Neue Perspektiven
Sie blinzelte leicht, als die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wach kitzelten. Sie stöhnte leise, kniff die Augen ein paar Mal zusammen, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatte, das durch das Fenster schien.
Sie schlug die Augen auf und hatte Schwierigkeiten sich zu orientierten.
Wo war sie nur? Irgendwie hatte sie Karis Zimmer anders in Erinnerung. Mimi runzelte verwirrt die Stirn und war gerade im Begriff sich aufzusetzen, als sie seinen Arm bemerkte.
Sie hielt inne und verharrte in der Position, in der sie sich gerade befand.
Mimi lächelte leicht, als sie den Kopf über die Schultern wandte und sah wie er friedlich hinter ihr schlief und seinen Arm um ihren Körper geschmiegt hatte.
Lautlos legte sie sich wieder hin und starrte zur Wand. Kurz fuhr sie mit zitternden Finger über seinen Unterarm, sodass er seinen Griff um sie noch ein wenig verfestigte.
Sie erinnerte sich wieder. Stundenlang hatten sie miteinander gesprochen, auch wenn sie mehr geweint hatte. Ihre Augen waren sicherlich rot und verquollen, aber das war ihr egal.
Selten hatte sie sich einem Menschen so nah gefühlt, wie Tai während der gestrigen Nacht.
Sie hatte ihm nicht alles erzählt. Er wusste nur das Nötigste.
Hätte sie auch die Geschichte rund um Noriko erzählt, wäre sie sicher zusammengebrochen. Ihr fiel es selbst bei ihrer Mutter nicht sonderlich leicht, über diese Situation zu sprechen, wohlwissend, dass sie sie kannte.
Dennoch fiel es ihr recht einfach, sich bei Tai zu öffnen. Sie hatte immer vermutet, dass Sora die erste Person war, die von der Scheidung ihrer Eltern erfuhr, doch Tai kam ihr zuvor, hatte sie den ganzen Abend in seinen Armen gehalten und sie getröstet.
Natürlich hatten sie sich auch ausgesprochen. Er hatte ihr mehrfach gesagt, wie Leid es ihm täte, dass er die gemeinsamen Nachhilfestunden sogar vermisste und sich in letzter Zeit wie ein Arschloch aufführte.
Sie wusste, dass all das mit Sora zu tun hatte, besonders nachdem er den Streit zwischen ihnen erwähnt hatte. Doch in ihrer Gegenwart erzählte er kaum etwas von ihr, was vielleicht auch daran lag, dass Mimis Sorgen im Fokus des Geschehens lagen.
Dennoch machte sich Euphorie und Glückseligkeit in ihr breit und trieb ihr ein Lächeln ins Gesicht.
Er hatte seine Hand auf ihren Bauch gelegt, während sie seinen gleichmäßigen Atemzügen lauschte.
Natürlich war nicht mehr gelaufen, aber trotzdem fand sie die Situation sehr romantisch.
Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und merkte, wie ihr eigenes Herz schneller zu schlagen begann.
Sie lagen Löffelchen…war das nicht eher eine Position für Pärchen?
Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut. Eng gepresst lagen sie schon eine Zeitlang in seinem Bett.
Immer wieder schielte sie zu ihm, stellte jedoch fest, dass er immer noch tief und fest schlief.
Wie gerne hätte sie sich zu ihm herum gedreht und ihm einen Kuss auf die Lippen gehaucht?
Sie luden praktisch dazu ein…sollte sie es etwa wagen? Was passierte wenn sie ihn dadurch wecken würde? Die Tatsachen hatten sich genau genommen kein Stück verändert. Er war immer noch in Sora verliebt und würde sie sicher geschockt von sich stoßen, da er mit sowas sicher nicht rechnete.
Enttäuscht drehte sie sich wieder zur Wand und überlegte besser aufzustehen, bevor Kari noch merkte, dass sie verschwunden war.
Doch er hatte sie so fest im Griff, dass sie sich kaum rühren konnte, ohne ihn zu wecken.
Außerdem genoss sie seine Berührungen sehr, auch wenn sie ihr mehr bedeuteten als ihm.
Mimi schob ihre Hand unter ihr Gesicht und seufzte leise.
In welche verzwickte Situation war sie nur da wieder hineingeraten? Sie war zwischen Verlangen und Selbstbeherrschung gefangen, da ein Moment wirklich alles zerstören konnte, was sie sich je aufgebaut hatten.
Sie liebte ihn zwar, aber sie konnte nicht Gefahr laufen, ihn als Freund zu verlieren. Nicht, nachdem sie gerade wieder vertragen hatten. Lieber litt sie still und heimlich, als ihm nie wieder in die Augen blicken zu können.
Langsam wanderte sie mit ihrer Hand zu seiner hinunter und wollte sie anheben, als sie plötzlich etwas gegen ihren Po drücken spürte.
Ihre Augen weiteten sich und ihre Bewegungen froren ein. Ihr Mund wurde staubtrocken und ihr Puls beschleunigte sich.
Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, als ihr bewusst wurde, was sich da gegen sie drückte.
Sie schluckte.
Das durfte doch wirklich nicht wahr sein…
Als wäre das Ganze hier nicht schon schwer genug.
Ihr Körper begann zu rebellieren. Ihr Verlangen wuchs ins Unermessliche, da sich auch bei ihr körperliche Reaktionen einstellten.
Schon oft hatte sie sich vorgestellt, wie es sich wohl anfühlte mit ihm zu schlafen. Was er mit ihr anstellte, wenn es soweit war…
Ihr wurde ganz heiß. Sie spürte ein unaufhörliches Kribbeln zwischen ihren Beinen, das ihr signalisierte, dass sie mehr wollte.
Seine Hand ruhte auf ihrem Unterbauch, doch sie wünschte sich, dass er weiter nach unten glitt.
Schmerzvoll haute sie ihre Zähne in ihr zartes Lippenfleisch und wollte sich am liebsten selbst für diesen Gedanken ohrfeigen.
Doch er machte es ihr wirklich nicht leicht. Seine Erregung presste sich noch immer gegen ihren Po und raubte ihr den Verstand.
Sie musste sich dringen von ihm lösen, sonst würde sie wirklich noch auf dumme Gedanken kommen.
Schwerfällig hob sie seinen Arm an und legte ihn sachte neben sich, während sie ihren Körper langsam von ihm schob.
Mimi lag auf dem Rücken und hangelte sich am Rand seines Bettes entlang. Sie atmete tief ein und wieder aus. Sah ihn mit sehnsüchtigen Blicken an und hob ihren Arm leicht an.
Langsam tastete sie sich vor und fuhr mit ihrer Hand sanft über seine Wange.
Gedankenverloren blickte sie in sein schlafendes Gesicht und ärgerte sich darüber so ein Feigling zu sein. Würde sie mehr riskieren, wäre vieles sicher anders gekommen.
Mimi zog ihre Hand zurück und beobachtete ihn einen Augenblick.
Es fiel ihr so unheimlich schwer, sich aus seinem Bett zu erheben, da sie spürte, dass dieser wunderschöne Moment dann endgültig vorbei war.
Es gab kein Zurück mehr. Wahrscheinlich war das ihre erste und letzte Chance mit ihm das gleiche Bett zu teilen und sie vermasselte es.
Mimi bemerkte nicht, wie sie dem Rand des Bettes immer näher kam. Sie drehte sich etwas zur Kante, spürte allerdings nicht mehr die weiche Matratze unter sich.
Ein lauter Knall ließ sie auf den Boden der Tatsachen zurückkehren.
Mit einem schmerzverzerrten Gesicht hielt sie sich ihren Hinterkopf und setzte sich vollkommen verdattert auf.
Tai saß auf einmal kerzengrade im Bett und richtete den Blick auf sie.
„Scheiße, hab ich dich aus dem Bett geworfen?“, fragte er unverblümt, bemerkte jedoch relativ schnell, dass etwas nicht stimmte.
Er lief rot an, sah zu Mimi und drückte die Bettdecke näher an sich.
Auch Mimi sah peinlich berührt zur Seite und zeigte ihm dadurch, dass sie sein Problem durchaus mitbekommen hatte.
„Tut mir leid…sowas passiert mir eigentlich nur sehr selten“, erklärte er mit hochrotem Kopf und sah in eine komplett andere Richtung. Ihm war die Situation unangenehm.
Das spürte sie, doch was sollte sie sagen?
‚Hey, ich kann dir sicher helfen?‘ Ihre Augen weiteten sich und sie schüttelte sich bei diesem versauten Gedanken.
„Sowas kann doch jedem mal passieren“, flüsterte sie und versuchte die Situation zu retten, obwohl sie eigentlich hoffnungslos peinlich war.
Tai hielt praktisch die Luft an, so als würde er hoffen, dass es dadurch wieder weggehen würde.
Doch er hatte keinen Schluckauf.
„Vielleicht sollte ich jetzt mal nach Kari sehen. Sie fragt sich sicher schon wo ich bin“, sagte sie mit zitternder Stimme und richtete sich auf.
Tai blieb regungslos in seinem Bett sitzen, während sie zu seiner Tür schritt.
Sie öffnete sie, blieb aber abrupt in seinem Türrahmen stehen und drehte sich zu ihm.
Seit gestern wusste sie, wie sehr er ihre Schlagfertigkeit und ihre Neckereien vermisst hatte und ein bisschen Spaß konnte sie sich wirklich auch mal erlauben.
Sie lächelte ihn wissend an und zog provokant ihre Augenbraue in die Höhe.
„Viel Spaß“, raunte sie und versuchte dabei besonders verführerisch zu klingen.
Danach verließ sie sein Zimmer und erkannte aus dem Augenwinkel heraus, dass er selbst grinsen musste.
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Ein wenig angespannt saß sie später mit Tai und Kari am Frühstückstisch. Die Stimmung war recht locker und Kari hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Nacht über bei Tai verbracht hatte.
Als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, schlief sie immer noch seelenruhig in ihrem Bett.
Erst als die Dusche ertönte, wurde sie aus dem Schlaf gerissen.
„Sag mal Tai…“, begann Kari und bestrich ihr Brötchen mit Marmelade, „warum warst du heute Morgen schon wieder duschen? Du warst doch erst gestern!“
Tai, der gerade seinen übervollen Löffel Müsli in den Mund befördern wollte, hielt plötzlich inne und lief prompt rot an.
Sein Blick wanderte zu Mimi, die verlegen den Kopf senkte. Sie wusste genau, warum er die Dusche gebraucht hatte.
„Ehm…ich…ich habe die Nacht stark geschwitzt“, redete er sich raus und stopfte sich sein Müsli in den Mund, um nicht weiter reden zu müssen.
Kari gab nur ein zischendes Geräusch von sich. „Das nächste Mal kannst du auch ‘ne Stunde später gehen! Mimi und ich haben noch geschlafen“, informierte sie ihn mit ausschweifenden Handbewegung und sah ihn empört an.
„‘Tschuldigung“, brummte er mit vollem Mund.
Mimi kicherte leise und auch Tai konnte sich ein verwegenes Grinsen nicht verkneifen. Die Situation war auch wirklich schräg gewesen.
„Und was machst du später noch so?“, fragte Kari auf einmal und richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf Mimi, die immer noch damit beschäftigt war, vielsagende Blicke mit Tai auszutauschen.
Es war eines der wenigen Male, wo Tai ihre Blicke erwiderte und sie liebevoll anlächelte. Sie fühlte sich wie auf Wolken, auch wenn sie wahrscheinlich wieder mehr hineininterpretierte, als es eigentlich war.
Kari stupste sie an und legte fragend den Kopf zur Seite.
Mimi riss die Augen auf und überlegte angestrengt, was sie gefragt hatte.
„Mhm?“
„Was machst du heute noch?“, wiederholte Kari erneut und sah mit einem verschärften Blick zwischen Tai und Mimi hin und her.
„Ähm…ich besuche noch einen Freund“, sagte sie, ohne groß darüber nachzudenken.
Sie hatte sich später noch mit Masaru verabredet und wollte mit ihm an einigen neuen Songs arbeiten, da Noriko mit Chiaki etwas Zeit verbringen wollte.
„Einen Freund?“, hakte Kari interessiert nach und hob eine Augenbraue. Überrascht blickte sie zu Mimi, die sich ein paar Haarsträhnen hinter ihr Ohr strich.
„Kennen wir deinen Freund denn?“, mischte sich auch Tai ein, der seine Stirn in Falten gelegt hatte.
„Ehm…nein! Er geht nicht auf unsere Schule“, antwortete sie hastig und biss in ihr Brötchen.
„Uhh, davon wusste ich noch gar nichts. Erzähl‘ doch mal!“, meinte Kari mit immer größerer werdenden Augen.
Dachte sie etwa? Mimi schaute zu Tai, der sie äußerst seltsam beäugte und seinen Löffel angespannt in die Müslischale sinken ließ. Seinen Blick konnte sie nicht deuten.
„Er ist nur ein Freund, der mir manchmal bei Schulkram hilft“, versuchte sie es herunterzuspielen, doch Kari fing an zu Grinsen, was Mimi verunsicherte.
Sie konnte ja nicht Masarus Geheimnis ausplaudern.
„Hilft er dir auch in Mathe?“, fragte Tai mit angezogener Augenbraue.
Mimi presste die Lippen aufeinander und druckste herum.
„Gelegentlich.“
„Aha“, erwiderte er nur und blickte finster auf sein Frühstück, ohne sie noch einmal anzusehen.
Irritiert sah Mimi ihn an und schüttelte instinktiv den Kopf.
Sie verstand seine Reaktion nicht. War er etwa eingeschnappt?
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Nach dem Frühstück machte sie sich direkt fertig, da sie ihre Sachen nach Hause bringen und später noch eine Kleinigkeit zu Mittag essen wollte, bevor sie zu Masaru ging.
Kari verabschiedete sie herzlich, als plötzlich das Telefon klingelte und sie zurück ins Wohnzimmer rannte.
Etwas verhalten zog sie ihre Schuhe an und blickte zu Tai, der ebenfalls im Flur stand und sich fertig machte, da er noch ein paar Stunden auf dem Fußballplatz verbringen wollte.
Er schnappte sich seine Sporttasche und öffnete die Tür.
„Bis Morgen, Kari!“, rief Mimi ihr zu, während sie lächelnd den Hörer an ihr Ohr hielt und ihr zum Abschied mit der anderen Hand zuwinkte.
Gemeinsam mit Tai ging sie die Treppen des Mehrfamilienhauses hinunter.
Tai hatte seine Tasche geschultert, während Mimi ihm flüchtige Blicke zuwarf. Nach heute Morgen hatten sie nicht mehr wirklich miteinander geredet, auch wenn es ihr ganz lieb war.
Manche Peinlichkeiten sollte man einfach unter den Teppich kehren und für immer vergessen. Diese zählte definitiv dazu.
Kurz bevor sie die Kreuzung erreichten, die ihre Wege voneinander trennten, räusperte sich Tai auffällig und blieb stehen.
„Geht es dir etwas besser?“, fragte er vorsichtig und auch Mimi hielt an und drehte sich zu ihm.
Sie lächelte milde und nickte sachte.
„Ja, danke für gestern Nacht!“, sagte sie nur, krampfte ihre Finger um ihre eigene Tasche und studierte Tais Reaktion, der sich verlegen am Hinterkopf kratzte.
„Ach was, kein Problem! Du kannst immer zu mir kommen, wenn du Probleme hast!“
Überrascht sah sie ihn an, war aber sehr gerührt von seinem Angebot, obwohl sie sich sicher war, dass Tais Nähe sie irgendwann noch wahnsinnig werden ließ.
„D-Danke“, antwortete sie nur und überlegte kurz, was sie noch sagen könnte, doch ihr fiel beim besten Willen nichts mehr ein. Er hatte ihr die Sprache verschlagen.
Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber, bis Mimi erneut das Wort ergriff.
„Ich muss jetzt langsam los…ich…“
„Schon klar, du bist ja noch verabredet“, sagte er in einem ungewöhnlichen Ton und lockerte seine Beine. Er grinste leicht, sodass sich ein paar Grübchen auf seinen Wangen bildeten.
Mimi schritt etwas näher an ihn heran, überwand eine Distanz, die sie gewöhnlich immer einhielt, wenn sie mit ihm sprach oder heimlich beobachtete.
Sie lächelte ihn an und stand ihm dicht gegenüber, sodass er leicht auf sie hinabblickte.
Ohne groß darüber nachzudenken, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und zog ihn in eine herzliche Umarmung. Sie erwartete nicht, dass er sie erwiderte, sie wollte ihm einfach nur zeigen, wie dankbar sie ihm war.
Doch er ließ seine Tasche geräuschvoll auf den Boden fallen und legte seine Arme um ihren zierlichen Körper. Er drückte sie noch etwas näher an sich, so wie er es gestern Abend schon getan hatte.
Wieder stellte sich bei ihr ein Gefühl der Geborgenheit ein, dass sie einfach nicht mehr missen wollte.
Sie stellte sich ein wenig auf die Zehenspitzen, sodass sie mit ihren Lippen sein Ohr erreichen konnte.
Ihr ganzer Körper war tiefentspannt und genoss seine Nähe, die sie sich nicht so schnell wieder erhofft hatte.
Ein Lächeln legte sich über ihre Lippen, die sie langsam kräuselte.
„Vielen Dank“, murmelte sie in sein Ohr, während er seinen Griff um sie verfestigte.
Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch sie spürte, dass ihm dieser Moment genauso viel bedeutete wie ihr.
Wenige Minuten später löste er sich von ihr und zog die Mundwinkel nach oben.
„Hab‘ ich gern gemacht!“, antwortete er ihr matt und hob seine Tasche wieder vom Boden auf.
„Wir sehen uns morgen, okay?“
„Klar“, sagte er selbstverständlich und verabschiedete sich von ihr.
Mit zitternden Händen und bebenden Körper machte sie sich auf den Nachhauseweg.
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Gegen Nachmittag hatte sie tatsächlich Masaru aufgesucht, der in einer sehr wohlhabenden Gegend der Stadt lebte. Eine gefühlte Ewigkeit stand sie vor dem riesigen Haus und war vollkommen eingeschüchtert von dem großen Anwesen, das sich vor ihr erstreckte.
Eigentlich brauchte sie sich gar nicht zu wundern, da sie genau wusste, dass Masarus Vater ein angesehener Politiker war, der sogar einen Platz im Stadtrat hatte.
Mimi wurde bereits von Masaru erwartet, der sofort zur Tür gestürmt kam und ihr öffnete.
Zuerst wollte er sie direkt in sein Zimmer lotsen, doch beide wurden von seiner Mutter abgepasst, die Mimi freudig begutachtete.
Sie musterte sie von oben bis unten und lächelte wie ein Honigkuchenpferd.
Masaru quittierte ihre Reaktion nur mit einem genervten Augenrollen.
Mimi blieb jedoch höflich und stellte sich kurz vor, in dem sie sich förmlich vor seiner Mutter verbeugte.
Kaum hatten sie ein paar Worte miteinander geredet, wurde Mimi auch schon prompt zu Abendessen eingeladen, obwohl sie eigentlich den Abend mit ihrer Mutter verbringen wollte.
Doch Mimi wollte nicht unhöflich sein und sagte zu.
Als sie bei Masaru im Zimmer angekommen waren, saß Yasuo bereits an seinem Schreibtisch und begrüßte sie fröhlich.
Masaru ging daraufhin zu seinem kleinen Bruder und wuschelte ihm durch die Haare, sodass sie in alle Himmelrichtungen abstanden, während Mimi mitten im Raum stehen blieb und mit großen Augen sein Zimmer begutachtete.
Masaru sammelte alte Schallplatten, die er hinter einer Vitrine platziert hatte. Er hatte auch selbstverständlich einen alten Schallplattenspieler und seine alte Akustikgitarre im Zimmer stehen.
Farblich war es in einem zarten Blau gehalten. Zwei große Fenster erhellten den Raum, der durch das helle Laminat noch größer wirkte, als er ohnehin schon war.
Beeindruckt ließ sich Mimi neben den Jungs nieder und holte ihren Block hervor, auf dem Noriko und sie einige Songs geschrieben und komponiert hatten.
„Dein Zimmer ist wirklich der Wahnsinn“, murmelte Mimi und war immer noch sprachlos.
Masaru zuckte nur mit den Schultern und schnappte sich seine Gitarre.
„Meine Eltern zeigen somit eben ihre Zuneigung“, waren seine Worte und Mimi wandte sich ihm verwundert zu. Erst als sie genauer hinblickte, fiel ihr auf, dass keinerlei privaten Bilder seine Wand zierte. Nur ein Foto stand auf seinem Nachttisch, dass sie nicht richtig erkennen konnte.
„Und jetzt zeig mal her, was du uns mitgebracht hast“, meinte Masaru und schnappte sich ihren Block. Mimi rückte etwas näher an beide heran und konzentrierte sich auf den Song, den sie als nächstes einstudieren wollten.
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Masaru, Mimi und Yasuo saßen über zwei Stunden in seinem Zimmer und versuchten die passende Melodie für ihren neuen Songs zu finden.
Doch Mimi war immer noch abgelenkt, da sie dringend etwas mit Masaru unter vier Augen besprechen wollte.
Ihr gingen die letzte Nacht und der heutige Morgen einfach nicht mehr aus dem Kopf. Sie brauchte unbedingt jemanden zum Reden. Für eine Sekunde hatte sie daran gedacht, Noriko anzurufen, doch sie war mit Chiaki verabredet und Mimi wollte sie bei ihren gemeinsamen Momenten nicht stören.
Masaru war der Einzige, der ihr nach Noriko einfiel. Er war einer der wenigen, der die komplizierte Situation rund um Tai kannte, zumal er ihr auch immer gute Ratschläge gegeben hatte.
Doch vor Yasuo konnte sie so ein Thema nicht ansprechen. Er hatte noch diese unschuldige Kinderseele, die sie mit ihren Geschichten auf gar keinen Fall verderben wollte.
Daher wartete sie gespannt den Moment ab, als Yasuo das Zimmer verließ, um kurz auf Toilette zu gehen.
Mimi nutzte ihre Chance sofort und legte den Block beiseite.
„Kann ich dich mal was fragen?“
Masaru sah kurz auf und sah sie unbeeindruckt an.
„Klar, was gibt es denn?“
Mimi druckste etwas herum und wurde leicht rot um die Nase, während sie nervös an Masarus Bettwäsche zupfte.
„Ähm, wenn ein Junge morgens aufwacht und…und du weißt schon…“, sie bewegte auffällig den Kopf und hoffte, dass er sie auch verstehen würde, ohne dass sie das Wort in den Mund nahm.
Masaru sah sie angestrengt an und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.
„Wenn was?“, hakte er irritiert nach und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„Naja…wenn…naja ihr…oh man“, stammelte sie und merkte wie sie hochrot anlief.
Sie atmete einmal tief durch und sprach das aus, was sie eigentlich vermeiden wollte.
„Ich habe heute Morgen mit einem Jungen zusammen im Bett gelegen und er hatte eine Erektion.“
Sie war mit dem Wort leiser geworden, doch Masarus Grinsen versicherte ihr, dass er sie verstanden hatte.
„Wart ihr wenigstens nackt?“, fragte er unverblümt.
„N-Nein!“, antwortete Mimi empört und spürte wie er ihr den Schweiß auf ihre Stirn trieb.
„Wie uninteressant“, schnaubte Masaru nur und ließ die Schultern hängen, bevor er sich ein unverschämtes Schmunzeln auf seine Lippen schlich. „Mit wem hast du denn im Bett gelegen? Wieder mit einen Kerl, der irgendwie der Halb-Ex deiner Freundin ist?“
Mimi riss die Augen auf. „NEIN! Aber…ach es ist so kompliziert!“, knurrte sie und fuhr sich durch die Haare. „Er ist auch in meine Freundin verknallt, aber gestern beziehungsweise heute Morgen war etwas zwischen uns! Das habe ich gespürt.“
„Du meinst seinen Penis?“, stellte er trocken fest, formulierte es jedoch mehr als Frage.
„Das habe ich nicht gemeint!“, antwortete sie schnippisch und schlug ihm gegen den Arm.
„Schon gut“, verteidigte er sich und warf schützend die Hand vor sein Gesicht. „Was willst du jetzt von mir wissen?“
Mimi lockerte ihre Beine und setzte sich im Schneidersitz aufrecht hin.
Sie reckte ihren Hals und sah ihn mit großen Augen an.
„Naja, ob es was zu bedeuten hatte, dass er ausgerechnet in so einer Situation…naja du weißt schon. Es hat sich in diesem Moment so seltsam angefühlt und ich bin auch relativ zügig aus seinem Zimmer verschwunden, aber…“
„Wieso bist du rausgegangen? Noch nie was von Blowjob gehört?“
Mimi entgleisten die Gesichtszüge. „Was? Das ist doch nicht dein Ernst!“
„Du wolltest meine Meinung hören“, murrte er nur. „Und so hättest du ihn sicher glücklich gemacht!“
Überzeugt nickte er und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust.
„Du bist so bescheuert! Hätte ich besser nicht gefragt!“
„Willst du meine ehrliche Meinung hören?“, lenkte er ein und seufzte.
„Ja natürlich! Und jetzt beeil‘ dich besser, bevor dein Bruder wieder auftaucht!“, hetzte sie und sah zur Tür.
Masaru schüttelte nur den Kopf und setzte sich näher an sie heran.
„Sowas passiert uns Männern auch unbewusst. Mit Erregung hat das manchmal gar nichts zu tun. Es ist eine körperliche Reaktion, die in der Nacht öfters vorkommt“, erklärte er ihr und blickte in ihr enttäuschtes Gesicht.
„Oh“, machte sie nur und ließ den Kopf hängen.
Masaru legte auf einmal den Arm um sie und beugte sich ihr entgegen. „Aber hey, ich weiß nicht genau, was zwischen euch vorgefallen ist. Vielleicht liege ich in diesem Punkt auch komplett falsch und er hat nur darauf gewartet, dass du ihm in die Hose fasst!“
Mimi gab einen entrüsteten Laut von sich und stieß ihm kräftig in die Rippen.
„Masaru!“, tadelte sie ihn empört und richtete einen bösen Blick auf ihn.
Er lachte nur und setzte sich auf seinen Stuhl. Fast Zeitgleich trat auch Yasuo ins Zimmer ein und schloss die Tür hinter sich.
„Und hab ich etwas verpasst?“, erklang seine Stimme und er trottete wieder zu den beiden.
Mimi sah mahnend zu Masaru, der immer noch vor sich hin grinste.
„Ach nein, wir haben nur über belanglose Dinge gequatscht!“, entkräftete er und Mimis Haltung entspannte sich.
Fröhlich setzte sich Yasuo neben sie und schnappte sich den Block, den Mimi aufs Bett gelegt hatte.
„Gut, dann können wir ja jetzt weitermachen!“
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Später saß Mimi beim gemeinsamen Abendessen mit Masarus Familie. Seine Mutter hatte sich viel Mühe gegeben ein zauberhaftes Abendessen zu zuzubereiten, das aus zartem Hühnchenfleisch und verschiedenen Beilagen bestand.
Es schmeckte alles vorzüglich, sodass Mimi nur ein Kompliment an die Köchin aussprechen konnte.
„Das ist wirklich unfassbar lecker“, sagte Mimi und deutete mit ihrer Gabel auf das Hühnchen.
„Vielen Dank, das Rezept ist noch von meiner Mutter“, schwärmte sie und griff nach ihrem Glas Wein.
Mimi lächelte zurückhaltend und warf einen unauffälligen Blick zu Masaru, der neben ihr saß.
Gelangweilt stocherte er in seinem Essen und nahm gelegentlich einen Happs zu sich. Yasuo saß Masaru direkt gegenüber und wirkte auf Mimi angespannt.
Sein Vater schnitt gerade das Fleisch, als er sich räusperte und Mimi und Masaru mit seinem Blick fixierte.
„Ich wusste gar nicht, dass du eine Freundin hast“, meinte er überrascht.
Mimi öffnete den Mund und wollte gerade erklären, dass sie kein Paar waren, doch Masaru kam ihr zuvor.
„Mimi ist nicht meine Freundin!“, antwortete er nachdrücklich und schien verärgert. „Du weißt doch, was bei mir los ist!“
„Ich weiß überhaupt nichts“, zischte er und wandte den Blick von ihnen. „So seltsame Phasen macht doch jeder Mal durch und sie ist ein hübsches Mädchen!“
„Es ist aber keine Phase! Wann kapierst du das endlich?“, rief er empört und sein Besteck klapperte gegen seinen Teller.
Yasuo zuckte zusammen und sah hilfesuchend zu Mimi, die zwischen Vater und Sohn unsicher hin und her blickte.
„Du willst doch irgendwann mal eine Familie, oder? Wie soll das funktionieren, wenn du dir nicht endlich mal eine anständige Partnerin suchst?“, stellte er fest und nippte an seinem Wein.
„Du meinst also keinen Mann, richtig? Warum verstehst du es nicht? Ich kann mich nicht ändern, weil ich ebenso bin! Ich bin deine ewigen Diskussionen so leid und jetzt ziehst du sogar noch meine Freunde mit rein!“, entgegnete er immer lauter werdend.
Mimi sackte auf ihrem Stuhl hinab und wusste nicht, ob sie sich in das Gespräch einmischen sollte, oder nicht.
„Warum sagst du eigentlich nie was dazu?“, richtete Masaru sich an seine Mutter, die den Kopf gesenkt hatte.
„Deine Mutter ist der gleichen Meinung wie ich! So eine Verhaltensweise ist unnormal!“
„So ein Bullshit!“, brüllte er und sprang auf.
„Masaru setzt dich wieder!“, forderte sein Vater und deutete auf seinen Stuhl, doch Masaru weigerte sich.
„Darf ich denn nicht glücklich sein? Ich will auch mein Glück und meine Liebe der Welt zeigen und mich nicht verstecken müssen!“
„Weißt du welches Licht das auf unsere Familie rückt? Bald sind Wahlen!“
„Du und deine beschissenen Wahlen“, knurrte er bedrohlich. „Das ist dir doch schon immer das Wichtigste gewesen!“
Er schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass das Geschirr leicht klirrte.
Mimis Augen waren geweitet und sie befand sich in einer Art Schockstarre, aus der sie sich einfach nicht lösen konnte. Wie war sie hier nur hineingeraten?
Ihre Augen wanderten zu Yasuo, der den Tränen bereits nah war. Wahrscheinlich lief es immer so ab, wenn sie gemeinsam aßen.
Seine Mutter saß teilnahmslos am Tisch und fixierte einen bestimmten Punkt, von dem sie nicht den Blick wandte.
Masaru stand immer noch, genauso wie sein Vater, der vor wenigen Sekunden ebenfalls wütend aufgesprungen war und fuchsteufelswild auf ihn einredete.
Mimi entwickelte das Bedürfnis, sich die Ohren zuhalten zu wollen, doch sie verfolgte das Streitgespräch immer noch regungslos und konnte nicht fassen, dass alles plötzlich so eskaliert war.
„Du solltest endlich mal erwachsen werden und diese verflixten Phantasien aus deinem Kopf verbannen! Ist dir egal, was die Leute über dich reden?“
„Ja ist es! Du machst mir dadurch alles kaputt! Sogar die Beziehung zu IHM! Ich versteh‘ dich nicht! Willst du mich nicht glücklich sehen?“
Vollkommen in Rage gekommen redete sich Masaru um Kopf und Kragen.
Wen meinte Masaru nur? Und warum hatte Mimi noch nie von IHM gehört?
Fragend blickte sie zu Masaru, dessen Zornesfalte in der Mitte seiner Stirn gefährlich angeschwollen war. „Du wirst mich nie verstehen, weil ich für dich immer eine Enttäuschung sein werde.“
Mit diesen Worten warf er seine Serviette auf den Teller und verließ den Tisch.
Auch Mimi stand auf, während Masarus Vater auf seinen Stuhl sackte.
„Dieser Junge bringt mich noch ins Grab“, nuschelte er und richtete einen verheißungsvollen Blick zu seiner Frau, die immer noch auf den Tisch starrte.
Yasuo hatte den Kopf gesenkt und schluchzte leise vor sich hin.
Mimi schluckte kurz, als sie sich ihre Tasche schnappte und ohne darüber nachzudenken, Masaru hinterher lief. Kein Wunder, dass er diese ganze Heimlichtuerei satt hatte, aber trotzdem war seine Familie alles andere als hilfreich.
Sein Vater war ein wahrhaftiger Choleriker, während seine Mutter sich wohl immerzu zurückhielt und nichts sagte. Mimi musste dringend mit Masaru reden.