Unsicherheiten
Ihre Woche hatte sehr komisch angefangen. Eigentlich war ihr ganzes Wochenende schräg gewesen.
Erst konnte sie Sora nicht erreichen, dann schleppte ihre Mutter sie in die Neustadt, wo sie auch bekannte Gesichter trafen. Doch seit dem Treffen war ihre Mutter komisch.
Mit ihrem Vater hatte sie auch kaum ein Wort gewechselt. Mehrfach hörte sie leises diskutieren und das Schlagen einer Tür. Am Sonntagmorgen fand sie ihren Vater auf der Couch vor.
Mimi traute sich nicht nachzufragen, aber ihr Sonntag war still – ungewöhnlich still, so als würde eine große Naturkatastrophe auf sie zu kommen und einfach achtlos überrollen.
Heute Morgen war ihr Vater bereits früh aus dem Haus gegangen. Ihre Mutter hatte ihr wie gewohnt Frühstück gemacht, unterhielt sich jedoch nicht mit ihr.
Mehrfach versuchte sie das Wort zu ergreifen, doch alle Versuche scheiterten. Sie wollte nicht darüber reden.
Mimi hoffte wirklich von Noriko mehr Informationen zu erfahren. Fieberhaft wartete sie auf Antworten, die ihr niemand geben wollte.
Und dann war da auch noch Sora, die sie heute Morgen nicht am Schultor vorfand und auch sonst spurlos verschwunden schien.
Noch nicht mal in der Pause war sie auffindbar, doch niemand störte sich sonderlich daran.
Sie saß auf der gleichen Bank wie immer, direkt neben Izzy und suchte mit den Augen den Schulhof nach Sora ab. Sie war spurlos verschwunden.
Was war nur passiert? War das Gespräch mit Tai etwa so in die Hose gegangen?
Mimi schnaubte leicht und stützte mit ihrem Arm ihren Kopf, der auf ihrer Handfläche ruhte.
Aus dem Augenwinkel heraus, sah sie Tai und Matt auf sie zukommen.
Sie schnellte mit ihrem Kopf hoch. Die beiden hatten gerade Platz genommen, als Mimi sie mit einer Frage bombardierte, die ihr auf der Zunge brannte.
„Sagt mal, habt ihr Sora gesehen?“
Sie sah abwechselnd zu Tai und Matt, die in aller Seelenruhe ihr Essen auspackten.
Tai zuckte kurz bei Soras Namen zusammen, doch Mimi entschied sich dafür, dem keine große Beachtung zu schenken.
„Ich glaube, sie isst heute mit ein paar Mädels vom Tennisverein. Jedenfalls hat sie das vorhin zu mir gesagt“, eröffnete Matt ihr knapp und packte sein Pausenbrot aus der Box.
Mimi musterte ihn auffällig, doch er zeigte keinerlei Reaktion.
Tai hingegen wich ihren fragenden Blicken aus, so als würde er wissen, warum Sora heute lieber bei den anderen aß.
Was war nur nach Matts Geburtstagsfeier vorgefallen? Warum waren alle plötzlich so komisch?
Lag irgendetwas in der Luft?
Tai schien wohl immer noch nicht zu wissen, dass Sora und Matt ein Paar waren…
Missmutig blickte sie ihr Gegenüber an, der lustlos an seinem Sandwich knabberte. Er wirkte so, als hätte er nicht sonderlich viel Hunger. Wirklich untypisch für ihn.
Länger als nötig, starrte sie ihn nieder und erweckte somit seine Aufmerksamkeit. Er zog die Augenbrauen zusammen und legte das Sandwich in die Brotbox.
„Warum starrst du mich so an? Hab‘ ich was im Gesicht hängen?“, fragte Taichi genervt und funkelte sie an.
Mimi wurde augenblicklich rot und schüttelte nur sachte den Kopf. Warum raubte er ihr immer gleich die Sprache? Sie kam sich in letzter Zeit so dumm und naiv vor, wenn sie sich mit ihm unterhielt. Wo war nur ihre Schlagfertigkeit geblieben? Sie war wohl der Liebe zum Opfer gefallen.
„Dein Gesicht sieht auch heute extrem dämlich aus“, mischte sich nun auch Yamato ein. „Ist was passiert?“
Tai schreckte zusammen. „Nein, was soll passiert sein?“
„Du wirkst ein bisschen neben der Spur“, meinte sein bester Freund und sah ihn besorgt an.
„Mit mir ist alles in Ordnung“, versicherte Tai ihm unwirsch und aß unbeirrt weiter, bis er seinen Blick wieder zu Mimi wandte. Er kaute auf seinem Brot, so als wäre es Kaugummi und schluckte es schwerfällig hinunter.
„Was ist?“, fragte sie pampig und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ach, ich habe nur an Morgen gedacht“, antwortete er schulterzuckend. „Ich armer Kerl rackere mich jeden Dienstag für dich ab und du musst noch nicht mal was dafür bezahlen“, sagte er und schnaubte laut.
„Wow, mein Held“, antwortete sie sarkastisch und streckte ihm die Zunge raus. „Zu deiner Erinnerung, du hast nie auf Geld bestanden.“
„Vielleicht besteht er ja auf andere Dinge“, stichelte Matt grinsend und Mimi warf ihm einen vielsagenden Blick zu, während Tai ihm einen offensichtlichen Stoß in die Rippen gab.
„Was denn? Man weiß ja nie, was sich während der Nachhilfestunde alles entwickelt“, lachte er und winkte ab. Er konnte ja nicht ahnen, dass sich bei Mimi wirklich etwas entwickelt hatte.
Störende Gefühle, die sie manchmal einfach gerne loswerden wollte.
Tai fuhr sich durch seine wilde Mähne und schüttelte bei den wilden Spekulationen seines besten Freundes immer wieder den Kopf.
Izzy schien alles auch eher mit Humor zu nehmen und stieg fröhlich mit ein.
„Die beiden wären wirklich ein seltsames Paar“, grinste er und sah herausfordernd zu Tai, der plötzlich ganz still geworden war.
„Das stimmt. Vollkommen gegensätzlich, aber witzig wäre es schon“, erwiderte Yamato.
„Schön, dass ihr auf unsere Kosten Spaß habt. Aber ich steh‘ nicht so auf Brünette“, sagte er locker und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Mimi, die das ganze bis vor kurzem noch sehr amüsant gefunden hatte, sah plötzlich traurig drein.
„Du bist aber auch kein Traumprinz“, wetterte sie gekränkt.
„Aber ich seh‘ unfassbar gut aus“, tönte er überheblich. „Soll ich dir vielleicht meine Bauchmuskeln zeigen?“
„Lieber nicht, deine Fettschürze will ich sicherlich nicht sehen“, grummelte sie und reckte ihren Hals.
„Fettschürze? Geht's noch, das sind alles Muskeln!“
„Wie ein altes Ehepaar“, lachte Matt und klopfte Tai auf die Schulter.
Tai warf ihm nur einen bösen Blick zu, während sich Mimi bedeckt hielt.
Bei diesem Verein konnte man ja nur etwas Falsches sagen.
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Hibbelig wartete sie am Tor und hoffte Sora noch abfangen zu können. Neben ihr stand Izzy, der gelangweilt Löcher in die Luft starrte.
„Auf wen warten wir nochmal? Ich müsste eigentlich noch lernen“, gab er mürrisch zu und warf Mimi einen genervten Blick zu.
Ihre Lehrerin hatte sie fünfzehn Minuten früher entlassen, aber Mimi wollte unbedingt mit Sora sprechen. Ihr komisches Verhalten musste doch eine Ursache haben. Und Mimi wollte ihr unbedingt auf den Zahn fühlen.
In ihr machte sich das Gefühl breit, dass auch Taichi etwas damit zu tun hatte. Sein Verhalten war nicht weniger komisch, es war sogar mehr als nur verdächtig.
Etwas, was Mimi so gar nicht gefiel.
„Da hinten kommen die anderen“, informierte Izzy sie und deutete in deren Richtung.
Hoffnungsvoll drehte sie sich herum und entdeckte nur Tai, Matt, Kari und Davis.
„Wo ist Sora?“, fragte sie, als die vier bei ihnen angekommen waren.
„Sie ist heute arbeiten und musste schnell weg“, beantwortete Matt ihre Frage. Doch auch er selbst, wirkte verunsichert und schien ihre Aussage genauso wenig zu glauben, wie Mimi.
„Montags? Sie arbeitet doch nur dienstags bis donnerstags“, rief sie empört und schüttelte den Kopf.
Hier stimmte etwas nicht.
Matt zuckte nur mit den Schultern, während Tai ihren Blicken mal wieder auswich und sich zurückhielt.
Mimi schüttelte nur den Kopf. Konnte niemand ihrer Freunde mal Klartext reden? Obwohl, sie war sich noch nicht mal sicher, ob sie die Wahrheit überhaupt wissen wollte.
Missmutig setzte sie sich in Bewegung.
Izzy hatte Tai in ein Gespräch verwickelt, das ihn offensichtlich langweilte. Ein paar Mal sah sie ihn gähnen.
Davis und Kari liefen vor den vieren und schienen sich normal zu unterhalten, auch wenn Mimi immer noch die sehnsüchtigen Blicke von Davis mitbekam.
Er war hoffnungslos verliebt, genauso wie sie. Doch Kari hatte sich für jemand anderen entschieden und ließ ihn mit einem gebrochenen Herzen zurück. Mimi hatte Angst, dass es ihr ebenfalls so ergehen würde.
Sie warf Taichi einen flüchtigen Blick zu. Sein Gesicht war ausdruckslos und augenscheinlich verfolgte er das Gespräch mit Izzy nur halbherzig. Er schien seinen Gedanken nachzuhängen.
Plötzlich spürte Mimi eine Hand an ihrem Oberarm, die sie sachte etwas zurückzog.
„Was zum…Matt?“
Sie funkelte ihn böse an, doch sein Blick verriet ihr, dass er etwas Ernstes mit ihr zu besprechen hatte.
Beide verlangsamten ihre Schritte und hinterließen eine größere Kluft zwischen ihnen und den anderen.
„Was ist los?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn und passte sich seinem Gehtempo an.
„Es geht um Sora“, eröffnete er ihr, „ich war am Samstag bei ihr gewesen und seither verhält sie sich komisch.“
„Wie komisch?“
Mimi wirkte alarmiert. Sie spitzte die Ohren und ihr Blick war voll und ganz auf Matt gerichtet.
„Naja, als ich am Samstag da war, war sie richtig abweisend zu mir. Ich bin schnell wieder gegangen, weil ihre Mutter zu Hause war, aber per SMS konnte sich sie später gar nicht mehr erreichen.“
Sie nickte nur. All das kam ihr sehr bekannt vor. Sora schien irgendetwas zu verbergen.
„Und wie war es heute in der Schule gewesen? Ihr sitzt doch nebeneinander“, stellte sie die Gegenfrage und wartete gespannt auf seine Antwort.
Matt zuckte allerdings nur mit den Achseln und sah sie unwissend an. „Heute ging’s. Wir haben uns normal unterhalten. Sie wollte nur nicht mit uns Mittagessen“, erklärte er ihr knapp.
Mimi nickte wieder und versuchte das Gesagte irgendwie in Verbindung miteinander zu bringen, doch ihre fehlten noch zu viele Puzzleteile, um es richtig zusammensetzten zu können.
„Hat sie zu dir irgendwas gesagt?“, fragte er auf einmal und wirkte sehr besorgt.
Mimi schüttelte nur den Kopf und erkannte schon von weitem die Straße, in die sie abbiegen musste.
„Nein, ich konnte sie auch das ganze Wochenende nicht erreichen, aber da war…“, sie stockte.
Sie erinnerte sich wieder an diesen komischen Samstag. Noriko und ihre Mutter, die anscheinend alles auf den Kopf gestellt hatten.
„Aber da war?“, wiederholte Matt und fixierte sie mit seinen kühlen blauen Augen.
„Ach, nicht so wichtig“, redete sich Mimi heraus und steuerte mit schnellen Schritten auf die Abzweigung zu.
Matt blieb verdattert zurück. Doch Mimi hatte nicht sonderlich viel Lust mit ihm über ihre nicht nennenswerten Probleme zu sprechen. Vielleicht war auch alles ganz harmlos.
Schnell verabschiedete sie sich von dem Rest und steuerte geschwind auf das Haus zu, das sie vor über einem Jahr bezogen hatten. Man konnte es schon von weitem erkennen.
Es hatte rote Dachziegeln, war zweistöckig und sah von außen bereits sehr einladend aus.
Mimi war froh in dieser Gegend zu leben. Sie war sehr idyllisch und es fuhr nicht so viel Verkehr durch, wie bei ihrer alten Wohnung, die sie damals hatten.
Eigentlich konnte sie sich wirklich glücklich schätzen.
Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an. Sie schloss die Tür auf und stand mitten im Hausflur, als sie eine laute Diskussion ihrer Eltern mitbekam.
Normalerweise stritten sie nie so laut.
Sachte schloss sie die Tür hinter sich und zog leise die Schuhe aus.
Auf Zehenspitzen schlich sie sich in die Küche, von wo sie die lauten Stimmen hörte. Sie drückte ihr Ohr gegen die Tür und lauschte.
„Ich habe überhaupt keine Ahnung, warum du dich so darüber aufregst, Satoe“, brüllte ihr Vater, sodass sie kurz zusammenzuckte. Brüllen war sie von ihm nicht gewöhnt gewesen. Eigentlich war er die Ruhe in Person.
„Warum ich mich aufrege? Das habe ich dir doch schon zick Mal erklärt! Und ich glaube nicht, dass sie das grundlos erzählt hat“, pfefferte ihre Mutter in der gleichen Lautstärke zurück.
Wer hatte was erzählt? Sie verstand nur Bahnhof.
„Und du glaubst ihr? Einem Kind, das damals noch nicht mal geboren war? Sag‘ mal tickst du noch richtig?“, warf er ihr an den Kopf und Mimi hörte das Klirren des Geschirrs.
„Es langt mir allmählich! Ich lasse mir doch nicht irgendwelche Sachen unterstellen“, knurrte er und riss die Küchentür auf.
Mimi schreckte zusammen, als ihr wutentbrannter Vater in den Flur trat und sie zuerst gar nicht bemerkte. „Ich werde frische Luft schnappen gehen“, ließ er ihre Mutter wissen, blickte kurz zu Mimi und erstarrte.
„Mimi?“, fragte er mit ruhiger Stimme, doch in ihren Augen hatten sich bereits Tränen gesammelt. Sie mochte es nicht, wenn sich ihre Eltern stritten. Sie hatte immer das Gefühl, dass sie für eine Seite Partei ergreifen müsste. Doch im Moment war sie nur überfordert.
Ohne etwas zu ihm zu sagen, lief sie die Treppe hoch und verschloss ihre Zimmertür. Langsam rutschte sie sie hinunter und vernahm nur noch, wie ihr Vater geräuschvoll die Haustüre zuschlug.
Mit dem Handrücken fuhr sie sich immer wieder über ihre Augenpartie, doch die Tränen wollten nicht aufhören.
Was war nur passiert?