus Scheiße, Blut und Sperma.“ Der Gast holt geräuschvoll Luft, bevor er fortfährt, „Ich war dem Tod so nah - näher wie dem Leben und es war gut so. Es sollte so sein. Molly ... nahm mich mit.“ Erneut rinnen Tränen über die geröteten Wangen des Besuchers. „Sie hat mich in eine billige Absteige gebracht und mich gebadet. Sie hat den ganzen Dreck von mir abgewaschen und das zum Vorschein gebracht was sich darunter versteckt hatte. Ein kleiner verlorener Junge, der nichts mit sich oder der Welt anzufangen wusste ...

Molly pflegte mich gesund - zumindest körperlich. Sie versuchte mir ins Gewissen zu reden. Ich ertrug es irgendwann nicht mehr und ...“ Noch mehr Tränen bahnen sich ihren Weg. „Ich schlich zu ihr. Es war dunkel im dem Zimmer und stickig. Der schwere Geruch ihrer Vanille-Zigarillos lag in der Luft.“ Die Stimme des Gastes word höher und überschlägt sich beinahe. „Ich hatte das Kissen in der Hand. Mehrere Minuten stand ich da und sah sie an, dann drückte ich es ihr ins Gesicht. Sie wehrte sich kaum; es war ganz leicht. Als ich das Kissen wegnahm sah sie friedlich aus. Ich glaube sie wollte es vielleicht sogar. Sie war nicht glücklich in dieser Welt.“

„Man ist nie glücklich in einer fremden Welt.“ Jack lacht amüsiert. „Bald geschafft, ja, ja“, flüstert der Gastgeber und schnurrt während er sich wieder auf dem wuchtigen Sessel niederlässt.

Der Besucher sieht verwirrt zur Seite. Geschafft? Was meint er damit? Unsicher verengt John die Augen. Nein! Er wird sich nicht wieder an der Nase herum führen lassen. „Quid pro Quo, mein Lieber. Du bist dran!“, äfft er Jack nach.

Böse funkeln die schwarzen Augen und die Kerzen beginnen erneut zu flackern. Ganz langsam geht eine nach der anderen aus, bis nur noch die Kerze in der Laterne neben dem Tisch leuchtet. Der komplette Raum ist in tiefe Finsternis gehüllt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das Kapitel ist etwas kürzer, das liegt an zwei Dingen:
1. Ich habe mich dagegen entschieden Mollys Ableben ausführlicher zubeschreiben, die Gründe dafür liegen im nächsten Kapitel.
2. Muss ich an dieser Stelle 'Luft holen' für das was folgt. Wir nähern uns dem Finale und somit dem Ende. Komplett anzeigen

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