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Morgenstern

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nachdem die vorherigen Kapitel alle so unverschämt lang waren - und das hier ist in dem Punkt auch nicht besser - gelobe ich nun Besserung und werde mich künftig kürzer fassen.

In diesem Kapitel wird nicht einer, werden nicht zwei, sondern gleich drei neue wiederkehrende Charaktere eingeführt. Klotzen, nicht kleckern. 😁
Außerdem scheint das Baby, das unsere Helden gefunden haben, nicht ganz normal zu sein. Komplett anzeigen

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Die Faust des Nordens


 

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Kühn und unerschrocken sah Henrik dem kleinen Satansbraten in die Augen. Das winzige Etwas zappelte wild und ungestüm mit Armen und Beinen und schrie aus Leibeskräften. Beinahe unbegreiflich, wie ein so kleines Geschöpf derart monströsen Krach verursachen konnte. Was im Namen des namenlosen Gottes konnte er jetzt schon wieder wollen? Gefüttert hatte er ihn schon, das konnte es nicht sein. Auf einmal dämmerte Henrik Schlimmes. War es im Bereich des Möglichen, dass er ihn schon wieder wickeln musste? Das sowas immer nur dann passierte, wenn er an der Reihe war…

Die anderen durchkämmten derweil die Wildnis nach etwas Essbarem. Der Weg nach Lescar entpuppte sich als länger als gedacht. Widrige Witterungsbedingungen zwangen die Gruppe, eine längere Pause einzulegen. Die Vorräte neigten sich dem Ende entgegen und weit und breit kam kein Dorf in Sicht. Die Stadt war ebenfalls noch ein gutes Stück entfernt. Darum ging sogar Annemarie mit, weil sie unbedingt helfen wollte, auch wenn sie nicht mehr beitragen konnte, als ein paar Beeren und Pilze zu sammeln. Die beiden Fremden folgten ihnen ebenfalls. Henrik ließen sie mit dem Säugling allein.

Wunderbar!

Vorsorglich rümpfte der Braunhaarige die Nase, während er damit begann, die Genitalien des Kindes freizulegen. Kaum dass die Wickel entfernt waren, stellte er fest, dass seine Vermutung falsch gewesen war. Der Kleine hatte sich nicht beschmutzt. Schnell bedeckte Henrik die Scham des Kindes wieder und begann nachzudenken.

Seine Mahlzeit hatte er erhalten.

Da ihm leider keine Amme zur Verfügung stand, musste Henrik ihn so füttern, wie es in so einem Fall üblich war. Er vermengte Brotkrumen mit abgekochter Milch und stellte daraus einen Brei her. Vorsichtig hatte er es dem Säugling eingeflößt. Danach war der Schreihals eine Weile ruhig gewesen, bis er aus heiterem Himmel anfing zu heulen.

Hatte er vielleicht einen Fehler gemacht?

Der Krach, den der Säugling fabrizierte, war kaum noch auszuhalten. Wie sollte man da in Ruhe nachdenken? Aber dann kamen ihm die Worte von Clay in den Sinn. Vielleicht die letzte Rettung für seine strapazierten Nerven. Immerhin schrie der Satansbraten schon seit einer geschlagenen halben Stunde und hielt einfach nicht den Rand! Eine Symphonie des Schmerzes, die Henriks Ohren bis zum Ertauben quälten.

Manchmal kommt es vor, dass Säuglinge bei der Fütterung zu viel Luft verschlucken, hatte Clay gesagt. Dann quält sie der wellenartige Schmerz der Koliken, was sie zum Schreien veranlasst. Den Bauch zu massieren, verschafft Abhilfe - sowohl dem betroffenen Baby als auch den Nerven derjenigen, die diesen Zinnober erdulden müssen.

Henrik beugte sich herunter und legte den Bauch des Kindes frei. Vorsichtig rieb er im Uhrzeigersinn auf dem zarten Geschöpf herum.

Die hektischen Bewegungen des Säuglings wurden weniger und der Junge schien sich endlich zu beruhigen.

Henrik fiel ein Stein vom Herzen. Würde der Junge noch schreien, wenn die anderen wiederkehren, müsste er sich bestimmt wieder einiges anhören.

Plötzlich entwich dem Kleinen ein Bäuerchen.

Eigentlich eine völlig normale Sache…

In diesem Fall entwichen jedoch keine Gase seinen Mund. Auch nicht der Brei, mit dem Henrik ihn gefüttert hatte. Stattdessen breitete sich ein kleiner rötlich-gelber Feuerball aus, der Henriks Gesicht einhüllte und ihm die Haarspitzen versenkte, bevor er sich auflöste.

Entsetzt starrte der verrußte Braunhaarige auf das Kind.

Was war gerade geschehen?
 

Einige Tage zuvor.

Alaric sah kein Licht mehr am Ende des Tunnels. Nicht nur, dass er von Zeit zu Zeit immer dann von Halluzinationen geplagt wurde, wenn er in den Spiegel sah, nein nun türmten sich obendrein die Leichen, deren Ableben es zu untersuchen galt. Wo er auch hinblickte, Arbeit grinste ihm frech ins Gesicht.

Ihm entwich ein Seufzer.

Noch immer wusste er nicht, was Lezabels Gatte ihm mitteilen wollte, bevor er ihn erhängt in der Kerkerzelle vorfand.

Natürlich wurde der Tote in Augenschein genommen.

Alaric entdeckte bei seiner Untersuchung des Tatort keine Unstimmigkeiten mit dem suggerierten Selbstmord des Diplomaten.

Am Hals fanden sich Spuren, die mit einer Selbststrangulation einher gingen. Die Äderchen in den Augen waren geplatzt. Dies passiert, wenn jemandem gewaltsam die Luft zum Atmen genommen wird. Auch bei einem Selbstmord kein Widerspruch. Alaric hatte es schon oft bei zum Tode verurteilten Verbrechern gesehen, die ihr Ende durch den Strang fanden. Die Schlaufe setzt unter dem Kinn an und bildet nach oben zeigende Strangmarken, weil das Gewicht den Körper zum Boden hinzieht. Auch bei dem Toten konnte Alaric diese Spuren ausmachen. Zusätzlich entdeckte Alaric Abdrücke, die ihn an die Finger einer Hand erinnerten. Allerdings waren sie nicht die Todesursache. Bei einer Leiche verstärkten sich Blutergüsse und diese Abdrücke waren schwach. Daraus schloss Alaric, dass bereits eine Heilung der gequetschten Blutgefäße begonnen hatte. Aber er wollte einfach nicht glauben, dass Belanor sich feige aus der Verantwortung stahl.

Vielleicht war die Szenerie gestellt?

Einen Giftanschlag konnte er in diesem Fall nicht ausschließen.

Aber es müsste ein schnell wirkendes Gift gewesen sein, das keine äußeren Anzeichen zurück ließ, wie beispielsweise Schaum vor dem Mund oder einen seltsamen Geruch, denn der Täter oder ein Komplize mussten die Zeit haben, den Ort des Geschehens so zu inszenieren, wie Alaric es vorgefunden hatte. Eine Substanz, welche alle diese Kriterien erfüllte, war ihm allerdings nicht geläufig.

Sein Leibarzt wusste ebenfalls keinen Rat - vielleicht dem geschuldet, dass er sich hauptsächlich damit beschäftigte, Leben zu bewahren und es nicht zu nehmen.

Alaric wäre besser beraten, einen professionellen Mörder zu befragen.

Unter den schützenden Flügeln eines seiner Verwandten war der Täter unerreichbar für ihn und Alaric sah sich aus Frust und Verzweiflung gezwungen, seltsame Wege einzuschlagen.

Es gab diesen Kult, der eine bösartige Gottheit verehrte.

Die Anhängerinnen dieser Sekte wurden überall in der bekannten Welt geschätzt als zuverlässige Agentinnen, die ihren Auftrag, sei es Spionage oder Meuchelmord, stets erfüllten und niemals einen Kontrakt offen ließen. Wenn jemand wusste, wie man ohne Spuren mordet, dann doch wohl sie.

Der Prinz filzte die alten Schriften nach einem berüchtigten Ritual, mit dem mutmaßlich Kontakt mit der bösen Gottheit hergestellt werden konnte. Schließlich konnte er nicht einfach den Bibliothekar danach suchen lassen, ohne unangenehme Fragen zu provozieren. Niemandem war es bisher gelungen in Erfahrung zu bringen, wo dieser Kult seine Zufluchtsstätten hatte und gefangene Attentäterinnen verrieten nichts, egal wie schlimm man sie folterte. Darum galt dieses Ritual als einzige Möglichkeit, die Dienste der Schwesternschaft der Schatten anzufordern. Alaric war ein rational denkender Elf. Aus diesem Grund hatte er sich noch nie damit auseinandergesetzt.

Aber seine Mittel waren ausgeschöpft.

Die staatlichen Organe gaben nichts mehr her.

Er war verzweifelt.

Einen Kult von Mörderinnen zu Rate zu ziehen, schien seine einzige Wahl zu sein.

Endlich!

In einem dicken, alten Buch wurde er fündig.

Nachdem er die zentimeterdicken Verschmutzungen davongeblasen und sich vermutlich eine Staublunge eingefangen hatte, laß er stundenlang in dieser Enzyklopädie der geheimen Wahrheiten, bis er es endlich entdeckte: Das Ritual zur Anrufung der Mutter der Zwietracht. Die Gottheit - oder der Dämon - welche der Kult verehrte. Schnell und dennoch gründlich schrieb sich der Prinz die Einzelheiten heraus.

Zurück in seinen Gemächern bereitete er das Ritual vor.

Die vorausgesetzten Gegenstände hatte er bereits zusammengetragen. Benötigt wurde eine Amphore mit brennbarem Öl, fünf Kerzen und eine große Schale. Dabei wurde explizit ausgewiesen, dass die Schale feuerfest sein musste. Alaric hatte sich für eine der goldenen Obstschalen aus dem Empfangsraum für ausländische Diplomaten entschieden. Das sollte die Anforderung erfüllen. Des Weiteren musste er eine Puppe aus Stroh und Strick bereithalten, die mit verschiedenen Kräutern gefüllt war.

Als erstes entfernte der Prinz den Teppich aus der Mitte des Raumes und setzte die Schale an seiner statt auf dem steinernen Boden ab. In einem Kreis von einem Meter Durchmesser stellte er die Kerzen auf, die sich bereits in entsprechenden Kerzentellern befanden. Unter Zuhilfenahme der Feuersteine, welche er immer bei sich trug, entzündete er die Kerzen. Als er nach der Amphore mit dem Öl griff, stellte er kurz in Frage, ob er sein geistiges Tafelsilber noch beisammen hatte, oder nun vollends am Rad drehte. Entschlossen schüttelte er den Kopf, entfernte den Korken von der Amphore und goss das Öl in die Schale. Danach entzündete er ein Stück altes Papier und warf es hinein.

Sofort entfachte ein Feuer.

Es wirkte enttäuschend ordinär.

Aber noch war die Formel nicht gesprochen!

Alaric atmete durch.

“Mutter der Zwietracht”, begann er zu sprechen. “Beseele die Flammen, die deinen Körper verzehrten.” Alaric warf die Puppe ins Feuer.

Das Aroma der Kräuter verbreitete sich in der Luft, als sie mit der Puppe verbrannten, die der Prinz ebenfalls ins Feuer warf.

“Schenke mir dein Gehör!”

Doch nichts passierte.

Noch einmal erhob der Prinz seine Stimme.

“Schenke mir dein Gehör!”

Erwartungsvoll starrte er auf das Feuer in der Schale und rechnete mit einer Reaktion. Aber es passierte weiter nichts. “Mhm”, brummte Alaric daraufhin und wandte sich ab. “Nichts als ein Ammenmärchen”, murmelte er in sich hinein.

Aber er wurde sogleich eines Besseren belehrt.

Plötzlich hallte ein Mark und Bein erschütterndes Kreischen einer Frau durch seinen Kopf. Alaric war sich sicher, dass es außer ihm niemand vernahm, andernfalls wären längst die Wachen vor der Tür hinein gestürmt, um nach dem Rechten zu sehen. Zeitgleich wurde der ganze Raum in einen goldenen Schein getaucht, nur unterbrochen vom pechschwarzen Schlagschatten, den Alarics Körper an die Wand warf. Sichtlich überrascht, wandte sich der Prinz wieder der Schale in der Mitte des Raumes zu. Das Feuer in ihr leuchtete in einer Intensität, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte.

Alaric trat angesichts des blendenden, grellen Feuers einen Schritt zurück.

Also stimmte es doch!

Noch einmal rief Alaric sich den nächsten Schritt ins Gedächtnis.

“Mutter”, begann er seine Bitte an die mysteriöse Gottheit zu formulieren. “Ich bin Alarc von Aschfeuer. Ich erbitte die Dienste deiner Töchter! Schicke mir eine für meine Schwester Lezabel und eine für meinen Bruder Ammon. Sie sollen herausfinden, ob einer von ihnen hinter dem Tod des Diplomaten Belanors steckt und in welche unehrenhafte Schandtaten sie sonst verwickelt sind.”

Erneut vernahm er das Kreischen, wie zur Bestätigung seines Auftrages.

Er ging zu seinem Arbeitstisch, auf dem er zwei Gegenstände bereitgestellt hatte, und nahm sie an sich. Für jeden Auftrag und jede beteiligte Schattenschwester musste man einen Gegenstand von großem Wert opfern. Alaric trat abermals an das goldene Feuer heran, um seinen Tribut zu entrichten.

“Ich biete dir diese Kette für meine Schwester dar.”

Er warf das mit Edelsteinen besetzte Schmuckstück hinein in das Feuer. Es verglühte in einem unnatürlich weißen Leuchten.

“Und dieser Kelch soll für meinen Bruder sein.”

Alaric übergab einen Trinkbecher aus schwarzem Obsidian, gefasst in kunstvoll verziertem Silber, den Flammen. Auch er verschwand in gleißendem Weiß.

Das Kreischen der Flammen fand ein letztes Mal den Weg zurück in seinen Geist und einen Moment später verpuffte das Feuer. Schlagartig kehrte der Raum zu seinem vorherigen rot schimmernden Düsternis zurück und nur der improvisierte Altar in der Mitte des Raumes, bestehend aus einer verrußten Goldschale und fünf geschmolzenen Kerzen, erinnerte noch an das Geschehene. Über der Schale entstanden aus glühenden Fragmenten zwei Schriftstücke, die langsam zu Boden segelten.

Alaric bückte sich nach ihnen.

Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, erkannte er, dass auf ihnen etwas geschrieben stand. Er hielt zwei Verträge in Händen, die Wort für Wort widerspiegeln, worum er zuvor die Mutter der Zwietracht gebeten hatte. Und dass die Beschattung seiner Geschwister von zwei Frauen mit den Namen Cinnamon und Rose durchgeführt werden würde.

Sofort kamen Alaric Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, sich mit einer bösartigen Gottheit und ihren blutrünstigen Anhängerinnen zusammen zu tun.
 

Zurück in der Gegenwart.

Das Jahr neigte sich dem Ende entgegen. In den klimatisch gemäßigten Teilen des Kaiserreiches kühlten die Temperaturen allmählich ab. Die Bäume begannen sich von ihrem Blätterkleid zu trennen und sich so auf den Winterschlaf vorzubereiten. Die Luft roch bereits nach Frost. Der erste Schnee kündigte sich an. Diese Zeichen veranlassten die Tiere des Waldes allmählich an die Zeugung der nächsten Generation zu denken. Mit dem Beginn der kalten Tage begann ebenfalls die Paarungszeit. Die Männchen der verschiedenen Gattungen der hiesigen Fauna führten untereinander teils blutige Kämpfe, um auszumachen, wer der Stärkste von ihnen war und das Recht zur Fortpflanzung hatte. Dabei wurden sie von ihren weiblichen Artgenossen kritisch beäugt. Diese würden sich gewiss nur mit den Siegern abgeben, um gesunden Nachwuchs zu garantieren.

So kam es, dass sich inmitten einer Lichtung auch die Platzhirsche zur Brunft einfanden.

Vor Kraft nur so strotzende Geweihträger suchten Streit mit Ihresgleichen.

Die Hirschkühe beobachteten interessiert das Geschehen.

Zwei Kontrahenten hatten sich gefunden. Beide waren kapitale Exemplare. Ihre Geweihe erreichten eine beachtliche Größe. Mit jedem Jahr, das ein Männchen verlebte, trieb es einen größeren Kopfschmuck aus. Es zeigte, dass sie beide sehr erfahrene Tiere waren, wenn sie es geschafft hatten, dieses Alter zu erreichen.

Ernst sahen sie sich in die Augen.

Paarhufe scharrten erregt das Moos vom Waldboden.

Schnaubend wurde warme Atemluft in die kalte Atmosphäre abgegeben und kondensierte sofort zu einem weißen, durchsichtigen Nebel.

Die Spannung des bevorstehenden Aufeinandertreffens war greifbar.

Dann gab es kein Halten mehr!

Beide Männchen stürmten aufeinander zu und verkeilten ihre Geweihe.

Ein lautes Krachen ertönte, als die knochenartigen Gebilde aufeinander trafen.

Ineinander verhakt, kreisten die brünstigen Platzhirsche immer wieder umeinander und lange sah es so aus, als ob es auf absehbare Zeit keine Entscheidung geben würde. Doch gewann einer von ihnen überraschend die Oberhand.

Ängstlich löste sich der andere von seinem Gegner und sah zu, dass er unverletzt entkommen konnte.

Die Blicke der Hirschkühe waren dem Sieger nun sicher.

Erhaben stolzierte er mit angehobenem Geweih auf der kleinen Lichtung auf und ab, um seinen Sieg zu feiern.

Nachdem er ein paar Runden gedreht und seine Fleischbeschauung beendet hatte, schickte er sich an, die erste Hirschkuh zu beglücken. Doch wenn er glaubte, dass sie es ihm so leicht machte, hatte er sich geschnitten. Immer wieder hob der Platzhirsch die Vorderhufe an und versuchte das Weibchen zu besteigen. Doch die dachte nicht im Traum daran, ihn einfach gewähren zu lassen. Stattdessen entzog sie sich ihm immer wieder und scheuchte ihn in seiner Begierde über die Lichtung.

Für ihn war es ein Ritual, das ihn nur weiter betörte.

Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude!

Endlich schien die Hirschkuh genug davon zu haben, ihn zum Gespött des Waldes zu machen, stellte ihren Widerstand ein und kam zum Stehen. Diesmal verhinderte sie nicht mehr, von ihm bestiegen zu werden. Und innerhalb weniger Sekunden war vollbracht, wofür der Platzhirsch ihr eine halbe Ewigkeit hinterher gerannt war.

Eine war geschafft, unzählige weitere warteten noch.

Wirklich anstrengend, männlich zu sein!

Aber er wurde nicht müde, seine Gene zu verstreuen.

Gerade stieg er von der Letzten ab, als ein fremdartiges Geräusch durch den Wald hallte und an seine Ohren drang. Aufgeschreckt sprangen die Weibchen wie vom Hafer gestochen in alle Himmelsrichtungen davon und verschwanden im Dickicht. Der Platzhirsch blieb jedoch stehen. Er witterte die widernatürliche Gefahr, die seiner Lichtung immer näher kam. Sein Instinkt sagte ihm, dass sein Leben nichts zählte, wenn nicht die Saat, die er mit seiner inbrünstigen Männlichkeit in den Hirschkühen gesät hatte, in Sicherheit war. Darum blieb er. Bot sich selbst als Opfer dar, damit seine Weibchen entkommen konnten.

Äste wurden unter mächtigen Schlägen zerbrochen.

Der Platzhirsch streckte der heranstürmenden Bedrohung sein Geweih entgegen.

Aus den Tiefen des Unterholz brach ein heller Schatten hervor.

Eine muskulöse, wolfsartige Kreatur mit weißem Pelz stürzte sich ohne Rücksicht auf Verluste auf das Männchen, warf es mit einem mächtigen Prankenhieb zu Boden und verbiss sich in seinem Nacken. Das Blut spritzte wie aus einer Fontäne und besudelte das Schneeweiße Fell des Monsters und das bösartige Knurren der Bestie ließ selbst die Vögel auf den Bäumen die Flucht ergreifen, während sich die Kreatur an ihrer Beute labte.
 

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Einige Tage zuvor.

Eines Schwertes gleicht, schnitt der Kiel des riesigen Drachenbootes durch die eisigen, kalten Gewässer des Ozeans. Der Wind hatte längst seinen Dienst versagt und das aus roten und weißen Streifen zusammengenähte Segel hing zusammengerollt am Mast. Ruder tauchten perfekt synchron im Takt des Paukenschlages in das Wasser ein, schoben das Schiff mit einem kräftigen Stoß der vereinten Kräfte von zweihundert Armen, verteilt auf zwei Seiten zu je fünfundzwanzig Sitzbänken, unaufhaltsam dem Ziel entgegen. Das Gewicht der Paddel erzwang, dass jedes von ihnen von zwei Besatzungsmitgliedern gehalten werden musste. Den unermüdlichen Muskelbergen der Barbaren als Frys wurde keine Pause gegönnt, während sie das Schiff allein durch menschliche Körperkraft auf zwanzig Knoten beschleunigten, was einer Geschwindigkeit von etwas mehr als siebenunddreißig Stundenkilometern entspricht, und allein dadurch schon Ehrfurcht und Angst in die Herzen der Küstenbewohner einziehen ließ. Das maritime Gefährt war kunstvoll verziert mit Ornamenten, die reale und mythische Wesen gleichermaßen darstellten. Bemalte Rundschilde mit den Familienwappen der Krieger zierten zudem die Seiten des Schiffes und taten allen Kund von den glorreichen Taten der Vorfahren. Aber den wahren Blickfang und Namensgeber dieser Art von Schiffen, stellte der detailreiche Drachenkopf dar, welcher aus einem einzigen, riesigen Stück Holz hergestellt und am Bug des Schiffes angebracht war. Eine wunderschöne Schnitzerei, deren durchdringender Blick dem Ungewissen entgegen gerichtet war.

Dieser Schrecken der Meere war auf den Namen Isbrann getauft worden.

Einige kleinere Schiffe begleiteten das Flaggschiff. Sie waren jeweils mit wesentlich weniger Kriegern bemannt, konnten aber dennoch durch die leichte Bauweise und den flach unter der Wasseroberfläche liegenden Kiel mithalten.

An Deck der Isbrann befanden sich außerdem mehrere Zelte, wo man den Proviant und die Beute lagerte. Die Krieger selbst schliefen bei Wind und Wetter an Deck. Alles was sie brauchten, damit ihnen im Schneesturm nicht die Nase abfrohr, waren Met und die wärmenden Gedanken an Rauben, Brandschatzen und Morden. Etwas, was sie bei ihrer Ankunft zu genüge tun würden, als Vergeltung für die Niederlage am Stählernen Wall.

Mit verschränkten Armen stand Sjur mitten zwischen seinen Männern und blickte hinaus auf die langsam am Horizont erscheinende Küste. Er war nicht nur der Kapitän der Isbrann, sondern auch der Jarl seines Clans. Dem geschuldet trug er einen aufwändigen Kettenpanzer und einen reichlich verzierten Schädelhelm, unter dem sein rotes Deckhaar hervor hing und mit dem doppelt geflochtenen Bart eine Einheit bildete. Die Rache war ihm ein persönliches Bedürfnis, da sein kleiner Bruder beim Angriff auf die Festungsanlage der Schwarzelfen sein Leben verloren hatte. Es war kein Trost für Sjur zu wissen, dass er ehrenvoll im Kampf fiel, wenn es im Zuge eines von vornherein zum Scheitern verurteilten Unterfangens geschehen war. Er wusste das und er hatte es ihm auch gesagt, doch Angar ließ sich von der Silberzunge des Thordir einlullen und für die Schlacht begeistern. Dabei musste Sjur seiner Mutter einst am Sterbebett versprechen, immer auf seine Geschwister zu achten. Zwar waren es noch immer sieben an der Zahl, aber hier ging es ums Prinzip! Ein Angriff auf die ein oder andere ungeschützte Siedlung des Imperiums würde Angar zwar nicht zurückbringen, aber Sjur immerhin erlauben, ihre Straßen in seinem Namen in Blut zu ertränken.

Plötzlich legten sich sachte ein paar Arme über seine Schultern.

“Grübelst du wegen des Schlachtplanes?”, hauchte ihm eine Frauenstimme ins Ohr. Sie gehörte Valdis, seinem Eheweib. Im Gegensatz zu dem, wie es in anderen Teilen der Welt gehandhabt wurde, scheuten sich die Frauen aus Frys nicht vor der Schlacht. Voller Eifer fuhren sie mit auf die Raubzüge. So wie ein Jüngling als Schildknappe seinen Mann stehen musste, bevor er sich ein Eheweib nehmen durfte, zogen auch die Frauen als Schildmaiden in den Krieg, ehe man ihnen die Heirat erlaubte. Valdis war zwar ein gutes Stück kleiner als ihr Gatte, aber dennoch mit über zwei Metern kein bisschen weniger furchteinflößend. Und als einziges weibliches Wesen unter einhundert Kriegern musste sie das auch sein. Zwar waren auf den anderen Schiffen ein paar Kriegerinnen, doch nicht hier auf dem Flaggschiff. Wenn nach Wochen der Reise ein Mann auf dumme Gedanken kam, überließ sie es nicht etwa Sjur, ihn in die Schranken zu weisen, sondern vermöbelte ihn stattdessen eigenhändig. Trotz ihrer dicken Muskelberge, hatte sie sich ihre weiblichen Rundungen bewahrt, auch wenn sie in blanker Schönheit zu sehen, einzig ihrem Gatten vorbehalten war. Sie trug keinen Helm, da sie ihre Weiblichkeit stolz auf dem Schlachtfeld präsentierte. Ihre langen, strohblonden Haare waren auf einer Hälfte des Kopfes aufwändig geflochten und mit Perlen und anderem Schmuck verziert. “Oder träumst du schon von den Kehlen, die du aufschlitzen wirst?”

“Ein bisschen von beidem, mein teures Weib”, antwortete Sjur.

Irgendwann musste er Valdis davon überzeugen, daheim zu bleiben, wenn sie ihm Kinder gebären sollte. Alle seine Geschwister haben bereits eine Familie gegründet. Aber er und Valdis waren viel zu beschäftigt damit, Leben zu nehmen, dass sie nicht dazu kamen, zur Abwechslung welches zu schaffen. Aber wenn er es sich wagte, sie hinter den Herd zu verbannen, würde sie ihn gewiss entmannen!

Und dann hätte sich die Familienplanung auch erledigt…
 

Die gefüllten Schleppnetze des Fischkutters hingen schwer an seinen Seiten. Die Seemänner waren dabei, die Beute einzuholen. Die reichen Fischgründe in der Bucht sicherten ihnen ein Auskommen. Die nährstoffreichen Strömungen lockten immer wieder neue Schwärme verschiedenster Arten an, sodass ihnen der Fisch niemals auszugehen schien. Mit flinken Fingern wurden die Früchte des Meeres aus den Maschen gepult. Die ein oder andere Krabbe hatte sich ebenfalls in das Netz verirrt, was nicht unbedingt ungelegen kam. Schließlich galten sie als Delikatesse. Einzig die Fische, die für zu klein erachtet wurden, warfen die Fischer zurück ins Meer, damit sie weiter wachsen konnten.

“Segg mal, mien Jung, wo geiht dat eegentlich dien Moder?”, fragte der älteste unter den Fischern den jüngsten. “Is se ümmer noch bettlügersch?”

“Dat geiht ehr goot”, antwortete dieser. “De Medizin hett hulpen.”

“Ik heff di dat ümmer seggt: En hitten Grog wirkt wahre Wunner!”

Der Mittelalte grinste verschmitzt.

Doch seine heitere Stimmung sollte ihm schnell vergehen, als er sich umdrehte. Er erblickte fremde Schiffe mit angsteinflößenden Schnitzereien von Drachenköpfen auf sie zukommen. “Bi dat Klamottermann! Waräger!”, rief er aus.

Sofort drehten sich die anderen beiden um und stellten mit Schrecken fest, dass er ihnen keinen Bären aufgebunden hatte.

Angeführt vom größten der maritimen Fahrzeuge, ruderten die randvoll mit Kriegern besetzten Drachenboote an ihnen vorbei. Sie steuerten direkt auf den Hafen von Asenré zu. Gelehmt vor Furcht starrten die Fischer ihnen entgegen.

An Deck des führenden Drachenbootes stand eine blonde Frau mit schön anzusehenden Haaren. Auch von weitem konnten sie sehen, dass das Barbarenweib von gewaltiger Statur war. Sie gestikulieren ihnen mit dem auf die Lippen gelegten Zeigefinger, dass sie sich ruhig verhalten sollten.

Eine Aufforderung, der die drei Fischer nur allzu gerne nachkamen.

Die Wellen des Fahrwassers der Drachenboote schlugen von allen Seiten gegen den Fischkutter, als die Barbaren an ihm vorbei zogen. Nachdem sie es passiert hatten, wollten die Männer gar nicht glauben, dass sie unbeschadet davon gekommen waren. Fürchtete man die Barbaren nicht dafür, dass sie wahllos jeden aufrechten Bürger abschlachteten, der ihnen im Weg war? Vielleicht waren sie die Mühe einfach nicht wert, extra das Schiff zu verlassen, nur um sie einen Kopf kürzer zu machen. Sie konnten ihr Glück kaum fassen. Beinahe hätten sie es für einen Traum gehalten, würden nicht ihre schweißnassen Kleider darauf hindeuten, dass das gerade wirklich passiert war.
 

Ohrenbetäubend hallte der Gong der großen Glocke durch den Hafen von Arsenré. Der Turm, in dem sie aufgehangen war, wurde errichtet, um vor herannahenden Gefahren zu warten. Oft bestanden diese aus einer Sturmflut oder einer Windhose, beides Phänomene, die in diesem Teil des Kontinents keine Seltenheit darstellten. Strenge Winde aus der Teufelssee peitschten das Meer und wirbelten die Luftschichten durcheinander. Sie trieben Heiß und Kalt in die direkte Konfrontation. Eine Brutstätte des unbändigen Chaos, die oft gefährliche Stürme gebar und den Bewohnern der gebeutelten Küste entgegen warf.

Ein Blick in das klare Blau des Himmels ließ jedoch erahnen, dass die Gefahr eine andere sein musste.

Längst hatten aufmerksame Männer mit Argusaugen die sich nähernden Drachenbote der Waräger erspäht. Sie kamen, um zu plündern! Es gab keinen anderen Grund für die Barbaren aus Frys, den Hafen von Arsenré anzusteuern. Die Stadt war nicht dafür bekannt, dass sie große Reichtümer beherbergte. Einzig Fisch, Krabben und Hummer wiesen einen kurzweiligen Wert auf, der jedoch schnell den Besitzer wechselte und aus der Stadt in die Provinzen des Kaiserreichs exportiert wurde. Allerdings bedeutete dies zwangsläufig, dass mit keiner großen Garnison zu rechnen war. Mit Sicherheit war es die Aussicht auf Erfolg, die die Waräger anlockte.

Eilig und dennoch geordnet, fanden sich die Milizionäre bei der Waffenkammer ein und ließen sich Schwerter, Speere und Schilde wie am Fließband aushändigen.

Große Verteidigungsanlagen besaß Arsenré nicht, aber um ein paar mordlüsterne, stinkende Barbaren zurück in ihre eisige Heimat zu jagen, sollte es allemal reichen.

Die Befestigung des Hafens ließ viel zu wünschen übrig.

Zwar gab es ein steinernes Hafenbecken, doch ein großer Teil des Pier bestand aus hölzernen Stegen, an denen die Boote und die Kutter mit Tauen festgebunden waren. Militärische Schiffe, welche die Barbaren hätten abfangen können, suchte man hier vergebens. Echte Verteidigungsanlagen gab es nicht. Einzig am linken und rechten Ende des Hafenbeckens war jeweils eine drehbare Balliste auf erhöhter Position angebracht. Diese Waffen waren in der Lage, auch brennende Speere abzufeuern. Mit ihnen könnte man die nahenden Feinde schwer schädigen. Dazu musste man sie allerdings zuerst treffen. Erschwerend kam hinzu, dass die dem Feind näher gelegene rechte Balliste bei der letzten Sturmflut beschädigt wurde und gegenwärtig unbrauchbar war. Zur Verteidigung stand demzufolge nur die linke zur Verfügung und die war fast außer Reichweite. Dennoch wurde die Kriegsmaschine bemannt und feuerte alsbald Geschosse in die Richtung des Feindes.

Derweil positionierten sich die Milizionäre und erwarteten ihren Einsatz.

Schulter an Schulter bereiteten sie sich auf die Landung der Barbaren vor. Angesichts der Hundertschaften konnte man den Mut verlieren. Die Tatsache, dass der Hauptmann noch immer nicht aufgetaucht war, drückte die Moral des versprengten Trupp von um die sechzig Männer noch weiter. Wo blieb er die ganze Zeit?
 

Einige Meter entfernt vom Flaggschiff der Waräger tauchte ein brennender Speer mit nicht zu überhörendem Platschen in die kalte See ein. Beim Kontakt mit der Wasseroberfläche zerbrach das Geschoss und von den Flammen blieb nicht mehr als eine kleine Dampfwolke zurück.

“Der war schon ziemlich nahe”, gab Valdis zu bedenken.

“Hast du etwa Schiss, dass sie uns versenken?”, fragte Sjur provokant.

“Ich fürchte einzig, eines Tages zu alt zum kämpfen zu sein!”

“Alt zu werden, ist eine Auszeichnung”, meinte ihr Gatte. “Ein alter Krieger zu sein bedeutet, dass deine Gegner nicht alt geworden sind.”

“Deine Weisheiten nützen uns nichts, wenn sie uns erschießen, Liebster.”

“Dann zeige ihnen deine heißblütige Seite, Weib.”

“Und Gefahr laufen, das Schiff abzufackeln? Bestimmt…”

Die einhundert Ruderer trieben die Isbrann voran. Sie führte die kleineren Drachenbote hinein in das Hafenbecken. Es wurde noch einmal gefährlich, da sie nun vollends in der Reichweite der Balliste waren. Aber je näher sie dem Pier und den sich vor Angst befeuchtenden Milizionären kamen, desto unwahrscheinlicher war es, dass der Feind einen weiteren Schuss abgeben würde. Wenn eines der brennenden Geschosse die Hafengebäude traf, wäre die Katastrophe vorprogrammiert.

Am Ende des Piers kam die Barbarenflotte zum stehen.

Die wilden Krieger bereiteten sich mental darauf vor, möglichst viele Elfen und deren menschlichen Stiefelleckern den Gar auszumachen.

Die kleineren Begleitschiffe zogen an der Isbrann vorbei, da diese zwischen den Stegen des Pier besser manövrieren konnten. Die Drachenbote brachten sich in Stellung, sodass ihre Decks eine Brücke zu den Stegen darstellen. Sie erlaubten es allen Kriegern, schnell die Distanzen zu überbrücken.

Entschlossen stellten sich die Milizionäre den Feinden entgegen.

Derweil schwappten die mordlüsternen Nordmänner über die Reeling des letzten Schiffes, wie Wasser aus einer übervollen Badewanne, wenn sich ein Fettsack hineinsinken lässt und den gesamten Inhalt durch seine Masse verdrängt.

Wie es Sjur bereits vermutete, stellten die Kaiserlichen den Beschuss augenblicklich ein, als die Gefahr bestand, ihren eigenen Leute zu treffen. Wie berechenbar sie doch waren. Aber das zeichnete die Legionen des Drachenkaisers aus. Die Elfen nannten es Besonnenheit, er betrachtete es als Feigheit. Wussten sie denn nicht, dass ein jeder, der durch eine Waffe starb, später an der Seite der Götter saß und bis zum Ende aller Tage mit ihnen trinken durfte? Eine größere Ehre konnte einem Sterblichen nicht zuteilwerden. Und Sjur schwor sich, im Gedenken an seinen kleinen Bruder möglichst vielen von ihnen zu ermöglichen, ihren Schöpfer zu treffen.

Seine Axt würde das schon richten!

Während Sjur und Valdis sich noch zusammen mit der Besatzung der Isbrann über die letzten Decks bewegten, hatten sich die ersten Krieger bereits auf die Stege geschwungen und diese überquert. Nun stürzten sie sich auf den Feind. Wie wildgewordene Berserker wirbelten sie herum, zerbrachen Speere und Schilde und drangen die hoffnungslos unterlegenen Verteidiger immer weiter zurück in die Stadt.
 

Laut klopfte es an der Tür zu Surins Zimmer.

“Hauptmann!”, rief es von der anderen Seite. “Hauptmann!”

Als ob das ohrenbetäubende Geläut der Alarmglocke nicht schon lärmend genug wäre!

Wie sollte man da auch nur ein Auge zubekommen?

Widerwillig schlug Surin die Decke zurück und schwang sich missmutig aus seinem Bett.

Dabei zog er seine langen seidigen Haare hinter sich her, wie ein Kometenschweif.

Noch in seinem Nachtgewand trat er an die Tür heran. Jetzt war er sowieso wach, da konnte er sich auch das Anliegen des Klopfers anhören. Hoffentlich war es nicht schon wieder eine Sturmflut… Der Hauptmann hatte seinen Männern immer wieder gesagt, sie sollen ihn nicht wegen so etwas bei seinem Schönheitsschlaf stören! Als er den endlos erscheinenden Weg von seiner Schlafgelegenheit bis zur Tür überbrückt hatte, entsperrte er das Schloss und ein völlig aufgelöster Milizionär fiel ihm beinahe in die Arme.

“Hauptmann Surin!”, exklamatirte der Soldat.

Müde rieb sich der Elf die in schwarzen Ringen eingefallenen Augen.

“Barbaren überfallen die Stadt!”

Irritiert zuckten seine spitzen Ohren. Hatte er gerade ‘Barbaren’ gesagt?

“Sie fegen durch unsere Reihen wie die Berserker!”

“Das könnte daran liegen, dass es Berserker sind”, erwiderte Surin altklug gähnend.

“Bitte, leiht uns Eure Kraft!”, forderte der Milizionär.

Ob es ihm gefiel oder nicht, der Appell seines Untergebenen ließ ihm keine andere Wahl. Er kam nicht darum herum, tatsächlich seiner Pflicht nachzukommen und seine Männer gegen die Angreifer in der Schlacht zu führen.

Konnten die Barbaren nicht einen anderen Tag zum Angreifen aussuchen?

Heute war Surin so gar nicht nach Anstrengung.

So eine Frechheit!

Dafür würden diese ungewaschenen Wilden bezahlen!

“Ich komme sofort!”, versprach er.

Sein Untergebener ließ sich trotz seiner unlusten Äußerung davon überzeugen und eilte sich, zurück an die Front zu kommen und seine Kameraden zu unterstützen.

Surin wandte sich um und sah zurück auf sein Bett, das direkt unter dem Fenster stand. Der eindringende Wind streichelte sachte die Gardinen. Es sah so einladend aus. Der Zustrom von frischer Atemluft täte ihm gewiss wundervolle Träume bescheren, wäre da nicht dieser Lärm! Und bei einem Angriff des Feindes hatte er nicht den Luxus, sich eine Auszeit zu genehmigen. Na schön, er würde gehen.

Aber nicht bevor er sich umgezogen und seine Haare gemacht hatte!

Er sah bestimmt schrecklich aus…
 

Mit voller Wucht traf eine Barbarenaxt auf einen Milizionärsschild und spaltete ihn in Zwei. Überrumpelt von den durchschlagenden Argumenten des wilden Kriegers aus dem Norden, stürzte der Verteidiger rücklings zu Boden. Die beiden Teile seiner einstigen Protektion taten es ihm gleich.

Der Hüne von einem Mann holte zum vernichtenden Schlag aus.

Sein Opfer sah sich seinem nahenden Ende schutzlos ausgeliefert. Mitten im Gerangel konnte er keine Hilfe von seinen Kameraden erwarten. Verzweifelt streckte er beide Arme in einem aussichtslosen Versuch, das Unausweichliche abzuwenden.

“Ashborn: Zerstreue und vernichte!”

Beinahe hätte er die Stimme für eine Einbildung gehalten.

Aber es gab keinen Zweifel an ihrer Authentizität. Diese langsame Ausdrucksweise. Ein Tonfall, wie wenn der Sprecher bereits zur einen Hälfte ins Reich der Träume übergetreten und zur anderen an Langerweile verstorben ist. Das konnte niemand anderes als Kommandant Surin sein!

Mit einem Mal schoss eine Aschewolke auf den Nordmann zu, durchdrang Kettenhemd und Untergewand und breitete sich in der Luftschicht darunter aus, bis sie den Körper des Mannes vollkommen umhüllte.

“Eine Milliarde Schnitte!”

Vor den Augen des noch immer am Boden liegenden Milizionär, wurde dem Barbaren überall am Körper die Haut in Fetzen vom Fleisch gerissen und weiter zerkleinert, bis sie in einem roten Nebel verdampfte, welcher Teilweise auf den Milizionär herab rieselte, wie ein warmer Frühlingsregen. Unter entsetzlichen Schreien kollabierte der Angreifer und fand binnen weniger Sekunden durch den Schock der vollständigen Häutung ein schreckliches Ende. Nichts, als ein entstellter blutiger Haufen Muskeln, gekleidet in Stoffen und Kettenhemd, verblieb. Die weit aufgerissenen Augen würden noch lange von seinem unsäglichen Leid kundtun, bis irgendwann, wenn die Schlacht geschlagen war, die Krähen vom Himmel herab segelten, um sich an ihnen zu laben.

Ein Bild des Schreckens, das die Macht besaß, sämtliche Kampfhandlungen für einen Moment zum Erliegen kommen zu lassen.

Freund und Feind wandten sich gleichermaßen ungläubig um.

Ihre Blicke folgten der Wolke aus Asche, die sich von dem Toten entfernte und unnatürlich durch die Luft bewegte, bis sie auf die Querstange eines Schwertes ohne Klinge traf. Es wurde von Hauptmann Surin einhändig am gebeugten rechten Arm auf Kopfhöhe gehalten, während der linke Arm nach vorn vom Körper gestreckt wurde und alle Finger der Hand gespreizt waren. Allmählich verdichtete sich das ominöse Phänomen und offenbarte, dass es sich dabei um die vermisste Klinge des Schwertes handelte.

“Eine Frechheit!”, echauffierte sich der Kommandant der Miliz. “So einen Radau zu veranstalten, wenn ich einfach nur schlafen will!”

Das lässige Gähnen des Elfen mit den langen seidigen Haaren, kurz nachdem er einen Menschen bei lebendigem Leibe gehäutet hatte, zementierte die Schockstarre.

“Wärt ihr so gut, freiwillig zu sterben? Dann kann ich mich wieder hinlegen.”

Sjur spannte die Muskeln in seinem Arm, holte aus und schleuderte seine Axt mit voller Kraft dem Kommandanten des Feindes entgegen. Für das, was er vorhatte, benötigte er sowieso zwei freie Hände.

Gekonnt wich Surin dem Wurfgeschoss aus.

Die Axt wirbelte noch etwas herum, bis sie nach rechts abdriftete, an Momentum verlor und sich letztlich in den Boden des Hafen bohrte.

Sjur hatte nichts anderes als ausgezeichnete Reflexe von einem Waffenmeister erwartet. Und es wäre doch schade, wenn sich ihr Kampf so schnell entscheiden würde! Der Elf verhieß einen echten Gegner, der es würdig war, dass Sjur sein Ass aus dem Ärmel zog. Breitbeinig stellte sich der Barbarenanführer hin und schlug beide Fäuste zusammen. “Erstarre”, beschwor er herauf, “Icebringer, Faust des Nordens!” Kälte entwich aus dem Zwischenraum seiner Fäuster und kroch seine Hände entlang, bis sie fast hinauf zu den Ellenbogen reichte. Schwarze Eiskristalle wuchsen in Etappen und zersprangen sogleich wieder. Allmählich entstanden zwei dunkle Armstulpen. Sie wurden von einem weißen Nebel umhüllt, der aus der in der Luft enthaltenen Feuchtigkeit gespeist wurde. An den Seiten befanden sich Erhebungen, an deren Ende je eine ominöse Öffnung zur Seite abstrahlte.

Valdis beobachtete ihren Gatten aus einiger Entfernung. Sie wollte ihm nicht im Weg herumstehen, wenn er drauf und dran war, seinen Spaß zu haben. Sollte es gefährlich werden, hätte sie Mittel und Wege, rechtzeitig einzugreifen.

Die Milizionäre zogen sich zurück und die Barbaren wichen auf vom Hauptweg abstrahlende Stege aus, damit das Duell der Waffenmeister beginnen konnte.

“Roaaarrrr!”, brüllte Sjur und setzte sich in Bewegung. Nachdem er einige Meter Distanz zurückgelegt hatte, sprang er vom Boden ab. Dabei holte er mit dem rechten Arm zum Schlag aus und eine blaue Stichflamme aus purer Kälte zündete aus der Seite seines Armstulpen. “Raketenschlag!” Sie verschaffte ihm genug Antrieb, dass er wie eine Kanonenkugel den Rest des Weges zu seinem Gegner über den Steg fegte.

Der Schlag traf Surin mit unvorstellbarer Kraft, riss ihn von den Füßen und katapultierte ihn gegen eine Hauswand. Er durchbrach sie Rücken voran und passierte auf seinem Weg verängstigte Stadtbewohner, welche verzweifelt in ihrem Heim Schutz gesucht hatten und ihm nachsahen, bevor er auch die zweite Hauswand durchschlug und erst an der Fassade des dahinter stehenden Gebäudes zum Stoppen kam. Risse breiteten sich hinter ihm im Putz aus. Surin benötigte einen Moment, um zu verarbeiten, was gerade mit ihm geschehen war.

Sjur nahm eine Verteidigungsstellung ein, während er auf den Konterangriff seines Gegners wartete.

Der Kommandant der Miliz schritt derweil lässig durch das Loch in der Wand des Hauses vor ihm und passierte erneut die noch immer verängstigten Stadtbewohner - dieses Mal jedoch in die andere Richtung - bevor er ihr Heim durch das gegenüberliegende Loch wieder verließ. Er klopfte sich den Staub von der Kleidung ab, als er sich seinem Gegner präsentierte. “Meine Güte”, kommentierte er. “Ich habe meine Uniform erst neulich aus der Reinigung geholt.”

Sjur wollte sich weder vom gelangweilten Gehabe des Elfen noch von der Tatsache provozieren lassen, dass sein Schlag augenscheinlich nicht den geringsten Effekt hatte. Dieser Mann war kein einfacher Hauptmann! Von jemanden seines Schlages würde man erwarten, dass er Legionen befehligte und nicht einen Haufen von bewaffneten Zivilisten, die vielleicht fünf Wochen Kampftraining genossen hatten, wenn es hochkam.

Surin genoss den verwirrten Gesichtsausdruck des Waräger. Bestimmt fragte er sich, wieso seine Anstrengungen vergebens waren. Wieso er in diesem Kaff einen so starken Gegner wie ihn antraf. Nun, das war einfach. Eines Tages kam dieser verdammte Bürokrat eines Prinzen und nahm seine Abteilung auseinander. Die Angewohnheit, den Großteil des Tages zu verschlafen, kam offenbar nicht besonders gut an. Aber was sollte er tun, wenn er immer so müde war? Letzten Endes ließ dieser hochwohlgeborene Drecksack nicht mit sich reden und versetzte ihn in die Mitte von Nirgendwo, wo seine mangelnde Disziplin nicht zum Problem wurde. Aber das war in diesem Moment alles nicht mehr wichtig.

Der Elf setzte zum Angriff an. “Eine Million Schnitte!” Die Klinge von Ashborn zersprang in unzählige Splitter, welche erneut den schwarzen Nebel formten und mit hoher Geschwindigkeit auf den Barbaren zusteuerten.

Sjur schlug mit beiden Fäusten auf den Boden. “Eisschale!” Augenblicklich gefror die Luft um ihn herum und formte eine Hülle, die der Nebel nicht zu durchdringen vermochte.

Surin beorderte seine Klinge zurück.

Sjur ließ seinen Schild zerspringen und zündete die eiskalten Flammen seiner Armstulpen. Mit kräftigen Sprüngen attackierte er unentwegt den Feind, welcher jedoch immer im letzten Moment auswich. Derweil zerstörten die Schläge allmählich den Hafen. Sie verursachten bei jedem Treffer Staubwolken und Splitter.

Surin fand eine Lücke im Angriffsmuster des Barbaren und nutzte sie aus, indem er Sjur einen kräftigen Tritt gegen den Unterkiefer beibrachte, der ihn meterweit durch die Luft gleiten ließ, bevor er unsanft aufkam. Sofort versuchte Sjur, aus seiner misslichen und verwundbaren Lage zu entkommen und aufzustehen.

Aber Surin wollte ihm dazu keine Zeit lassen. Er bereitete einen weiteren fatalen Angriff vor. “Eine Million Schnitte!” Erneut schoss der todbringende Nebel auf Sjur zu und er wusste, dass er nicht mehr genug Zeit zur Verfügung hatte, seinen Schild aufzubauen. Er machte sich bereit, bald in der großen Methalle zu sein, als aus der Ferne die Stimme seines Weibes an sein Ohr drang. “Verbrenne und verheere, Flameburst!” Es zauberte ihm ein Lächeln auf das Gesicht.

Ein roter Feuerschweif durchbohrte die Aschewolke und brachte sie aus dem Gleichgewicht, sodass ihre Bewegung gestoppt wurde. Die Millionen Klingen der Teufelswaffe wurden in alle Richtungen auseinandergetrieben.

Sjur schenkte Valdis einen kurzen, danksagenden Blick.

Am anderen Ende des Steges stand sie. Einen schwarzen Bogen in den Händen haltend, dessen Enden in Flammen standen und mit einer glühenden Sehne verbunden waren. Wieder einmal hatte sie ihm aus der Patsche geholfen.

Allerdings durfte er nicht nachlassen, sondern musste die Gunst der Stunde nutzen, bevor der Elf seine Waffe wieder unter Kontrolle bekam. Er sah sich um und durch eine glückliche Fügung des Schicksals steckte seine Axt, die er zuvor geworfen hatte, in Armreichweite neben ihm im Boden. Sofort griff er nach ihr und zog sie heraus. Eine Schicht aus schwarzem Eis bildete sich und umschloss seine Waffe. Getrieben von der Kraft seiner Armstulpen, katapultierte er sich nach vorn und trieb die Axt einmal quer über den Rumpf seines Gegners. Blut spritzte und gefror sofort danach. Surin wusste gar nicht, wie ihm geschah, als er Rücklings in das Hafenbecken stürzte und unterging, den schwarzen Nebel seines Schwertes hinter sich her ziehend.

Erleichtert stieß Sjur einen Siegesschrei aus.

Verängstigt ließen alle Verteidiger ihre Waffen fallen und rannten davon, wie die Hasen. Sie wussten, dass wenn ihr Hauptmann geschlagen war, sie nicht das Geringste auszurichten vermochten. Es stimmte, was man sagte: Man muss der Schlange den Kopf abschlagen.

Begeistert stimmten die anderen Barbaren in den Jubel ihres Anführers mit ein.

Ein düsteres Schicksal stand den Dorfbewohnern bevor…
 

🌢
 

Zurück in der Gegenwart.

Langsam segelte eine Schneeflocke vom Himmel herab. Lange war sie gereist. Hinter ihr lag ein weiter Weg, der oben in den undurchsichtigen Wolken begann, die die schwache Sonne des ausklingenden Herbstes verdunkelten. Der Abstieg bestand aus ruhigen und turbulenten Etappen. Mehrfach hatten sie die Winde verschiedener Luftströmungen erfasst und mit sich gerissen. Es war nach bestem Willen nicht möglich zu erkennen, wo die Schneeflocke von den Kräften der Natur hingetrieben würde. Sie war allerdings bei weitem nicht die erste ihrer Art. Unzählige ihrer Schwestern wurden mit ihr zum Spielzeug der Winde, während die Schwerkraft allmählich die Oberhand gewann und sie mit ihrer Anziehungskraft dem Boden näher brachte.

Alleine war jede von ihnen unwesentlich, bedeutungslos.

Doch vereint zu Tausenden - Millionen - vermochten sie es, die Welt in ein winterliches Kleid zu hüllen.

Während der Boden mit weißem Puder abgedeckt wurde, bereiteten sich Fauna und Flora auf das kommende Jahr vor. Wenn der Lebensrhythmus von Mensch und Tier langsamer wird, dann besitzt das Weiß des Winters die Macht, die Zeit anzuhalten. Jeder, welcher schon einmal das Vergnügen hatte, auf einem verschneiten Pfad zu wandeln, während jeglicher Laut vom Schnee geschluckt wurde, sodass einzig das Knirschen der eigenen Schritte zu vernehmen war, der weiß, wie es sich anfühlt.

Und die Schneeflocke war selbst Trägerin eines verschwindend geringen Teils dieser Ruhe und würde dazu beitragen, sie der Winterwelt aufzuerlegen.

Die Strömungen der Winde trieben sie nun auf einen großen Baum zu. Er hatte schon den Großteil seiner Blätter verloren und stand entblößt bereit, sein neues Kleid zu empfangen. Die Flocke durchquerte eine Lücke zwischen den Ästen nach der anderen, ohne mit einem von ihnen zu kollidieren, wohingegen viele ihrer Schwestern nicht dieses Glück teilten. Für sie war die Reise an diesem Punkt zu Ende. Aber die Schneeflocke flog einfach immer weiter, bis sie die Gabelungen des Gewächses hinter sich ließ.

Ungehindert konnte sie nun ihren Weg auf den Boden fortsetzen.

Ein sanfter Luftstoß ließ sie in einer Abwärtsspirale nach unten wirbeln. Einige Umdrehungen hielt er die Schneeflocke in seinem Bann, bis es ihr gelang auszubrechen und unbehelligt weiter hinab zu segeln.

Endlich war das Ende des langen Weges in greifbarer Nähe.

Mit der Grazie einer Feder landete die Schneeflocke auf der Wange einer Frau und schmolz sofort. Ein kühler Strom floss das Gesicht der Unbekannten herunter und weckte sie sanft aus ihrem Schlaf.

Die Frau strich sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht und sah sich um. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie keine Kleider trug. Trotzdem schien ihr die Kälte nichts auszumachen. Erst jetzt wurde ihr all das Rot um sie herum bewusst. Sie lag in einer Blutlache. Aber es war nicht ihres. Ihre makellose Haut wies keinen Kratzer auf. Neben ihr befand sich der fürchterlich zugerichtete Kadaver eines Hirschbock. Die Eingeweide des stolzen Tieres brachen aus den klaffenden Wunden in seiner Bauchdecke heraus. Teile von ihnen lagen in Stücke gerissen überall verstreut. Die Frau sah kurz auf, als müsse sie die Situation erst begreifen. Ihre anfängliche Verwirrung verflog und unbändiger Hunger erwachte in ihr. Sie beugte sich über den Tierkadaver und vergrub ihr Gesicht in den Innereien des Hirsches.
 

Alaric quälte ein mulmiges Gefühl. Kurz nachdem er aufgestanden war, überbrachte ihm ein Page eine Botschaft. Cinnamon und Rose wollten sich mit ihm treffen, um die Ergebnisse ihrer Spionage an ihn weiterzureichen. Als Ort für die Übergabe bestimmten sie ausgerechnet den Schwarzen Palast - eine der am besten gesicherten Anlagen im ganzen Kaiserreich. Der Prinz war zwiegespalten. Zwar verlangte es ihm danach zu sehen, wie die Schattenschwestern es bewerkstelligen wollten, einzudringen, und er zweifelte auch nicht daran, dass es ihnen gelingen würde… Andererseits wollte er aber nicht die von ihm für gut befundenen Sicherheitsmaßnahmen torpediert sehen.

Über den Zeitpunkt ihres Erscheinens ließen sie Alaric ebenfalls im Dunkeln.

Der Prinz vermutete, dass sie ihm nicht vertrauten und auf diese Weise einer möglichen Falle vorbeugen wollten. Wenn niemand wusste, wann sie kamen und wie sie kamen, gestaltete sich das Legen eines Hinterhaltes schwierig.

Alaric blieb nichts weiter übrig, als zu warten.

Die Informationen sollten ohne Umwege direkt an ihn ausgehändigt werden.

Dazu würden sie sich ihm schon zu erkennen geben.

Aus Mangel an Alternativen ging Alaric seinem Tagewerk nach. Es war ein Versuch, nicht andauernd daran denken zu müssen, welche schmutzigen Geheimnisse die Agentinnen über seine Geschwister aufdeckten. Vielleicht wären die Informationen nicht so brisant, wie er es befürchtete. Die naive Wunschvorstellung des kleinen Bruders. Alaric vergrub sich in Arbeit, damit diese aus seinem Geist verschwinden möge.

Er nahm sich einen Stapel Dokumente in seine Gemächer mit.

Wenn er sich an diesem Ort aufhielt, wurde die Situation berechenbarer. Durch die Blei gefassten Fenster konnte niemand eindringen, ohne Krach zu verursachen und die Wachen zu alarmieren. Das ließ die Tür als einzigen Zugang. Er musste nur den Zugang zu seinen Gemächern im Blick behalten, um nicht überrascht zu werden. Die vermeintliche Kontrolle über die Situation schenkte ihm ein Gefühl der Sicherheit. Es würde helfen, den Gedanken ruhen zu lassen und konzentriert zu arbeiten.

Wie es typisch für ihn war, hatte er jede Hilfe beim Tragen des Stapels abgelehnt. Doch dass ihm eine der Wachen, deren Gesicht von einem schweren Helm verdeckt wurde, seine Tür öffnete, konnte er nicht mehr verhindern. Er bedankte sich, wie es Ehre und Anstand verlangten, trat ein und stieß die Tür hinter sich mit dem Fuß zu. Anschließend wuchtete er die Papiere auf seinen Arbeitstisch.

Die nächsten Stunden vergingen ohne einen Zwischenfall.

Die Planungen für die Zusammensetzung der Kohorten und deren Ausrüstung gingen fast wie von selbst von der Hand.

Alaric schmunzelte.

Eine weitere Unterschrift fand ihren Platz auf dem Schriftträger vor ihm.

Heute hatte er offensichtlich einen Lauf!

Als er sich gerade das nächste Dokument vornehmen wollte, vernahmen seine Ohren ein merkwürdiges Rascheln. Suchend blickte sich der Prinz in seinen Gemächern um. Was mochte sein Ausgangspunkt sein? Schnell machte er seinen Kleiderschrank als Quelle des befremdlichen Geräusches aus. Sachte erhob er sich von seinem Stuhl. Seine Hand wanderte zu seinem Schwert, als er sich vorsichtig dem Möbelstück näherte.

Bevor Alaric etwas tun konnte, sprang die Tür des Schrankes auf, und ein Mädchen entstieg ihm. Sie hatte dunkelrote Haare, die in zwei verspielten Zöpfen gefunden waren. Ihr Alter schätzte er auf vielleicht vierzehn Jahre. Zu seiner Verwunderung kniete die Rothaarige vor ihm nieder und verharrte.

“Bist du Rose?”, fragte Alaric. “Wie lange bist du da schon drin?”

Er erhielt keine Antwort.

Daraufhin öffnete sich die Tür und einer der Wächter trat ein. “Euer Hoheit”, sprach der Mann, als er das fremde Kind erblickte. “Wer-”, wollte er fragen, als eine Hand einen in Betäubungsmittel getränkten Lappen an seinen Helm hielt und er das Bewusstsein verlor.

Die andere Wache packte ihn und zerrte ihn hinein zu Alaric und legte ihn auf den Boden ab. Danach verschloss sie die Tür und begann sich des Helmes zu entledigen. Als dieser fiel, und lange türkis-grüne Haare zum Vorschein kamen, vermutete Alaric, dass dies Cinnamon sein müsse. Im Gegensatz zu Rose schien sie schon weit über dreißig zu sein. Auch sie kniete vor Alaric nieder.

“Bringt Ihr mir die Informationen, die ich angefordert habe?”

Wortlos zückten das Mädchen und die Frau jeweils eine mit Wachs versiegelte Schriftrolle und boten sie Alaric am ausgestreckten Arm dar.

Sofort nahm er ihre Mitbringsel an sich.

Die fremden Eindringlinge erhoben sich und verließen Alarics Gemächer. Cinnamon nahm den Helm wieder an sich, den sie zuvor abgelegt hatte, und versteckte ihre grünen Haare unter ihm.

Alaric beobachtete, wie Rose die Tür hinter ihnen schloss.

Einige Minuten später kam der bewusstlose Wächter wieder zu sich.

Erschrocken hob er sein Haupt. Hilfe suchend, sah er seiner Hoheit in die Augen. “Was ist geschehen?”, fragte er. Ihm wurde bewusst, dass er noch immer auf dem Boden lag und eilte sich, sich zu erheben. “Verzeiht…”

Alaric legte die Schriftrollen auf seinem Arbeitsplatz ab.

“Wer war das vorhin, Euer Hoheit?”

Offensichtlich meinte er das Mädchen, das er bei ihm gesehen hatte. Eigentlich verlangte es sein eigenes Protokoll, dass er nun Alarm schlagen ließ, doch Alaric bezweifelte, dass von den Eindringlingen noch eine Spur zu finden war. Darum entschied er, nicht unnötige Ressourcen dafür zu vergeuden. “Das war eine Dienerin meiner Schwester”, flunkerte er. “Sie hat mir eine Nachricht überbracht. Kein Grund zur Beunruhigung."

Der Wächter versuchte, seine Zweifel aus seinem Hirn zu schütteln.

“Aber du solltest einen Heiler aufsuchen”, riet der Prinz.

Ihm war immerhin Schwarz vor Augen geworden. “Ihr habt Recht.” Nun verließ auch er das Zimmer und Alaric war wieder allein. Zögerlich wandte er sich den Schriftstücken zu, deren Inhalt ihm vielleicht nicht gefallen würde.
 

Nachdem der Notruf aus Arsenré in der nächstgelegenen Garnison eingetroffen war, schickte man umgehend eine Hundertschaft aus, die den Feind aus der Stadt vertreiben sollte. Doch als sie ihr Ziel erreichten, fehlte von den Barbaren jede Spur. Die Überbleibsel ihrer Taten waren jedoch umso sichtbarer.

Der Zorn der Waräger hatte die Ortschaft schwer getroffen.

Feuer brannten in den eingestürzten Ruinen einstiger Häuser. Der beißende Geruch der schwarzen Schwaden kroch in die Lungen der Soldaten und hinterließ einen Geschmack von Holzkohle und verbranntem Fleisch. Einige von ihnen mussten husten, in anderen stieg Übelkeit auf. Die Zerstörung schien omnipräsent. Zwischen den Trümmern lagen vereinzelte Leichen. Die Hinterbliebenen beklagten ihre Verluste.

“Unfassbar!”, erhob einer der Soldaten die Stimme. “All das hier sollen gewöhnliche Menschen getan haben?”

“Man versucht sich stets in Grausamkeit zu übertreffen”, meinte ein anderer.

Die Hundertschaft wurde von Offizieren der Versorgungseinheit begleitet. Sie führten Baumaterialien, Zelte und Hilfsgüter mit sich. Schnell wurden für die Überlebenden des Angriffs provisorische Unterkünfte aus dem Boden gestampft und Essensausgaben eingerichtet, damit die größte humanitäre Not gelindert werden konnte.

Unterdessen durchkämmen die Soldaten die Ruinen nach weiteren Überlebenden.

Irgendwann hatten sie sich bis zum Hafen vorgearbeitet.

Die Spuren des Kampfes legten Zeugnis über den Verlauf der Schlacht ab.

Einer der Soldaten blickte hinaus in die künstliche Bucht und entdeckte etwas im Wasser treibend. “Schaut, dort!”, rief er seinen Kameraden zu.

Das Objekt schien sich an einem Pfeiler des Stegs verhakt zu haben.

Es schien sich um eine Person zu handeln.

Sofort eilten drei der Soldaten über den ramponierten Übergang, dem seltsamen Objekt entgegen. Als sie es erreichten, bewahrheitete sich ihre Vermutung. Es handelte sich tatsächlich um eine Person. Ein männlicher Elf mit langen seidigen Haaren, welche frei im Wasser trieben und von den Wellen in Bewegung gesetzt wurden. Es gab gar keinen Zweifel an der Identität der Person. Es musste sich um Kommandant Surin handeln. Sein Oberkörper zierte eine Schnittwunde, welche ihm diagonal beigebracht wurde. Allerdings schien das Blut bereits geronnen zu sein.

Vorsichtig frischten die Soldaten den vermeintlichen Kadaver aus dem Wasser.

Der Routine folgend wurden die Vitalfunktionen geprüft. “Ich spüre einen Puls!”, verkündete einer der Männer verwundert.

Surin riss plötzlich seinen Mund auf und begann zu schnarchen.

“Ich fasse es nicht, der pennt!”
 

Nach erfolgreicher Jagd kehrten Nebula und die anderen zurück zum Lager, in dem Henrik schon sehnsüchtig auf sie warten musste. Ihre Bemühungen zur Nahrungsbeschaffung hatten sich ausgezahlt. Jeder leistete seinen Teil, egal wie groß dieser ausfiel. Für die der Jagd bewanderten, stellte es keine besondere Herausforderung dar. Clay und Nebula brachten beide je ein Rotwild zur Strecke. Annemarie sammelte Beeren und Pilze, so wie man es ihr aufgetragen hatte. Cerise interessierte sich einzig für die giftigen unter ihnen. Für Aki kam es einer Prüfung gleich. Sie nutzte die Gelegenheit, ihre Belastbarkeit auszutesten. Toshiro fühlte sich wie Zwiegespalten. Er wollte nicht, dass sie sich überanstrengte, aber von ihrer Pflicht ließ sie sich so oder so nicht abhalten.

Fürs erste sollte dies genügen.

Bald würden sie sich sowieso nur schwerlich selbst versorgen können, denn sie konnten den Schnee förmlich riechen, wie er oben in den Wolken hing, bereit auf sie herabzurieseln. Früher oder später würden sie die Stadt erreichen. Bis dahin konnten sie ihre Überschüsse unter der Hand loswerden. Nicht dass jemand in Lescar auf die Idee kam, unangenehme Fragen zu stellen. In Aschfeuer gab es gewiss ähnliche rechtliche Grundlagen für die Jagd, wie in Morgenstern, und eine Anklage wegen Wilderei konnten sie nicht gebrauchen.

Mit ihrer reichen Beute betraten sie das Camp.

Wie erwartet, kam Henrik ihnen sogleich entgegen. Er sah merkwürdig aus. Seine Haare wirkten, als hätten sie Bekanntschaft mit dem Lagerfeuer gemacht.

“Was ist denn mit dir passiert?”, fragte Cerise. Sie gab sich keine Mühe, ihr Lachen zu verbergen. “Hast du dein Haupthaar als Zunder benutzt?”

“H-Ha ha”, erwiderte Henrik wenig begeistert.

“Was ist denn passiert?”, fragte Annemarie mit großen Augen.

“Das glaubt ihr m-mir doch s-sowieo nicht…”, befürchtete der Braunhaarige.

“Versuche es!”, forderte ihn Nebula auf.

“D-Der Junge wars!”

Unverständige Blicke trafen ihn.

“E-Er hat g-gerülpst… und d-”

“-dabei deine Haare in Brand gesteckt?”

“J-Ja!”

Jetzt starten sie ihn an, als hätte er nicht mehr alle Groschen im Klingelbeutel.

“E-Es ist die W-Wahrheit!”

Er hatte Recht. Niemand wollte ihm Glauben schenken.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nach ihrem Kampf gegen Surin haben Sjur und Valdis mit ihren Warägern ein Blutbad in Asenré veranstaltet und sich für die Niederlage am stählernen Wall gerächt. Doch auf einen Gegenschlag folgt meist ein weiterer Gegenschlag und Frieden rückt in weite Ferne…

Derweil muss sich Henrik damit herumschlagen, dass ihm niemand glauben will. Früher oder später werden sie es jedoch tun müssen. 😉 Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Regina_Regenbogen
2023-08-20T13:00:06+00:00 20.08.2023 15:00
In diesem Kapitel ist so viel passiert, dass ich mehrere Ansätze brauchte. Ich muss gestehen, die kurzen Kapitel von früher waren mir lieber. Doch die zahlreichen Handlungsstränge, die gerade parallel laufen, bedürfen natürlich Raum.
Puh, wo fange ich an.

Erst mal bin ich von deinen zahlreichen Beschreibungen von Situationen, Umgebung und damit den Blickwechseln sehr beeindruckt und auch von der Vielfalt der Charaktere, die ja nun immer mehr werden.
Die Figuren sind vielversprechend. Das Maß der Zerstörung besorgniserregend.
Ich war überrascht, dass Rose so jung ist.
Ich bin schon gespannt, was wir noch von Surin sehen werden. Und von den Warägern. Es ist immer spannend, dass du allen Figuren so viel Raum gibst und sie auch nicht als einfach böse zeigst trotz ihrer Taten.
Der nächste Werwolf ist auch schon da.
Ich lese gleich mal weiter, um meine Neugier zu stillen.


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