Bekannte Gesichter
Da sollte ein Mensch ihre Mutter mal verstehen. Es war Samstag und sie hatte nichts Besseres zu tun, als Mimi in die Neustadt zu schleppen. Shoppen wollte sie gehen, da eine große Kaufhauskette Ausverkauf hatte. Ihr Vater hatte sich hervorragend davor gedrückt, indem er sagte, doch eine Präsentation für die Arbeit vorbereiten zu müssen.
Also blieb nur noch Mimi übrig, die eigentlich so gar keine Lust dazu hatte. Natürlich liebte sie shoppen, aber musste man dafür extra in die Neustadt fahren?
Sie war nicht davon überzeugt. Auch, dass Sora nicht auf ihre SMS geantwortet hatte, machte sie irgendwie stutzig. Normalerweise antwortete sie sofort, doch diesmal wartete sie schon geschlagene zwei Stunden auf eine Antwort von ihr.
Selbstverständlich wollte Mimi wissen, wie das Gespräch mit Taichi gelaufen war. Doch nachdem Sora sich einfach nicht bei ihr meldete, rechnete Mimi schon mit dem Schlimmsten.
Am liebsten wäre sie heute Morgen gleich bei ihr vorbeigegangen, aber ihre Mutter kam auf die bescheuerte Idee in die Neustadt zu fahren. Wer wusste schon, wann die beiden nach Hause kommen würden? Und sonntags wollte sie Sora wirklich nicht belästigen.
Vielleicht hatte sie ja noch die Gelegenheit bei ihr später anzurufen. Bis Montag wollte sie definitiv nicht warten.
„Und Mimi, was möchtest du dir kaufen? Ein neues Sommerkleid, dass man auch gut zu einem Date anziehen könnte?“, meinte sie verträumt und ging neben ihr her, während Mimi lustlos den Kleiderständer durchforstete.
Sie drehte sich um und verzog grimmig das Gesicht. „Man Mama hör‘ doch endlich auf damit! Bisher hat sich noch nichts ergeben.“
„Ach Mimi, du solltest wirklich mal die Initiative ergreifen, sonst schnappt dir noch jemand deinen Süßen weg“, sagte sie empört und ging zu einem anderen Kleiderständer.
„Das ist alles nicht so einfach und vielleicht solltest du endlich aufhören dich in meine Angelegenheiten einzumischen“, antwortete sie schnippisch und drehte eingeschnappt den Kopf weg. Ihre Mutter hatte eindeutig zu wenige Hobbys. Vielleicht brauchte sie auch einfach einen Job, der sie mal auf andere Gedanken brachte. Das hier, war langsam nicht mehr zum Aushalten.
„Aber ich meine es doch nur gut! Und nicht jeder ist so wie Jason.“
Mimi zuckte bei seinem Namen zusammen. Sie wusste, dass es ein Fehler war, ihrer Mutter alles über Jason zu erzählen. Aber damals war sie einfach nur so wütend gewesen, dass sie jemanden zum Reden brauchte. Auch wenn es ihre Mutter war.
„Können wir bitte über was anderes reden?“, zischte sie und senkte den Kopf.
In der Liebe hatte sie wirklich nur Pech gehabt. Erst verliebte sie sich in einen Idioten, der nur das eine von ihr wollte und dann in Tai, der so undurchsichtig wie eine Backsteinmauer war.
„Ach Mimi, ich versuche dir doch nur zu helfen“, jammerte ihre Mutter verzweifelt und fuhr sich durch ihr Gesicht. Mimi ignorierte sie.
Plötzlich hörte sie ein undefinierbares Geräusch, dass nur von ihrer Mutter kommen könnte. Sie drehte sich zu ihr und sah, dass sie sie verschwörerisch angrinste.
„Was ist denn jetzt los?“, fragte sie und hielt sich die Stirn.
Ihre Mutter zog ein Kleid aus dem Ständer und hielt es vor sich. „Na wie findest du es?“
Mimi musterte das Stück Stoff und zog skeptisch die Augenbraue nach oben.
Es war dunkelblau und erinnerte sie eher an ein Sekretärinnenoutfit, statt an ein legeres Sommerkleid.
„Sowas zieh‘ ich doch nicht zu einem Date an“, sagte sie empört. „Nachher fragt er mich noch, ob ich ihm einen Kaffee bringen kann.“
Satoe schüttelte auffällig den Kopf. „Ach, das soll doch nicht für dich sein, sondern für mich. Dein Vater und ich haben doch bald wieder Hochzeitstag“, erzählte sie verträumt und stellte sich wahrscheinlich schon in dem Kleid vor.
Mimi hingegen verrollte nur die Augen. Ging das Übel schon wieder los. Ihre Eltern feierten jeden ihrer Hochzeitstage, egal ob er nun etwas besonders war, oder nicht.
Letztes Jahr waren sie schick essen gegangen und überließen Mimi ihrem eigenen Schicksal. Damals wohnten sie noch keine drei Monate in ihrem neuen Haus.
Und Mimi war generell eher ungern alle zu Hause. Dieses Jahr wollten sie sie sogar über das Wochenende alleine lassen, da ihr Vater ein Wellnesshotel gebucht hatte.
„Und was hältst du davon? Kaufen oder nicht kaufen?“
„Das musst du wissen“, erwiderte sie genervt.
„Ach komm schon Mimi. Ich brauch‘ deinen fachmännischen Rat. Von Frau zu Frau.“
Erwartungsvoll starrte ihre Mutter sie an und Mimi ließ schnaufend die Schultern hängen.
„Ich würde ‘ne andere Farbe nehmen. Blau lässt sich zu blass wirken. Wie wäre es mit rot?“, schlug die Brünette vor und deutete auf das Rote.
„Rot?“, Satoe nickte eifrig. „Du hast Recht! Rot passt viel besser zu meinem Temperament.“
Temperament? War das ihr ernst?
Würde sie ihre Klamotten nach ihrem Temperament wählen müssen, wäre alles rosa flauschig.
Rot war zu aggressiv und diese Charaktereigenschaft fehlte bei ihrer Mutter vollkommen.
Sie war immer lieb und nett. Manchmal vielleicht etwas zu neugierig, aber irgendwie war das jeder aus ihrer Familie. Mimi schmunzelte leicht, als sich ihre Mutter und das rote Kleid tänzerisch auf und ab bewegten.
Okay, vielleicht war ihre Familie auch leicht verrückt, aber das machte ja bekanntlich die Besten aus.
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Nachdem sie einige Boutiquen und Geschäfte abgeklappert hatten, wollte ihre Mutter unbedingt noch in einen nahegelegenen Supermarkt, um ein paar Lebensmittel zu besorgen.
Missmutig und mit einem langgezogenen Gesicht stiefelte Mimi hinterher.
Sie wollte einfach nur noch nach Hause. Sie hatte wirklich genug Zeit mit ihrer Mutter verbracht, irgendwo war auch mal eine Grenze.
„Was willst du denn noch alles kaufen?“, fragte Mimi bissig, als ihre Mutter seelenruhig durch den Laden spazierte. Mimi trug die Taschen und ihre Arme wurden allmählich ganz schwer.
„Ich habe deinem Vater versprochen heute Abend gefüllte Reisbällchen mit Tintenfisch zu machen. Ich brauche noch Reis und Tintenfisch“, antwortete sie gelassen.
„Na lecker und was esse ich?“
„Du kannst auch mal das Gleiche essen wie wir. Immer dieses gedünstete Gemüse, ist auf Dauer sicher auch nicht gut.“
„Aber ich will ein wenig abnehmen! Amerika hat mich voll fett werden lassen“, protestierte sie und sah an sich hinunter.
Satoe drehte sich zu ihr herum und schüttelte den Kopf.
„Wir sind schon über ein Jahr wieder in Japan und außerdem bist du wunderhübsch! Wer redet dir so einen Schwachsinn ein?“
Meist sie selbst. Im Gegensatz zu Sora, die überaus sportlich und demensprechend dünn war, sah sie aus wie ein Wal. Okay, vielleicht übertrieb‘ sie ein bisschen, aber auch sie hatte gemerkt, dass sie ihren Hüpfspeck nicht so einfach loswurde.
Und da sie nicht die Sportlichste war, musste sie eben etwas an ihrer Ernährung drehen, auch wenn sie sich nicht immer daran hielt.
Mimi wirkte sicher auf viele sehr selbstbewusst, doch in Wahrheit kämpfte sie mit Selbstzweifeln, die durch ihre unglückliche Liebe zu Tai noch verstärkt wurden.
Natürlich fragte sie sich, warum er nicht auf sie ansprang. Fand er sie etwa unattraktiv? Hässlich? Zu Prinzessinnenhaft?
Wer wusste das schon. Wahrscheinlich konnte nur er ihr diese Frage beantworten.
Auf einmal blieb ihre Mutter abrupt stehen und Mimi konnte gerade noch verhindern, nicht in sie hinein zu brettern.
„Man Mama, wo bist du nur mit deinen Gedanken?“, fragte sie empört und fing den verwirrten Blick von ihr auf. Sie folgte ihm und blickte plötzlich in das Gesicht einer fremden Frau, die die beiden ebenfalls erschrocken anstarrte.
Mimi runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden hin und her. Was hatte das auf einmal zu bedeuten?
Ihre Mutter regte sich wieder und stammelte fast schon etwas unverständlich einen Namen.
„A-Ayame?“
Mimis Augen weiteten sich und starrten zu der Frau, die sich wie in einer Art Schockstarre befand.
War das die ehemals beste Freundin ihrer Mutter? Sie hatte sich Ayame komplett anderes vorgestellt.
Die Frau, die vor ihr stand, hatte braune Haar, die sie zu einem Zoff zusammengebunden hatte. Ihre Kleidung war nicht mehr die neuste und sah sehr abgenutzt aus.
Ein roter Fleck zierte ihr cremefarbenes Shirt. Es sah aus wie Marmelade.
Geschminkt war sie nicht, was Mimi ihre dunklen Augenränder und generell müden Augen verrieten.
Das sollte Ayame sein?
„Hey Mama, ich habe keine hellen Bohnen gefunden, deswegen habe ich…“
Ein Mädchen kam auf sie zugesteuert und blieb direkt neben ihr stehen. Sie hielt eine Dose Bohnen in den Händen. „I-Ich habe Dunkele besorgt“, stammelte sie und fuhr sich auffällig durch ihr Gesicht.
Mimi beobachtete sie genau, da sie ihr irgendwie bekannt vorkam, sie konnte nur nicht sagen, wo sie sie schon mal gesehen hatte. Das Mädchen senkte den Kopf und sah in eine komplett andere Richtung, so als wolle sie nicht, dass Mimi ihr in die Augen schauen konnte.
Ihre Mutter sah Ayame immer noch sprachlos an, während Ayame selbst nervös auf Mimi wirkte.
Mimi sah jeden einzelnen an. Niemand reagierte auf ihre fragenden Blicke – noch nicht mal ihre Mutter.
„Mama, was ist hier los?“, flüsterte sie ihr zu, doch Satoe zuckte nur kurz zusammen.
Allmählich schien sie wieder zu sich zu finden.
„Mit dir habe ich hier wirklich nicht gerechnet. Ich dachte du lebst in Nagoya“, sagte sie fassungslos, obwohl sie schon vor ein paar Wochen den Verdacht gehegt hatte.
„Da haben wir auch gelebt, aber…“, begann sie langsam und wisch den Blicken ihrer ehemaligen Freundin aus. Mimi beobachtete sie fragwürdig.
„Wir sind vor ein paar Jahren hier her gezogen“, antwortete das Mädchen, dass Mimi nur als ihre Tochter einordnen konnte. Jedenfalls erinnerte sie sich daran, dass ihre Oma ihr etwas von einem Baby erzählt hatte.
„Warum hast du nie was erzählt? Du warst auf einmal wie vom Erdboden verschluckt. Deine Eltern konnten mir nur sagen, dass du nach Nagoya gezogen bist.“
Der Ton ihrer Mutter klang vorwurfsvoll und verletzt zugleich.
Wahrscheinlich hatte ihr das Ganze mit Ayame mehr ausgemacht, als Mimi eigentlich wusste.
Genau genommen hatte sie nur den Bruchteil einer Ahnung, was zwischen den beiden vorgefallen war.
Sie schluckte, als sich eine drohende Stille ausbreitete. Kurze Blicke wurden untereinander ausgetauscht. Das Mädchen, dessen Namen sie noch immer nicht kannte, sah dringlich zu Ayame. Ihr Blick war fordernd und signalisierte, dass ihre Mutter etwas sagen sollte. Doch Ayame senkte den Kopf und biss sich sichtbar auf die Unterlippe. Unruhig wippte sie mit ihrem Bein und blinzelte Richtung Ausgang. Ihre Tochter hielt sie leicht am Arm fest und wandte ihren Blick hilfesuchend zu Mimi, die ihr das erste Mal in die Augen schauen konnte.
Das Gesicht hatte sie schon mal gesehen. Nur wo? Sie war überfragt. Doch sie wusste, dass sie etwas tun musste.
Sowas konnte man doch nicht im Raum stehen lassen. Wenn Ayame ihre Freundin wäre, wollte sie auch wissen, was aus ihr geworden war. So richtig glücklich sah sie nicht aus.
Von den zerfledderten Klamotten ganz zu schweigen. Hier stimmte etwas nicht.
Und Mimi wollte wissen, was hier gespielt wurde.
Daher musste sie sich einfach etwas überlegen. Ganz schnell. Nicht das sie wieder verschwinden würde.
„Wollen wir vielleicht irgendwo etwas trinken gehen?“
Bitte Empfehlung im Nachwort beachten!