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Weltenbummler

von

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„Sieh ... mich ... an ...“, flüsterte er.

Unfähig, sich zu rühren, blickte Harry in die sterbenden Augen Professor Snapes. Etwas lag in dem langsam brechenden Blick, das er nicht sogleich verstehen konnte. Etwas, das er nicht einzuordnen wusste. Vermutlich, weil Snape der letzte Mensch war, von dem er einen solchen Blick erwartet hätte. Noch dazu, dass dieser Blick auf ihn, Harry Potter gerichtet wäre...
 

Einen halben Tag oder auch eine halbe Ewigkeit später, je nachdem, wie man die Zeit in jenen Stunden empfand, verstand Harry genau, was er in den Augen seines Lehrers gesehen hatte. Und weit schrecklicher noch: Er verstand auch, weshalb Snape ihn so angesehen hatte. So voller Verstehen. So voller Mitleid. Und er wusste in dem Moment, da das Kampfgetöse um ihn herum abbrach, weshalb zuletzt ein friedliches Lächeln die Lippen des sonst so mürrischen Zauberers geziert hatte. Denn nach einem winzigen Moment der Ruhe, fielen sie wie eine hungrige Löwenmeute über ihn her: seine Freunde, seine Mitstreiter, seine – Harry schauderte bei dem Gedanken – Fans. Ließen ihn hochleben. Der Junge, der lebt. Der Junge, der lebte, um Voldemort ein zweites Mal zu besiegen. Sie wollten ihn hier bei sich haben, ihren Anführer und ihre Symbolfigur, ihren Retter und ihren Lotsen, und dass er nicht geschlafen hatte, dass er sich nach der Gesellschaft nur weniger von ihnen sehnte – wenn überhaupt –, schien niemandem in den Sinn zu kommen. Er musste zu den Trauernden sprechen – aber was sagte man einer Mrs. Weasley, für die man beinahe ein Sohn gewesen war, und doch nicht ganz, und die nun einen ihrer Söhne im Kampf verloren hatte? –, ihre Hände drücken, ihre Tränen bezeugen, ihren Dank entgegennehmen, sich die Neuigkeiten anhören, die nun, da der Morgen verging, aus allen Richtungen zu ihnen drangen, wonach diejenigen, die im ganzen Land unter dem Imperius-Fluch gestanden hatten, wieder zu sich gekommen waren – wehe Umbridge versuchte diesen Trick –, wonach Todesser flohen oder aber gefangen genommen wurde, wonach... Sie ließen ihm nicht einmal Zeit, selbst um diejenigen zu trauern, die ihm nahe gestanden hatten und die er in dem Kampf verloren hatte... Lupin, die letzte Verbindung zu seinen Eltern, Colin Creevey, auch wenn er ihn beizeiten wegen seiner Kamera am liebsten vom Astronomieturm gehext hätte, und nicht zuletzt Fred...
 

Noch nicht einmal die ehemaligen Schulleiter mochten von ihm ablassen. Und selbst in Rons und Hermiones Gesicht sah er Ehrfurcht. Harry schauderte innerlich. Würde das jetzt immer so weiter gehen? Würde man in ihm nie wieder nur Harry Potter sehen? Würden alle immer nur den Jungen, der lebte in ihm sehen? Weil er Voldemort besiegt hatte? Und die unausgesprochenen Forderungen, die in diesen Blicken lagen? Würden sie je verschwinden?

Sein Zauberstab war repariert und jenes Schaugespräch mit Dumbledore geführt. Von wegen eines natürlichen Todes sterben und die Macht des Elderstabes wäre gebrochen... Pah! Das hatte er doch nur Rons und Hermiones wegen ausgesprochen. Sie würden somit dafür sorgen, dass alle diese Mär glaubten. Dabei hätten sie ihm vorhin in der Großen Halle nur genauer zuhören müssen... Es genügte schon, ein einziges Mal durch einen Entwaffnungszauber gegen seinen Willen seinen Phönixstab zu verlieren und der Elderstab hätte einen neuen Besitzer. Und wie bitte sollte er sicherstellen, dass er nie entwaffnet würde? Besser also seine Freunde glaubten, was er mit Dumbledore an Worten gewechselt hatte.

Harry war der letzte der drei, der das Schulleiterbüro verließ. An der Tür wandte er sich noch einmal um, ließ den Blick über die unzähligen Porträts wandern. Plötzlich stutzte er. Etwas stimmte nicht! Ein Bild fehlte! Mit raschen Schritten war er wieder vor dem Porträt Dumbledores. „Sir, Professor Snape... er hat doch dieses Büro benutzt, oder?“

Der greise Zauberer auf dem Bild nickte und seine Augen hatten wieder das für ihn so typische Glitzern.

„Dann war er von Hogwarts selbst als Schulleiter anerkannt, oder?“

„Das war er, mein Junge. Und in Anbetracht der Umstände war er der beste Schulleiter, den Hogwarts während dieser düsteren Zeit haben konnte“, bestätigte Dumbledore.

„Dann müsste doch aber jetzt auch ein Bild von ihm hier hängen!“, bohrte Harry weiter.

„Nur, wenn er tot ist, mein Junge, nur dann...“

Die letzten Worte hörte Harry schon nicht mehr richtig. Er rannte die Treppe hinunter, sprang förmlich über den Gargoyle und riss beinahe Ron und Hermione um, welche am Fuß der Treppe auf ihn gewartet hatten.

„Harry!“, rief Hermione erschrocken, während Ron sie gerade noch rechtzeitig zur Seite und zu sich heran zog.

„Was ist los?“, wollte nun auch dieser wissen.

„Snape!“, keuchte Harry. „Er lebt noch!“ Damit rannte er schon weiter in Richtung Eingangshalle und Ländereien, um so schnell wie möglich die Heulende Hütte zu erreichen.
 

***
 

Zwei Tage später war sich Harry nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, Snape zu retten. Eher im Gegenteil kam er zunehmend zu dem Schluss, dass er den Professor um seinen verdienten, wenngleich ewigen Frieden gebracht hatte. Dabei hatte doch dessen letzter Blick genau das ausgesagt: Die Erleichterung darüber, endlich mit dieser Welt, mit dieser Gesellschaft fertig zu sein, sie hinter sich lassen zu können und endlich seine Ruhe zu haben. Doch genau das hatte Harry ihm genommen, als er, ganz der impulsive Gryffindor, der er im Grunde seines Herzens war, den beinahe leblosen Körper aus der Heulenden Hütte geborgen und ihn den fähigen Händen Madame Pomfreys und der Heiler des St Mungo’s übergeben hatte. Denn genau wie bei ihm selbst, begann die Gesellschaft schon Forderungen an den Professor zu stellen, obgleich er noch nicht einmal aus dem medimagischen Koma erwacht war. Journalisten wollten Interviews, Engstirnige forderten einen raschen Prozess, Wagemutige verlangten die Verleihung eines Ordens des Merlins. Aber insgesamt tat diese Gesellschaft das, was sie immer getan hatte: Sie forderte und forderte und forderte. Nie jedoch hielt sie einen Moment inne, betrachtete sich selbst kritisch und ihre Opfer, fragte sich, ob das, was sie forderten, auch im Sinne derer war, von denen sie forderten.

Harry hatte es so satt! Dieses heuchlerische Getue... Glaubten all diese Menschen, er habe vergessen, was sie über ihn gesagt hatten, als sie sich geweigert hatten, der Wahrheit bezüglich Voldemort in die Augen zu blicken? Glaubten all diese Menschen, er habe für sie gekämpft? Nicht etwa, weil er selbst für sich Frieden wollte und Voldemort nun mal einen verdammten Narren an ihm gefressen hatte? Nicht etwa für seine Freunde, die auch in schweren Zeiten zu ihm gehalten hatten? Und wann würden eben diese Menschen auf die Idee kommen, in ihrer Wahrnehmung die Geschehnisse dergestalt zu verdrehen, dass sie ihm den Sieg über Voldemort zum Vorwurf machten? Ihn dafür angriffen, dass er ihnen nicht die Möglichkeit gegeben hatte, selbst zum Held zu werden und diese Geißel der Zauberwelt zu vernichten? Dass sie zu dem tatsächlichen Zeitpunkt kein Interesse daran gehabt hatten, ihre eigene Haut zu riskieren und sich stattdessen mit Voldemort und dessen Schergen arrangiert hatten, würden sie dann geflissentlich übersehen. Es war alles so falsch! Und das war die Welt, in die er Snape zurück geholt hatte? War das überhaupt noch die Welt, in der er selbst leben wollte?
 

Zuerst war Harry über diese letzte Frage schockiert. Wollte nicht wahrhaben, dass er es gewagt hatte, so etwas überhaupt zu denken. Doch je länger der Schlaf nicht kommen wollte, je mehr er sich die letzten Tage vor Augen führte, desto mehr musste er sich eingestehen, dass er im Grunde die Antwort auf die Frage gekannt hatte, noch ehe sein Geist sie formuliert hatte. Das war nicht die Welt, in der er leben wollte.

Er hatte gekämpft, um frei zu sein. Frei nicht nur von der Bedrohung, die Voldemort für sein persönliches Leben darstellte, sondern auch frei von den Forderungen dieser wankelmütigen Gesellschaft. Und wenn seine Zukunft in der Zauberwelt so aussah, wie die vergangenen Tage – na, herzlichen Dank auch. Doch was für Alternativen hatte er? Die Muggelwelt hatte bei ihm auch nicht gerade den besten Eindruck hinterlassen, auch wenn er realistisch genug war, zu erkennen, dass das Verhalten der Dursleys nicht der Norm entsprochen hatte. Dennoch... Harry wusste genau, dass er den magischen Teil seiner Selbst nie wieder verleugnen wollte, etwas, das zu tun er in der Muggelwelt ständig genötigt wäre. Wie aber in der Zauberwelt bleiben und gleichzeitig diese Gesellschaft hinter sich lassen?

Er seufzte und gab es auf, in dieser Nacht auf Schlaf hoffen zu wollen. Er warf einen kurzen Blick zu Ron hinüber, mit dem er sich das Gästezimmer in Hogwarts teilte, doch wie nicht anders zu erwarten gewesen war, schlief sein bester Freund tief und selig. Dies erleichterte es Harry ungemein, sich hinreichend anzuziehen und in seinen geliebten Tarnumhang gehüllt das Zimmer zu verlassen. Vielleicht würde ein Spaziergang zum See hinunter seine Gedanken klären.

Er war erst wenige Schritte weit gekommen, als er in seiner Wanderung innehielt. Durch eines der großen Fenster erkannte er, dass der Platz am See, den er sich als Ziel erwählt hatte, schon besetzt war. Harry brauchte keinen zweiten Blick zu riskieren, um zu wissen, wer dort am Ufer saß und gedankenverloren auf das Wasser starrte: Ginny! Sie war so ziemlich die letzte Person, der er jetzt begegnen wollte. Seit Tagen, im Grunde seit dem Sieg über Voldemort schon, ging er ihr aus dem Weg. Er spürte ihre Blicke genau. Blicke des Vorwurfs und der Hoffnung. Blicke der Erwartung. Dass er nun, da er seine Aufgabe hinsichtlich des Krieges erfüllt hatte, wieder zu ihr zurückkehren würde. Doch er hatte in dem Jahr, in dem er sich mit Hermione und Ron auf der Flucht und Suche befunden hatte, erkannt, dass Ginny nie den wahren Harry gesehen hatte. Dass sie in ihm immer nur den Jungen, der lebte gesehen hatte. Eine Figur, die sie seit ihrer Kindheit aus den Geschichten kannte. Sogar in Rons Verhalten bemerkte er diese verzerrte Wahrnehmung bei Zeiten. Natürlich äußerte es sich in Rons Fall als Eifersucht und nicht als Verliebtheit, und Ron hatte häufig genug auch Harrys schlechte Laune ertragen, um den wahren Harry kennen gelernt zu haben ohne die Flucht zu ergreifen, sondern schlussendlich als Freund zu ihm gehalten. Aber ob Ginny das je erkennen würde? Und ob sie dann noch an ihm interessiert wäre? Wenn er ein stinknormaler Typ ohne Ruhm und Ansehen wäre? Doch fast ebenso wichtig: Wollte Harry so lange warten, bis Ginny es erkannte und zu einer Entscheidung gelangt war? Oder hatte nicht vielmehr die Tatsache, dass er sie in den vergangenen Monaten kaum vermisst hatte – zumindest nicht in diesem Sinne – ihm eigentlich gezeigt, dass sie für ihn Vergangenheit war? Das war vermutlich auch der Grund, weshalb er ihr in den vergangenen Tagen aus dem Weg gegangen war. Weil er nicht die Kraft aufbringen konnte, ihr diese Wahrheit zu sagen. Kraft, die er für die vielen Beerdigungen brauchte. Für die unzähligen Interviews. Und nicht zuletzt für die Frage, was er jetzt mit seinem Leben anfangen wollte.

Ohne, dass er es bemerkt hatte, hatten seine Füße ihn fort von der Treppe und zum Krankenflügel gebracht. War der langgestreckte Saal direkt nach der Schlacht von Hogwarts schier überfüllt gewesen, waren mittlerweile nur noch jene Fälle hier in Behandlung, deren Verletzungen einen Transport in St Mungo’s bislang untersagten, oder deren Privatsphäre in dem magischen Krankenhaus nicht hätte gewährleistet werden können. So wie bei Severus Snape. Als Harry erkannte, wo er sich befand, wollte er schon umkehren, um den verfänglichen Fragen auszuweichen, die Madame Pomfrey ihm mit Sicherheit stellen würde, wenn sie ihn entdeckte, doch da hörte er, wie sie ganz in der Nähe der Tür mit dem Heiler vom St Mungo’s sprach.

„Ich wünschte, wir könnten das Koma künstlich verlängern“, sagte sie seufzend.

„Ihn weiterhin im Koma zu halten, würde seine Genesung beeinträchtigen“, erwiderte der Heiler mit sachlicher Kompetenz.

„Das weiß ich auch! Aber die Journalisten und das Ministerium werden auch nicht gerade zu seiner Genesung beitragen. Wenn er morgen, wie geplant, von alleine aufwacht, und diese Bürokraten und Sensationsgeier über ihn herfallen, wird er am Ende des Tages mit Sicherheit in schlimmerer Verfassung sein, als gut für ihn wäre. Und wir können ihn dann nicht wieder ins Koma versetzen. Nicht so schnell, nachdem er aus einem erwacht ist.“

„Fürchten Sie, dass es so schlimm wird?“ Der Heiler schien nachdenklich.

„Es ist Severus Snape, über den wir hier sprechen. Bei keiner anderen Persönlichkeit ist die Gesellschaft so gespaltener Meinung!“, erwiderte Poppy Pomfrey heftig.

Und mit einem Mal wusste Harry, was er zu tun hatte.
 

Eine Stunde später schlich er erneut zum Krankenflügel. Dieses Mal war weder von Hogwarts’ Krankenschwester noch von dem Heiler etwas zu sehen. Harry vermutete, dass sie sich in Pomfreys Büro zurückgezogen hatten, um auf den dort stehenden Sesseln ein kleines Nickerchen zu machen.

Leise bewegte er sich zwischen den Betten hindurch, bis er an Snapes Bett angelangt war. Sein ehemaliger Zaubertränkelehrer lag noch immer genauso bleich da, wie zu jenem Zeitpunkt, da sie ihn aus der Heulenden Hütte geholt hatten. Nur, dass seine Atmung jetzt regelmäßig ging und seine Haut sich nicht mehr klamm anfühlte.

Um sicher zu gehen, dass dem Professor bei dem, was Harry als nächstes vorhatte, nichts passierte, belegte er Snape mit einer Ganzkörperklammer. Schließlich wäre es unpraktisch, wenn die beweglichen Gliedmaßen beim aus dem Fenster Levitieren des Körpers irgendwo aufgrund der Schwerkraft gegen stießen und so zusätzlichen Schaden anrichteten oder den Professor gar vorzeitig aus dem Koma weckten. Tatsächlich war das Levitieren der heikelste Teil des Unterfangens, musste Harry doch befürchten, dass der Luftzug des geöffneten Fensters Madame Pomfrey alarmierte, dass etwas im Krankenflügel nicht stimmte. Doch er hatte Glück, draußen wehte kein Lüftchen und er schaffte es, Professor Snape unbehalten zu Boden schweben zu lassen. Die Decke folgte nur Sekunden später, dann flog Harry selbst auf einem der Schulbesen durch das Fenster.

Unten angelangt, hüllte er den zu seiner Erleichterung nach wie vor komatösen Professor in die Decke, löste aber nicht den Klammerfluch, war die schwebende Reise für seinen Lehrer doch noch nicht am Ende. Erst mussten sie den Rand des Verbotenen Waldes erreichen. Dort wartete ihr Transportmittel auf sie.

Harry schüttelte in Gedanken den Kopf. Snape durfte nie die Einzelheiten dieses Plans erfahren. Allein schon das Levitieren würde ihm von dem gestrengen Lehrer eine gehörige Predigt über den Mangel an Verstand, den er dabei bewiesen hatte, einbringen. Von einer Reise mit einem komatösen Patienten auf dem Rücken eines Thestrals ganz zu schweigen! Doch welche Wahl hatte Harry? Er wusste nicht, ob man bei den frisch geheilten Wunden des Professors es wagen durfte zu apparieren, beim Flohnetzwerk hätte man ihnen zu leicht folgen können und wie man einen Portschlüssel herstellte, wusste er nicht. Und angesichts der Tatsache, dass die Thestrale sie damals binnen kürzester Zeit wohlbehalten nach London gebracht hatten, schien es die eleganteste Lösung für die bevorstehende Reise zu sein.
 

***
 

Langsam lichteten sich die Nebel, die seinen Geist in den vergangenen Tagen wie in einen dichten Spinnwebenkokon gehüllt hatten. Doch noch weigerte sich sein Körper aufzuwachen. Irritiert kämpfte Severus gegen dieses Gefühl an. Er hätte nicht gedacht, dass Sterben ein so zeitintensiver, unangenehmer, widerspenstiger Vorgang sei. Endlich aber schaffte er es mühsam die Augen zu öffnen.

Nicht, dass ihm seine momentane Umgebung viel mitgeteilt hätte... Er lag offenbar in einem Bett, es war offenbar Tag, schien doch die Sonne, und er meinte in der Luft, welche durch das geöffnete Fenster hereindrang, den salzigen Geschmack des Meeres zu erkennen. Für einen Moment war er enttäuscht, obwohl er nicht zu sagen gewusst hätte, worüber er enttäuscht war. Denn irgendwie hatte er sich das Leben nach dem Tod nicht so... friedlich... einfach... vorgestellt. Zwar glaubte er nicht an das Prinzip der Hölle, oder zumindest wollte er nicht daran glauben, aber er hatte bestimmt nicht erwartet an einem so normalen Ort zu sich zu kommen. Als wäre das Leben nach dem Tod dem Leben vor dem Tod nachempfunden. Vielleicht war es das, was ihn so sehr enttäuschte. Albus hatte von dem Tod immer als dem nächsten großen Abenteuer gesprochen, doch wo bitte war das Abenteuer, wenn alles so weiter ging, wie vorher auch? Andererseits... möglicherweise war das Zimmer hier, oder besser das ganze Haus – denn schließlich befanden sich Zimmer für gewöhnlich in einem wie auch immer gearteten Haus – so etwas wie das Pförtnerhaus und erst wenn er hier zu sich gekommen war, würde der Pförtner entscheiden, wie das nächste große Abenteuer für Severus Snape aussehen würde.

Severus spürte bei diesem Gedanken eine gewisse Ungeduld in sich aufkeimen. Er verabscheute das Gefühl, nicht zu wissen, woran er war. Lieber wollte er sein Urteil vom Pförtner empfangen und dann das Beste oder Schlimmste aus der Situation machen. Doch, so sein logischer Schluss, solange er hier wie ein Toter herumlag, würde der Pförtner wohl kaum wissen, dass er wach und bereit war, sein Urteil zu empfangen.

Er kämpfte noch ein wenig mehr mit seinem zögernden Körper, doch schließlich gelang es ihm, die Augen zu öffnen und den Kopf ein wenig anzuheben. Was er sah, ließ ihn aber gleich wieder gepeinigt auf das Kissen zurücksinken. Potter! Direkt neben seinem Bett saß niemand anderer als Harry Potter auf einem Holzstuhl und schien nichts besseres zu tun zu haben, als auf der unbequemen Sitzgelegenheit ein Nickerchen zu halten.

Sollte das Schicksal so grausam sein? Gewiss, er hatte gewusst, dass die durchaus realistische Chance bestand, dass Potter bei der Auseinandersetzung mit dem Dunklen Lord den Kürzeren zog – Horcrux sei Dank. Aber ihn dazu zu verdammen, auch noch die Ewigkeit, sein großes Abenteuer des Todes, mit diesem undankbaren Gryffindor teilen zu müssen, erschien Severus doch eine zu große Strafe für all die schlechten Taten, die er zu Lebzeiten begangen und für die er noch nicht im Leben gesühnt hatte.

Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle.
 

Er musste eingeschlafen sein. Was in Anbetracht der letzten Tage, vor allem aber der letzten Nacht, kein Wunder war. Dennoch hatte er sich eigentlich fest vorgenommen gehabt, so lange wach zu bleiben, bis der Professor aus dem Koma erwachte und er sicher sein konnte, dass der Ritt auf dem Thestral dessen Zustand nicht verschlimmert hatte.

Dann wurde Harry bewusst, was ihn geweckt hatte und ruckartig setzte er sich auf. Dabei knackte seine Wirbelsäule unschön und auch sein Nacken meldete, dass sein Körper von seiner Schlafhaltung alles andere als angetan war. Doch das war jetzt nicht wirklich wichtig, das würde auch wieder vergehen.

„Professor?“, fragte Harry nun so ruhig, wie er es in seiner Aufregung vermochte. „Kommen Sie, Professor. Ich weiß, dass Sie wach sind.“ Zumindest hoffte Harry, dass er sich das leise Stöhnen, das ihn geweckt hatte, nicht eingebildet hatte oder falsch deutete.

Seine Bemühungen wurden belohnt.

„Potter“, kam es leise knurrend. „Noch nicht einmal im Tod bin ich von Ihnen erlöst.“

Harry konnte nicht anders, als bei diesen Worten leise zu lachen. „Sie sind nicht tot, Professor. Ebenso wenig wie ich. Auch wenn letzteres Sie vielleicht ein wenig enttäuscht. Zugegeben, es war reichlich knapp. In beiden Fällen, würde ich sagen...“ Harry verstummte. Bis heute hatte er alle Gedanken an jene merkwürdige Begegnung mit Dumbledore an Kings Cross weit von sich geschoben. Aber es war nicht zu leugnen: In jenem Moment war er tot gewesen. Oder so nahe an diesem Zustand, wie man nur sein konnte, und es trotzdem wieder ins Leben zurück schaffte.

„Wenn ich nicht tot bin, aber es beinahe war, wo ist dann Poppy? Ich bezweifle, dass sie mich nach der Begegnung mit Nagini so schnell aus ihren Fängen entlassen hat.“ Das heisere Wispern ging zunehmend in ein beinahe unverständliches Krächzen über und untermauerte Snapes Worte, dass er noch immer medizinischer Betreuung bedurfte.

Harry schluckte, doch dann erinnerte er sich an etwas. Kurz bevor er selbst den Krankenflügel verlassen hatte, hatte er noch das ganze Sortiment Zaubertränke, das Madame Pomfrey in Erwartung von Snapes Erwachen auf dem Nachttisch zusammengetragen hatte, in seinen Rucksack gestopft. Rasch holte er den Rucksack und dankte einmal mehr der weisen Voraussicht der Krankenschwester – oder war es der Zaubertranklehrer gewesen? – die Phiolen mit einem Antibruchzauber versehen zu haben. Nach kurzem Suchen fand er schließlich eine Phiole deren Aufschrift ihm verriet, dass sie einen Trank gegen Halsentzündungen enthielt. Triumphierend hielt er dem Professor das kleine Glasfläschchen entgegen.

Dieser blickte für einen Moment irritiert auf den Trank, dann sagte er mit all der Schärfe, die er in seine angegriffene Stimme legen konnte: „Welche Tränke haben Sie noch?“

Perplex zog Harry einen Trank nach dem anderen aus dem Rucksack und präsentierte sie dem Professor.

Nach kurzem Zögern nickte Snape. „Adäquat.“

Harry zuckte mit den Schultern. „Nicht mein Verdienst, aber das haben Sie sich sicherlich schon gedacht.“ Erneut hielt er ihm den ersten Trank entgegen, doch Snape schüttelte bestimmt den Kopf.

„Erst den blutbildenden Trank. Dann den Antitoxtrank und erst dann den Trank für den Hals!“

Ergeben reichte Harry dem Professor die Tränke in der gewünschten Reihenfolge und half diesem auch dabei, die Tränke einzunehmen.

„Besser“, murmelte Snape, doch die Tränke machten ihn müde und kurz darauf hatte er die Augen wieder geschlossen und der ruhige Atem zeigte an, dass er fest schlief.
 

Dieses Mal fiel es ihm schon deutlich leichter, gegen die Nebel des Schlafes anzukämpfen. Doch im gleichen Maße, wie er wieder zu sich fand, erinnerte sich Severus an das, was er in dem kurzen Gespräch mit Potter erfahren hatte. Dass er am Leben war. Punkt. Denn damit erschöpften sich schon die wesentlichen Aussagen. Weder hatte Potter ihm erklärt, wo er war, noch wo Poppy Pomfrey oder ein unvermeidlicher Heiler von St Mungo’s waren und vor allem nicht, weshalb Potter offenbar unter die Hilfspfleger gegangen war. Wobei, eine weitere Aussage hatte Potter noch getätigt: Er wäre selbst beinahe auch gestorben, lebte aber noch. Was in logischer Schlussfolgerung nur bedeuten konnte, dass es Glückskind Potter gelungen war, den Dunklen Lord zu besiegen. Wie auch immer das vonstatten gegangen war. Was wiederum bedeutete, dass er, Severus frei war.

Unwillkürlich versuchte er seinen linken Arm anzuheben, um zu sehen, wie es um das Dunkle Mal stand. Leider jedoch wollte ihm sein Körper noch nicht gehorchen und die Hand weigerte sich schlicht, den Befehlen, welche das Gehirn über die Nervenbahnen weitergab, zu gehorchen.

Schrecken breitete sich in Severus aus. Hatte Naginis Gift ihn vom Hals abwärts paralysiert? War er dazu verdammt, ein Leben in Potters Gnaden zu fristen? Denn noch immer saß dieser Dorn in seinem Leben auf dem Stuhl und schien in ein Buch vertieft, wie ihm ein kurzer Blick aus den Augenwinkeln verraten hatte.

Gepeinigt schloss er wieder die Augen. Wer hasste ihn nur so?

Doch noch nicht einmal in seinem aufkeimenden Selbstmitleid war ihm Ruhe vergönnt. Er hörte, wie das Buch in Potters Hand zugeklappt wurde und der Stuhl über den Holzboden scharrte. Dann spürte er, wie Potter ihn leicht an den Schultern rüttelte.

„Professor! Wachen Sie auf. Es wird Zeit für Ihre nächste Dosis Zaubertränke!“

Ungläubig wollte Severus den Kopf schütteln, unterdrückte aber in letzter Sekunde den Impuls. Seit wann wollte Potter diesbezüglich ein Experte sein? Er hatte vorhin ja noch nicht einmal gewusst, in welcher Reihenfolge die Tränke einzunehmen waren, damit sie ihre Wirkung tun konnten.

„Nun kommen Sie schon, Professor! Ihre Beine zittern! Es ist also Zeit für den Antitoxtrank.“

„Woher wollen Sie das so genau wissen, Potter?“, fuhr Severus ihn unvermittelt an. Er hatte sich nicht länger beherrschen können. Wozu aber auch, war es doch offensichtlich, dass Potter ihn solange weiter gerüttelt und geschüttelt hätte, bis er endlich nachgegeben und zugegeben hätte, wach zu sein. Nur am Rande registrierte sein Gehirn, dass er sehr wohl gespürt hatte, wie Potter ihn berührte, er also unmöglich vom Hals ab gelähmt sein konnte.

„Zweites Jahr“, erwiderte Potter einmal mehr mit den Schultern zuckend. „Fawkes’ Tränen haben zwar das meiste des Basiliskengifts neutralisieren können, aber Madame Pomfrey hat mich zur Sicherheit die Nacht über trotzdem im Krankenflügel behalten. Zu Recht, wie sich herausstellte, als mein Körper zu Zittern begann. Sie erklärte mir damals, dass es mit dem Gift zusammenhängt und anzeigt, dass der Antitoxtrank nicht mehr wirkt. Und wenn Ihre Beine so zittern, dass Sie den nächsten Antitoxtrank brauchen, gehe ich davon aus, dass auch die anderen Tränke in ihrer Wirkung dergestalt nachgelassen haben, dass es Zeit für die nächste Dosis ist.“

Severus nahm diese Erklärung wortlos hin, widersprach aber nicht, als Potter ihm die drei Phiolen in der richtigen Reihenfolge an die Lippen hielt.
 

Erst als er zum dritten Mal die Augen aufschlug, schein sein Körper ausgeruht genug zu sein, um nach den unvermeidlichen Zaubertränken nicht sofort wieder dem Schlaf anheim zu fallen. Auch schein seine Stimme kräftig genug, um endlich ein paar Antworten auf seine Fragen zu verlagen.

„Sie haben mir immer noch nicht verraten, weshalb Sie und nicht Poppy Pomfrey an meinem Bett wachen!“, sprach er Potter an, der nach wie vor auf dem Stuhl neben dem Bett Wache hielt.

Severus konnte nicht verhindern, dass es ihm eine gewisse Genugtuung bereitete zu sehen, wie seine Worte Potter erschreckten, hatte dieser doch nicht mitbekommen, dass er nicht wieder ins Reich der Träume entschwunden war.

„Öhm...“, war die wenig intelligente Erstantwort.

„Eloquent wie immer, Potter“, kommentierte Severus sarkastisch. „Aber ich bin mir sicher, wenn Sie sich ein wenig Mühe geben, bringen Sie sogar ganze Sätze mit Informationsgehalt zustande.“

Es war wirklich faszinierend zu sehen, dass Potter nach all dem, was er in den letzten Jahren durchgemacht hatte, noch immer die Fähigkeit besaß, bei solch tadelnden Worten zu erröten.

„Bis gestern wurden Sie auch noch von Madame Pomfrey umsorgt. Doch als feststand, dass es nur noch eine Frage von Stunden war, ehe Sie aus dem magischen Koma erwachen würden, habe ich Sie zu Ihrem eigenen Besten mehr oder weniger entführt.“

„Natürlich mit Poppys Einverständnis, wo sie Ihnen doch gleich noch die notwendigen Tränke eingepackt hat“, mutmaßte Severus, konnte er sich doch nicht recht erklären, wie es sonst kam, dass er sich in der Obhut Potters befand. Doch die unruhig umherwandernden Augen belehrten ihn eines Besseren. „Spucken Sie es aus, Potter! Warum in drei Teufels Namen haben Sie mich aus dem Krankenflügel entführt, nachdem Sie mich, wie ich annehme, erst mühsam aus der Heulenden Hütte dorthin geschafft hatten?“

„Sie hätten nicht dort sein wollen, wenn Sie aufwachen“, murmelte Potter beinahe unhörbar.

Severus zog nur fragend die Augenbraue hoch. Da musste noch mehr sein. Und er wusste, dass er Potter noch immer mit seinem durchdringenden Blick zum Reden gebracht hatte.

So auch dieses Mal. Einem unbehaglichen Seufzer folgte schließlich die ganze Erklärung.

„Und ich war mir sicher, dass Sie mich hassen würden, wenn ich Sie vor dem Tod gerettet hätte, nur um Sie dann dieser Folter auszusetzen!“, beendete Potter seinen Bericht.

Für einen Moment starrte Severus Potter nur perplex an. Es war typisch für einen impulsiven Gryffindor wie ihn gewesen, Severus zu retten. Aber sich über die Konsequenzen, wenn auch verspätet, Gedanken zu machen, war neu für Potter.

„Eines haben Sie nur bei Ihrem meisterlichen Plan übersehen“, kommentierte Severus schließlich, bereit den Fehler in Potters Logik aufzuzeigen. „Es wird der Welt nicht verborgen bleiben, dass Sie zur selben Zeit wie ich aus dem Schloss verschwunden sind. Was genügend Leute zu dem Schluss veranlassen wird, dass wo auch immer Sie sich aufhalten, man auch mich finden wird. Oder umgekehrt, erscheint es doch viel wahrscheinlicher, dass der Todesser Snape und Mörder Dumbledores den Held der Zaubererwelt entführt hat, um den Fall seines Lords zu rächen.“

„Niemand glaubt noch, dass Sie Voldemorts Mann waren“, erwiderte Potter mit einem leicht schiefen Grinsen. „Also haben Sie auch keinen Grund sich für dessen Tod an mir rächen zu wollen. Da würde man Ihnen schon eher unterstellen, mich als Geisel zu halten, um das Ministerium und den Zaubergamot zu erpressen, damit Sie wegen Dumbledore nicht vor Gericht gestellt und zu einem Leben in Azkaban verurteilt werden. Auch wenn es hinreichend Beweise gibt, dass die Ermordung Dumbledores von Dumbledore persönlich inszeniert wurde.“

„Ob man mir unterstellt, Sie als Geisel festzuhalten oder ob man mir unterstellt, mich an Ihnen rächen zu wollen, ist nebensächlich. Es läuft auf das gleiche Ergebnis hinaus: Man wird nach Ihnen und nach mir suchen und davon ausgehen, den einen beim anderen zu finden.“

„Das würde voraussetzen, dass man nach mir sucht“, gab Potter zu Bedenken.

Spöttischer Unglaube legte sich über Severus’ Gesicht. „Als ob die Welt je aufhören würde, Sie über den grünen Klee zu loben, am besten in Ihrer Gegenwart, damit Sie sich in der Wärme ihrer Anbetung wohlig sonnen können.“

Potters Gesicht verschloss sich, ließ lediglich die Müdigkeit noch in seiner Haltung erkennen. „Glauben Sie, was Sie wollen, Professor.“

Damit stand er auf und verließ das erste Mal, seit Severus zu sich gekommen war, das Zimmer.

Mit sich und seinen Gedanken allein gelassen, versuchte Severus erneut Schlaf zu finden, schien ihm das doch die beste Art mit der Zeit umzugehen, solange sein geschwächter Körper ihm andere Aktivitäten versagte. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Verhinderte so, dass seine Gedanken sich beruhigten, nicht länger versuchten, das zuvor geführte Gespräch zu analysieren.

Was hatte er gesagt, das Potter zu dieser Reaktion veranlasst hatte? Severus hatte in der Haltung des jungen Mannes, als dieser das Zimmer verließ, so etwas wie wütende Resignation erkennen können. Wut, das war eine typische Potter-Reaktion. Aber dieser Wut nicht freien Lauf zu lassen, war untypisch. Wo kam diese Resignation, diese Müdigkeit her, die tiefer reichte als es ein Mangel an Schlaf zu erreichen vermochte? Was hatte er gesagt, was er Potter nicht schon mindestens ein Dutzend Mal an den Kopf geworfen hatte? Wann immer er diesen früher auf sein aufmerksamkeitsheischendes Gebaren hingewiesen hatte, hatte Potter stets aufbrausend erklärt, er – Severus – habe doch von nichts eine Ahnung. Heute aber hatte es fast so geklungen, als sei Potter der Ansicht, Severus wisse genug, um zu erkennen, ob diese Anschuldigung wahr war oder nicht.
 

Der Tag schleppte sich schweigend hin. Potter sah zwischendurch einmal kurz nach ihm, blieb jedoch nur so lange, wie es dauerte, ihm die nächste Dosis Heiltränke zu verabreichen. Und in den wenigen Minuten durchbrach er mit keiner Silbe das Schweigen, ungeachtet des bohrenden Blicks, mit dem Severus ihn löcherte. Dann war er wieder mit sich und seinen Gedanken allein. Gedanken, die ihn dazu veranlassten, alle Szenen der siebenjährigen Bekanntschaft mit Harry Potter noch einmal zu durchleben.

Doch es war erst, als er beim fünften Schuljahr des Jungen angelangt war, dass ihm langsam aufging, dass seine Urteilsfähigkeit in Bezug auf Potter aufgrund von dessen Vater getrübt gewesen war. Denn es war unmöglich, dass der Junge ein so begabter Legilimentiker sein sollte, um ihm die Erinnerungen, die Severus während der verhassten Okklumentik-Stunden gewaltsam ans Licht gefördert hatte, vorzugaukeln. Potter war nicht als vermeintlicher Prinz aufgewachsen.

Soweit so gut. Doch wie war das mit dessen aufgeblasenem Ego in Einklang zu bringen, das Severus fast täglich in Hogwarts hatte beobachten dürfen?

Dann aber musste er wider Willen leise lachen. Doch es war kein fröhliches, geschweige denn ein befreiendes Lachen. Es war ein selbsterkennendes, verachtendes Lachen. Das Ego, das Verhalten – eine Maske. Potters ganzes Wesen bestand oberflächlich betrachtet aus einer einzigen Maske. Und wann hatte er, Severus, tiefer blicken wollen? Ihm hatte die Oberfläche des gefeierten und verwöhnten Jungen, der lebte, genügt.

Betrachtete man aber den Potter hinter der Maske, einen Potter, der ihn zwar typisch Gryffindor vor dem Tod gerettet hatte, aber zugleich einen Potter, der sein Bedürfnis nach Freiheit und Ruhe vor der Gesellschaft erkannt und entsprechend gehandelt hatte, dann sah man einen Potter, der unbegreiflicherweise ihn, Severus, zu verstehen schien. Und Verständnis rührte normalerweise von einer gleichgearteten Gesinnung her. Konnte es also sein, dass Potter der Welt überdrüssig war?

Ein leichtes Poltern von Holz auf Holz, ließ Severus aus seinen Gedanken auffahren. Als er aufblickte, erkannte er Potter, der gerade mit einem Tablett die Tür aufstieß.

„Ich dachte mir, Sie könnten vielleicht etwas zu essen vertragen. Ist zwar nur Brühe und selbst die ist Instant, aber es ist besser als nichts. Morgen werde ich einkaufen gehen, dann wird es schon besser aussehen.“

Severus nickte dankbar, als er erkannte, dass Potter die Voraussicht besessen hatte, die Brühe in eine Henkeltasse zu füllen, so dass er die heiße Flüssigkeit trinken konnte und sich nicht die Blöße geben musste, von Potter gefüttert zu werden, sondern dieser ihm lediglich die Tasse ein wenig stützen musste.

Als er die Tasse geleert hatte, lehnte Severus sich in die Kissen zurück. „Sie gehen also davon aus, dass die Welt Sie nicht suchen wird“, versuchte er das Gespräch, das er durch seine unüberlegten Worte unterbrochen hatte, wieder aufzunehmen.

„Nicht, dass es Sie etwas anginge, aber ja. Ich habe meinen Freunden einen Brief hinterlassen, aus dem hervorgeht, dass ich von der Gesellschaft genug habe und nun, da ich meine Aufgabe bezüglich Voldemort erfüllt habe, mich nach meiner Freiheit, nach Frieden und Ruhe sehne. Wenn ich den Brief zufällig so formuliert habe, dass sie daraus den Schluss ziehen, ich hätte mich dem Riesenkraken auf dem Grund des Sees angeschlossen, so ist das ein Interpretationsfehler, den zu korrigieren ich nicht die Absicht habe.“
 

Die nächsten paar Tage herrschte so etwas wie ein unbehaglicher Waffenstillstand. Die Ereignisse rund um die Schlacht von Hogwarts hatten bei beiden Narben hinterlassen – manche sichtbar, andere wiederum mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Beide brauchten sie Ruhe, um zu heilen, wieder zu Kräften zu kommen.

„Wessen Haus ist das eigentlich?“, fragte Severus, als er am dritten Tag nach Harrys Offenbarung, dass niemand nach ihm suchen würde, zum ersten Mal zum Abendessen in die Küche herunter kam.

„Meines“, erwiderte Harry und begann den Eintopf, den er zubereitet hatte, aufzutun. Sie waren während der vergangenen Tage überein gekommen, einander mit dem Vornamen anzusprechen, da ihre Nachnamen für beide zu großes Provokationspotenzial enthielten. „Sirius hat es mir zum siebzehnten Geburtstag geschenkt. Posthum, unter Mithilfe gewisser geschäftstüchtiger Kobolde.“

„Ich dachte, es sei üblich, einem jungen Zauberer zur Volljährigkeit eine teure Uhr zu schenken“, bemerkte Severus mit hochgezogenen Augenbrauen.

Harrys Augen füllten sich für den Moment mit Trauer und ein dankbares, wenngleich leicht wehmütiges Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Sirius wusste, dass die Weasleys mir eine Uhr schenken wollten.“ Er schob den Ärmel seines Hemdes ein wenig hoch und zeigte die extravagante, wenngleich gebrauchte Uhr, die er im vergangenen Juli erhalten hatte. „Andererseits war er der Ansicht, dass ich ein Zuhause dringender brauchte als eine Uhr, da doch die Dursleys mich spätestens nach meiner Schulzeit vor die Tür gesetzt hätten. Da konnte er noch nicht wissen, dass er zu dem Zeitpunkt schon tot wäre und dass das Ministerium sein Testament, in dem er mir das Haus am Grimauld Platz hinterlassen hat, nicht anfechten würde. Also hat er das Haus hier gekauft. Still und heimlich, um mich damit zu überraschen. Niemand, außer den Kobolden, die er damit beauftragt hatte, mir den Brief und den Schlüssel für das Haus bei meiner Volljährigkeit zu übergeben sollte er selbst dazu nicht in der Lage sein, wusste davon. Natürlich haben die Wirren der Machtübernahme im Ministerium und meine eigenen Aktivitäten es den Kobolden nicht leicht gemacht, ihren Auftrag auszuführen, aber schließlich haben sie doch eine Gelegenheit gefunden. Sirius hatte sie nämlich zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet, weil er befürchtete, das Ministerium könnte das Haus konfiszieren, wenn sie vor meiner Volljährigkeit davon erführen. Keine Ahnung, warum Sirius dem Ministerium dermaßen misstraut hat...“ Das breite Grinsen ließ keinen Zweifel daran, was genau Harry über das Ministerium dachte.

„Sicher gehen wir doch davon aus, dass Shacklebolt einen besseren Job macht als etwa Fudge“, bemerkte Severus zwischen zwei Löffeln Eintopf.

„Als ob dazu viel gehörte... Aber seien wir ehrlich: Shacklebolt ist eine Interimslösung und ändert nichts daran, dass ein Haufen unfähige, bigotte Speichellecker den Großteil dieser eisberggleichen Bürokratie bilden.“

„Es tut gut zu wissen, dass man mit seinen eigenen Lehrmethoden dazu beigetragen hat, Material für diese 85 Prozent Ministeriumsmitarbeiter auszubilden“, erwiderte Severus trocken.

„Kann ja schließlich nicht jeder dazu geschaffen sein, anderer Leute Kinder zu terrorisieren und gleichzeitig zu versuchen, ihnen beizubringen, dass Kochen und Zaubertränke nichts miteinander gemein haben“, parierte Harry leichthin.

„Immerhin haben Sie letzteres endlich erkannt... Obwohl es mich bei Ihren Zaubertrankkünsten nicht gewundert hätte, wenn Sie selbst die Zubereitung von Instant-Brühe vergeigt hätten.“

„Es ist immer wieder schön zu hören, dass es schmeckt.“ Harry grinste. Die Macht, die Severus als Professor Snape über ihn gehabt hatte, war gebrochen. Keiner konnte sie mehr zwingen, den selben Raum zu teilen und das Wissen, jederzeit aufstehen und den Raum verlassen zu können, wenn ihm die beißenden Kommentare des anderen zu viel wurden, halfen ihm ungemein, sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. „Aber seien wir ehrlich: Beim Kochen kann man zwischendurch probieren. Man kann auch die einzelnen Zutaten probieren, um so festzustellen, ob eine Kombination schmecken könnte. Aber Rattengalle? Salamanderaugen? Eisenhut? Wäre keine gute Idee, die vorher zu probieren.“

„So viel Überlebensinstinkt hätte ich einem Gryffindor nun wirklich nicht zugetraut“, erwiderte Severus in einem ersten Anflug von Anerkennung des Umstandes, dass Harry durchaus intelligent war, wenn er nicht gerade überstürzt handelte.
 

In den nächsten Tagen sollte er noch viele Gelegenheiten haben, zu erkennen, wie viel ihm in Bezug auf Harry Potter entgangen war, bloß weil er sich damit zufrieden gegeben hatte, die Oberfläche zu betrachten, statt hinter die Maske blicken zu wollen. Und jene Momente, da Severus ihn in den vergangenen sieben Jahren ohne Maske gesehen hatten, waren immer jene Momente gewesen, wo lediglich die Tatsache, dass Severus auf mehr Jahre der Beherrschung zurückblicken konnte, als der junge Gryffindor, verhindert hatte, dass sie beide die Geduld verloren und ihrem aufgestauten Frust freien Lauf ließen. So war ihm nie aufgefallen, dass Harry durchaus methodisch vorging, wenn es um praktische Dinge, wie etwa den Haushalt ging. Darauf angesprochen, erwiderte dieser nur: „Irgendwie mussten mich die Dursleys ja beschäftigen, und je mehr Arbeiten ordentlich erledigt waren, desto weniger Grund gab es für Ärger. Leben und leben lassen...“

Oder dass Harry durchaus daran interessiert war, zu lernen und sehr wohl intelligent genug war, die Dinge, die er las, zu verstehen. Aber teenagertypische Faulheit und mangelndes Interesse für diverse Themen hatten ihn in der Schule in das klassische Mittelfeld verwiesen. Weshalb es Severus erstaunte, seinen Wohngefährten fast täglich mit einem Buch in der Hand zu erwischen.

„Ein Atlas?“, fragte Severus eines Abends, als sie nach dem Essen in dem kleinen aber gemütlichen Wohnzimmer saßen.

„Ich verstehe nicht, weshalb man uns in Hogwarts derartiges nicht beibringt...“, murmelte Harry ein wenig ungehalten. „Was nutzt mir ein Sternenatlas, wenn ich nicht gerade Astronaut werden will? Klar, ich weiß damit Norden zu bestimmen... Aber ob ich in Italien oder Indonesien bin würde ich nicht ausmachen können. Ich möchte nicht wissen, wie viele meiner reinblütigen Klassenkameraden nie etwas von Indonesien gehört haben oder gar wissen, wo das Land liegt. Dabei muss es doch auch in Indonesien Zauberer und Hexen geben. Ein magischer Atlas und magischer Geographieunterricht würden also durchaus Sinn machen. Mehr Sinn als Wahrsagen, wo man entweder die Gabe hat oder nicht.“

„Nicht, dass ich dem nicht zustimmte, aber das erklärt mir immer noch nicht, weshalb Sie einen Atlas als Lektüre gewählt haben“, hakte Severus nach.

„Es ist eines der faszinierendsten Bücher, wenn man ihn zu lesen weiß. Länder, Hauptstädte, Flüsse und Gebirge, aber auch Rohstoffe, Klima, sogar Geschichte...“ Harry schlug willkürlich eine Seite in dem großen Buch auf. „Hier, sehen Sie? Indien... heute und wie es früher aussah... das Bangladesh früher politisch zu jenen Gebieten gehörte, die wir heute als Pakistan kennen. Oder wenn man Nord und Süd vergleicht... Im Süden nur wenige Grad vom Äquator entfernt, im Norden dagegen das höchste Gebirge der Welt. Und doch ist es ein Land. Ein Land, das von Menschen bevölkert wird, die alle ein und dieselbe Nationalität teilen, die gleiche Sprache sprechen. Von sich aus und nicht weil sie wie Nordamerika von Europäern besiedelt wurden, die sich irgendwann mal auf Englisch als offizielle Sprache geeinigt haben.“

„Lassen Sie mich raten: Der Atlas ist die einzige Art des Reisens, zumindest was ferne Länder betrifft, die Sie bislang kennen gelernt haben?“ Severus hatte nicht umhin gekonnt eine gewisse Sehnsucht in Harrys Stimme zu erkennen.

Mit einem leicht wehmütigen Lächeln nickte Harry. „Onkel Vernon hat zwar nicht schlecht verdient, aber da er darauf bestanden hat, dass Dudley nach Smeltings geht, war unter Berücksichtigung des nicht unerheblichen Schulgeldes nicht wirklich genug Geld übrig, um im Sommer zu verreisen. Außerdem hätte das ja bedeutet, mich mitnehmen und ständig ein Auge auf mich haben zu müssen. Denn schließlich wäre es absolut nicht tragbar gewesen, wenn die braven Touristen mitbekommen hätten, was die Dursleys für einen Freak als Neffen haben, wenn ich versehentlich gezaubert hätte. Zu Hause hingegen konnte man mich einfach wie gewohnt ignorieren.“ Dann aber straffte er sich. „Wer weiß, vielleicht werde ich jetzt auf Reisen gehen. Es gibt keinen Grund mehr, der mich zwingt in England zu bleiben. Und es ist ja nicht so, dass ich nicht jeder Zeit wieder hier her zurückkehren könnte, wenn ich der anderen Länder überdrüssig bin.“

„Solange Ihre Finanzen es Ihnen erlauben, steht Ihnen die Welt offen“, sagte Severus und konnte eine gewisse Bitterkeit nicht verbergen. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass als letzter Potter-Spross und Erbe des letzten Blacks der Hauptlinie Harry Potter über genug Mittel verfügte bis an sein Lebensende um die Welt zu reisen, selbst wenn er dreihundert Jahre alt werden sollte. Was ihn selbst hingegen betraf, so hätte er zwar selbst gerne, jetzt, da er von allen Zwängen, die Voldemort und Hogwarts für ihn bedeutet hatten, befreit war, die Welt, die er bislang ebenfalls nur aus Büchern und den Erzählungen anderer kannte, erkundet, doch seine Finanzen würden höchstens für einen Abstecher auf die Isle of Man reichen. Schließlich hatte er in den vergangenen Jahren das meiste seines Einkommens in Bücher und seltene Zaubertrankzutaten investiert, die allesamt in Hogwarts zurückgeblieben waren. Nicht, dass er sie um jeden Preis – etwa den Preis seiner Freiheit – wieder haben wollte, aber es bedeutete doch eine ziemliche Begrenzung seiner Finanzmittel.

„Genau wegen meiner Finanzen habe ich mich gestern mit einem vertrauenswürdigen Kobold von Gringotts getroffen. Es wäre schließlich keine gute Idee, wenn das Ministerium auf die Idee käme aufgrund meines vermeintlichen Ablebens mein Testament verlesen lassen zu wollen. Wo ich doch noch gar nicht tot bin...“

„Durchaus anerkennenswerter Schachzug“, kommentierte Severus.

„Und wo ich schon einmal bei der Bank war“, fuhr Harry fort, ohne auf Severus’ Einwand zu achten, „habe ich mir erlaubt, auch eine aktuelle Kontoaufstellung für das Verlies eines gewissen Severus Snape anzufordern, von dem die Welt auch sehr bald zu dem Schluss kommen wird, dass er tot ist, ohne dies wirklich zu sein.“ Damit hielt er Severus einen Brief mit dem wohlvertrauten Siegel der Koboldbank entgegen.

Doch Severus achtete nicht darauf, noch hatte er den Rest von Harrys Worten gehört. In dem Moment, da er aus dessen Mund vernommen hatte, dass der Gryffindor sich angemaßt hatte, in seine Geldangelegenheiten Einsicht zu nehmen, hatte bei ihm alles ausgesetzt. „Wie konnten Sie es wagen, Potter?“, fuhr er ihn mit eisiger Stimme an. „Mit welchem Recht maßen Sie sich an, sich in meine Angelegenheiten einzumischen? Haben Sie denn aus der Vergangenheit nichts gelernt, was die Privatsphäre anderer Leute betrifft? Aber nein, arrogant wie Sie sind, war das Ihnen sicherlich vollkommen egal! Vermutlich glauben Sie auch noch, dass ich Ihnen zu Dank verpflichtet bin, dass Sie die Kobolde informiert haben, dass meine mageren Einkünfte vorerst nicht angetastet werden dürfen!“ Vollkommen in Rage, entging Severus gänzlich Harrys Reaktion. Weder sah er den verletzten Ausdruck auf dessen Gesicht noch hörte er die Worte, mit denen Harry zu seiner Verteidigung ansetzte, nur um dann doch abzubrechen und schweigend den Raum zu verlassen.

Am nächsten Morgen war Harry fort.
 

***
 

Er mochte Spanien. Es war warm, um nicht zu sagen heiß, es war sonnig und um die Mittagszeit schien das ganze Land inne zu halten. Vernünftige Menschen, die schon lange gelernt hatten, dass Sommerhitze und übermäßige Aktivität sich nicht miteinander vertrugen. Überhaupt liebte Harry die ganze entspannte Atmosphäre in diesem Land. Und das Essen. So ganz anders als alles, was er je in Hogwarts hatte kosten können, und doch köstlich. Es schien als schmeckte das Essen so, wie das Wetter war: warm, sonnig, entspannt.

Der einzige Wermutstropfen war die Tatsache, dass er kein Wort der Landessprache beherrschte. Doch Harry war fest entschlossen, sich davon nicht entmutigen zu lassen. Ein paar Tage der Beobachtung offenbarten ihm, dass es fast in jedem größeren Städtchen entlang der Küste diverse Sprachschulen gab, die den Sommer über Touristen – überwiegend ausländischen Studenten – Spanisch beibrachten. Ein paar vorsichtige Erkundungen und wenig später hatte er sich für ein Drei-Wochen-Programm eingetragen. Natürlich war es ein Muggelprogramm, so dass er vorsichtig sein musste, nicht in ihrer Gegenwart zu zaubern, aber das sollte ihm nicht allzu schwer fallen. Zumal er nicht, wie die meisten Studenten, in einer von der Sprachschule organisierten Wohngemeinschaft wohnen würde, sondern weiterhin in der kleinen Pension, in der er sich bei seiner Ankunft eingemietet hatte. Eine Zauberpension wiederum, die von einer alten, aber noch rüstigen Hexe geleitet wurde. Nichts herausragendes, aber Harry hatte im vergangenen Jahr gelernt, wie entbehrlich so mancher Luxus war.

Es war erstaunlich, wie schnell die drei Wochen des Kurses vorüber gingen, doch am Ende war sich Harry seiner selbst und vor allem der Sprache wesentlich sicherer. Er hatte jetzt solide Grundlagen, um den Rest einfach durch Übung und Gespräche mit den Einheimischen zu lernen.

Nur selten dachte er an England zurück, geschweige denn an jenen letzten Abend, da Snape ihn beschuldigt hatte, sich unbefugter Weise Zugang zu Snapes Konten verschafft zu haben. Dabei war alles, was er getan hatte, die Kobolde um eine Aufstellung für Snape zu bitten, die diese ihm in einem magisch versiegelten Umschlag überreicht hatten. Und jeder, der schon einmal mit den Kobolden Geschäfte getätigt hatte, wusste, dass man mehr als größenwahnsinnig sein musste, wenn man versuchen wollte, einen von ihnen versiegelten Umschlag zu öffnen, wenn der Umschlag nicht für einen selbst bestimmt war. Er hatte also lediglich den Boten gespielt, um es Snape, dessen Körper sich noch immer von dem Angriff erholte und somit gewiss noch nicht bereit für einen Ausflug in die Winkelgasse war, zu ersparen, selbst bei Gringotts vorstellig werden zu müssen. Aber nein, dieser arrogante Bastard von Tränkemeister hatte einmal mehr beschlossen Vorurteile Fakten vorzuziehen und vorschnell Schlüsse zu ziehen. Doch anders als während der Schulzeit, war Harry nicht gezwungen gewesen, sich den unbegründeten Anschuldigungen Snapes auszusetzen und hatte, wenngleich ein wenig überstürzt, beschlossen den Gedanken an eine Auslandsreise in die Tat umzusetzen. Eine kurze Nachricht an Snape, dass er solange er wollte in dem Häuschen bleiben könne, musste genügen, sein Gewissen zu beruhigen, das ihn die ganze Nacht hindurch ermahnt hatte, Snape nicht so allein und hilflos zurück zu lassen. Doch gerade bei dem Wort ‚hilflos’ hatte Harry gewusst, dass sein Gewissen maßlos übertrieb und Snape sehr wohl in der Lage wäre, für sich zu sorgen. Nein, Harry machte sich Snapes wegen keine Vorwürfe, sondern genoss stattdessen all die Vorzüge, die Spanien ihm zu bieten hatte.

Madrid, Barcelona, Valencia, Burgos, Sevilla, Granada, Santiago de Compostela... Harry war fasziniert von all den Dingen, die es in diesem Land zu sehen gab. Von dem vielseitigen Erbe verschiedener Kulturen, den Unterschieden zwischen Nord und Süd, Ost und West. Am meisten aber liebte er die kleinen Ortschaften zwischen den großen Städten. Jene Orte, wo die Touristen eindeutig in der Unterzahl waren, weil sie noch nicht einmal dem typischen Kitschidyll entsprachen, das Urlauber auf der ‚Land und Leute’-Ausflugstour suchten. Nein, normale Kleinstädte, in denen Menschen schlicht lebten. Gewiss, es war überwiegend das Muggel-Spanien, das er kennen lernte, aber es sollte ihm recht sein. Denn Muggel wussten nichts von den Vorgängen in England, die mit Voldemort zu tun hatten. Muggel kannten ihn nicht als ‚El niño que vivió’, wie ‚der Junge, der lebt’ auf Spanisch genannt wurde. Dennoch konnte er dem Zauberspanien auf Dauer auch nicht fern bleiben. Zu groß war seine Neugier zu sehen, wie das magische Volk in anderen Ländern lebte. Und Spanien hielt da durchaus Interessantes für ihn bereit. Damit war nicht unbedingt die Calle del Dragón y Unicornio in Granada gemeint. Denn anders als in England war die Haupteinkaufsstraße des magischen Volkes nicht in Madrid sondern in der alten Königsstadt in Andalusien. Nein, die intensivste und vielleicht noch urtümlichste Form der Magie entdeckte Harry im Nordwesten Spaniens, in Galizien, wo Brujas (Hexen) und damit zusammenhängende Traditionen nach wie vor einen festen Bestandteil des Alltags bildeten. Oberflächlich betrachtet nur in Form von kleinen Talismanen und Nippesfiguren in Hexengestalt, doch wer ein wenig genauer hinsah, erkannte das unglaubliche Wissen, was hier die Jahrhunderte und Jahrtausende überdauert hatte. Und es war hier, dass Harry in weniger als drei Monaten von einer Bruja undefinierbaren Alters, die, nach dem Namen gefragt, ihm erklärt habe, er könne sie Ana nennen, mehr über magische und nicht magische Kräuter und über Zaubertränke lernte, als während all der Jahre in Hogwarts. Allerdings war Harry ehrlich genug, zuzugeben, dass er ohne die Grundkenntnisse, die er während seiner Schulzeit erworben hatte, Anas Erklärungen längst nicht so gut hätte folgen können. Dennoch konnte Harry nicht umhin, sich zu fragen, weshalb man ihnen in Hogwarts stets nur die fertigen Ergebnisse beibrachte, nicht aber die Zusammenhänge und Erkenntnisse, die zu diesen Ergebnissen geführt hatten. Er war sich zwar sicher, dass Leute Hermione durchaus in der Lage waren aus den entsprechenden Büchern und den präsentierten Ergebnissen auch den Hergang abzuleiten, aber es erschien Harry der ungleich kompliziertere Weg.

Und noch etwas lernte Harry in Spanien: Den Grund, weshalb er während des Kriegsjahres Ginny so wenig vermisst hatte. Denn es war eine Sache, sich im angeheiterten Zustand in einem Muggelclub in Barcelona von einem jungen Mann küssen zu lassen, aber es war eine ganz andere Sache, selbst am nächsten Morgen, in definitiv nüchternem Zustand bei der Erinnerung an jenen Kuss ein warmes Kribbeln im Bauch zu verspüren. Ein Kribbeln, wie er es bei Ginny nie verspürt hatte. Gewiss, er hatte bei dem Anblick von Dean und Ginny Eifersucht empfunden. Doch rückblickend wusste er nun, dass er nicht auf Dean eifersüchtig gewesen war, sondern auf Ron. Der nämlich als Ginnys großer Bruder so etwas wie eine Beschützerrolle einnehmen konnte, wenn deren Freund nicht gut für sie war. Und Harry hatte die meisten Jungs in Hogwarts gut genug gekannt, um zu wissen, dass keiner von ihnen das war, was er sich für Ginny als potenziellen Lebensgefährten wünschte. Das waren in Hogwarts alles überwiegend Mamasöhnchen gewesen. Keiner darunter, der auch nur ansatzweise verstanden hätte, was Ginny in ihrem ersten Jahr in Hogwarts durchlitten hatte. Der verstehen würde, dass sie diesbezüglich immer noch von Alpträumen geplagt wurde. Zwar nicht mehr so häufig, aber Harry hatte mehr als einmal, während er Teile der Sommerferien bei den Weasleys verbracht hatte, Ginny des Nachts in der Küche getroffen, als beide von ihren Erfahrungen im Schlaf heimgesucht worden waren. Doch Harry war eben nicht Ginnys großer Bruder gewesen, der sich drohend vor ihrem Freund aufbauen konnte. Er war ein guter Freund der Familie gewesen und Ginnys Held. Und so hatte Harry damals das Naheliegendste getan, als er sich mit Ginny auf eine Beziehung eingelassen hatte. Jetzt aber, da er wusste, wie sich ein Kuss anfühlen konnte – anfühlen sollte –, war für ihn klar, dass es für ihn keine Beziehung mit einer Frau mehr geben würde.
 

Der Sommer ging in den Herbst über und Harry wurde erst da bewusst, dass er zum ersten Mal so lange er sich erinnern konnte, seinen Geburtstag schlicht vergessen hatte. Bei dem Gedanken musste er leise über sich selbst lachen. Jahr für Jahr hatten die Dursleys versucht, ihn durch Nichtbeachtung des 31. Julis davon zu überzeugen, dass sein Geburtstag des Erinnerns nicht wert sei, und jetzt, da er endlich von all dem, einschließlich der Dursleys, frei war, hatte er tatsächlich diesen Tag vergessen. Doch mit dem einsetzenden Herbst wurde ihm auch bewusst, dass als nächstes der Winter folgen würde und damit Weihnachten. So viel er auch in den vergangenen Wochen über Spanien aufgesogen hatte, so sehr er dieses Land auch lieb gewonnen hatte, so wenig reizte ihn doch der Gedanke, Weihnachten hier zu verbringen. Denn egal, wie die Spanier dieses Fest auch begehen mochten, es war mit Sicherheit ein Familienfest. Und Familie war etwas, das Harry nicht hatte. Etwas, das er immer nur als Außenstehender kennen gelernt hatte. Die Dursleys hatten ihn eh von allem, was Familie war, ausgeschlossen, wann immer es ihnen möglich war. Weshalb Weihnachten für ihn prinzipiell frühe Bettzeiten bedeutet hatte. Damit die Familie noch ein wenig unter sich sein konnte. Hogwarts war diesbezüglich schon um Längen besser gewesen. Da hatte es wenigstens Geschenke für alle gegeben und die Lehrer hatten sich bemüht, dass auch jeder in Festtagsstimmung kam. Auch wenn Dumbledore bei Snape meist in seinen Bemühungen gescheitert war. Aber nun ja, zu jeder Familie gehörte vermutlich auch der Griesgram. Nur dass Lehrer eben Lehrer waren und keine Familie. Weihnachten bei den Weasleys... ja, das kam dem, was sich Harry unter einem Familienweihnachten vorstellte vermutlich am nächsten. Aber auch hier war er nur Gast gewesen. Er war nicht in diesem Umfeld aufgewachsen, kannte die ganzen winzigen Traditionen nicht, die im Gesamten kaum auffielen, aber doch den Unterschied zwischen Familie und Außenstehender machte. Noch heute schlich sich ein leicht wehmütiges Lächeln auf seine Lippen, wenn er daran dachte, dass bei den Weasleys jeder einen ganz besonderen Weihnachtsdessertlöffel hatte. Und wehe man legte beim Tischdecken die Löffel auf den falschen Platz. Er selbst hatte sich mit einem normalen Löffel begnügen müssen, was dem Dessert natürlich keinen Abbruch getan hatte, aber es war eben ein Indiz mehr gewesen, dass er nur ein Gast gewesen war.

Hier in Spanien wäre er nicht nur Gast, er wäre sogar ein Fremder, der noch nicht einmal die rudimentären Gebräuche kannte. Nein! Dann doch lieber ein einsames Weihnachten in England. Dort wusste er wenigstens, was ihn erwartete. Und wer konnte schon sagen, vielleicht würde er sich ja sogar einen kleinen Weihnachtsbaum in die Stube holen und Weihnachten nach seinem Ermessen feiern.

Eine Idee, die im Laufe der nächsten Wochen Harry immer besser gefiel, weshalb er schließlich Anfang Dezember Abschied von Spanien nahm und zum ersten Mal seit Monaten wieder englischen Boden betrat.
 

***
 

Er war reich. Und er hatte Potter – Harry – Unrecht getan. Das war die Quintessenz, die Severus Snape aus jenem Brief von Gringotts ziehen konnte. Denn nachdem er erst einmal in der Abgeschiedenheit seines eigenen Schlafzimmers gewesen war – jenem Zimmer, in dem er nach dem Voldemort-Nagini-Debakel zu sich gekommen war – hatte sein rationales Denken wieder eingesetzt und er hatte erkannt, dass das Siegel des Briefes unverletzt war. Harry hatte ihm also lediglich die Mühe ersparen wollen, selbst in die Bank zu gehen, da die Kobolde sich bekanntermaßen weigerten, Hausbesuche zu machen. Noch nicht einmal für jemanden, der so reich war, wie Lucius Malfoy. Wie oft hatte er den aristokratischen Zauberer sich darüber echauffieren hören, dass er wie ein gewöhnlicher Bittsteller in der Bank zu erscheinen hatte. Dabei konnte man von der Behandlung, welche die Kobolde ihm in der Bank erwiesen, kaum mit der eines gewöhnlichen Bittstellers vergleichen. Lucius Malfoy hatte nie in einer Schlange warten müssen, ehe eine der magischen Loren ihn zu seinem Verlies brachte. Im Gegensatz zu jemandem wie Snape. Nun aber... Severus konnte es noch immer nicht fassen. Dumbledore hatte ihm die Hälfte seines nicht unerheblichen Privatvermögens vermacht. Und da alle Geld betreffenden Dinge unter die Obhut der Kobolde fielen und nicht des Ministeriums – schließlich waren die Kobolde besser darin als jeder Zauberer Gold von schwarzmagischen oder sonst wie gefährlichen Flüchen zu befreien –, hatte das Ministerium auch keinerlei Möglichkeit gehabt, das Erbe zu verhindern. Denn die Erbschaftsstatuten von Grigotts sahen vor, dass der Erbe eindeutig gestorben sein musste, ehe sein Vermögen von anderen beansprucht werden durfte. Weshalb selbst verurteilte Strafgefangene oder gar noch lebende Körper von Verurteilten, die von den Dementoren geküsst und somit ihrer Seele beraubt worden waren, erben konnten und nicht eher beerbt werden durften, ehe nicht auch ihre sterbliche Hülle die letzte Reise angetreten hatte.

Severus vermutete, dass Aberforth als letzter lebender Verwandter die andere Hälfte des Geldes geerbt hatte, doch das kümmerte ihn nicht. Was sich an Galleonen in seinem Verlies befand war mehr als er je in seinem Leben würde ausgeben können. Vorausgesetzt natürlich, er entwickelte nicht plötzlich einen derart übertriebenen Hang zum Luxus wie Lucius. Aber wenn er nicht gerade darauf bestand, ein Sechzig-Zimmer-Schloss mit handgeknüpften Teppichen auszulegen und stets nur echte Pelze trug oder derlei Firlefanz mehr, könnte er fünfhundert Jahre alt werden und die in dem noch aufzusetzenden Testament Begünstigten würde immer noch vor Freude in die Hände klatschen.
 

Den Rest jener Nacht hatte Severus tatsächlich damit zugebracht, ein Testament aufzusetzen. Denn das Letzte, was er wollte, war dass sein nun doch recht beträchtliches Vermögen, nach seinem Tod an das Ministerium fiel, dessen Aufgabe es dann wäre, das Geld gemeinnützig zu verwenden, aber Severus kannte die Maschinerie des Ministeriums gut genug, um zu wissen, dass das Ministerium selbst stets am Bedürftigsten war, wenn es um unverhofftes Erbgut ging. Stattdessen beschloss er, dass begabte Zaubertrankschüler, welche die Meisterschaft in diesem magischen Fach anstrebten, ein Stipendium erhalten sollten, welches so bemessen wäre, dass damit die notwendigen Kosten für die Bücher, welche den Grundstock ihrer eigenen Bibliothek bilden würden, abdeckten. Er selbst hatte damals fast das gesamte Geld, das er von der Lebensversicherung seines Vaters ausbezahlt bekommen hatte, für diese Bücher aufwenden müssen. Ohne diese Lebensversicherung, die sein Vater abgeschlossen hatte, als er noch im Stahlwerk Arbeit gehabt hatte, und bei der er es trotzdem immer geschafft hatte, die Beiträge zu bezahlen – vermutlich in der Absicht, sich diese später als Rente auszahlen zu lassen –, hätte Severus wohl kaum eine Chance gehabt, den Meistergrad zu erlangen.

Sogar Harry hinterließ er in seinem Testament einen gewissen Betrag – genug, dass dieser sich zwanzig Jahre lang eine Jahreskarte für die Spiele seiner Lieblingsquidditchmannschaft kaufen konnte. Nicht, dass Harry eine solche Hinterlassenschaft benötigt hätte. Aber es war Severus Art, sich bei dem jungen Mann zu entschuldigen. Natürlich war Severus klar, dass Harry erst nach Severus’ Tod von dieser Entschuldigung erfahren würde, und es dann reichlich spät war. Dass er sich gleich am nächsten Morgen mit Worten für seine ungerechtfertigten Unterstellungen des Abends würde entschuldigen müssen. Aber diesen Passus in das Testament aufzunehmen, half Severus, sich seiner Situation klar zu werden.

Leider war ihm die persönliche Entschuldigung am nächsten Morgen nicht gegeben.
 

Zuerst war er wütend gewesen. Wütend auf Harry, der wie ein Feigling abgehauen war, statt sich dem Konflikt zu stellen. Hatte ihn ob des mangelnden Gryffindormutes verhöhnt. Doch diese Gemütsverfassung hatte nicht lange angehalten. Exakt bis zu dem Zeitpunkt, da er den Toast für sein Frühstück verbrannt hatte. Denn in dem Moment, da er Harry ob seines Egoismus beschimpfen wollte, der ihn, Severus, der Notwendigkeit aussetzte, sein Frühstück in einer Küche, die ihm nicht vertraut war, zuzubereiten, erkannte Severus, wie irrsinnig seine Anschuldigungen waren. Und dass er im Grunde nicht auf Harry sondern auf sich selbst wütend war. Dass Harry jedes Recht hatte, einer Auseinandersetzung mit ihm aus dem Weg zu gehen, und ihm so zu zeigen, dass im Gegensatz zu vergangenen Auseinandersetzungen, Severus keinen Machtvorteil über ihn hatte. Vielleicht war der überstürzte Aufbruch seitens Harry sogar das Erwachsenste, was der junge Mann in dieser Situation hatte tun können. Ihnen beiden so die Möglichkeit geben, etwas Abstand zu gewinnen, damit sie später ruhig und gefasst darüber sprechen konnten. Und wenn man es so betrachtete, war es sogar überaus rücksichtsvoll von Harry, dass er gegangen war und nicht Severus aus dem Haus, Harrys Haus, geworfen hatte, wohl wissend, dass sein ehemaliger Lehrer noch immer nicht körperlich wieder voll genesen war. Natürlich bezweifelte Severus zu Recht, dass Rücksichtnahme irgendeine Rolle bei Harrys Entscheidung gespielt hatte. Impulsivität dagegen schon eher.

Dennoch hatte Severus fest damit gerechnet, dass Harry nicht lange fortbleiben würde. Ein paar Tage vielleicht, höchstens eine Woche. Doch Woche für Woche verging und schließlich brach der August mit der Erkenntnis an, dass Harry noch nicht einmal für seinen Geburtstag zurückgekehrt war. Fast genau ein Vierteljahr war verstrichen, seit Voldemort besiegt worden war. Fast ebenso lange, dass Severus allein in diesem Häuschen an der kornischen Küste gelebt hatte. Höchste Zeit also, dass er selbst Pläne für sein weiteres Leben schmiedete. Pläne, bei deren Umsetzung ihm die geschäftstüchtigen Kobolde Gringotts gewiss ebenso behilflich sein würden, wie sie es bislang bei der Verwaltung seines Verlieses und allem was dazu gehörte, gewesen waren.

Der Zufall wollte es, dass sein Blick auf den Atlas fiel, in dem Harry an jenem letzten Abend geblättert hatte. Ob er es ihm gleich tun und ein wenig in der Welt herum reisen sollte? Er könnte Zaubertrankzutaten in ihrer natürlichen Umgebung erforschen... Zutaten, die es hier höchstens in getrockneter Form oder zu horrenden Preisen gab, und wo die Qualität stets fragwürdig war. Er könnte erforschen, wie sich dies auf die Stärke bestimmter Tränke auswirkte. Er könnte all das, was er bislang den Büchern hatte glauben müssen, selbst überprüfen und neue Erkenntnisse gewinnen...

Und so war aus der ersten frustrierten Annahme eines Kurzausflugs zur Isle of Man als Reichweite seiner Möglichkeiten eine Expedition nach Fidschi geworden, um dort die Sekrete endemischer magischer wie nicht-magischer Frösche in Hinblick auf ihren Einsatz in Zaubertränken zu untersuchen.

Dass Fidschi noch dazu am anderen Ende der Welt und somit weit ab von allen Orten, wo eventuelle Spürhunde des Ministeriums ihn vermuten würde lag, und man auf den Inseln als ehemalige britische Kronkolonie ausreichend Englisch sprach, so dass er sich dort problemlos verständigen konnte, waren willkommene Nebeneffekte. Sogar an das Klima konnte man sich gewöhnen. Feuchtwarm war definitiv angenehmer als feuchtkalt wie es die britischen Inseln häufig zu bieten hatten.

Dennoch konnte Severus nicht umhin mit ein wenig Wehmut an England und sein Sudelwetter zu denken, als die Bewohner der Pazifikinseln begannen, die Weihnachtsdekoration hervor zu kramen. Irgendwie passte es nicht in seine Welt Palmen mit künstlichen Tannengirlanden dekoriert zu sehen, deren künstliche Beleuchtung so gar nichts mit dem gemein hatte, was er mit Weihnachten verband. Natürlich konnte er verstehen, dass angesichts der Tatsache, dass alles was echte Tanne war per Schiff oder Flugzeug angelandet werden musste und viele Menschen deshalb künstlichen Weihnachtsschmuck bevorzugten, aber Strand und Minikunstbaum als Weihnachtsfeier waren nicht wirklich etwas, womit er sich anfreunden konnte. Doch wenn nicht Fidschi, wo wollte er dann Weihnachten verbringen? In einem Land, wo Weihnachten aufgrund der vorherrschenden Religion nicht begangen wurde? Andererseits kamen diese Länder meist mit dem Nachteil daher, dass er sich noch nicht einmal, wenn ihm der Sinn danach stand, am Weihnachtsabend gepflegt die Kante geben konnte. Und der Rest der Welt war wenn schon nicht dem Fest so doch dem damit einhergehenden Kitsch erlegen. Gepaart mit der Aussicht die Landessprache nicht zu beherrschen alles in allem keine sonderlich verlockende Vorstellung. Aber nach England zurückkehren? Wenn ja, wo sollte er dort hin? Für die Zauberwelt im Allgemeinen war er tot. Spinners End hatte er mit Hilfe der Kobolde verkauft und eine anderes Haus hatte er nie besessen.

Noch während er überlegte, drängte sich ihm immer wieder das Bild des kleinen Hauses in Cornwall auf. Harrys Haus. Aber dorthin konnte er nicht zurückkehren! Oder doch? Vielleicht bekam er sogar die Gelegenheit, sich bei Harry zu entschuldigen, sofern dieser wieder dort wohnte... Zur Not könnte er immer noch für ein paar Nächte in einem Hotel absteigen und sich dann ein neues Reiseziel suchen.
 

Die Option des Hotels fest vor Augen, apparierte Severus schließlich drei Tage vor Weihnachten an jenen Küstenabschnitt Cornwalls, wo Harrys Haus stand. Als er sah, dass von innen Licht durch die Fenster nach draußen drang, hätte er beinahe dem Impuls sofort wieder zu verschwinden, nachgegeben. Doch das wäre feige gewesen und Severus mochte zwar vieles sein, aber nicht feige. Und so atmete er noch einmal tief durch und klopfte dann an die Tür.

Es dauerte schier eine Ewigkeit, ehe er von drinnen Schritte hörte. Eine Ewigkeit, die im nasskalten, heftig windigen Wetter Cornwalls eine reichlich ungemütliche Warterei bedeutete.
 

***
 

Harry war nicht überrascht gewesen, bei seiner Ankunft das Häuschen verwaist vorzufinden. Er hatte Snape zwar geschrieben, er könne so lange bleiben, wie er wolle, doch die letzten Worte des Professors hatten Harry deutlich gezeigt, welche Meinung dieser von ihm hatte. Und unter diesen Umständen würde Snape nur so lange wie nötig in dem Haus bleiben wollen. Sobald seine Kräfte es erlaubten, hatte dieser – bestimmt erleichtert – diesen kurzen Abschnitt seines Lebens hinter sich gelassen und war seiner Wege gegangen. Es hatte Harry zwar ein wenig bekümmert, dass es ihnen wohl bestimmt war, dass ihre letzte Begegnung nicht besser als ihre erste war, aber das war etwas, an dem er nichts ändern konnte und er war nicht so verrückt, deswegen unnötige Gewissensbisse zu empfinden. Er hatte für Snape sein Möglichstes getan und damit war die Sache erledigt. Zusammen mit den Habseligkeiten, die er während seines Spanienaufenthalts unweigerlich angehäuft hatte, verstaute er daher die Gedanken im Wandschrank und widmete sich seiner Weihnachtsplanung.

Als erstes erweiterte er die klägliche Hausbibliothek um ein Kochbuch, denn auch wenn er bei den Dursleys häufig in der Küche hatte helfen müssen, hatte Tante Petunia doch meist darauf bestanden, die Festtagsbraten selbst zuzubereiten. Harry wusste zwar also wie er einen ganzen Sack Kartoffeln am effektivsten schälte, nicht aber, wie man Gänsekeulen oder Entenbrust zubereitete. Von Truthahn hatte er Abstand genommen, waren diese Vögel doch meist so groß, dass er, sofern er nicht eine ganze Quidditchmannschaft zum Essen einlud, noch das nächste halbe Jahr daran essen würde. Nichts, worauf er wirklich Lust hatte. Weder was die Quidditchmannschaft betraf noch die Aussicht auf einen eintönigen Geflügelspeiseplan. Ergo Geflügelteile. Gänsekeulen mit passender Soße... Und Apfelkuchen. Das war zwar vielleicht kein Weihnachtsklassiker, aber Harry liebte Apfelkuchen und da dies sein Weihnachten würde, würde er Apfelkuchen backen.

Ein Blick in das kleine Wohnzimmer hatte ihn dahingehend belehrt, dass ein zimmerhoher Weihnachtsbaum nicht in Frage kam, wäre selbiger unten doch dann so ausladend, dass Harry in dem Fall das halbe Mobiliar hätte ausräumen müssen. Und nur für den Weihnachtsbaum auf Sofa und Sessel verzichten zu müssen, war keine wirkliche Option. Da er aber eh keine Geschenke erwartete, brauchte er auch nicht wirklich einen Baum. Eine dicke Tannengirlande, um damit den Kaminsims zu schmücken tat es auch und verbannte obendrein keine Möbel. Vielleicht würde er sogar einen Julscheit in den Kamin legen...
 

Er war gerade dabei, den Kamin auszumessen, um am nächsten Tag einen passenden Julscheit zu suchen, als er es an der Tür klopfen hörte. Irritiert und gelinde gesagt auch ein wenig erschrocken, stieß er sich prompt den Kopf am Kamin an. Sich die schmerzhafte Stelle reibend, ging er brummelnd zu Tür. Wer mochte das sein? Wer hatte sein Haus gefunden? Es war mit allen nur erdenklichen Schutzzaubern umgeben, so dass selbst bei Posteulen, die mit einem Ortungszauber belegt waren, der Zauber wirkungslos wurde. Tatsächlich musste man von Harry höchst persönlich in das Haus eingeladen worden sein und es obendrein von ihm gezeigt bekommen haben, um es überhaupt finden und sehen zu können. Wer also klopfte da an die Tür? Denn die einzige Person, die diese Kriterien erfüllte, wäre wohl die letzte Person, die ihn hier aufsuchen würde. Oder?

Zu behaupten, er wäre perplex gewesen, als er ausgerechnet Severus Snape vor seiner Tür stehen sah, wäre noch glatt untertrieben gewesen.

„Geistreich wie immer...“, tönte es ihm entgegen und erinnerte Harry daran, dass er mit offenem Mund seinen Besucher anstarrte. Einen Besucher, den er noch dazu draußen in der Winterkälte ausharren ließ. Hastig trat er beiseite und ließ Snape eintreten. Er konnte nicht wissen, dass sein Gast sich in dem Moment, da die unfreundlichen Worte seinen Mund verlassen hatten, innerliche heftige Vorwürfe machte. Schließlich begann man eine Entschuldigung nicht damit, die geistigen Fähigkeiten des anderen herabzusetzen.

„Verzeihen Sie, dass ich nicht mit Ihrem Erscheinen gerechnet hatte“, erwiderte Harry nun mit schlecht unterdrücktem Sarkasmus.

Snape seufzte. „Es tut mir leid. Ich bedaure letzten Sommer so vorschnell Schlüsse gezogen und darauf basierend ungerechtfertigte Anschuldigungen Ihnen gegenüber erhoben zu haben. Ferner möchte ich mich für mein unangekündigtes Auftauchen entschuldigen, wie auch für die unangebrachten Worte gerade eben.“

Das war definitiv nicht das, was Harry zu hören erwartet hatte. Der sarkastische Gruß – ja. Das war durchaus mit seinem Bild von Severus Snape in Einklang zu bringen. Aber eine Entschuldigung? Selbst wenn sie gerechtfertigt war? Harry war sprachlos. Dergestalt, dass sich ein zunehmend unbehaglich werdendes Schweigen zwischen ihnen ausbreitete.

Snape schien das Schweigen dennoch als Antwort aufzufassen, denn er wandte sich wieder der Tür zu, war er hier doch offenbar unwillkommen.

Da erwachte Harry aus seiner Starre. „Entschuldigung angenommen.“ Er streckte seinem ehemaligen Tränkelehrer die Hand entgegen. „Guten Tag und willkommen in der Herberge für Zauberer, von denen die Welt glaubt, sie seien tot. Da Sie den Weg hier her gefunden haben, gehe ich davon aus, dass auch Sie sich von der Gesellschaft losgesagt haben. Mein Name ist Harry Potter, Eigentümer dieser Herberge, wenngleich ich nicht das ganze Jahr hier weile. Wenn Sie dennoch hier Ihr Lager aufschlagen möchten, und sei es nur für ein paar Tage, sind Sie mir herzlich willkommen.“

Nun war es an Snape irritiert drein zu blicken. Es dauerte einen Moment, ehe er begriff, dass Harry ihm einen Neuanfang was ihre Bekanntschaft betraf anbot. Ähnlich wie er ihm im Sommer einen Neuanfang für sein Leben angeboten hatte. Nach noch einem weiteren Moment des Zögerns ergriff er die dargebotene Hand. „Severus Snape. Gesellschaftsgeschädigt und daher nach eigenem Entschluss nicht länger für selbige existent. Ebenfalls Reisender, der aber nichts gegen eine vorübergehende Bleibe einzuwenden hätte.“
 

***
 

Severus blieb bis nach Weihnachten. Er blieb sogar bis ins neue Jahr.

Nicht, dass sie nicht hin und wieder beide unüberlegte Worte sprachen, mit denen sie sich gegenseitig verletzten. Es lag einfach in ihrer Natur. Aber beide schienen sie gewillt, eine endgültige Entscheidung zumindest bis zum nächsten Tag hinaus zu zögern. Was beiden die Erkenntnis brachte, dass die Worte des anderen meist nur ein kurzes Strohfeuer waren. Harry lernte, dass hinter den oft bissigen Bemerkungen seines Hausgastes oft versteckte Anerkennung lag solange die Wut in den Worten fehlte. Und Severus lernte, dass Harrys Aussagen meist nur zur Hälfte aus Worten bestanden, die andere Hälfte aber durch Gesten und Taten ergänzt wurde. Eine Hälfte, die man leicht übersehen konnte, die einem dann aber halbinformiert falsche Schlüsse ziehen ließen.

Dennoch war es keine Situation, mit der auf Dauer zu leben, sie bereit waren. Dazu waren sie beide zu egoistisch, obgleich dieser Wesenszug in beiden nur zu verständlich war. Beide hatten sie den Großteil ihres Lebens Rücksicht auf andere nehmen müssen, ihre eigenen Bedürfnisse hinter denen des Großen Ganzen zurückstellen müssen, waren augenblicklich auf die eine oder andere Art beschnitten und gemaßregelt worden, wenn sie versucht hatten, auszubrechen. Nun aber, da niemand ihnen mehr diesbezüglich etwas vorschreiben konnte und sie ihre sprichwörtlichen Flügel ausbreiten und ihre Hörner abstoßen konnten, war es fast zwangsläufig so, dass das kleine Haus in Cornwall zu klein für sie war. Vermutlich wäre es sogar für einen von ihnen alleine zu klein gewesen. Natürlich waren weder Severus noch Harry in der Lage ihr Verhalten so klar und analytisch zu betrachten, aber es überraschte keinen von beiden, als Severus am Dreikönigsmorgen erklärte, er würde zum Mittagessen nicht da sein und Harry brauche auch nicht mit seiner Anwesenheit beim Abendessen zu rechnen. Dass er noch nicht wisse, wann er mal wieder vorbeikäme.

Harry nickte nur. „Sollte ich nicht da sein, wenn du das nächste Mal hier in der Gegend bist, die Haustür lässt sich einfach öffnen, indem du deinen Zauberstab gegen das Schloss drückst. Ich habe die Schließzauber entsprechend modifiziert. Es können eh nur du und ich das Haus sehen und ich bezweifle stark, dass dich irgendwann der unwiderstehliche Drang überkommt, meine Bruja-Figurensammlung zu stehlen.“ Er grinste.

„Da ich das gleiche vor dir bezüglich der Holzfrösche in meinem Zimmer annehme, werde ich diese hier lassen.“
 

Damit war es besiegelt. Beide würden sie wieder in die Welt hinausziehen, aber beide hatten sie in dem Häuschen so etwas wie eine Heimatbasis.

Manchmal zeugten nur eine Handvoll neuer Bücher oder eine seltsame Pflanze unter einem Selbstversorgungszauber auf einer der Fensterbanken davon, dass der jeweils andere in der Zwischenzeit im ‚Ausgangslager’, wie sie das kleine Haus immer wieder nannten, gewesen war. Doch einmal im Jahr würden sie gemeinsam, ohne, dass sie es miteinander abgesprochen hätten, in dem Haus in Cornwall sein. Nämlich stets zu Weihnachten. Und dann würden sie einander bei Gänsekeulen und Apfelkuchen von ihren Reisen erzählen. Von Tibet (Severus), von Island (Harry), von der Türkei (Harry), von Madagaskar (Severus), von Australien (beide, aber unterschiedliche Jahre und unterschiedliche Gegenden).
 

Als Severus von seiner aktuell letzten Reise (Peru, zur Erkundung der Mineralien und seltenen Pflanzen der Atacamawüste) kurz vor Weihnachten eines Abends nach Cornwall zurückkehrte, ließ ihn eine Kinderstimme aus dem