Zum Inhalt der Seite

Alternate Reality

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Level 2

Er schaffte es, sich genau so lange zu beherrschen, bis Kazuki den ersten Bissen Toast genommen hatte. Dann gab es kein Halten mehr, der Bericht über seine gestrigen Erlebnisse sprudelte ungefiltert und ohne Punkt und Komma aus Honeys Mund. Mit weiten, ausschweifenden Gesten beschrieb er die Gefahren des Dungeons, zitierte lachend die schlüpfrigen Andeutungen, die zwischen Chal und Nyame gefallen waren und verzog ausdrucksstark das Gesicht, während er über Voids unmögliches Verhalten berichtete.

Kazuki war – von den langen Jahren ihrer Freundschaft abgehärtet und mit dem Gemüt einer sturmfesten Eiche ausgestattet – so klug, die schillernden Ausführungen des anderen Studenten nicht zu unterbrechen. Seine Reaktion, nachdem Honey stolz damit geendet hatte, dass er in eine der bekanntesten Gilden in Jibrile Online eingeladen worden war und möglicherweise ebenfalls einen Platz für seinen Freund gesichert hatte, war allerdings wenig enthusiastisch.

„Ich weiß nicht.“

Der Ausdruck kaum gebändigter Aufregung fiel prompt aus Honeys Gesicht und er starrte seinen besten Freund über den Frühstückstisch hinweg fassungslos an. Er kannte Kazuki und wusste, dass dieser sich nicht gerade von seinen Gefühlen leiten ließ (Wie ein Fähnchen im Wind, wie der junge Japaner es gerne bezeichnete, wenn es wieder einmal Honey war, der vor Begeisterung für irgendetwas entbrannte), aber war in diesem Fall nicht ein wenig Freude durchaus ausnahmsweise mal angebracht?

„Komm schon“, gab er in unmissverständlich drängendem Tonfall zurück und blickte seinen Freund, der seine Aufmerksamkeit schon wieder auf seinen lange negierten Toast gerichtet hatte, flehend an, „Du hast letztens gesagt, das Spiel beginnt, dich zu langweilen. Mit einer richtigen Gilde könnten wir so viel abziehen!“

Kazuki nahm stumm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse, den Blick nach innen gekehrt, so wie er es immer machte, wenn er sich schwer tat, eine Sache auf den ersten Blick einzuschätzen und für gut zu befinden. Seine vom Schlaf noch zerzausten, dunklen Haare mit den eingefärbten weißen Strähnen verliehen ihm für den Moment weniger das erstrebte punkige Aussehen, als vielmehr den Eindruck eines explodierten Pandabären. Die tiefen Augenringe taten ihr übriges.

 

Unruhig rutschte Honey auf seinem Platz hin- und her. Er wusste, wenn er seinem Freund nicht den entscheidenden kleinen Schubs gab, würde dieser das Problem tagelang in seinem Kopf wälzen und seine Zustimmung oder Ablehnung ewig vor sich her schieben. Kazuki war noch nie jemand gewesen, der gut oder gerne mit anderen Menschen auskam, egal ob online oder in der Realität. In ihrem ersten Semester hatte Honey ihn einmal mit auf irgendeine Studentenparty mitgeschleppt (wie auch immer er das damals geschafft hatte) und ihn irgendwann eingeschlossen im Badezimmer des Gastgebers wiedergefunden, Sudoku auf seinem Handy spielend und darauf harrend, dass Honey ihn irgendwann wieder mit nach Hause nehmen würde. Das war das letzte Mal gewesen, dass Honey versucht hatte, seinen Freund zu mehr sozialer Interaktion zu bewegen.

Aber das hier war anders. Honey wusste nicht einmal, warum er so wild darauf war, sich dieser Gilde anzuschließen, aber irgendetwas an der Art, wie Void ihm von dieser Gruppe erzählt hatte, erregte sein Interesse auf nahezu unwiderstehliche Art und Weise. Okay, er war vermutlich wirklich leicht zu begeistern. Aber ohne Kazuki…

 

„Ein Raid, okay?“, startete er mit bittender Stimme einen zweiten Anlauf und ließ sich von seinem Platz aus auf den Stuhl neben Kazuki fallen, „Mach einfach den Raid heute Abend mit und dann kannst du immer noch entscheiden, ob du es wirklich so schrecklich findest? Dann pfeifen wir auf die Gilde und gehen wieder zusammen Mid-Level Monster verkloppen.“ Um seine Aussage zu unterstreichen, stieß er seinen Freund leicht aufmunternd grinsend mit der Schulter an.

Wegen des Haargestrüpps in Kazukis Gesicht war es schwer, absolut sicher zu sein, aber Honey meinte zu erkennen, dass sich die Haltung des Japaners angesichts seiner Worte wieder etwas entspannt hatte. Abwartend blickte er seinen Freund von der Seite an, bis dieser schließlich leise seufzte und mit seinem üblichen, immer etwas desinteressiert wirkenden Tonfall erwiderte:

 

„Meinetwegen. Ein Raid.“

„Nur einer.“

„Und wenn sie mir auf die Nerven gehen, bin ich weg.“

„Absolut.“

„Okay.“

„Okay.“

 

Honey hatte Mühe, das Gefühl des Triumphs nicht allzu deutlich nach außen treten zu lassen, als sich Kazuki daraufhin wieder seinem Frühstück zuwandte, als ob nichts gewesen wäre. Nachdem also dieser Punkt geklärt war, galt es lediglich, die Stunden bis zum Abend einigermaßen herumzubringen. Vielleicht würde er sich Honey ja heute tatsächlich einmal zum Lernen anschließen.

 

***
 

Die qualvoll röchelnden Laute der sterbenden Dämonenwesen schwollen zu einem regelrechten Crescendo aus Tod und Verderben an, während das Klirren der Schwerter und der monotone Sing-Sang zitierter Zaubersprüche durch die ewigen Hallen von Kain’s Kingdom dröhnten. Ein Augenblick der Glorie, der das Blut zum Kochen brachte und einen in Ehrfurcht erstarren lassen mochte… doch Honey dachte für den Moment gar nicht daran, zu erstarren. Seine Finger tanzten flink über die Tastatur, während er seinen ganz eigenen, süßen Triumph auskostete.

 

[PM to Piano]: du bist ja immer noch nicht weg :D

[PM from Piano]:

[PM to Piano]: man könnte fast meinen, du hättest…spaß? :DD

[PM from Piano]: …deine hp sind fast am ende.

 

Honey konnte Kazukis unwilliges Gesicht geradezu vor sich sehen und er war froh, dass sein Freund in seinem eigenen Zimmer vor dem Rechner saß und nicht hören konnte, wie er amüsiert auflachte. Das hätte ihm ohne Zweifel eine ziemlich schmerzhafte Kopfnuss eingebracht.

Kazuki hatte tatsächlich Wort gehalten und sich am Abend mit seinem Spiele-Avatar, einem Heiler namens Piano, vor dem Dungeon eingefunden, den Honeys neue Gilde als Treffpunkt für ihre erste gemeinsame Gruppenunternehmung auserkoren hatte.

 

Trotz aller Vorfreude war Honey zuvor dann doch nervös geworden, sodass er insgeheim ein wenig froh war, dem Ganzen nicht alleine gegenübertreten zu müssen. Nur für den Fall, dass sich Peace Squad doch als die elitäre Gruppierung herausstellte, deren Ruf weit voraneilte.

 

Das einzige, was sich allerdings letztlich herausgestellt hatte, war die Tatsache, dass Honey sich vollkommen umsonst gesorgt hatte. Von den etwa fünfzehn Gildenmitgliedern war tatsächlich der größte Teil zur Verabredung erschienen und allesamt hatten die beiden Neuankömmlinge geradezu mit offenen Armen empfangen. Offenbar galt die Empfehlung eines Gründungsmitglieds als gewaltiger Vertrauensvorschuss, denn niemand machte auch nur die geringsten Anstalten, Voids Entscheidung in Frage zu stellen.

 

Bald schwirrte Honey der Kopf von der Flut an Nachrichten, die auf seinem Bildschirm erschien, und es fiel ihm zunächst schwer, einen Überblick über die vielen unterschiedlichen Namen und Avatare zu behalten. Peace Squad war, wie er im Laufe der Chatgespräche erfuhr, ursprünglich eine Gruppe von Freunden gewesen, die sich aus dem realen Leben kannten und teilweise sogar zusammen in derselben Firma arbeiteten.

 

Gildenleiter war ein Erzmagier namens Deva, der die beiden Neuankömmlinge warm willkommen geheißen und ihnen sofort zugesichert hatte, dass sie sich bei jeglichen Fragen oder Problemen jederzeit an ihn wenden konnten. Sein Stellvertreter trug den wenig beeindruckenden Nicknamen Mascot, war jedoch allem Anschein nach ein ruhiger, zurückhaltender Charakter, der sich eher durch ausgefeilte Formulierungen als durch große, blumige Reden hervortat.

 

Natürlich war auch Void wieder mit dabei, ließ in seiner üblichen, rauen Art und Weise hier und da eine Bemerkung fallen und war insgesamt eine nahezu angenehme Konstante zwischen dem Gewirr an unbekannten Spielern. Aus der Art, wie er mit den beiden Gildenleitern umging und diese ihn gewähren ließen, schloss Honey, dass Void recht vertraut mit ihnen sein musste, während die meisten anderen Mitglieder Deva und Mascot mit einem gewissen Respekt gegenübertraten. Nun, vielleicht kannten sie einander auch einfach schon lange genug, sodass sie über Voids ungehobelte Eigensinnigkeit nur noch müde lächeln konnten.

 

Den Rest der vielen neuen Namen würde Honey sich vermutlich nach und nach einprägen. Dass er die Gelegenheit dazu bekommen würde, darüber war er sich spätestens nach dem überaus erfolgreichen Gildenraid in Kain’s Kingdom sicher. Kazuki konnte es noch so sehr leugnen – die gemeinsame Unternehmung mit Peace Squad hatte verdammt viel Spaß gemacht, und so verwunderte es Honey nicht weiter, dass wenige Zeit später, als sie alle sich in der nächstgelegenen Stadt zusammengefunden hatten, auch über dem Namen von Kazukis Spielfigur Name und Emblem der Gilde prangten.

 

[Guild][Deva]: Gut gemacht, alle miteinander. :) Auch unsere beiden Neuankömmlinge. Void hat euch gut ausgesucht.

[Guild][Honey]: klingt ein bisschen nach casting. Ist void eure heidi klum? :D

[Guild][Void]: wtf

[Guild][Deva]: Eigentlich bringt er sonst nie neue Leute mit in die Gilde. Er erscheint immer ein wenig unhöflich, aber wenn er dich eingeladen hat, muss er dich mögen. ;)

 

Honey stutzte für einen Moment, musste dann jedoch leicht grinsen, als Voids Antwort darauf lediglich aus einem sehr unflätigen, grafischen Emoticon bestand. Typisch. Deva hatte recht, Void war verdammt unhöflich zu ihm gewesen. Aber mittlerweile war er ihm deswegen nicht einmal mehr böse, zumal er während ihres Gildenraids nach und nach verstanden hatte, dass dies ganz offensichtlich Voids Charakter war und die anderen Gildenmitglieder keinen großen Anstoß daran nahmen.

 

[Guild][Honey]: schon okay. gibt ja auch tatsächlich viele idioten in diesem spiel.

[Guild][Deva]: Oh. Schlechte Erfahrungen?

[Guild][Honey]: asoziale leute die einem das loot vor der nase wegklauen.

 

Honey lächelte bitter. Der Vorfall mit den Stiefeln war noch immer etwas, was er nicht aus seinem Kopf gestrichen hatte, so albern es auch war. Er hatte Ewigkeiten darin investiert, sich gemeinsam mit Kazuki durch einen mehr als ätzenden Dungeon zu schlagen und stundenlang gegen ein widerliches Schleim-Bossmonster angekämpft, nur am Ende zuzusehen, wie ein unbeteiligter Zuschauer sich die „Legendären Stiefel des Schlangengottes“ unter den Nagel riss. Es tat gut, sich vor anderen Leuten darüber auslassen zu können, zumal die anderen Gildenmitglieder voller Verständnis für seine Wut waren.

 

[Guild][Deva]: Ohje. Nun, hier wird dir das sicherlich nicht passieren. Wir führen unsere Raids immer gemeinsam aus und passen aufeinander auf. :)

[Guild][Mascot]: Wir versuchen auch immer, alle Mitglieder auf einem gleichen Level zu halten, damit niemand von den Levelrestriktionen mancher Quests ausgeschlossen wird.

[Guild][Void]: ahja…deshalb seid ihr penner letzte woche auch ohne mich losgezogen?

[Guild][Mascot]: @Void: Du bist nicht zum verabredeten Leveln erschienen.

[Guild][Void]: weil ich, verdammt nochmal, überstunden machen musste.

 

Ah. Das erklärte natürlich auch im Nachhinein, warum Void bei ihrem ersten Kennenlernen alleine unterwegs gewesen war und sich einer Gruppe fremder Spieler angeschlossen hatte, anstatt mit seiner Gilde unterwegs zu sein.  Eine Weile lang verfolgte Honey das Chatgespräch, las mit, wie Deva den Gunslinger beschwichtigte und Mascot ihm einschärfte, das nächste Mal einfach rechtzeitig Bescheid zu sagen. Er musste schmunzeln, während er daran dachte, wie nervös er gewesen war, die Mitglieder von Peace Squad kennenzulernen. Sie schienen alle ziemlich okay zu sein.

Mit voranschreitender Uhrzeit dezimierten sich die Zahlen des Anwesenden im Gildenchat, als sich immer mehr Mitglieder verabschiedeten. Irgendwann teilte ihm auch Kazuki per PM mit, dass er sich zurück ziehen würde, um morgen in aller Frühe weiter für seine Klausuren zu lernen. Honey verabschiedete sich von ihm und ließ seinen Blick über die beinahe ausgestorbene Kontaktliste des Gildenchats schweifen. Außer ihm selbst war nur noch Void übrig, der allerdings bereits seit einer halben Stunde nichts mehr zum allgemeinen Gespräch beigetragen hatte. Nicht, dass Honey die Minuten gezählt hätte.

Er wusste nicht genau, ob Void gerade anderweitig beschäftigt war, und ebenso wenig, was er mit dem anderen Spieler hätte reden können, auch, wenn er gerne noch ein wenig geplaudert hätte. Mit einem Seufzen beschloss Honey, dass er für heute ebenfalls Schluss machen würde, und so tippte er einen schnellen Abschiedsgruß in das Chatfenster:

 

[Guild][Honey]: bin dann auch weg. Lass dir nicht wieder überstunden aufdrücken, du hast versprochen, mit uns zu leveln! ;) Nacht!

 

Nach dem Absenden der Nachricht wartete Honey noch einige Augenblicke, doch Void schien wirklich beschäftigt zu sein, denn es kam keine Antwort. Er war fast ein wenig enttäuscht, obwohl er selbst wusste, dass das albern war.

Gerade, als Honey sich aus dem Gildenchat ausgeloggt hatte und drauf und dran war, noch einen kurzen Blick auf das Auktionshaus zu werfen, bevor er wirklich den Computer ausschalten würde, bemerkt er ein Blinken am oberen Bildschirmrand. Verwirrt und neugierig darüber, wer ihm um dieser Uhrzeit eine Nachricht schickte, rief Honey sein virtuelles Postfach auf und klickte auf die eingegangene PM.

„Was zum…“

 

» Der User VOID hat dir das Item „Legendäre Stiefel des Löwengottes“ gesendet und folgende Nachricht hinzugefügt:
 

Passt eh besser zu dir als die Schlangentreter.

«



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Ru-chan88
2020-01-31T21:26:40+00:00 31.01.2020 22:26
Hey,
ich finde deine ff sehr interessant und freue mich schon auf die nächsten Kapitel. Bin echt gespannt, wie es mit den beiden wohl weitergeht^^
Antwort von:  Newt
01.02.2020 12:52
Vielen Dank für deinen Kommentar, ich freue mich, wenn die Geschichte gelesen wird. <3


Zurück