Menschliche Fehler
„Ich kann immer noch nicht fassen, dass ihr tatsächlich gewonnen habt. Schade, dass ihr das Geld teilen müsst“, meinte Etsuko und öffnete eine Dose Cola.
„Genau genommen war es ja auch Hideakis Idee. Er hat uns wohl belauscht, wie wir geprobt hatten und fand, dass unsere Songs gut miteinander harmonieren würden“, antwortete Mimi und setzte sich auf einen freien Stuhl.
„Er ist trotzdem ein Idiot“, grummelte Masaru und nippte an seinem Bier.
„Aber immerhin können wir ein neues Klavier kaufen! Idiot hin oder her“, sagte Mimi freudig und lehnte sich zurück.
Etsuko verrollte nur die Augen und schloss mit einer Hand ihren Laptop am Beamer an, da sie ihnen einige Filmszenen schon vorab präsentieren und von jedem noch eine Einzelaufnahme machen wollte.
Direkt nach der Schnitzeljagd hatte sie sich mit Yasuo getroffen und seine, mit ihren Filmaufnahmen, gemeinsam ausgewertet.
Sie hatten vormittags die Bar meist für sich und waren zu fünft, als Chiaki sich vor zehn Minuten kurz nach draußen verzog. Er sagte, er wollte kurz frische Luft schnappen, war jedoch immer noch nicht zurückgekehrt.
Sorgenvoll musterte Mimi die Hintertür, aus der er verschwunden war. Beide hatten seit Norikos Tod nicht sonderlich viel miteinander gesprochen gehabt, sondern kommunizierten mehr durch die Musik, statt wirklich zu reden.
Unruhig rutschte sie ihren Stuhl rauf und runter, während sich Masaru belanglos mit seinem Bruder unterhielt, der schon vollkommen euphorisch durch die Gegend hampelte. Etsuko war immer noch mit dem Beamer beschäftigt, als Mimi sich erhob und vorgab auf die Toilette zu verschwinden.
In einem unbeachteten Augenblick huschte sie zur Hintertür hinaus und schloss diese bedacht.
Sie musste nicht lange suchen, um Chiaki zu finden, der auf einem kleinen Mauervorsprung saß und in den Himmel stierte.
Er hatte sie noch nicht mal bemerkt, als sie sich langsam zu ihm hinbewegte.
Sie stieg zu ihm hoch und berührte leicht seine Schulter, als er sich prompt erschreckte und ins Straucheln kam.
„Man Mimi, musst du mich so erschrecken?“, fragte er als er sich wieder gefangen hatte und seine Hand gegen seinen Brustkorb drückte.
Chiaki machte ihr sofort Platz, sodass sie sich setzen konnte.
„Warum kommst du nicht rein? Etsu ist sicher gleich fertig und will…“
„Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, dass alles zu sehen“, unterbrach er sie und sah augenblicklich in die andere Richtung. Er biss sich auf die Unterlippe und verzog qualvoll das Gesicht.
„Ich habe meinen Eltern noch nicht mal das mit der Hochzeit erzählt und jetzt sitze ich hier und ärgere mich, dass auf ihrem Grabstein Yamaguchi stehen wird“, sagte er von Trauer zerfressen.
Mimi schluckte und hatte keine Ahnung, was sie ihm daraufhin antworten sollte.
Die Hochzeit war immer ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen ihnen geblieben, dass keiner einfach so preisgeben wollte. Mimi schielte unauffällig auf seinen Ringfinger und stellte fest, dass er den Ring immer noch trug und noch nicht abgelegt hatte.
„Meinen Eltern habe ich gesagt, dass es ein Freundschaftsring sei“, erwiderte er unvermittelt, nachdem Mimi zu lange auf seine Hand gestarrt hatte. Er zog die Finger ein und sah beschämt zu Boden.
„Ich habe das Gefühl, sie verleugnet zu haben, auch wenn wir es von Anfang an für uns behalten wollten. Unsere Eltern hätten es eh nicht für gut gefunden, in unserem Alter zu heiraten. Schon gar nicht unter diesen Umständen“, er fuhr sich schnell über seine Augenpartie und zog ungeniert die Nase hoch.
Betroffen senkte Mimi den Kopf und zog ihre Beine näher an ihren Körper.
„Ich habe erst vor kurzem meiner besten Freundin von ihr erzählt. Es hat Monate gedauert, bis ich mich jemandem anvertraut hatte und trotzdem weiß so gut wie gar keiner über sie Bescheid“, murmelte sie und fixierte einen unbestimmten Punkt an der Wand. „Ich weiß noch nicht mal wieso. Es hat so wehgetan, alles nach und nach zu erfahren, dass ich einfach nur mit mir beschäftigt war und keinem erzählen konnte, was ich für einen tollen Menschen ich als Schwester hatte.“
Chiaki legte den Kopf schief und bettete ihn auf seinen Knien. „Vielleicht ist das manchmal auch einfach so. Das man sich erst selbst heilen muss, bevor man andere an sich heranlassen kann.“
„Meinst du? Sie war mein größtes Geheimnis, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte“, antwortete sie verzweifelt.
„Du wolltest dich selbst schützen. Ich kenne so viele Menschen, die Noriko herablassend angeguckt haben, weil rauskam, dass ihr Vater die Familie verlassen hatte. Die meisten kannten noch nicht mal den wirklichen Grund, aber wir leben in einer Gesellschaft, in der du schneller dein Gesicht verlieren kannst, als dir liebt ist“, sagte er in einem aufbrausenden Ton. „Es ist egal, wie liebevoll und engelsgleich ein Mensch ist, es zählt nur dein Ruf, der durch Nichtigkeiten zerstört werden kann.“
Er ballte die Fäuste, während Mimi ihn nachdenklich anblickte. Sie konnte sich denken, was er meinte. Oft hatte sie mitbekommen, wie Noriko und Ayame von ihren Nachbarn herablassend angesehen wurden, auch wenn sie ihre Geschichte nicht kannten. Es gab eben keinen Vater und die Geschichten entwickelten ein Eigenleben.
Es war unfair. Doch Menschen konnten nun mal grausam sein.
Mimi atmete tief ein und sammelte sich langsam wieder. Sie war schließlich nicht grundlos zu Chiaki gegangen. „Trotzdem sollten wir uns nicht unterkriegen lassen und den Menschen zeigen, wer sie wirklich war. Das war ihr Wunsch und den sollten wir ihr auch erfüllen.“
„Ich weiß, aber…“
Er hielt inne und legte seinen Lippen fest aufeinander, als Mimi sich zu ihm vorbeugte und seine Hand fest drückte. „Du kennst sie besser als jeder andere, bitte lass‘ uns reingehen“, bat sie ihn hoffnungsvoll.
Wie erstarrt blickte er sie an, schien mit sich selbst zu kämpfen, bis er sich langsam regte, aus ihrem Griff befreite und bereitwillig die Mauer verließ.
Mimi sah ihm zuerst etwas verdattert nach, lächelte aber dann, als er ihr die Hand hinstreckte und bereit war, ihren Weg gemeinsam weiterzugehen.
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Die nächste Woche rauschte einfach so an ihr vorbei und war gespickt mit diversen Vorbereitungen, die ihre volle Aufmerksamkeit forderten.
Takeru und Hikari hatten sich spontan in den Kopf gesetzt, eine kleine Abschiedsparty für Matt und Sora zu schmeißen, weshalb sie sämtliche Kräfte mobilisierten. Gemeinsam hatten sie eine kleine Feier organisiert, die sie in der gleichen Halle ausrichteten, wie Tais Geburtstag.
Die Party war bereits schon voll im Gange, als Mimi sich zurückhaltend auf einen der Tische hockte.
Sie hatte Tai bereits gesehen, der immer noch nicht mit ihr sprach und lieber auf Abstand ging, als mit ihr zu reden.
Der Rest amüsierte sich ausgelassen. Davis tanzte gemeinsam mit Ken und Yolei, während Kari und TK wild umherwuselten und sich um das Wohlbefinden aller kümmerten.
Sora und Matt hatten sich sehr über ihre kleine Überraschungsparty gefreut, auch wenn Mimi beide aus ihrem Blickfeld verloren hatte.
Nachdem sie ihren Becher leergetrunken hatte, machte sie sich auf die Suche nach ihrer besten Freundin, um noch etwas Zeit mit ihr genießen zu können.
Sie ging an einem Abstellraum vorbei, als sie abrupt stehen blieb und leise zurückschlich. Die Tür war einen Spalt geöffnet und Mimi konnte zwei Personen ganz klar in dem Raum erkennen.
Es handelte sich um Sora und Matt, die sich miteinander unterhielten.
„Ist echt niedlich, wie viel Mühe sich unsere Freunde geben, oder?“, kam es von Sora, die gerührt zu Matt blickte.
„Ja, vor einem Jahr hätte ich nicht gedacht, dass wir diejenigen sind, die in die weite Welt ziehen werden“, antwortete er überwältigt.
„Das stimmt“, murmelte Sora kleinlaut, „vor einem Jahr war vieles noch anders.“
Ihre Stimme klang wehmütig und von Schmerz erfüllt, sodass Mimis Stimmung ebenfalls ins Bodenlose segelte. Sie konnte sich vorstellen, dass es für Sora alles andere als leicht war, besonders nachdem sie festgestellt hatte, dass Matt derjenige war, für den ihr Herz schlug.
„Es tut mir alles so leid. Ich weiß nicht, warum alles so schief gelaufen ist, aber du sollst wissen, dass ich keinen Augenblick mit dir bereut habe.“
Mimi hielt die Luft an und lauschte gespannt, was Matt ihr daraufhin antworten würde.
„Ich habe auch nichts bereut, aber es gibt vielleicht Menschen, die einfach nicht zusammen kommen sollen. Irgendwie hat das Universum etwas gegen uns“, lachte er schwermütig.
Mimi schielte in den Raum und erkannte, dass Sora den Kopf gesenkt hatte und leise schluchzte, als Matt liebevoll den Arm um sie legte.
„Bitte Sora, du weißt doch, dass ich es nicht ertrage, wenn du weinst“, antwortete er herzzerreißend.
„Ich weiß, aber ich vermisse dich. Ich vermisse uns“, sagte sie weinerlich und Mimi trat einen Schritt zurück. In ihr kam das Gefühl auf, dass es falsch war, weiterhin zuzuhören. Es ging schließlich um ihre Beziehung, die kaputt gegangen war.
Langsam schritt Mimi zurück, beobachtete noch eine Weile die Tür, hinter der sich ihre beiden Freunde befanden und um ihre Beziehung trauerten.
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Leise verzog sie sich nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Sie lehnte sich gegen das kühle Metall und fasste sich an ihre Stirn.
Es fühlte sich furchtbar an, zu wissen, wie sehr Sora und Matt tatsächlich unter ihrer Trennung litten. Auch ihr schlechtes Gewissen wuchs unaufhörlich, wenn sie daran dachte, Sora so übel hintergangen zu haben. Sie hatte selbst keine Erklärung, warum es damals so weit gekommen war.
Mimi stöhnte leise und sah auf, als sie plötzlich erstarrte.
Sie blickte in zwei sehr vertraute braune Augenpaare, die sie schweigsam musterten.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören“, sagte sie mit trockener Kehle und wandte sich schnell herum. Sie legte die Hand auf die Türklinke und drückte sie nach unten, doch die Tür ging nicht wieder auf. Verzweifelt ruckelte sie am Griff und schimpfte leise vor sich hin, als sie unauffällig zu ihm schielte.
Unsicher presste sie die Lippen aufeinander und drehte sich langsam zu ihm.
„Die Tür klemmt wohl“, murmelte sie leise, als er nur augenverdrehend zu ihr rüber gestiefelt kam und ebenfalls die Klinke nach unten drückte.
„Na ganz toll“, grummelte er und warf Mimi einen vorwurfsvollen Blick zu, den sie mit senkendem Kopf erwiderte.
„Tut mir leid“, entgegnete sie flüsternd, als Tai sich wieder der Tür zuwandte und dagegen schlug.
„Hallo?! Ist hier jemand? Die Tür klemmt“, rief er verzweifelt und hämmerte weiter dagegen, während Mimi sich gegen die Wand presste. Ein paar Regentropfen rieselten auf die Erde hinab und wurden immer stärker, als sich Tai fluchend von der Tür entfernte und gemeinsam mit Mimi Schutz unter der kleinen Überdachung suchte.
Eng gepresst standen sie nebeneinander und sahen wie der Regen die Erde bedeckte. Frierend verweilte Mimi neben ihm, da sie ihre Jacke drinnen vergessen hatte.
Sie schlotterte etwas, vermied es jedoch ihn anzuschauen, als sie auf einmal das Geräusch eines Reißverschlusses vernahm.
Unvermittelt hielt Tai ihr seine braune Strickjacke entgegen. Verwundert sah Mimi zu ihm auf und bemerkte wie er stur in eine andere Richtung starrte.
„Dir ist kalt und sie ist noch relativ trocken“, meinte er nur und klang immer noch recht abweisend zu ihr.
„Danke“, flüsterte sie verhalten und nahm seine Jacke entgegen. Ihre Hände berührten sich kurz, als er zu ihr hinabstarrte. Ihre Bewegungen froren ein und ein intensiver Blickwechsel folgte, der ihr Innerstes zum Kochen brachte.
Wehleidig betrachtete sie ihn und fuhr mit ihrer Hand über seinen nackten Arm, da er nur ein T-Shirt anhatte.
Er fehlte ihr so sehr, dass sie sich zusammenreißen musste, nicht vor ihm zu weinen. Seine abweisende Art verletzte sie immer mehr, weil sie wusste, dass sie nicht unschuldig an diesem Missverständnis war.
Tai beobachtete sie nur ausdrucklos und wollte sich langsam aus ihrem Griff befreien, als Mimi sachte den Kopf schüttelte und näher an ihn heranrutschte.
„Bitte, gib‘ mir eine Chance, es dir zu erklären“, flehte sie kläglich und umschloss mit ihren zarten Fingern, seine Faust, die sich gebildet hatte.
Er drehte den Kopf weg und murmelte etwas Unvollständiges, als er sie etwas beiseiteschob und sich von ihr abwandte. Sie zog sich nur schweigsam sein Jäckchen an und roch seinen betörenden Duft, der ihr alle Sinne vernebelte.
„Du konntest es mir am Abschlussball nicht erklären, warum solltest du es jetzt können?“, stellte er ihr die Gegenfrage und drehte sich ihr wieder zu.
Ein wenig verzweifelt fuhr sie sich durch die langen Haare und strich sie sich hinter ihre Ohren.
„Weil ich lange genug weggelaufen bin und dir unbedingt die Wahrheit erzählen möchte“, gestand sie ihm und spielte an dem Reißverschluss seines Jäckchens, das ihr viel zu groß war.
„Und was willst du mir sagen? Das Toya einfach so viel besser ist, als ich es je war?“, knurrte er herablassend. „Das du seinem Charme nicht wiederstehen konntest?“
„Hör endlich damit auf! Er ist mir egal! Wann verstehst du das endlich?“, brüllte sie aufgebracht und stampfte wütend mit dem Fuß auf.
„Und um wen ging es dann? Warum hast du mich damals versetzt?“, fragte er bestimmt. „Gibt es noch irgendeinen Kerl, oder was?“
„Es gibt keinen anderen Kerl“, zischte sie aufbrausend. „Es ging um ein Mädchen!“
„Ein M-Mädchen?“, hakte er nach und war vollends verwirrt.
Mimi nickte nur bestätigend.
„Ja, sie hat einfach mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt und ich wusste nicht, wem ich mich anvertrauen sollte“, antwortete sie beschämt, während Tai so rot anlief, wie ein Feuermelder. Zu gern hätte sie gewusst, was er in diesem Moment gedacht hatte, doch sie nahm ihm gleich sämtliche Illusionen und Fantasien, indem sie das aussprach, vor dem sie lange Zeit so große Angst hatte.
„Ihr Name ist Noriko und sie ist meine Halbschwester.“
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„Warum hast du uns das nicht alles früher erzählt?“ Beide hatten sich auf den Boden gehockt, während er seine Beine angestellt und seine Arme locker darauf platziert hatte. Mimi hingegen erzählte einfach alles, was ihr zu Noriko einfiel. Hauptsächlich erwähnte sie, wie sehr sie sie vermisste.
„Ich hatte Angst und war mit allem nur überfordert gewesen. Plötzlich hatte ich eine Schwester, die mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt hat. Die Ehe meiner Eltern ist dadurch kaputt gegangen und dann erfahre ich, dass sie nicht mehr lange leben wird! I-Ich wusste auch nicht, wie ich all das verarbeiten sollte“, offenbarte sie ihm schweren Herzens, auch wenn sie all das schon Sora erzählt hatte. Bei Taichi fühlte es sich alles viel intensiver an, auch wenn sie bei ihm ihre Emotionen besser kontrollieren konnte.
„Sie war das Mädchen, das ich nach unserem Streit gesehen hatte. An der Schule, oder?“
Sie schlang ihre Arme um ihre Beine und presste sie fest an ihren Körper, als sie zaghaft nickte.
„Ich konnte dir damals nicht die Wahrheit sagen. Ich wollte einfach nur noch weg und als sie dann noch aufgetaucht war, hatte ich Panik bekommen. Sie war damals schon so schwach und gebrechlich gewesen, dass ich sie nur noch nach Hause bringen wollte und dich einfach abgefertigt hatte, ohne dir richtig zuzuhören“, gab sie resigniert zu und schämte sich für ihr Verhalten.
Tai sah in den Nachthimmel, während der Regen allmählich nachließ.
„Wir alle machen doch Fehler“, hauchte er, sah sie aber nicht dabei an, während sie an seinen Lippen hing. Sie hatte ihm so viel erzählt und er hatte sie kein einziges Mal unterbrochen – nun war sie gespannt, was er ihr zu sagen hatte.
„Ich habe auch viele Fehler begangen, die ich nicht mehr rückgängig machen kann“, er lächelte schwach und wandte seinen Blick nicht von den Sternen. „Damals hätte ich nicht einfach gehen sollen, sondern mit dir reden müssen.“
Mimi schluckte hart, als sie automatisch an ihre erste und einzige gemeinsame Nacht zurückdachte. Es hatte ihr so unheimlich weggetan, dass sie gar nicht drüber nachdenken konnte, was er in diesem Moment gedacht haben musste.
„I-Ich war so überfordert gewesen. Mit meinen Gefühlen. Mit der Situation. Einfach mit allem, obwohl ich derjenige war, der unbedingt mit dir schlafen wollte“, gestand er sich ein und knackte mit den Fingern, während Mimi überrascht drein blickte.
„Ich wollte dir nicht wehtun, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten, nur ein Freund für dich zu sein. Besonders nicht, nachdem wir uns immer näher gekommen waren. Aber das ist mir leider erst zu spät bewusst geworden. Ich hatte dich schon verletzt und du wolltest mich nicht mehr sehen.“
Schuldbewusst senkte er den Kopf, während Mimi über seine Worte nachdachte. Es rührte sie ungemein zu hören, dass er wohl doch mehr für empfand, als sie eigentlich dachte, aber dennoch drängten sich Fragen auf, die sie nicht mehr länger ignorieren konnte.
„Und was ist mit Sora?“, hakte sie nach und spürte einen tiefen Stich in ihrem Herzen.
„Ich dachte, ich hätte Gefühle für sie. Bestimmt hatte ich auch eine Zeitlang welche und als wir ins Abschlussjahr gekommen waren, hatte ich einfach Panik bekommen. Ich hatte nur noch gesehen, dass ich all die Jahre meine Zeit vergeudet hatte, ohne jemals etwas zu riskieren“, erinnerte er sich wehmütig zurück. „Ich wollte es einfach versuchen. Mich meinen Gefühlen stellen und meine Chancen nutzen, damit ich es hinterher nicht bereue.“
„Verstehe…“, murmelte Mimi etwas verletzt, obwohl sie ihn durchaus verstehen konnte. Er hatte lediglich versucht seine letzte Chance zu nutzen. Wäre sie an seiner Stelle gewesen, hätte sie genauso gehandelt, auch wenn es ihr wehtat.
Verbittert presste Mimi die Lippen aufeinander und kämpfte gegen das Brennen in ihren Augen an, da sie vor ihm nicht weinen wollte. Sie hatte noch nicht mal einen Grund dazu, da er nie gesagt hatte, dass er sie nicht mochte, sondern, dass sogar das Gegenteil der Fall war.
Sie konnte selbst nicht verstehen, warum es sie so verletzte, wenn er über seine Gefühle zu Sora sprach.
Mimi unterdrückte ein leises Schluchzen, als er überraschend seinen Arm um sie legte und näher an sie heranrutschte.
„Ich war noch nicht fertig“, hauchte er mit rauchiger Stimme und wusch eine Träne, die sich gelöst hatte, aus ihrem Gesicht.
„Ich war vollkommen blind gewesen und hatte dich erst gesehen, als ich dich verloren hatte, aber ich hatte irgendwie immer gewusst, dass da etwas zwischen uns ist. Als du wieder nach Japan gekommen bist, hatte ich es geliebt, dich auf die Palme zu bringen und dich über mich schimpfen zu hören. Deine Nase hat sich dabei immer gerümpft und schon damals fand ich das unfassbar niedlich“, gab er immer leiser werdend zu und versuchte seine unnatürliche Gesichtsfarbe zu unterdrücken.
Doch Mimi musste zugeben, dass sie es recht süß fand, wenn er vor ihr rot anlief. Es ließ ihn unfassbar unschuldig, aber auch gleichzeitig so verletzlich wirken.
„Ich weiß nur noch, wann ich dich das erste Mal küssen wollte. Es war an meinem Geburtstag, als du mir diesen wundervollen Fußballkuchen gebacken hattest. Ich hatte nicht erwartet, dass sich jemand so viel Mühe für mich gibt, aber als ich dir dann so gegenüber saß, war ich völlig verunsichert gewesen. Da waren noch diese Gefühle für Sora, die ich nicht zuordnen konnte, weshalb ich mich dagegen entschieden hatte, dich zu küssen. Doch dieses unbeschreibliche Gefühl wurde mit der Zeit immer stärker, sodass ich dich damals in der Bar nicht nur geküsst hatte, um Sora eifersüchtig zu machen. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, redete mir aber ein, dass die zitternden Finger und das pochende Herz nur von der Aufregung gekommen waren. Ich hatte mich selbst belogen und musste auch dafür bezahlen“, rekonstruierte er aus seinen Erinnerungen.
Mimi hing noch immer an seinen Lippen, in ihr der Drang, ihn einfach küssen zu wollen. Aber sie hielt sich zurück, um weiterhin seinen Worten lauschen zu können.
„Als du die Nachhilfe beendet hattest, kam einfach alles zusammen. Matt war sauer, Sora zog sich zurück und auch du bist mir aus dem Weg gegangen. Und dieser Kuss…er wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich hatte Sora sogar nochmal geküsst, aber dann festgestellt, dass es sich nicht mehr so angefühlt hatte, wie ich es mir erhofft hatte.
Ich wollte daher alles wieder in Ordnung bringen, weshalb ich so unfassbar glücklich war, als wir uns wieder miteinander vertragen hatten und wir uns auch näher standen, als vorher. Aber dann wurde es immer schlimmer, je näher wir uns gekommen waren, desto schwerer fiel es mir, mich zusammenzureißen. Ich hatte es wirklich lange versucht, aber…aber dann konnte ich nicht länger dagegen ankämpfen.“
Er fuhr sich mit den Zähnen über seine Unterlippe und zog diese leicht nach hinten. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als Mimi zart über seinen Arm strich, auf dem sich mittlerweile eine leichte Gänsehaut abzeichnete.
Sie drückte ihren Kopf gegen seine Brust und hörte das gleichmäßige Pochen seines schlagenden Herzens. Er lockerte seinen Arm und fuhr ihr liebevoll über ihr weiches Haare, als er bedacht weitererzählte.
„Als wir miteinander geschlafen hatten, hatte ich so viel dabei empfunden, dass ich einfach nur überrascht war. Es fühlte sich so intensiv an, dass ich einfach überfordert war. Ich hatte solche Gefühle noch nie und in der Vergangenheit war es immer so gewesen, dass ich bei Mädchen meist immer sehr unbeholfen war. Gerade bei dir. Wir sind schon so lange miteinander befreundet und ich wollte nicht noch mehr kaputt machen, da bei Sora auch alles nur schief gelaufen war. Aber ich hatte dich damit nur noch mehr verletzt, bis ich mich irgendwann mit meiner Eifersucht auseinandersetzen musste. I-Ich hatte dich aufgegeben, weil ich dachte, dass ich dich endgültig an einen anderen verloren hatte.“
„Aber das hast du doch gar nicht“, wiedersprach Mimi und setzte sich auf. „Wir haben aneinander vorbei geredet und i-ich bin selbst schuld, dass es zu so einem Missverständnis gekommen ist.“
„Nein, bist du nicht. Ich hatte doch gesehen, dass es dir schlecht ging und hätte für dich da sein müssen! Aber letztlich hatte ich mich meinem verletzten Stolz hingegeben und auf stur gestellt“, protestierte er vehement.
Verständnislos sah Mimi ihn an und schüttelte nur den Kopf, sodass ihre Haare leicht mitschwangen.
„Du hattest doch gar keine Ahnung, was bei mir los war. Ich brauchte die Zeit, um das alles zu verarbeiten, obwohl ich immer noch nicht alles verstehe und akzeptieren kann. Ich hatte eine Schwester, die mir unglaublich schnell sehr an Herz gewachsen war und ein Teil von mir war, der jetzt nicht einfach weg ist. Ich möchte nicht noch mehr Menschen verlieren, die mir wichtig sind. Und du hast doch um mich gekämpft“, stammelte sie tränenerfüllt.
Voller Liebe starrte sie ihn an, als er mit seinen rauen Fingern die Konturen ihres Gesichts nachfuhr und seine Stirn gegen ihre presste.
„Ich vermisse dich“, murmelte er mit verhangener Stimme, strich mit seiner Nase über ihre und suchte begierig nach ihren Lippen.
Mimi reckte sich ihm entgegen und schlang die Arme um seinen Hals, als sie sich miteinander vereinten.
Genüsslich schloss sie die Lider, sog alle Empfindungen, seinen Geschmack und seine Berührungen tief ein, so als wollte sie sie nie wieder loslassen.
Sie spürte seine Hand hinter ihrem Nacken, die dem Kuss die nötige Tiefe schenkte, um einen Schritt weiterzugehen. Zaghaft fuhr sie mit der Zunge über seine Lippen, als er seinen Mund öffnete und fordernd in ihren glitt. Liebevoll begegneten sich ihre Zungen, indem sie sich zart streichelten und ihren angehenden Kampf mit Leidenschaft anheizten.
Tai schob sie auf seinen Schoss, während seine Hände unter der Strickjacke verschwanden und ihren zierlichen Körper entlang fuhren. Er presste beide Arme hinter ihren Rücken und drückte ihre Körper dichter aneinander. Er keuchte lustvoll auf, als Mimi ihre Hüften gegen seine Lenden presste und die hitzige Leidenschaft zwischen ihnen antrieb.
Ganz ineinander versunken, bemerkte keiner der beiden, wie die Tür geöffnet wurde.
Er strich mit der Zunge über ihre Lippen, als sie ein lautes Räuspern hörten und rasch auseinander fuhren. Mit hochrotem Kopf fixierten sie die Person, die sie erwischt hatte.
Es war kein geringer als Matt, der nur dämlich vor sich hin grinste und wissend die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
„Sorry, ich wollte nicht stören“, lachte er nur und lehnte einen größeren Stein gegen die Tür, damit sie nicht wieder zu fiel. „Macht ruhig weiter, ich bin schon wieder weg“, gab er nur von sich und verschwand tatsächlich wieder in der Halle.
Verlegen sahen sich Mimi und Tai an, bis beide kichern mussten.
„Wow, das ist mir auch noch nicht passiert“, meinte Tai und kratzte sich am Hinterkopf.
„Mir schon“, räumte sie ein und dachte an Tais Geburtstag zurück. „Ich hatte ihn mal mit Sora erwischt. Das nenne ich wirklich Karma.“
„Naja, von mir aus kann gern jeder zugucken“, meinte er verführerisch und setzte an sie wieder zu küssen, als Mimi plötzlich aufstand, auf Abstand ging und nachdenklich drein blickte.
„Was ist denn? Das war nur Spaß gewesen“, rechtfertigte er sich mit einem spitzbübischen Grinsen.
Doch Mimi merkte, wie die ersten Zweifel in ihr hochkrochen. Tai würde bald zur Uni gehen, neue Menschen kennen lernen, unteranderem auch attraktive Studentinnen.
Nach allem was sie erlebt hatte, hatte sie enorm große Verlustängste entwickelt, die ihr das Leben schwer machten und sie verunsicherten.
„Willst du etwa nicht mit mir zusammen sein?“, fragte er betrübt, sodass sich Mimi sofort zu ihm herumdrehte. Er stand auf und sah sie wartend an, als würde er auf eine Antwort hoffen, die beide glücklich machte. Sie wurde allerdings von ihren aufkommenden Zweifeln gepackt, die sie nicht einfach so schnell loswurde.
„Doch, das will ich mehr denn je“, sagte sie hoffnungsvoll, auch wenn das aber schon ihrer Stimme lag, „allerdings habe ich Angst. Du gehst bald auf die Uni und fängst richtig an zu leben, während ich hier festsitze und nicht weiß, ob das mit uns funktionieren wird.“
„Das weiß man doch nie“, versuchte Tai sie zu beruhigen.
„Ich weiß, aber was ist wenn es nicht funktioniert und du an der Uni jemanden findest, der…“
Ihre Stimme brach ab und sie gab sich ihren Tränen hin.
Doch Tai reagierte sofort und ging einen Schritt auf sie zu und wusch ihr die Tränen aus dem Gesicht.
„Hey, das wird schon irgendwie werden. Gib‘ uns bitte eine Chance! Ich will mit dir zusammen sein! Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen, aber ich bin nicht bereit uns aufzugeben!“