Mad Hatter and Cheshire Cat
Nachdenklich blickte sie auf ihren Schreibtisch und glitt mit den Fingern über den rauen Umschlag. Sie fuhr die Worte nach und sah sich hilfesuchend um.
Noch immer wirkte ihr Blick traurig, nur das ihr schlechtes Gewissen gegenüber Noriko seit dem Abschlussball ins Unermessliche wuchs.
Warum fiel es ihr so unsagbar schwer, zu ihr zu stehen? Schämte sie sich etwa? Saß der eigene Schmerz zu tief, sodass sie Angst hatte zu zerbrechen, wenn sie sich ihm stellte?
Viele dieser Fragen hatte sich Mimi in den letzten Tagen gestellt. Sie erinnerte sich immer wieder daran, wie sehr sie Tai verletzt hatte, obwohl nur wenige Worte alles hätten ändern können.
Sie war direkt nach dem Streit gegangen, hatte sich von niemandem verabschiedet, sondern schnappte sich ihre Jacke und stürmte kopflos nach draußen.
Sora hatte sie am nächsten Tag versucht zu erreichen, doch Mimi konnte ihrer Mutter glaubhaft erklären, dass es ihr nicht gut ging, sodass sie Sora am Telefon abwimmelte.
Seither hatte sie sich mehr in ihrem Zimmer verschanzt, ging nur noch raus, wenn sie musste und war froh, dass ihre Mutter so wenige Fragen wie nötig stellte.
Auch sie hatte die letzten Prüfungen in der Schule erfolgreich absolviert, auch wenn sie nicht wusste, wie sie das geschafft hatte.
Immer wieder geschah etwas Neues, dass sie unvermittelt aus der Bahn warf und ihr Leben auf den Kopf stellte.
Sie hatte nicht geahnt, dass noch ein Brief von Noriko auf sie warten würde. Völlig schockiert über diese Tatsache, hatte sie in ihrer Verzweiflung Masaru angerufen, der vor zwanzig Minuten mit Chiaki bei ihr aufgetaucht war.
Sie hatte sich nicht getraut, ihn alleine zu öffnen.
„Worauf wartest du denn noch? Der Inhalt wird bestimmt auch in zehn Minuten noch der gleiche sein“, meinte Masaru murrend und wechselte seine Sitzposition, sodass ihr Bett leise knarrte.
„Soll vielleicht einer von uns ihn öffnen und vorlesen?“, fragte Chiaki mit sanfter Stimme und berührte zaghaft Mimis Arm.
Doch sie schüttelte nur leicht den Kopf, schob ihren Stuhl etwas zurück und setzte sich.
Chiaki stand nun als einziger im Raum, als Masaru sich über Mimis Bett lehnte, nach seinem T-Shirt griff und ihn ebenfalls aufs Bett verfrachtete.
Mimi seufzte nur, als sie den Umschlag in ihre Hände nahm, die Jungs kurz mit einem intensiven Blick fixierte, aber dann den Brief langsam oben öffnete.
Ihre Finger begannen zu zittern, als sie das gefaltete Blatt heraus nahm. Sie ertastete noch etwas anders, dass viel glatter als das Papier war, doch sie wollte zuerst ihren Brief lesen.
Mimi legte daher den Umschlag beiseite, faltete den Brief auseinander und fing an, das Geschriebene laut vorzulesen.
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Liebe Mimi,
Schmerz gehört zum Leben dazu, wie die Luft, die wir zum Atmen benötigen. Nicht alles wird gut verlaufen und einen bis ans Ende des Lebens glücklich machen. Sowas findet man vielleicht wirklich nur in Märchen, die gebraucht werden, um wagemutige Helden und wunderschöne Prinzessinnen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Früher wollte ich auch immer eine Prinzessin sein, in einem wundervollen Schloss leben und von meinem Prinzen wachgeküsst werden.
Doch du weiß, wie es wirklich war. Das auch das Furchtbare seinen Sinn hat, den man erst nach längeren Überlegungen verstehen kann. Manchmal sogar nie.
Jedoch kann man alles überstehen, wenn man Menschen hat, die einen lieben.
Die, an einen fest glauben und auch das Unmögliche wahr werden lassen.
Denn in dem Unmöglichen selbst, steckt das Mögliche, dass wir nur finden müssen.
Ihr habt mir geholfen, meine Möglichkeiten zu finden. Mein Leben lebenswert zu gestalten und ein Stückchen Wunderland in mein Herz gelangen zu lassen.
In meinen schwersten Stunden habt ihr mich begleitet, wart an meiner Seite, wie der Hutmacher und die Grinsekatze, die Alice auf ihrem schweren Weg nach Hause begleitet hatten.
Ihr habt mein Leben bunt werden lassen. Es einfärbt, mit den schönsten Farben dieser Erde. Habt das triste Grau aus meinem Herzen vertrieben.
Ihr gabt mir eine Aufgabe. Besonders du. Ich habe mich jahrelang gefragt, wie es wohl wäre, eine große Schwester zu sein, wie es sich anfühlt, wie die Verbindung zueinander ist. Durch dich habe ich es herausgefunden und kann immer noch nicht fassen, dass Menschen mit dem gleichen Erbgut, sich doch so unterscheiden können. Wir sehen uns so ähnlich und haben viele Dinge, die uns verbinden, aber du hast so viele Eigenschaften, um die ich dich beneidet habe.
Oft hast du mir gnadenlos die Meinung geigt, hast keine Rücksicht genommen und mir deine Gefühle offenbart, sodass es mir leichter gefallen ist, zu meinen zu stehen.
Ich habe andere Menschen immer zurückgewiesen, da ich dachte, dass es sie nur verletzt, mit einem kaputten Menschen, wie mir zusammen zu sein. Du hast mich das Gegenteil lehrt.
Das man besonders die Fehler an einem selbst und anderen lieben lernen muss, da sie einfach dazugehören.
Es ist nicht leicht, Menschen zu finden, die einen akzeptieren, wie eine Einheit hinter einem stehen. Doch es ist nicht unmöglich.
Wenn man Glück hat, findet man verrückte, einzigartige Persönlichkeiten wie den Hutmacher, die Grinsekatze, das weiße Kaninchen und den Märzhasen, die außerordentliche Dinge miteinander erleben werden.
Damit auch ihr die Möglichkeit auf etwas unglaublich Verrücktes habt, wirst du auch in diesem Umschlag etwas finden.
Nutze die Möglichkeit! Sei kreativ und lebe jede einzelne Sekunde mit jeder Faser deines Körpers!
Finde dein Glück und verteidige es heldenhaft. Denn das ist das, was du verdienst.
In ewiger Liebe
Noriko
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Sie ließ den Brief lautlos sinken, war immer noch ergriffen von ihren Worten, die sich in ihr Herz geschlichen hatten. Es erfüllte sie mit Freude zu wissen, dass sie ein so wichtiger Teil ihres Lebens geworden war. Vor allem in so kurzer Zeit.
Mimi richtete den Blick zu den Jungs, die schweigend auf dem Bett saßen und die Köpfe gesenkt hatten. Er dauerte einen Moment, bis sich alle wieder gesammelt hatten und ihre Sprache wiedererlangten.
„Was ist noch in dem Umschlag?“, fragte Chiaki fast schon ein wenig ehrfürchtig und hob den Kopf bedacht an. Auch Masaru sah interessiert zu Mimi, die den Brief auf ihrem Schoß ruhen hatte und zielstrebig nach dem Umschlag griff. Sie spürte das glatte Papier an ihren Fingerkuppen und zog es schwerfällig aus dem Briefumschlag. Es war ein Flyer, der mehrfach gefaltet wurde.
Gespannt klappte Mimi ihn auf und runzelte augenblicklich die Stirn, als sie die Überschrift las.
„Was ist denn eine Musikschnitzeljagd?“, fragte sie irritiert und reichte den Zettel an Chiaki weiter, der ihn kritisch beäugte.
Masaru rückte näher an ihn heran und sah ihm über die Schulter, bevor er zu Seufzen begann.
„Das kann doch nicht ihr ernst sein“, grummelte er und fuhr sich durch seine kurzen braunen Haare.
„Denkst du sie will, dass wir mitmachen?“, hakte Chiaki nach krallte seine Finger in das widerstandsfähige Papier.
Mimi beobachtete beide nur wortlos und hatte keinerlei Ahnung, was eine Musikschnitzeljagd sein sollte. Aber irgendetwas musste sich Noriko doch dabei gedacht haben. Und die beiden Jungs schienen auch schon eine Vermutung zu haben.
„Was ist das denn jetzt? Mir sagt das überhaupt nichts!“, murrte Mimi mit Nachdruck und hoffte, dass jemand sie aufklärte.
Chiaki legte den Flyer auf Mimis Bett und kratzte sich etwas unbeholfen am Hinterkopf.
„Naja sie wird von Kenzo Watanabe alle fünf Jahre ausgerichtet“, begann er zögerlich, als sich Mimis Augen weiteten.
„Kenzo Watanabe? Der berühmte Cellist?“
Mimi kannte ihn nur, weil sie einmal mit ihren Eltern eines seiner Konzerte in New York besucht hatte. Eigentlich hielt Mimi nicht viel von solcher Musik, aber Kenzo Watanabe hatte sie an diesem Abend wirklich beeindruckt gehabt.
„Ja, genau. Er hatte an unserer Schule seinen Abschluss gemacht und ist danach auf die Musikhochschule. Er fördert viele Projekte, besonders weil unsere Schule einen ausgebauten Musikfachbereich hat“, erklärte er ausschweifend. „Alle fünf Jahre veranstaltet er in Shibuya eine Schnitzeljagd für Nachwuchstalente und alle Musikinteressierten.“
„Und was kann man gewinnen?“, fragte Mimi neugierig und beugte sich etwas nach vorne.
Chiaki schielte auf den Zettel, bevor er ihr eine Antwort geben konnte.
„Hier steht 620.000 Yen.“
„Das sind fast 5000 Dollar“, platzte aus Mimi hervor. „Was machen die denn mit dem Geld?“
„Die meisten geben es wohl für unnötigen Kram aus, aber die letzten Gewinner hatten einen neuen Musikraum mitfinanziert.“
Mimi sah beeindruckt zu den beiden Jungs und nickte nur etwas perplex, als sich auch Masaru zu Wort meldete.
„Müssen wir da jetzt ernsthaft mitmachen? Da gehen doch meist eh nur voll die Deppen hin“, schnaubte der mit verschränkend Armen und erntete sofort einen bösen Blick von Chiaki.
„Was soll das den heißen? Es war ihr Wunsch!“, betonte er lauthals und sprang vom Bett.
„Toll und weiter? Manche Wünsche gehen eben nicht in Erfüllung“, schnauzte er ihn grimmig an, während Mimi unsicher ihren Stuhl hinabrutschte.
„Du willst doch nur nicht hingehen, weil du genau weißt, dass Hideaki auch kommt!“
Chiaki stand provokant vor Mimis Bett und fixierte Masaru herausfordern, der lediglich ein zischendes Geräusch von sich gab.
„Hör‘ auf mit so dusseligen Unterstellungen!“
„Unterstellungen?“, wiederholte er waghalsig, „du weißt doch genau, was da los war! Und ich werde ganz sicher nicht deswegen Norikos Wunsch einfach ignorieren! Komm‘ drüber hinweg“, schrie er seinen besten Freund an und verließ wütend Mimis Schlafzimmer.
Der laute Knall der Tür, ließ Mimi erschrocken hochfahren, während Masaru betrübt auf ihrem Bett saß und an ihrer Bettwäsche zupfte.
Irritiert stand sie auf, setzte sich auf ihr Bett und war immer noch von Chiakis Worten etwas perplex.
„Was meint er denn damit?“, fragte sie leise, doch Masaru konzentrierte sich voll und ganz auf einen bestimmten Punkt auf ihrer Bettwäsche, den er fixiert hatte. „Kannst du diesen Hideaki nicht leiden, oder war er gemein zu dir?“, bohrte sie weiter, auch wenn sie merkte, dass es ihm Unbehagen bereitete.
Er stöhnte nur gedämpft und kräuselte die Lippen. „Nein, das nicht. Eher das Gegenteil.“
Überrascht sah sie ihn an und wusste im ersten Moment nicht was sie sagen sollte.
„Du…du warst in ihn verliebt?“, hinterfragte sie unglaubwürdig. „Was ist passiert? Hat er dir einen Korb gegeben, oder war er…?“
„Er war der Junge zu dem ich eine Beziehung hatte“, seufzend fuhr er sich durch die Haare, „oder so ähnlich.“
„Ihr hattet eine Beziehung? Er ist schwul?“, brachte Mimi stockend hervor.
Damit hatte sie beim besten Willen nicht gerechnet. Hideaki kam wie ein selbstgefälliges, von Mädchen gefeiertes Arschloch rüber. Und er sollte eine Beziehung mit Masaru gehabt haben?
Das konnte sie sich wirklich nicht vorstellen.
„Ich weiß nicht mehr genau, wie das zwischen uns beiden angefangen hat, aber in den Sommerferien, vor dem letzten Schuljahr sind wir uns näher gekommen“, schwelgte er in seinen Erinnerungen. Sein Gesicht sah wehmütig und sehr verletzt aus, je länger Mimi es sich betrachtete.
„Und was ist schief gelaufen?“
„Vermutlich alles“, sagte er nur. „Wir haben unsere Beziehung verheimlicht, da keiner aus seiner Familie wusste, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Er galt immer als der Mädchenschwarm, aber irgendwie habe ich sofort gemerkt, dass da etwas zwischen uns ist.“
Ein trauriges Lächeln zog sich über seine Lippen.
„Wir hatten uns einmal bei mir zu Hause getroffen, da ich sturmfrei hatte und meine Eltern mit Yasuo zu meiner Großmutter gefahren waren. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie früher nach Hause kommen würden, also hatten wir uns einfach fallen gelassen und sind uns an diesem Tag näher gekommen.“
Mimis Herz pochte, als er ihr von seiner Geschichte erzählte, da sie einige Parallelen zu ihrer eigenen ziehen konnte. Doch sie konzentrierte sich voll und ganz auf Masaru. Klebte an seinen Lippen, die traurig nach unten hingen.
„Wir waren so ineinander vertieft, dass ich meinen Vater erst bemerkte, als er mitten in meinem Zimmer stand. Irgendwie hatte ich vergessen abzuschließen“, erwiderte er frustriert und ballte seine Hände zu Fäusten. „Er hat rumgebrüllt und gesagt, dass sowas unnatürlich sei und Hideaki schnellstens verschwinden sollte, bevor er bei ihm zu Hause anrief und seinen Eltern von seinem unangemessenen Verhalten erzählte. Hideaki ist daraufhin einfach gegangen, während mein Vater mich am liebsten verprügelt hätte. Doch dieses eine Mal war meine Mutter dazwischen gegangen und konnte ihn einigermaßen beruhigen, während ich mich halb nackt über zwei Stunden im Bad eingeschlossen hatte.“
„Oh Gott, das klingt ja fürchterlich“, murmelte Mimi entsetzt und presste ihre Handflächen gegen ihren Mund.
„War es auch“, kam von ihm flüsternd, den Kopf wieder in Richtung Matratze gesenkt. „Wir hatten uns ein paar Tage später nochmal getroffen. Ich wollte ihm klar machen, dass er uns nicht aufgeben soll, aber er hatte sich bereits gegen uns entschieden. Seither hatte ich mich auch nicht mehr getraut, etwas Ernsteres in Erwägung zu ziehen.“
Mimi biss die Zähne fest zusammen und betrachtete angestrengt sein Gesicht. Ihr fiel es schwer, die richtigen Worte zu finden, da sie selbst meist jedes Wort für zu viel empfand.
Daher entschied sich dagegen, etwas zu sagen, sondern ließ Taten sprechen.
Sie rutschte lautlos neben ihn und ergriff seine geballten Fäuste.
Zart für sie darüber und merkte, wie sich seine Anspannung allmählich löste.
Für einen kurzen Moment tauschten sie tiefe Blicke miteinander, die beide zu verstehen schienen.
Manchmal waren Worte nicht die richtige Lösung und konnten ein Problem nur noch komplizierter werden lassen. Eine Geste hingegen, war ehrlich, warmherzig und verlieh die nötige Kraft in schwachen Momenten. Sie war völlig zeitlos, während Worte meist nach kurzer Zeit ihren Glanz verloren.
Eine Hand, die einem den richtigen Weg zeigte, konnte man jedoch ergreifen und sich führen lassen.