Zum Inhalt der Seite

Re:Herzlos

Sitar.
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Träume

„Kannst du eigentlich auch etwas anderes machen, als herumzusitzen und deine Waffe als Spielzeug zu benutzen?“, keifte ihn Xaldin, der auf dem einzelnen Sessel ihm gegenüber saß, an, woraufhin sich Demyx‘ Griff an seiner Sitar versteifte. War es so schwer, ihn einfach spielen zu lassen? Auf seiner Sitar?

Xaldin tat doch auch nichts. Zumindest im Moment.

Er schenkte dem älteren Mann lediglich ein schiefes Grinsen, blieb aber weiterhin auf diesem für die Allgemeinheit zugänglichen Sofa im sogenannten „Grauen Ort“ – lag vermutlich an der Farbenpracht - sitzen und zupfte scheinbar ungestört auf seiner Sitar herum.

„Wir brauchen Arbeiter. Du bist herzlich dazu eingeladen, auch etwas für die Organisation zu tun.“

Er war noch nicht so lange dabei. Zumindest nicht solange wie Xaldin. Seit sie ihn in Twilight Town aufgegabelt hatten, war er eben Mitglied. Meistens wurde er dazu ausgeschickt, entweder diesen anderen, seltsamen Unterschlupf – „Schloss des Entfallens“ oder irgendwo so – umzuräumen, oder aber er musste nach anderen ... „Niemanden“ suchen. Was auch immer.

Heute hatte ihm das X-Gesicht aufgetragen, wieder nach neuen Leuten zu suchen. Konnte das nicht schon Xaldin tun, wo er doch eh auch nur herumstierte und stänkerte? Demyx hatte zumindest Wichtigeres – um genau zu sein, Sitar zu spielen - zu tun. Aber ... Egal. Dann würde er eben arbeiten. Auch, wenn es nervte.

Demyx schaffte es wieder, seinen Handgriff unter seine Kontrolle zu bringen und dementsprechend zu lockern, danach spielte er - wie üblich - entspannt und gelassen weiter. Beruhigend floss die Musik in seine Ohren. Beinahe wie ein Schlaflied ...

„Außerdem soll ich auf ... ähm ... irgendwen mit X warten“, verteidigte er sich nach einem kurzen Moment, „Nur nebenbei bemerkt.“

„Hmph“, machte Xaldin, verschränkte die Arme und besah ihn mit einem mörderischen Blick, erwiderte allerdings nichts mehr darauf.

Aber es wurde nicht gerne gesehen, wenn man Mitglieder umbrachte, also drohte Demyx diesbezüglich keine Gefahr. Wieso sollte er auch Angst vor jemanden haben, der ziemlich viel größer war als er? Es bestand dazu absolut kein Grund. Vor allem, da Angst zu schweißtreibender Arbeit gehörte. Und die vermied er bekanntlich am meisten.

„Du wirst sehen, wohin dich deine Faulheit noch bringt, Nr. IX“, erklang die krächzende, alte Stimme der berüchtigten Nr. II. Xigbar oder so. Ah, stimmt, auf den hatte er ja gewartet.

Er sah auf – ein Grinsen stand im Gesicht des Mannes. „Na, dann wollen wir mal!“

Du wirst sehen, wohin dich deine Faulheit noch bringt, Nr. IX, hallte der Wortlaut in seinen Gedanken wieder ... Du wirst sehen, wohin dich dein Ehrgeiz noch ... Der Rest des Satzes erstarb, als ihr Bild vor seinen Augen erschien. Nein, er durfte nicht an sie denken ... Schließlich ... war er jetzt nicht mehr er.

Er war Demyx. Ein Niemand, der nichts mehr zu verlieren hatte – er hatte nicht einmal mehr ein Herz übrig. Der Klang seiner Sitar erstarb.

Er war nicht mehr der, der er früher gewesen war. Er hatte sich verändert. Anderer Name, anderes Leben. Ein zweiter Anfang ...

Er war nicht mehr ...
 

Einst existierte ein Jugendlicher in einer Welt, deren Name nicht weiter von Bedeutung war. Dieser Junge war nicht überaus intelligent, doch auch von Dummheit weit entfernt. Aber er hätte es schaffen können – er hätte in eine ausgezeichnete Schule wechseln und vielleicht sogar zur Universität gehen können. Aus ihm wäre bestimmt ein guter Gelehrter geworden.

Schließlich lernte er viel – er lernte viel und fleißig.

Doch dieser Fleiß wurde anderswo gebraucht.
 

Denn eben dieser Junge brachte einen Traum hervor. Einen Traum, von dem er sich nicht abbringen ließ; einen Traum, der ewig weiterlebte – bis zum Zeitpunkt der Erfüllung, dessen war er sich bewusst.

Und aus diesem Grund wollte er diesen Traum so schnell wie möglich erfüllt wissen.

Eigentlich besaß dieser eine Traum keine Besonderheiten. Er stellte sich nämlich sehr egoistisch und gar nicht heldenhaft heraus.

Als kein Traum, den Helden träumen würden. Nein, niemals.

Jedoch ein Traum, den ein Musiker zu träumen wusste.
 

Etwas, was ein jeder Musiker träumen wollte, war der Traum des eigenen Instruments. Denn schließlich hatte ein jeder vor, seine Begabung auszuleben.

Doch Talent zu besitzen, bedeutete keinesfalls, dass man dafür nichts zu tun bräuchte.

Nein, das Gegenteil erwies sich als richtiger.

Einer, der Musik machen konnte, musste üben – musste sich verbessern. Jeden Tag sollte er sich an ein Instrument setzen und damit spielen, um eine Verbesserung zu erleben.
 

Was aber, wenn man nicht zu üben vermochte, eben aus dem Grund, der den Traum bescherte?

Was, wenn man kein Geld hatte, sich ein Instrument zu kaufen, das sich für die Fähigkeiten angemessen zeigte? Was dann?

Dann musste man arbeiten.

Man vergaß die Schule, das Lernen, das Wissen. Gab es auf.

Man stürzte sich in die Welt des Fleißes, der Anstrengung und der Arbeit.

Und man verdiente Geld damit.

Geld, das man nicht für sich alleine behalten durfte.
 

Zwar war es nicht gerne gesehen, dennoch erlaubt: Der junge Mann hatte viele Arbeiten angenommen. Viele kleine Arbeiten, sodass er viel Geld in kleinen Teilen zusammenschaufeln konnte, um seinem Traum näher zu kommen. Nicht nur das.

Er musste mehr arbeiten. Mehr, als alle anderen.

Er brauchte Geld.

Für seinen Traum.

Für seine Familie.
 

Nicht, dass seine Familie arm war, nein. Sie besaß einen Fernseher, ein Familienband – alle saßen gemeinsam vor dem Fernseher – und alle besaßen sie ein glückliches Leben ohne Verpflichtung. Vom Stadtrat erhielten sie das „Arbeitslosengeld“ und so lebten sie dahin.

Ohne Arbeit, ohne richtiges Einkommen, ohne Bestimmung, ohne Erwartung.

In einer ewigen Faulheit, die, wie sie sagten, ihnen das größte Glück wäre.

Schließlich hatten sie alles und mussten nichts dafür tun!

Denn sie hatten ihn – unter anderem.
 

Er gab ihnen Zuschüsse. Wenn sie sich etwas wünschten, bezahlte er es.

Aber auch sein Geldfluss kannte Grenzen. Aber was sollte er tun?

Sie waren seine Familie, die einzigen Menschen, die sich um ihn ... kümmerten.

Er konnte sie nicht aufgeben. Genauso wenig wie seinen Traum.

Doch sie betraf es direkt. Wenn er ihnen kein Geld lieh, würde er sie verlieren.

Wenn er das Geld heute nicht sparte, konnte er es morgen trotzdem noch tun.

So gesehen war sein Traum diesbezüglich im Nachteil.

Denn er gab Geld aus – Geld, für die Personen, die ihn zwar großgezogen, aber bis auf sein Geld vergessen hatten. Aber es kam kein Hass auf.

Er konnte sie nicht hassen.

Sollte er es tun? Sollte er ihnen den Rücken zukehren?

Nein. Sie waren eine Familie.

Ein Verband.

Das Geld war bei ihnen aufgehoben. Gut oder nicht war eine andere Frage. Eine, deren Antwort er sich nicht stellen wollte.

Aber sie brauchten sein Einkommen. Schließlich arbeiteten sie nicht.
 

Er verstand seine Familie nicht. Sie wollten viel, wollten alles – dafür rührten sie aber keinen Finger. Denn sie wussten, dass sie das Geld trotzdem erhalten würden. Durch seine Dummheit unter anderem ... Aber wie sollte er jemals an dieses Instrument kommen, wenn er nicht dafür arbeitete? Es war teuer. Doch es war es wert. Es war all die Arbeit, all das Sparen wert. Und er würde es irgendwann erhalten, wenn er nur weiter fleißig daran arbeitete. Schließlich verdiente der Fleißige doch eine Belohnung, oder? Der Fleißige und der Gute, der, der teilte ... Das waren diejenigen, die Belohnungen erhalten sollten. Nicht aber die Faulen und Schlechten. Also würde er belohnt werden.

Er war sich sicher.
 

Die Musikanten in der benachbarten Stadt hatten sogar eine Garage als Halle zum Proben. Sie behaupteten, sie hätten für ihre Instrumente auch arbeiten müssen – das war auch der Grund, weshalb er es auf den ihren noch nie probieren durfte. Sie waren die Einzigen, die Instrumente besaßen, die mehr Wert besaßen, die besser waren – die etwas taugten. Auch sie hatten dafür geschuftet. Also musste er es ihnen gleichtun.

Irgendwann würde er bei ihnen in der Garage stehen.

Mit der Gitarre, die er so unbedingt wollte.

Die Gitarre, mit der er glücklich werden würde. Denn sie war sein Traum – seine eigene Gitarre in einer Band ...

Bis dahin musste er sich damit begnügen, zuzusehen. Zusehen und von ihnen lernen. Ihre Griffe, die Noten, die sie spielten ... Wie er sich bewegen musste ... Vom Zusehen hatte er schon an der Schule am meisten gelernt. Denn auch damals war er bereits fleißig und bei der Sache. Wieso sollte es diesmal nicht ebenfalls genügen, zuzusehen? Was sonst bliebe ihm übrig?

Hin und wieder leistete er sich ein Notenblatt oder ein Heft mit Noten.

Irgendwann würde er sie brauchen.

Nach der Erfüllung seines Traumes.
 

„Du wirst sehen, wohin dich dein Ehrgeiz noch bringt!“, schalt sie ihn zum ersten Mal in jener schicksalhaften Nacht, von der er sich schwor, sie immer in Erinnerung zu behalten. Um dem ganzen mehr Nachdruck zu verleihen, fügte sie seinen Namen betont hinzu.

Er zuckte nur mit den Schultern und lieferte ein volles Tablett zum Bestimmungsort – an den Tisch eines Kunden. Sie hatte recht. Langsam wurde es anstrengend für ihn. Für seinen Körper, für seinen Geist. Aber er musste durchhalten. Das Geld war für ein besseres Leben – für sich und für seine Familie. Wenn er die Gitarre besaß, würde er die meisten Arbeiten ruhen lassen können. Mit seiner Musik würde er ebenfalls Geld verdienen können – davon war er überzeugt.
 

Er kannte nur ihren Nachnamen, sie war nur eine von vielen Mitarbeiterinnen. Sie war in diesem kleinen Restaurant für die Kassa zuständig und sie arbeiteten eben zusammen. Er arbeitete mit vielen wie ihr zusammen. Immerhin hatte er viele Arbeiten zu erledigen.
 

Nach Ladenschluss, als er die Böden gefegt hatte und sie das Geld zählte, wiederholte sie ihre Nachricht noch einmal. Er wusste nicht, weshalb sie das sagte. Schließlich kannten sie sich nicht. Es war ihm nicht bekannt, wie lange sie auch schon hier arbeitete. Aber er konnte sich nicht jedes Gesicht merken. Auch wenn er es gerne getan hätte.

Sie stand vor ihm. Ihre Augen hefteten sich an ihn, in ihrem Blick lag eine seltsame Strenge. Sie stellte sich ihm vor. Sie war die erste aller Mitarbeiter, die sich näher mit ihm beschäftigte. Weshalb auch immer – aber ... er fand es gar nicht schlecht. Auch wenn er es nicht verstand.

„Du siehst überhaupt nicht gesund aus“, führte sie ihre Aussage weiter, „Du arbeitest viel zu oft, viel zu lange, hast viel zu wenig Ruhepause ... Ich wette, das hier ist nicht einmal dein einziger Job. Du bringst dich damit um ...!“

Er konnte sie abwehren, so sehr er wollte. So viel er wollte.

All die Tage, die sie hier zusammen arbeiteten wieder.

Immer wieder konnte er ihr sagen, dass es so gut war, wie es war. Dass es sich eben so ergab – so ergeben musste.

Nie hörte sie auf ihn.

Hingegen - sie lud ihm zum Essen ein, sie begleitete ihn nach Hause – und sie übernahm Teilbereiche seiner eigentlichen Arbeit.

Wieso tat sie das?

Er hatte es nicht begriffen.
 

Doch mit jedem Treffen, mit jeder Sekunde, die er mit ihr verbrachte, verlor er seinen Traum ein wenig mehr. Er wich in den Hintergrund zurück, irgendwohin, wo er ihn nicht mehr so sehr beeinflusste. Jemand anders wurde wichtig.

Sie wurde ihm wichtig.

Wichtiger, als sein Traum.

Einmal – ohne Hintergedanken, ohne weiter darüber nachzudenken – offenbarte er ihr seinen verbleichenden Traum. Den Traum, für den er sich so aufgeopfert hatte.

„Das habe ich mir fast gedacht! Dein Rhythmusgefühl ist wirklich der Wahnsinn!“, lobte sie ihn unbesonnen. Er konnte nicht nachvollziehen, woher sie davon wusste. Wie kam sie darauf?

Sie erzählte ihm, dass er hin und wieder zu Musik im Restaurant rhythmische Bewegungen ablieferte oder leise mitsummte.

Er hatte es nie bemerkt. Es handelte dabei wohl unbedacht, unbesonnen.

Aber ihr war es aufgefallen?
 

Sie war die Erste. Die Erste, die ihn dafür lobte, die Erste, die ihn aufmunterte, die Erste, die ihm sagte, dass seine Musik eine Grundlage bildete – dass sie ausbaufähig wäre.

Aber er besaß kein Instrument.

Es war angenehm, ihr Lob zu hören. Es erfüllte ihn. Er wurde wieder konsequent, arbeitete an seiner Musik – an seinem Traum, den er plötzlich mit ihr verband - mithilfe der Notenblätter und der anderen Dinge, die er dazu benutzen konnte, um Musik zu machen.

Doch das Geld reichte niemals aus.

Höhere Preise, weniger Löhne ... mehr Abgaben. Seine Familie verzehrte sein Geld. Es verschwand immer mehr. In immer größeren Mengen. Wie viel er auch sparen mochte – es war niemals genug.

Er musste mehr arbeiten.

Mehr noch.

Für seinen Traum.

Beide seiner Träume.
 

Das Schicksal fügte sich erneut.

An einem Weihnachtstag.

Für ihn ein Tag wie jeder andere. Längst hatte er vergessen, dass man sich an diesem Tag beschenkte. Denn er bekam keine Geschenke. Und aus diesem Grund lernte er nie, welche zu vergeben. Schließlich hatte er keine Freunde, denen er etwas hätte schenken können.

Und seine Familie beschenkte er das ganze Jahr über mit Geld. Mit finanzieller Unterstützung, sodass sie sich wohler fühlten. In ihrer Faulheit, die ihnen schon wieder etwas bescherte.

Doch es war seine Familie. Er konnte sie nicht im Stich lassen. Niemals.
 

An diesem Weihnachtstag stand sie unvermittelt vor seiner Tür. Eine rote Strickmütze zierte ihren Kopf und neben ihr lehnte ein riesiges, in buntes Papier gewickeltes Geschenk, welches leicht eingeschneit war.

Doch ihr bezauberndes Lächeln ließ dieses seltsame Paket in den Hintergrund rücken.

Plötzlich fand das Paket seinen Weg in seine Hände.

Überrascht nahm er es entgegen, bat sie hinein, ging mit ihr auf sein Zimmer und öffnete das Paket.

Eine Sitar.

Sofort erkannte er die Machart.

Erstaunen setzte sich in ihm fest.

„Es tut mir leid. Ich wollte dir unbedingt etwas schenken. Aber ich war zu spät dran! Die Gitarre, von der du gesprochen hast, war weg. Ich kenne mich nicht so gut aus, aber ich hab dir das hier gekauft, weil der Verkäufer es empfohlen hat ... Ich hoffe, es ist nicht zu enttäuschend.“

Jetzt tat es ihm leid, dass er nicht daran gedacht hatte. Er hätte ihr etwas schenken müssen.

Geld wies er schließlich auf.

Er fühlte sich schlecht deswegen.

Doch er bedankte sich aufrichtig.

Und ihr mache ihr nichts aus, sie brauche nichts, sie tue so etwas gerne, behauptete sie.

Er glaubte ihr.

Sie lächelte.

Denn sie lächelte immer.

Nie erstarb ihr Lächeln.

Seines erstarb oft.

Doch ihres nie.

Dabei war sie auch nicht wohlhabend – sehr wohl aber glücklich.

Sie hatte eine kleine Familie, mit der sie sehr fröhlich und zufrieden zusammenlebte.

Er war Teil einer großen.

Doch schon lange hatten sie sein Lächeln nicht mehr gesehen.

„Spielst du mir etwas vor? Ich hoffe, der Verkäufer hatte ein gutes Auge!“, bat sie ihn lächelnd.

Er lächelte zurück und erfüllte ihren Wunsch. Er war dazu in der Lage. Vom Zusehen. Zwar hatte er sich auf den Gitarristen konzentriert, doch der Sitarist aus der Nachbarstadtband war ihm niemals entgangen. Der Mann, der am Boden saß und besondere Klänge von sich gab ...
 

Sie hatte seinen Traum erfüllt – den Traum des eigenen Instruments.

Wieso sollte er ihr so etwas Einfaches dann verwehren?

Wo er ihr doch schon ein Geschenk verwehrt hatte.

Einfach glitt diese Melodie aus seinen Fingern. Als wäre er für dieses eine Instrument geboren worden. Für diese blaue Sitar. Sollte er der anderen Band dafür danken? Dafür, dass es sie gab ... mit all ihren bunt gemischten Instrumenten.

„Danke, dass du mir meinen Wunsch erfüllt hast ...“, sagte er leise während des Spiels, welches mit jeder Sekunde besser und sicherer wurde, „Ich stehe ewig in deiner Schuld ...“

„Weißt du, wie du es gut machen kannst?“, schlug sie leicht amüsiert vor, „Übe. Übe fleißig, lerne brav – und zum Schluss beeindruckst du meinen Onkel. Er sucht einen Gitarrenspieler für eine Band. Du wärst bestimmt perfekt.“

Er glaubte, sich verhört zu haben.
 

Von diesem Moment an übte er. Er übte sehr viel. Beinahe so viel, wie er dafür gearbeitet hatte. Viele Arbeiten hatte er hinter sich gelassen. Sein Traum war erfüllt. Doch durfte er deshalb aufgeben? Niemals. Er brauchte noch immer Geld.

Geld war jederzeit gut. Und die Arbeit nicht schlecht. Man brauchte etwas zu tun. Schließlich war man so mit anderen verbunden.

Und schließlich konnte er ihr so ein Geschenk kaufen.
 

Bereits nach einigen Wochen fühlte er sich der Herausforderung gewachsen – er spielte bei ihrem Onkel vor.

Er bestand. Er war gut.

Sein Eintritt in die Band war gesichert.

Sie kam und wünschte ihm Glück und viel Erfolg.

Er hatte ihr Geschenk dabei. Zum Dank gab er es ihr.

Es war nicht viel. Nur ein Armband.

Ein silbernes.

Trotzdem war es billig, nicht viel wert ... um einen kleinen Preis erkauft.

Nur ein kleines Geschenk im Gegensatz zum ihren - doch einmal hatte sie erwähnt, dass sie sich solch ein Kettchen wünschte. Ein Freundschaftsband.

Doch trotz der niedrigen Kosten lächelte sie. Herzhafter, als zuvor.

Wahre Freude spiegelte sich in ihrem Gesicht wider.

Aber daraufhin zierten Tränen ihr Gesicht.

Und sie sagte ihm, dass sie ehrlich sein müsse.

Er verstand nicht.

„Schon immer habe ich mir Freunde gewünscht“, begann sie leise unter Tränen, „Schon immer in meinem Leben. Ich habe dich belogen. Diese glückliche Familie hat es nie gegeben. Und Menschen ohne Familie haben keine Freunde.“

Sie verriet ihm, dass ihre Schwester von einem Zug erfasst worden war, kurz nachdem ihre Mutter an einer Krankheit gestorben und ihr Vater infolgedessen dem Alkohol verfallen war.

Er bewunderte sie noch mehr. Denn sie lächelte.

Trotz dieser Umstände.

„Ich würde verstehen, wenn du nie mehr etwas mit mir zu tun haben wolltest.“

Wenn er wäre, wie alle anderen.

Doch so hätte er niemals denken können.

Wie auch?

Er nahm sie in seine Arme.

Sie sollte nicht weinen müssen.

Er liebte sie.

Und er gestand es ihr.
 

Überall in der Stadt war ihr Name bekannt. Der Name der Band, als deren Mitglied er zählte. Bei den Musikanten in der Nachbarstadt hatte er seinen Anfang gemacht. Jetzt war er wirklich Teil einer Band. Dieser, seiner Band.

Er war der Sitarist. Auch gegen anfängliche Beschwerden, befanden sie sich einverstanden, dass er sie behielt und ihren Klang den – jetzt etwas eigen klingenden – Liedern schenkte.

Der Klang seiner Sitar, der Sitar, die er von ihr erhalten hatte.

Die ihn mit ihr verband.

Ohne ihre Hilfe wäre er nie soweit gekommen.

Niemals.

Sein Dank überstieg alles.

Ihr verdankte er so viel. Sie schenkte ihm, was er benötigte. Kraft, Liebe, Motivation, Lebensgeist.

Alles.

Ihretwegen war er glücklich. Und ihres Lächelns wegen liebte er jeden Tag.
 

Jeden Tag arbeiteten sie zusammen, jeden Tag besuchte sie die Proben.

Bei jedem Konzert stand sie in der ersten Reihe.

Und überall erschien dieses Lächeln, das er so sehr liebte.

Das Lächeln, für das er weiterspielen würde – bis in alle Ewigkeit.
 

Eines Tages brach ein großer Streit in dieser Band aus. Sie lösten sich auf. Sie existierten als Gruppe nicht mehr.

Er fand es schade – doch die anderen verloren ihr Interesse.

Sie aber gab nicht auf. Sie arrangierte ein Treffen, organisierte eine Aussprache.

Sie lächelte. Und dieses Lächeln schien die Band zusammenzuschweißen.

Und für die Fans spielten sie weiter.

Ihre Beliebtheit wuchs weiter an. Sie sollten auf Tournee gehen, sollten die Welt mit ihrem Gesang erhellen.
 

Ihr Onkel witterte ein großes Geschäft mit ihnen. Nach einem Vorsingen sollte die Entscheidung fallen, ob sie gehen würden. Ob sie Sponsoren erhielten. Das wichtigste Konzert überhaupt stand an.

Sie erhielten Geschenke.

Neue Instrumente.

„Kann ich die Sitar wirklich ablegen?“, wollte er von ihr wissen.

Lächelnd beschwor sie ihm, dass er es tun solle.

Für die Band. Für sich selbst.

Eine E-Gitarre klang besser, als diese alte Sitar. Und mit der Gitarre konnte er, der Übung sei Dank, ebenfalls umgehen. Aber die Sitar bevorzugte er dennoch.

Und er liebte sie noch immer.

Sein erstes Instrument – ein Geschenk der Frau, die er über alles liebte.
 

In der Probezeit mit den neuen Instrumenten, brach die Revolution an. Sie änderten ihre Frisuren, ihren Kleidungsstil, wurden zu richtigen Rockern. Mit den neuen Instrumenten ausgestattet, klangen sie mehr nach einer Rockband als zuvor.

Sie wollten in die große Liga.

Dafür brauchten sie einen guten Ruf. Ein gutes Bild. Gutes, passendes Aussehen.

Er tat es.

Sie sagte, ihr gefiele seine neue Frisur.

Er fand es schön, dass sie es sagte. Es freute ihn.
 

Und so begann es.

Das große Vorsingen.

Die Konzerthalle war prall gefüllt. War überfüllt mit lauten, jubelnden Fans, kreischendem Publikum.

Alle warteten auf seine Band, auf sie, die ihnen etwas vorspielen sollten.

Und sie taten es.

Begeisterter Applaus folgte auf jedes Lied.

Alles hätte perfekt sein sollen.

Doch etwas fehlte.

Es war nicht die Begeisterung, nicht die Stimmung, nicht die Musik.

Nein.

Es war das Lächeln.

Ihr Lächeln fehlte.

Kein Konzert hatte sie je verpasst.

Kein Konzert hätte sie je verpasst.

Auf dieses hatte sie sich besonders gefreut.

Wo also befand sie sich?
 

Bei einem Lied, bei dem er nicht mitzuspielen brauchte, benutzte er sein neues Handy.

Er rief sie an.

Doch er erhielt keine Antwort.

Er konnte nicht einfach gehen.

Das ging nicht. Er musste spielen.

Und er spielte weiter.

Und weiter.
 

Nach dem Konzert erhielt er die Nachricht.

Sie war nicht mehr hier.

Nicht mehr unter den Lebenden.

Es gab einen Unfall.

Sie war ihrer Schwester gefolgt.

Unter einen Zug.

Das Armband fand man abseits. Zerrissen.

Genauso zerrissen, wie er sich fühlte.

Er hörte auf.

Nach der Beerdigung verließ er die Band, sperrte seine Sitar weg.

Für was brauchte er sie auch? Band und Musik. Zeitverschwendung.

Anstrengung. Nichts als Belastung.

Er stoppte die Arbeit.

Was nützte sie ihm?

Er setzte sich.

Zu seiner Familie. Seiner zufriedenen Familie.

Sie hatten völlig recht.

Faulheit bewährte sich.

Ewig.
 

Faulheit brauchte keinen Traum. Träume verletzten nur. Man erntete Verdruss. Man strengte sich umsonst an. Fleiß war überbewertet. Nie geschah etwas Gutes. Es war eine Lüge.

Nicht der Gute erhielt etwas. Nicht der Fleißige erlangte die Belohnung.

Nein.
 

Niemals.

Denn die Guten starben. Die Faulen lebten.

Sie saßen hier.

Vor dem Fernseher.

Bei ihm.

Denn sie waren faul.

Wie er.

Wünschenswert.

So war es.

Faulheit, die er sich wünschte, die er brauchte.

Denn sonst blieb ihm nichts.

Nichts, außer Faulheit.

Denn der Rest ... wurde ihm entrissen. In unerreichbare Ferne.

Und keine Arbeit der Welt würde sie ihm zurückbringen.

Die Einzige, für die er weiterträumen wollte.
 

Doch auch damit war sein Schicksal nicht vorbei.

Eine weitere Fügung ereignete sich.

An einem verschneiten Tag, lange nach seiner Entscheidung, standen sie vor der Tür.

Polizisten.

Mit einer Nachricht an ihn.

Ein Zeuge hatte sich nach all der Zeit gemeldet.

Einen Mann wolle er gesehen haben. Mit einer Waffe, mit der er auch den Zeugen bedrohte.

Der Grund für sein Verschweigen.

Doch nun hatte er sich überwunden.

Die Polizei informierte sich bei ihm über diesen Mann.

Er kannte ihn nicht.

Doch er merkte sich die Beschreibung.
 

Gestoßen habe er sie.

Verfolgt habe er sie.

Auf die Gleise getrieben habe er sie.

Und bis es kein Entrinnen mehr gab, hatte er sie dort festgehalten.

An einer silbernen Armkette.
 

Er wurde wütend. Die Wut umzingelte ihn. Kreiste ihn ein. Übernahm ihn vollends.

Wieso hatte dieser Mann das getan?

Was fiel ihm nur ein?

Niemals hatte sie jemanden etwas zu leide getan.

Und doch hatte er sie getötet.

Und ist nie gefasst worden.

Das würde sich ändern.

Er traf die Entscheidung.

Er würde sich wieder erheben.

Doch sein Wunsch, der ihn trieb, bestand nicht mehr aus Musik.

Sondern aus Rache.

Rache für sie.
 

Lange Zeit hatte er suchen müssen.

Viel hatte er durchstehen müssen.

Viel Anstrengung hatte es bedurft, ihn zu erreichen.

Diesen Mann, der seinem Leben das Wichtigste gestohlen hatte.

Mittlerweile besaß er eine Waffe – eine richtige Waffe. Kein Musikinstrument würde ihm dabei helfen können. Und es war auch nicht ein solches, nach was es ihm zehrte.

Denn jetzt befand sich in seinem Besitz, was er brauchte, um etwas zu ändern.

Eine Waffe und eine Entscheidung.

Dieser Mann würde sterben müssen.

Sterben für das Verbrechen, das er verübt hatte.
 

In ihren letzten Augenblicken musste sie viel Angst gehabt haben.

Auf den Gleisen. Vor diesem Mann.

Er wollte niemals, dass sie jemals Angst haben müsste.

Wollte sie immer beschützen.

Aber getan hatte er es nie.

Niemals.

Das würde sich nicht mehr ändern. Dank diesem Mann, den er verfolgte.

Allerdings konnte er Gerechtigkeit verüben.
 

Regen troff seinem Ärmel hinunter.

Er war in eine Sackgasse gelaufen, dieser Mann.

Und er würde hier sterben.

Durch seine Hand.

Durch seinen Schuss.

Die Pistole hatte er auf ihn gerichtet.

Zum Abdrücken war er bereit.

Er musste abdrücken.

Für ihr erstorbenes Lächeln.

Doch ...
 

... Doch konnte er ihn wirklich töten?

Diesen Mann, der schutzlos vor ihm stand?

Um Gnade flehend?

Wut, Hass, Rachedurst, all die Zeit, die er für diesen Augenblick verstreichen ließ.

Alles, was er dafür getan hatte.

Nichts mehr war von Bedeutung.

Er konnte nicht schießen.

Er brachte es nicht übers Herz.

Es ging nicht.

Sein Finger blieb am Abzug.

Nichts rührte sich. Kein Schuss fiel.
 

Seine Augen wurden nass.

War es Regen ... oder waren es Tränen?

Tränen der Verzweiflung?

Verzweiflung, die sein Herz einnahm.

Wieso?

Wieso konnte er es nicht?

Er war an allem Schuld.

Er hatte Schuld.

Dieser Mann.

Nur dieser Mann.

Vergeltung ...

Rache ...

Befriedigung ...

Ihr Lächeln ...

Verzweiflung.

Nichts weiter blieb übrig.

Hätte sie es wollen?

„Für was ...?“, fragte er laut schreiend in den Regen hinein, „Für was brauche ich es?“
 

Ein Herz.

Für was benötigte er es?

Es zeigte ihm Liebe. Glück. Vertrauen. Freundschaft.

Und dann wurde ihm alles genommen. Alles.

Es zerbrach.

Doch es hielt. Es heilte nicht, doch es zersprang nicht vollends.

Für diese neue Aufgabe.

Für diese Zufriedenheit.

Und jetzt?

Kurz vor seinem Ziel.

Ging es nicht.

Sein Herz strauchelte.

Verzweiflung.

Letztlich übernahm sie es

Er ließ seine schließlich Sitar verschwinden. Sein altes Leben war abgeschlossen.

Er konnte nicht leugnen, dass er es nicht ganz schaffte, damit abzuschließen. Seine Frisur war ein eindeutiger Hinweis auf sein altes Ich, darauf, dass er nicht so einfach mit ihm abschließen konnte, als hätte es dieses Leben nie gegeben. Seine ... Waffe war ebenfalls eine Verbindung ...

Doch ... es war ihm egal.

Ihm fehlte wohl das Herz für Trauer.

Auch wenn sie ihn noch immer berührte. Diese Geschichte ...

Aber ... er sollte sich nicht darum kümmern.

Jetzt, wo er die Verzweiflung los war, würde dieser Ablauf ihm wohl hoffentlich nicht mehr lange nachhängen. Dieser Verrat an sich selbst ... An diesem elenden Leben.

Jetzt hatte er es besser. Er war ganz unten angekommen. Es konnte doch nur noch bergauf gehen, oder?

Die Sitar als seine Waffe, hier seine neuen Aufgaben – egal, wie ätzend sie auch waren – und seine neue Gesellschaft. Damit konnte man leben. Sie bezahlten schließlich für sein Essen. Und er hatte es endlich gelernt. All die verschwendete Zeit, in der es nicht in seinen Kopf wollte ...

Nur der Faule kam durch. Nur der, der sich nicht anstrengte, der, der gerade das Minimum erfüllte ... der schaffte es, zu wahrem Glück zu finden. Und sein neues Ich – Demyx – würde es schaffen.

Gut, sie hatten vor, ihm ein Herz zu beschaffen. Aber ... er würde sicher nicht zu viel dafür tun.

Warum auch?

War schließlich nur Arbeit. Und wer konnte vorhersagen, dass sie es auch wirklich schaffen würden? Er brauchte nicht noch eine zeitverschwendende Enttäuschung. Wirklich nicht.

„Na gut, Xiggy!“, meinte er und setzte dadurch gleich einen neuen Nicknamen für den Alten fest. „Erwarte bloß nicht zu viel von mir. Ich bin wirklich nicht für schweißtreibende Arbeit geschaffen.“

„Die Jugend von heute!“, scherzte er lachend, „Gegen dich bin ich noch ein Athlet.“

Demyx lachte.

Gab es einen Grund, es nicht zu tun?

Außer der Arbeit natürlich. Die war schließlich bescheuert.

Diese elendslange Arbeit - die er nicht einmal mit Musik lebendiger machen durfte!

Wenn das Leben dir einen Korb schenkt – geh damit in den Wald, um Pilze zu pflücken.

Wenn es dich immer und immer wieder deinem Instrument entgegenstellt ...

Mach Musik damit!



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  PiriPaints
2012-09-06T10:00:17+00:00 06.09.2012 12:00
Und wie wir das lesen xD!
Dankeschön, ich mochte Kingdom Hearts nie, ich habe die Geschichte erst ganz zum Schluss gelesen, weil sie relativ lang war und weil ich KH eben nicht mag xD... dann hab ich sie gelesen und war baff x)
Und ich finde das ist eine sehr gute ,,So könnte es gewesen sein" Story :)


Zurück