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Children of the Prophecy

Die Kinder der Prophezeihung
von

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06: [The First Impression]


 

What is love but the strangest of feelings?

A sin you swallow for the rest of your life?

You've been looking for someone to believe in

To love you until your eyes run dry
 

She lives by disillusion glow

We go where the wild blood flows

On our bodies we share the same scar

Love me, wherever you are
 

How do you love with a fate full of rust?

How do you turn what the savage tame?

You've been looking for someone you can trust

To love you, again and again
 

How do you love in a house without feelings?

How do you turn what the savage tame?

I've been looking for someone to believe in

Love me, again and again
 

She lives by disillusion's glow

We go where the wild blood flows

On our bodies we share the same scar
 

How do you love on a night without feelings?

She says, love, I hear sound, I see fury

She says, love's not a hostile condition

Love me, wherever you are
 

-Razorlight, ‘Wire to Wire’
 

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Es war mehr, als ein gewöhnlicher Traum, und weniger, als eine dieser Visionen.

Gleich einem gewöhnlichen Traum begann es mit einer harmlosen Erinnerung, einer alltäglichen Szene, die man glatt mit der Realität verwechseln könnte.

Shinji fand sich selbst dabei, wie er am Rand der Straße entlangschritt, die ihn jeden Tag zur Schule führte, die Kopfhörer in den Ohren, den Blick vernebelt mit trüben Gedanken, die sich wie ein Vorhang zwischen ihn und die aufheiternde Wirkung legten, welche die warmen Strahlen der Sonne für gewöhnlich auf die Menschen unter ihr hatte.

Soweit eine ganz simple, gewöhnliche Begebenheit, wie sie sich praktisch jeden zweiten Tag abspielte. Er war nur eine einzelne, unscheinbare Figur in einer großen Masse von Menschen, die Tokyo-3s belebten Bürgersteigen folgten.

Doch der Verlauf des Traumes löste sich spätestens dann von den Gleisen der Realität, als er die Überführung erreichte, auf der er die Straße zu seiner Rechten zumeist zu überqueren pflegte.

Sein bis jetzt betrübt gesenkter Blick richtete sich ursprünglich nach oben, seine kobaltblauen Augen weiteten sich, um der Angst und der Ehrfurcht Platz zu machen, die sie urplötzlich, und doch gemächlich, wie in einer Zeitlupenaufnahme eines Wimpernschlages.

Dort oben, exakt am Ende der Treppe, die auf die Überbrückung führte, stand ihm eine eindrucksvolle Gestallt gegenüber, die jede Faser seines Wesens ins Zittern versetzte.
 

Dort oben stand ein junger Mann, dessen ganze Form in scharfe Schatten gelegt war.

Er stand breitbeinig da, die Fäuste geballt, die Haltung aufrecht, die kurzen, dunklen Haare vom Wind gepeitscht, fest und entschlossen auf den Jungen herabstürzend wie eine geisterhafte Erscheinung.

Seine Haut hing von seinem Fleisch herab wie zerlumpter Stoff, und allein der Anblick der Muskeln, Sehnen und Knochen, die darunter zum Vorschein kamen, reichten, um die Eiseskälte über die Wirbelsäule des ängstlichen Jungens fließen zu lassen wie zählflüssiger, klebriger Sirup, der nie ganz herunterfloss und weg war, sondern eine deutliche Spur hinterließ.

Und doch schien der Mann dort oben sich seines entstellten Gesichtes nicht im geringsten zu schämen; Ganz im Gegenteil, er versuchte gar nicht, es zu verbergen, sondern trug es stolz als Zeichen seiner Entscheidung und als Testament seines Willens, der so stark in seinen Augen brannte, dass sie rot leuchtend wie Blut erschienen.

Es waren Augen, in die man nur einmal hineinsehen musste, um zu begreifen, dass diese Person nie etwas getan hatte, was er nicht tun wollte.

Diese Macht lag jenseits seiner wildesten Träume.

Eingeschüchtert schluckend starrte Shinji nach oben, einen wilden Kampf von Angst und Bewunderung in seinem Blick tragend. Doch das kreuzen jener klingen Blieb still, kein Laut, kein Wort, kein Zeichen drang nach außen.

Das innere Gemetzel hätte nur ein ängstliches Zögern erlaubt, ein vorsichtiges Schlucken, das verlagern des Gewichtes von einem Bein auf das andere und nicht viel mehr, bis der Kampf entschieden und der Weg beschlossen war, doch während sich das Gefecht in seinem innersten hinzog, war der wie betäubte, die Welt nur entfernt wahrnehmende Rest seiner selbst nicht genug, um der hypnotischen Anziehungskraft zu wiederstehen, die der junge Mann auf ihn ausübte.

Ohne den Blick vom oberen Ende der Treppen abzuwenden stieg er wie in Trance Stufe um Stufe, auch, wenn die Rolltreppe begonnen hatte, Rückwärts zu laufen und sich der Wind ihm umso stärker gegenüber stellte wie eine regelrechte Wand aus Luft, je eifriger er der furchteinflößenden Finsternis entgegen stieg.

Der Wind zerwühlte seine Haare, schaffte es irgendwie, die Knöpfe seines Uniformhemdes aufzureißen und seine blanke Brust zunehmends zu peitschen und ein stärkerer Windstoß, der ihn fast von der Rolltreppe geworfen hätte, riss seinen Musikplayer aus seiner Hand und seinen Ohren, um ihn mit in den Himmel zu reißen, bis er auch nur gelegenheit hatte, zu versuchen, danach zu greifen.

Als er seinem treuen Andenken hinterhersah, war er von dessen Verschwinden so eingenommen, dass er gar nicht realisierte, dass sowohl der Wind als auch die Rolltreppe zum Halten gekommen waren.

Der Weg vor ihm war klar, aber jetzt, wo er das verloren hatte, was einmal sein Schutz gegen das laute Blasen des Windes hätte sein sollen, hätte er sich genauso gut in einer gleichförmigen Wüste sein können.

Er war tief erschüttert, wusste nicht mehr weiter, war gelähmt von seiner Furcht.

Doch er fürchtete sich zu sehr, sich umzudrehen und den, was vor ihm lag, den Rücken zuzukehren…

Ja, da war ein Versuch, Rückwärts zu flüchten, doch mitten in einem Schritt änderte sich seine Richtung nach vorne und sein Antlitz wurde zum Spiegel einer Entschlossenheit, die ihm verbot, nicht weiter zu gehen.

Er stieg mühelos nach oben, mit festen Schritten eine Stufe nach der anderen nehmend.

Als der junge Mann oben angekommen war, fragte er sich so ganz am Rande, wer der zitternde, zögernde kleine Junge war, der mit einem tränenerfüllten Gesicht am unteren Ende der Treppe stand, und setzte seinen Weg zielstrebig fort, sich keine weitere Sekunde nehmend, um zurückzublicken.
 

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Vom vielen Laufen sichtlich ermüdet konnte Yui nicht anders, als sich eine kurze Atempause zu gönnen, und an die Wand gestützt stehen zu bleiben. Diese Schuhe drückten an allen Ecken und Enden, und sie konnte deutlich spüren, wie die Sonne mit ihrer sommerlichen Hitze fast wie ein physisches Gewicht auf ihren Kopf und ihren Nacken herunterknallte.

Es kostete sie schon etwas an Willenskraft, um den Kopf anzuheben.

Jetzt durchstreifte sie die Stadt schon so lange, Tag und Nacht, immer auf der Flucht, immer alle möglichen Orte abklappernd, und immer ohne Ergebnis.

Diese Entität… Leatha, wenn man sie denn schon klassifiziert hatte, war wohl das einzige, bei dem sie sich darauf verlassen konnte, das es nicht immer an einem der Orte sein würde, an dem es das letzte Mal gewesen war. Dieses Wesen wusste genau so Bescheid wie sie und hatte schon von Anfang an gewusst, dass sie sie jagen würde.

Sie war nur ein einfaches Mädchen, wie sollte sie da hoffen, etwas finden zu können, bei dessen Suche der ganze NERV-Sicherheitsdienst versagt hatte?

Vielleicht wurde es ja Zeit, dass sie einsah, dass es alles keinen Zweck gehabt hatte…

Nein. Das war sie ihrem Bruder und ihrem Vater schuldig… dass sie zumindest bis zum bitteren Ende ankämpfte.

Ihr Blick richtete sich zum Himmel.

Dieser Stromausfall, wenn er denn überhaupt in dieser Version der Ereignisse vorkommen würde, ließ sich Zeit… sie fragte sich, ob sie Shinji mit dem, was sie da gesagt hatte, denn überhaupt genug gedient hatte. In Gedanken ging sie noch einmal vergangene Versionen durch. Sie hatte ihm nicht davon erzählt, wie er sich mit seinem EVA an den Wänden des Schachtes festkrallen würde, um seine Mitstreiterinnen vor dem Sturz in den Tod zu bewahren – Das hatte er in den meisten Fällen ganz von allein hinbekommen und es war wichtig, dass er nicht das Gefühl bekam, dass er nur wegen ihrer kleinen „Tipps“ am gewinnen war – Sie wollte, dass er sich etwas mehr Selbstvertrauen zulegte, teils, weil er ihr viel bedeutete und sie ihn einfach nicht leiden sehen mochte, teils, weil sie wusste, dass er es sehr, sehr brauchen würde, wenn die wirklich problematischen Kämpfe begannen… Bis dahin aber musste sie mit kleinen Ratschlägen und Tipps für die Zukunft sein Vertrauen gewonnen haben, damit er bei den entscheidenden Dingen auch auf sie hören würde…

Schon überhaupt der Gedanke daran, sein Vertrauen erst gewinnen zu müssen, klang absurd und erinnerte sie daran, wie schrecklich einsam sie hier war, in einer Welt, in der sie eigentlich niemals existiert hatte… Dieser Junge, mit dem sie sich da bis jetzt unterhalten hatte, war trotz aller Ähnlichkeit nicht der Shinji, den sie einst kennen gelernt hatte….

Was konnte sie noch tun? Die Leute bei NERV vor dem Engel oder dem Stromausfall warnen? Das hatte sie alles schon probiert, und nie hatte es etwas gebracht… am Ende war alles nur verstrickter, komplizierter und schlimmer geworden… Ähnlich sah es mit den vielen Menschen aus, die gerade an EVA 04 arbeiteten… sie wusste, was geschehen würde, aber sie glaubte nicht, dass sie es verhindern konnte. Es hatte noch nie geklappt… Mit der Zeit hatte sie sich damit abgefunden, dass sie nicht alle Probleme dieser Welt lösen konnte, sondern sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren musste, ohne zu sehr mit den Ereignissen zu interferieren…

Jetzt, wo sie wusste, dass es ihre letzte Chance war, wogen die vielen Leben, die sie nicht würde retten können besonders schwer…
 

„Hey, du! Was machst du denn an einem Ort wie diesem?“

Oh nein. Zwei Männer. Polizisten.

Klar. Diese verlassenen Warenhäuser hier boten ja nicht nur für Leatha, sondern auch für gewöhnliche Verbrecher wie Diebe oder Drogendealer ein gutes Versteck, und hinter denen waren sie wohl her.

„Hey, Taniguchi, kommt dir die Kleine nicht auch bekannt vor?“

„Ja, die passt doch ganz genau auf die Beschreibung dieses Mädels, dass neulich aus diesem Krankenhaus geflüchtet sein soll…“

Verdammt. Wohl wissend, dass ihre Chancen höchst gering waren, drehte sich Yui dennoch um und lief, was das Zeug hielt.

Sie musste es wenigstens versuchen.

Auch, wenn es klar war, das sie verlieren würde, so wollte sie sich zumindest nicht kampflos ergreifen lassen…
 

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„Das ist es also?”

„Ja, Commander.” Bestätigte Dr. Akagi, stolz auf das zylindrische Metallgehäuse klopfend, dessen geöffnete Seite dem Commander zugewendet war.

Ernüchtert stellte sie fest, dass auf der Oberfläche noch die einen oder anderen Reste einer braunen Kruste erkennbar waren, kleine Brösel hier und da, von denen sie noch einige unter ihren Fingernägeln hängen hatte.

Man musste schon genauer hinsehen, um sie zu bemerken, man brauchte schon den prüfenden Blick einer Wissenschaftlerin; Es war also gut möglich, dass er diese Stellen ganz so, wie sie es hoffte, genauso zu übersehen, wie sie selbst es getan hatte, als diese Substanz noch die selbe, tiefrote Farbe hatte wie der Lack des nichtssagenden, zylindrischen Gerätes, das außer den Drucktasten, die für seine Öffnung gleichzeitig gedrückt werden mussten, den Lederlaschen, die erlaubten, es wie einen Rucksack zu tragen, und den unscheinbaren Anschlussstellen für Bildschirme und dergleichen nur eine völlig glatte Oberfläche besaß.

Das Gehäuse bestand aus zwei Hälften, die sich dank einem Scharnier auseinanderfalten ließen, wie ein Buch, und gerade jetzt stand es zu Vorführungszwecken weit offen, um den Commander Einblick zu gewähren.

„Das stimmt ganz genau. Dies sind die Früchte… von Projekt Kronos.“

„Dann ist es endlich einsatzbereit?“

„Theoretisch schon, aber wenn man die Natur des Ausgangsmaterials bedenkt, wäre es sinnvoll, zuvor ausführliche Testreihen durchzuführen, bevor wir mit der Jagd auf unser entlaufenes Versuchsobjekt beginnen. Soweit funktioniert es jedoch sehr gut, wenn man bedenkt, dass wir bei den Tests durch die begrenzte Haltbarkeit der Hauptkomponenten eingeschränkt sind.“

„Dann tun Sie das.“

„Sehr wohl.“ Entgegnete Akagi, noch während sie sprach das Gehäuse ihrer Erfindung zuklappend. Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie die roten Streifen, die sie damit auf dem Schreibtisch des Commanders zurückgelassen hatte.

„Oh, verzeihen Sie… Ich werde mich gleich darum kümmern.“
 

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Sie hatte den kleinen Tisch aus der Lehne des vor ihr befindlichen Sitzes ausgeklappt, aber das wackelige Stück Plastik mit einer runden Vertiefung für ein Getränk konnte wohl kaum als eine brauchbare Unterlage bezeichnet werden.

Ja, sie konnte das Buch, welches sie für die lange Fahrt mit sich geführt hatte, darauf abstellen, aber wenn sie versuchte, es zu lesen, dann würden die Buchstaben vor ihren Augen verschwimmen und am Ende würde ihr nur der Kopf weh tun – Das leichte, aber doch merkliche Ruckeln des Zuges machte es ihr einfach unmöglich, zu lesen.

Selbst wenn der Zug kurz halten sollte, so tat er das doch immer so kurz, dass es sich kaum lohnte, ihre Lektüre aufzuschlagen.

Also blieb das Buch unangetastet auf dem vormals erwähnten, ausklappbaren Tischlein liegen, während ihre blassen Finger unnütz in ihrem Schoß lagen, ohne es anzufassen.

Natürlich hätte sie auch auf einen der einander zugewandten Sitzbank-Paare Platz nehmen können, zwischen denen ein etwas soliderer Tisch stand, der vermutlich deutlich weniger wackeln dürfte, aber das traute sie sich nicht.

Es gab nur vier solche Tische in diesem Wagon, und wenn sich ihr jemand gegenübersetzen sollte und sie versehentlich seine oder ihre Füße berührte… oder auf dem Tisch zu viel Platz verbrauchte…

Nein, sie blieb lieber da wo sie war, in irgendeinem unscheinbaren Eckchen des Wagons verschanzt, direkt neben dem Fenster sitzend, sodass sie das kühle Glas an ihrer Schulter spüren konnte und sich von drei Seiten eingeschlossen das Gefühl geben konnte, dass sie hier kaum jemand bemerken würde.

Sie mochte es nicht, sich anderen zu zeigen… oder gesehen zu werden.

Ihre leise, zögerliche Stimme war nicht für die Ohren eiliger Menschen und ihr Körper auch nicht für prüfende Blicke gemacht… Sie mochte sich ja nicht mal selber sehen, und doch wollte das verblasste, minimal vorhandene Spiegelbild, dass sich immer ein stückweit über die Landschaft legte, wenn sie zum Fenster hinaus sah, nie ganz verschwinden.

Besonders schlimm war es, wenn sie durch einen Tunnel fuhren.

Dann war ihr Spiegelbild nämlich alles, was noch zu sehen war.

Oh nein… Sie wollte sich selbst nicht sehen müssen… und auch nicht gesehen werden…

Sie hatte es alles so satt, am allermeisten sich selbst…

Tokyo-3… In diesen schweren Zeiten hatte ihr Vater sich entschieden, ihre Suche nach Arbeit in dieser gefährlichen Stadt fortzusetzen, aus der jetzt alle zu fliehen schienen. Es war nur natürlich, wenn die fliehenden Menschen dabei offene Arbeitsstellen zurück ließen… Gerade diese mysteriöse Organisation namens NERV, von der man nicht viel anderes wusste, als das sie eben in Tokyo-3 aktiv war, sollte die wenigen heldenhaften Menschen, die bereit waren, in solch einer ständig dem Krieg preisgegebenen Stadt zu leben und zu arbeiten, sehr gut entlohnen.

Soweit die Begründung ihres Vater, aber das stille Mädchen mit dem Buch wusste nicht wirklich, was sie dort eigentlich sollte. Sie wollte ihrem Vater kein Unrecht tun, zumal er immer den ganzen Tag arbeitete, um seine Tochter durchzufüttern – aber gerade deshalb sah sie ihn ja fast nie, und sie nahmen eigentlich kaum noch Anteil am Leben des jeweils anderen… und außerdem… konnte sie es ihrem Vater ja nicht verdenken, dass er keine Zeit mit ihr verbringen wollte… es könnte ja immerhin sein, dass sie ihn an ihren Mutter erinnerte, auf die sie immer noch eine Wut dafür hegte, dass er sie beide einfach verlassen hatte…

Oder gab er seiner Tochter die Schuld für das, was mit seiner geliebten Ehefrau geschehen war? Sie wusste es nicht, aber was sie sicher wusste war, dass ihr Vater ihre Einsamkeit nicht lindern können würde… genau so wenig wie sonst irgendwer.

Es war doch überall dasselbe, egal, wo es sie hin verschlug. Es machte nichts, wenn sich die Menschen in ihrer Umgebung stetig wandelten, wenn sie doch ohnehin nie den Mut hatte, irgendeinen von ihnen anzusprechen… Es würde sie nicht wundern, wenn der Großteil der Kinder in ihrer alten Klasse gar nicht bemerkt hätte, dass sie überhaupt jemals da gewesen war – Egal, wo es sie hin verschlug, wenn sie den Ort wieder verlassen musste, war nie jemand da, um sie zu verabschieden…

Und mit jedem Tag, der verging, war ihr alles hier nur mehr und mehr zu wider… Sie hatte von dieser Welt, und vor allem von sich selbst eindeutig genug… Und wer weiß, vielleicht war ihre Zeit ja bald gekommen… Wenn sie ihre porzellanhellen Finger betrachtete, dann nicht, ohne dass ihr einfiel, dass sie schon immer recht schwächlich gewesen war, und in letzter Zeit… tja, da war es ihr regelrecht, als ob irgendetwas das Leben immer weiter und weiter aus ihr heraussaugen würde wie ein blutsaugender Parasit.

Je näher sie dieser Stadt kam, desto mehr verspürte sie den Drang, sich irgendwie hinzulegen…

Wer weiß, vielleicht war das ja das letzte Mal, dass sie in eine andere Stadt zog…
 

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Nach dem Kampf gegen den neunten Engel war der Rest der schulfreien Woche für die Children eine mehr als willkommene Auszeit, obgleich die Zeit, die sie im Schwimmbad, in ihren Betten oder sonst wie auf der faulen Haut liegen konnten dadurch begrenzt wurde, dass Misato ihnen gelegentlich boshaft grinsend ihre Schulbücher entgegen hielt und mit Taschengeldentzug und zusätzlicher Hausarbeit drohte.

Shinji machte sich recht gewissenhaft an die Arbeit, und auch Asuka zeigte sich bald einsichtig, auch wenn es wohl nur daran lag, dass sie zu stolz war, um weitere schlechte Noten hinzunehmen.

Als die Schule zu Beginn der nächsten Woche dann wieder losging, merkte Shinji zwar, dass er immer noch deutliche Wissenslücken hatte, aber immerhin hatte er jetzt so in etwa eine grobe Ahnung davon, wovon die Lehrer da vorne denn sprachen.

Anders als sie es erwartet hatten, blieb es ihnen auch erspart, die Einzigen zu sein, die bei den neusten Gesprächsthemen nicht mitreden konnten – allerdings war das für die Children kaum ein Grund zur Freude, denn der Grund dafür, dass nicht alle dabei waren, sich über die spannenden Erlebnisse auf der Klassenfahrt auszutauschen war, dass die meisten Schüler hier die Kinder von NERV-Angehörigen waren… und von ihren Eltern so ganz beiläufig etwas über Shinjis jüngste „Heldentat“ erzählt bekommen hatten.

Die Meinungen der Schülerinnen und Schüler waren geteilt – Einige fanden den Gedanken, dass die als Schulschwärme geltenden Piloten vergeben sein könnten, ganz erbaulich, weil sie hofften, so selbst mal vom anderen Geschlecht beachtet zu werden, bei anderen verursachten die Neuigkeiten hingegen kollektives Seufzen, wie sie doch alle gehofft hatten, selbst einmal das Herz von einem der Beiden erobern zu können… worin sie sich aber alle einig waren war, dass sie nur, weil Shinji sie nicht hatte in den Vulkan plumpsen lassen, wohl direkt ein Paar sein mussten… oder, dass es zumindest ganz lustig sein würde, die zwei zu ihrem großen Leidwesen damit aufzuziehen. Das da irgendwo etwas Wahres dran war, machte es nur noch schlimmer – Selbst bei Touji und Kensuke war Shinji nicht mehr sicher – „Verräter! Das du während wir weg sind, mit dem Feind anbändelst, hätte ich dir echt nicht zugetraut!“ scherze Kensuke. „Ich wusste es! Einmal Partnerlook, da hätte ich euch die Ausreden noch geglaubt, aber zweimal…“

„Asuka kann mich doch nicht mal ausstehen.“ Hatte Shinji darauf nur geantwortet, sich selbst direkt wieder dafür verfluchend, das der Klang seiner Stimme es sehr offensichtlich gemacht hatte, das er sich sehr wünschte, dass es anders wäre.

Doch das hatte Toujis Grinsen keinen Abbruch getan, sondern es nur noch verbreitert: „Ach, mach dir da mal keine Sorgen! Was sich neckt, das liebt sich! Selbst die schönsten Traumpärchen haben mal Ehekrach!“

Nach dem Gekicher, dass darauf folgte, wurde das mit dem Ehekrach zu einem Running-Gag, nein, es verselbstständigte sich gar als Meme durch die ganze Schülerschaft; Selbst Nagato, der bei den Scherzereien sonst so gut wie nie mitkicherte, gegen Klatsch und Tratsch eigentlich eine Abneigung hatte und sich dafür entschuldigte, die Ereignisse des Kampfes allzu voreilig herumerzählt zu haben, merkte in einem ruhigen Moment an, dass er sich nicht schämen musste und das Asuka ja doch nicht ganz so schlimm sei – Shinji interpretierte das mal als Nagatos ungelenken Versuch, einen Witz zu reißen.

Er war darin weder erfahren noch gut.

Was wohl kaum erwähnt werden musste war, das Asuka über das Getuschel, dass sie nun in allen Ecken und Ritzen hinter ihrem Rücken zu hören bekam, ganz und gar nicht erfreut war, und ihren Ärger darüber selbstverständlich gehörig an Shinji ausließ.

Doch wie das mit Klatsch und Tratsch so war, hatte diese ganze Geschichte keine lange Halbwertszeit, insbesondere, da Shinji und Asuka dadurch, dass sie sich überhaupt nicht wie ein Paar verhielten, keinen neuen Gesprächsstoff lieferten und obgleich Touji sie in seiner Funktion als Klassenclown immer noch gelegentlich wegen ihrem „Ehekrach“ aufzog, so fand zumindest der grobe Rest der Schule bald etwas anderes, über das sie sich die Mäuler zerreißen konnten und so war gegen Mitte der Woche auch schon wieder Normalität eingekehrt, sowohl in der Schule, als auch im Katsuragi-Haushalt.

Das hieß, dass auch die Morgenroutine sich wieder eingependelt hatte: Shinji war meist als erster auf den Beinen, entweder, weil er der einzige in diesem Haushalt war, der seinen Wecker weder kunstvoll ignorierte noch gewalttätig behandelte, oder weil ihn eine dieser Visionen aus dem Schlaf gerissen hatte, und zog sich zumeist direkt wieder seine Schuluniform über.

Da Asuka dazu tendierte, das Bad zumeist für den Großteil des Morgens zu blockieren, hatte er sich angewöhnt, seinen Kamm in seinem Zimmer aufzubewahren, um seine Haare in Ordnung bringen zu können ohne eine halbe Stunde warten zu müssen.

Nachdem das erledigt und seine Schulsachen gepackt waren, ging es ab in die Küche, wo er sich zumeist rasch seine Schürze überzog (Egal, wie sehr Asuka ihn deswegen auch aufziehen mochte, er wollte nicht dass seine Schuluniform schon fünf Minuten nachdem er sie angezogen hatte von oben bis unten von Flecken bedeckt war.) und sich an die Produktion des Frühstücks machte, damit es auch schön fertig war, wenn die beiden Damen sich irgendwann mal an den Tisch bequemen würden – zumindest bei Asuka würde das wohl noch eine Weile dauern, zumal er sie gerade erst im Vorbeigehen fröhlich summend das Bad betreten hören hatte.

Heute gab es Spiegelei mit Salat und Würstchen mit dem obligatorischem Schüsselchen Reis und einem Süppchen als Vorspeise – Ein Zwei-Gänge-Frühstück, wie es den Rettern der Erde gebührte. Für Misato stand selbstverständlich auch noch eine Dose Bier auf dem Tisch.

Langsam, so glaubte Shinji, hatte er den Dreh mit dem Kochen so langsam oder sicher heraus, zumindest, wenn man nach Misatos Lobpreisungen ging – wobei sie natürlich schon immer seltsame Definitionen von „lecker“ gehabt hatte.

Er hoffte einfach mal, dass ihm die heutige Portion nicht allzu sehr misslungen war – Naja, das würde sich spätestens in einer halben Minute zeigen zumal Shinji kaum, dass er die erste Portion fertiggestellt und auf dem Tisch dekorativ neben der Bierdose angeordnet hatte auch schon hören konnte, wie Misato die Tür ihres Zimmers aufschob.

Auch, wenn er es zunächst nie geglaubt hätte, uns es, wenn er genauer darüber nachdachte, doch verstörend auf ihn wirkte, so nahm er doch kaum noch Notiz von der zombiehaften Art, auf die sein leicht bekleideter Vormund noch halb schlafend zum Esstisch wankte; Die Bierdose, die sie gleich als erstes öffnete, würde das vermutlich gleich wieder richten.

Und tatsächlich folge gleich das allmorgendliche Ritual aus einem gepflegten Schluck, einem Freudenschrei inklusive kleiner Tränchen und der sofortigen Einstellung einer aufgedrehten Fröhlichkeit, auf die jedes hyperaktive Grundschulkind neidisch sein würde.

„Sag mal, Shin-chan…“ merkte sie an, während sie ohne ihre geliebte Bierdose einen Moment lang loszulassen mithilfe der anderen, freien Hand das Schüsselchen mit ihrer Vorspeise ergriff und diese probierte. „…Hast du die Suppe heute irgendwie anders gemacht?“

„Ja.“ Bestätigte Shinji mit einem Lächeln, erfreut darüber, dass seine Anstrengungen anscheinend nicht unbemerkt geblieben waren. „Es sind Fischflocken drin, die hat mir Ritsuko-san gegeben.“

Bevor Misato jedoch Zeit hatte, weitere Kommentare abzugeben, wurde die Aufmerksamkeit der beiden von einem lauten „AAAAH!“ aus Richtung des Badezimmers beansprucht, dem prompt das aufreißen mehrere Türen und eilige Schritte folgten, bis Asuka den zu einem kleinen Seitenflur mit Anschluss zum Bad hin führenden Vorhang rasch zur Seite riss, und sich sogleich ihrer Lieblingsbeschäftigung nachging: Sich über alles und jeden aufzuregen: „Warum ist das Wasser so heiß?!“

„Tut mir leid…“ gab Shinji zurück, auch, wenn er nicht so ganz begriff, warum sie sich dafür bei ihm und nicht beim Hausmeister beklagte. Er war einfach nur froh, dass sie dieses Mal zumindest daran gedacht hatte, ihre nicht jugendfreien Körperstellen notdürftig mit einem knappen, roten Handtuch zu verhüllen, zumal das Third Child nicht wirklich wild auf eine Wiederholung des schmerzhaften Zwischenfalls war, der sich kurz nach Asukas Einzug ereignet hatte.

Doch anscheinend waren seine Versuche, einfach mal brav klein bei zu geben, nicht genug um ihrem Zorn zu entkommen: Ganz im Gegenteil, das schien Asuka aus irgendeinem paradoxen Grund, den er nicht ersehen konnte, nur noch mehr zur Weißglut zu bringen: „Is ja klar, ne? Egal was los ist, du entschuldigst dich schon mal! Denkst du wirklich, alles ist immer nur deine Schuld?“

Von ihrer Perspektive aus sah es so aus: Sie stand auf den coolen, entschlossenen Shinji, nicht auf die lahmarschige Facette seiner Persönlichkeit, die er meistens zur Schau stellte. Sie wollte ihn also mit ein bisschen Provokation und „gutgemeinten Ratschlägen“ dazu bringen, seine attraktive Seite zu zeigen – Natürlich war sie da etwas mit sich im Zwiespalt; Einerseits wurde so ein Weichei nie einen ersthaften Rivalen für sie darstellen, und sich nach Belieben von ihr rumschubsen lassen, (Zum Beispiel wenn sie, wie jetzt, ihren Frust über das Getuschel in der Schule abreagieren wollte) andererseits müsste er deutlich erwachsener und männlicher werden, damit ihr Stolz ihn akzeptieren konnte… und das wollte sie eigentlich gerne.

Nur leider machte er es ihr mit seinem hilflos-vorsichtigem „Uhm…“ nicht gerade leichter.

„Bei dir ist das ja fast schon so etwas wie ein Reflex. Hast wohl Angst, gesagt zu kriegen, dass du was vergeigt hast, huh, Papasöhnchen? Na dann sorry, aber das kann ich dir nicht ersparen. Wenn du dich unbedingt für etwas entschuldigen willst, dann entschuldige dich dafür, dass mir das Shampoo ausgegangen ist! Ich hab dir doch gesagt, dass du welches kaufen sollst!“

„Aber es ist doch noch welches da…“

„Bist du bescheuert oder was? Erwartest du wirklich, dass ich denselben Schrott benutze, wie du und Misato?“ Sie hätte ja wenigstens erwartet, dass er sich zumindest ein richtiges Männershampoo zulegen könnte. … „Ich gab doch einen ganz anderen Haartyp, und außerdem braucht es schon hochwertige Pflege, um so aussehen zu können!“

„Uh… Tut mir leid…“

„Und du tust es schon wieder! Hast du Idiot mir denn auch nur eine Sekunde lang zugehört?“

„Ach, lass ihn nur.“ Mischte sich Misato abwinkend ein, der das Ganze dann doch langsam zu bunt wurde. „Das ist eben einfach Shin-chans Art.“

„Seine Art?“ empörte sich Asuka, den Zeigefinger ohne Scheu direkt auf ihren Vormund richtend. „Wäre es denn nicht deine Aufgabe, ihn zu erziehen, hm? Du bist viel zu sanft mit ihm! Hach, alles muss man selber machen! Was würdet ihr alle nur ohne mich tun!“ schimpfte sie, ein herablassend-frustriertes Seufzen von sich gebend, bevor sie sich nun wieder ihrem Mit-Piloten zuwendete und als nächstes ihm den Zeigefinger präsentierte.

„So, jetzt hör mal ganz genau zu, du Papakind! Wenn du immer sofort aufgibst, dann wird sich nie etwas ändern! Wenn nicht mal du für das einstehst, was du für richtig hältst, und andere beliebig auf dir rumtrampeln lässt, ist das doch nur ein Beweis dafür, dass du dir selbst überhaupt nichts zutraust!“

Hach, das fand Misato ganz süß, Asuka die große Pädagogin. Jetzt meckerten nicht nur Ritsuko, sondern auch noch die Kinder selbst an allem herum, was sie tat. Fehlte nur noch, dass sie den armen Shinji auf eine Couch setzte und begann, eine Psychoanalyse von ihm zu erstellen. Nur schade, dass Asuka bei all ihren großen Reden und Beschwerden nie Zeit blieb, um sich mal an die eigene Nase zu fassen. Es stimmte schon, das Shinji ein wenig mehr Selbstvertrauen brauchen konnte, aber Asukas eigenes Ego schien deutlich einer Kürzung zu bedürfen…

„Weißt du, wie man einen Kerl nennt, der nicht für das einstehst, was er für sein gutes Recht hält?“ setzte sie zeigefingerschwingend fort. „Einen Feigling nennt man das! Und es gibt wirklich nichts Widerliches auf dieser Welt als feige kleine Jungs. Deshalb habe ich auch nur Interesse an richtigen Männern! Kapischt? Kapitsch?!“

“Uh… Tut mir leid…” entgegnete Shinji, der Asukas “Dressurversuche” als Unterstreichungen seiner Chancenlosigkeit wertete und davon ausging, dass sie spätestens im nächsten Satz damit beginnen würde, von Kaji zu schwärmen.

Asuka war von seiner Reaktion ihrerseits keinesfalls beeindruckt: „Also wirklich…!“

„Oh!“ kommentierte Misato dann belustigt, die Rothaarige mitten im Satz unterbrechend. „Dein Handtuch ist verrutscht.“

Natürlich konnte es dafür, dass Shinji Asukas aus einer Mischung ihres aufgebrachten Zustandes und ihrer üblichen Unachtsamkeit resultierendes Missgeschick nicht in einem plötzlichem Anflug hellseherischer Kräfte vorausgesehen und präemptiv den Kopf zur Seite gedreht hatte, nur eine mögliche Strafe geben: Eine Ohrfeige quer übers Gesicht!

Dass es keinen Roundhousekick gab, lag einzig und allein daran, dass er ihr neulich das Leben gerettet hatte.
 

Und tja, so kam es dann eben, dass das arme, bedauernswerte Third Child mit einem deutlich sichtbarem Handabdruck im Gesicht zur Schule gehen musste – wenn er diese denn erreichen sollte, ohne vorher angesichts der Peinlichkeit der Angelegenheit und dem obligatorischen Getuschel im Erdboden zu versinken…
 

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„Projekt Kronos, hm?“

Kaji wurde aus den Piktogrammen auf seinem Bildschirm nicht schlau.

Hier, in seiner stillen Dunkelheit, umgeben von Kabeln, die mit ihren roten und blauen Farben sowie der klebrigen Kühlflüssigkeit, die ihre Oberflächen glänzend bedeckte, schon beinahe wie die Adern eines lebenden Wesens wirkten, war es ihm gelungen, auf der höchsten Geheimhaltungsstufe der Datenbank zuzugreifen und jede noch so gut versteckte Datei hier sehen zu können – Sehen, aber nicht öffnen; Die gute alte Rit-chan hatte hier keine halben Sachen gemacht, jeder Ordner in diesem Verzeichnis bedurfte noch wenigstens einiger dutzend Passwörter, damit jemand, der darauf Zugriff, sie auch lesen konnte.

Die Antworten zu erlangen würde wohl nicht so einfach werden, wie er sich das gedacht hatte, aber immerhin hatte er in Form der Namen der Ordner sozusagen eine Liste mit Suchbegriffen und einen ungefähren Überblick darüber, wie viel Wissen ihm da verborgen blieb… Auch, wenn die Namen der Projekte nicht allzu aufschlussreich waren. Sie waren alle nach Gottheiten oder symbolisch-mythologischen Andeutungen benannt, die ihm höchsten den Größenwahn der Autoren beschrieben.

Dennoch. Während die meisten Ordner entweder im Zeitraum nach dem Angriff des dritten Engels erstellt worden waren, oder schon mehrere Jahre alt waren, so waren die ältesten Dateien in diesem „Projekt Kronos“-Ordner schon ein paar Wochen vorem ersten Angriff erstellt worden – Das war eine Auffälligkeit, der nachzugehen war.

Vielleicht, so dachte er, ließ sich dort eine Erklärung darauf finden, wieso das Third Child mit so einem höllisch guten Timing gefunden und herbestellt worden war…

Zwei Wochen vor dem Kampf… war in diesem Zeitraum denn irgendetwas vorgefallen?
 

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Obwohl sie die hiesige Schuluniform zwar bestellt, aber noch lange nicht geliefert bekommen hatte, und daher keine Wahl hatte, als erst einmal provisorisch in der Uniform ihrer alten Schule zu erscheinen, schien sie kaum jemand wirklich zu bemerken, und das, obwohl sie das Gefühl hatte, eher durch den Raum zu schwimmen als zu laufen; Die fremde Luft der unbekannten Räumlichkeiten war für die vorsichtigen, unsicheren Schrittchen ihrer stets nahe beieinander bleibenden Füße eher wie eine zähe Flüssigkeit, die sie nur mit Mühen, Nöten und größten Anstrengungen durchqueren konnte.

In einem Moment fühlte sie sich von den vielen Jugendlichen in den Uniformen ihrer zukünftigen Schule die alle in dieselbe Richtung unterwegs waren, regelrecht bedrängt, schon allein, weil sie, je näher sie dem Schulgebäude kam, immer zahlreicher wurden und stetig miteinander tuschelten. Hatten sie gehört, dass sie eine neue Mitschülerin bekommen würden? Fragten sie sich, was zur Hölle sie hier wollen? Machten sie sich vielleicht insgeheim über ihr Aussehen lustig? Oh, wie sie es satt hatte, von anderen gesehen zu werden… Doch während sie in einem Augenblick noch die Blicke auf ihrem Rücken brennen zu spüren glaubte, so begann sie schon im nächsten zu zweifeln, ob sie denn überhaupt von irgendjemand bemerkt worden war. War sie denn nicht völlig unscheinbar, wenn nicht beinahe unsichtbar?

Standen die anderen denn nicht stetig als Grüppchen zusammen, tief in ihre Gespräche versunken, an denen sie es nicht wagen würde, teilzunehmen, weil ihr die Stimme nach der ersten Silbe schon versagen würde, wie sie es schon so viele andere Male an vielen anderen Schulen getan hatte. Gerade, weil sie wusste, dass sie das nicht hinkriegen würde, wenn sie die erstmals interessierten, anderen Mädchen, die schön und beliebt waren, Dinge fragten, hatte sie gelernt, sich in den Schatten zu halten und einen gepflegten Abstand von allen zu halten, die sie in ein Gespräch verwickeln könnten. Oh, wie sie sich selbst satt hatte.

Ihre inneren Leiden und Unsicherheiten blieben der Außenwelt verborgen; Alles, was sie sahen, war ein stilles, seltsames Mädchen, dass im besten Falle einen flüchtigen, nie jedoch einen zweiten Blick wert war. Das war es doch, was alle von ihr sahen, ihre Oberfläche, ihren hässlichen Körper, ihre unbeholfenen Gesten und ihre leise Stimme.

Nach dem ersten Eindruck hatte sie schon verloren, und sie hatte nie gelernt, wie man diesen richtig hinbekam. Deshalb war es auch an jeder Schule das gleiche – Sie hatte nicht lange gebraucht, um zu merken, dass sie das Problem war, und nicht die anderen.

Sie war höchst selbst daran schuld, dass niemand das langsame Verglühen ihrer Seele sah, als sie das Schulgebäude betrat und glaubte, genau zu wissen, was sie darin erwartete.

Sie hatte sich ja selbst verborgen, und sie fragte sich, warum sie darin nicht konsequenter war, und gleich in ihrem Bett liegen geblieben war, statt hierher zu kommen um das unausweichliche zu erleiden.

Sie hätte einfach sagen können, dass es ihr heute schlecht ging, und es wäre keine so große Lüge gewesen. Selbst jetzt glaubte sie, in sich das Pochen spüren zu können, das alles Leben so unheimlich langsam aus ihr herauszupumpen schien. Sie konnte nicht sagen, warum, aber seid die in dieser Stadt angekommen war, schien es nur schlimmer und schlimmer zu werden.

Aber es war am Ende nur ein Unwohlsein, kein wirklicher, akuter Schmerz der es gerechtfertigt hätte, ihrem Vater kummer zu machen und zuhause zu bleiben, sodass er sich am Ende noch verpflichtet fühlte, bei ihr zuhause zu bleiben…. Nein, sie wollte niemals mehr irgendjemandem zur Last fallen.

Also schritt sie einfach in die Eingangshalle der Schule hinein wie es von einer braven Tochter erwartet wurde und suchte nach dem Schuhfach mit der Nummer, die ihr zugewiesen worden war. Während sie sorgfältig und immer in der Angst, irgendetwas kaputt zu machen, das Fach öffnete und die für den Gebrauch innerhalb des Gebäudekomplexes gedachten Schuhe zaghaft und unter dem Gebrauch von so wenig Fingern wie möglich (Vielleicht, weil es ihr irgendwo „falsch“ vorkam, Dinge mit ihren Fingern zu beschmutzen) daraus entfernte, hörte sie entfernt das Gespräch einer Gruppe von vier Schülern mit, zu denen gerade ein Fünfter hinzugestoßen war.

„Guten Morgen, Ikari-kun!“ grüßte die einzige weibliche Stimme, die in der Richtung dieser Ansammlung zu vernehmen war. Ikari-kun. Auf ihrem Weg hierher hatte sie diesen Namen schon aus den Mündern zahlreicher anderer Mädchen gehört, die ihn teils deshalb wegen seiner „Niedlichkeit“ angehimmelt hatten – Schon allein die Tatsache, dass sie möglicherweise mit dem örtlichem Schulschwarm im selben Raum war, erfüllte sie mit dem Wunsch, plötzlich zu Stein erstarren zu können und war wohl auch der Grund, weshalb sie es tunlichst vermied, sich umzudrehen, während sie sich ihre Straßenschuhe auszog und die für die Schuhe bestimmten überzog, ganz nach der Vogel-Strauß-Technik hoffend, dass sie so selbst niemandem ins Auge fallen könnte. Schon, dass das Gespräch hinter ihrem Rücken weiterging, reichte, um ihr Gesicht mit Schamesröte zu füllen. Es war nicht so, dass sie absichtlich gelauscht hatte… sie war wirklich nur zufällig in der Nähe… und die Qualität der wackeligen Rechtfertigungen, die sie sich selbst haufenweise auftischte, erfüllten sie mit Scham.

„Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?“ fragte einer der Jungen hinter ihr neckisch. Dieser hatte einen dicken Osaka-Akzent, der, der als nächstes sprach, dagegen nicht, was nichts daran änderte, dass er mit derselben freundschaftlich-provokanten Art sprach: „Hattest du wieder Ehekrach mit Asuka?“

Asuka war auch ein Name, der in den Gesprächen ihrer neuen Mitschüler häufig aufgetaucht war. Ob das wohl die Freundin dieses beliebten Jungens war?

Nein, daran war etwas falsch.

Als sich das einsame Mädchen von den Schränken abwendete, um sich auf die Suche nach ihrem Klassenzimmer zu begeben, streifte ihr Blick kurz die zusammenstehenden Jugendlichen – jedoch nicht, ohne dass ihr dabei ein leises, aber deutlich hörbares „Huch?“ entfuhr, für dass sie sich sogleich schämte, und zutiefst hoffte, dass es keiner gehört hatte. Sie wollte ja wirklich keinen belauschen, oder… irgendwem hinterherspionieren oder anstarren…

Aber dennoch konnte sie nicht anders, als sich zu wundern. Dieses Grüppchen was da zusammenstand, setzte sich aus sehr unterschiedlichen Menschen zusammen, die man sonst nicht auf einem Haufen vermuten würde, doch keiner von ihnen sah wirklich nach dem örtlichen Schulschwarm und seinen Freunden aus.

Sie schienen eher die Art von Mensch zu sein, die sich meist eher am Rande einer jeden Schulgesellschaft fanden: Da war erst einmal das Mädchen, das es schaffte, trotz ihrer Sommersprossen, ihren zwei Zöpfen und den niedlichen lila Dekorationen daran etwas autoritäres an sich zu haben. Und dann der Junge mit dem Akzent, den man ohne großes überlegen als den örtlichen Klassenclown klassifizieren konnte. Er war zwar recht hoch gewachsen, gut gebräunt, scheinbar nicht ohne Muckis und trug sein kurzes, schwarzes Haar als eine moderne Gelfrisur, aber was das an Coolnesspunkten hinzufügte, machten das breite Grinsen, die abstehenden Ohren, und nicht zu Letzt die um den Kopf getragene Trageschlaufe seiner Schultasche wieder zu Nichte, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er es nicht für nötig hielt, sich an die Kleiderordnung zu halten, und natürlich von seinem vormals erwähnten Akzent. Und dann war da auch noch der etwas klein geratene, sommersprossige Brillenträger mit der schlabbrig getragenen Uniform und der rundlichen Nase, der auch nicht gerade den gegenwärtigen Schönheitsidealen entsprach.

Dann war da noch ein vierter Junge mit einem auffälligen, dicken Kopfverband, der zwar nicht klein, dafür aber eher schlaksig war. Mit den stylischen, kinnlangen schwarzen Haaren hätte der noch am ehesten in das Beuteschema der meisten gewöhnlichen Mädchen der heutigen Tage gepasst, aber die Tatsache, dass er bis jetzt wenig gesagt hatte und deutlich ernster wirkte als seine schadenfrohen Freunde, deuteten an, dass auch er nicht so gerade der typische Gruppenmensch war.

Es war jedoch dieser Ikari-kun selbst, der das stille Mädchen am Rande am meisten überraschte.

Sicher, er war attraktiv, aber es war mehr diese zerbrechliche Art von Schönheit, die man erst auf den zweiten Blick bemerkte, auf den ersten Blick wirkte er recht unscheinbar.

Er hatte mit den humorvollen, charmanten Testosteronbolzen, die für gewöhnlich als Schulschwärme dienten, nur sehr wenig gemeinsam. Normalerweise würden Mädchen, wie die, deren Unterhaltungen sie mitbekommen hatte, doch noch nicht einmal den Namen eines solchen Jungen kennen, egal, wie unfair es doch sein mochte.

Die Art, wie er da stand, das Uniformhemd feinsäuberlich in die Hose stand, die Hände nah am Körper haltend, als wüsste er nicht genau, was er damit machen solle… die offensichtliche Verlegenheit, mit der er auf die Scherze seiner Freunde reagierte…

Er sah eher wie jemand aus, der das Rampenlicht meiden würde, wie die Pest.

Er sah fast schon aus… wie jemand wie sie selbst.
 

„So… so war das gar nicht, Kensuke… Es war eigentlich, so das-“ begann er freundlich bleibend, aber sich doch sichtlich unwohl in seiner Haut fühlend, in der Hoffnung, das Missverständnis aufzuklären, bevor irgendjemand einen falschen Eindruck bekam.

Doch dieses Glück sollte ihm nicht gegeben sein.

Denn bevor er mit der eigentlichen Erklärung beginnen konnte, fiel ihm ein offensichtlich recht frustriertes, ärgerliches Mädchen ins Wort, das die Eingangshalle scheinbar gerade betreten hatte.

Sofort begriff die einsame junge Dame, die das ganze aus der Ferne betrachtete, das dies diese Asuka sein musste – Sie hatte langes, rotes Haar mit ein paar seltsamen Spangen darin, wie sie sie noch nie irgendwo gesehen hatte. Ihrem Aussehen nach zu urteilen musste sie wohl ein paar Ausländer in ihrer Ahnenreihe haben, wahrscheinlich Mitteleuropäer oder Amerikaner.

Doch noch klarer als das war Tatsache, dass sie die Sorte von Person war, diesich immer direkt holte, was sie wollte, und nie damit zögerte ihre Meinung zu sagen – ohne Rücksicht auf Verluste. Die Art von beliebter, erfolgreicher Schülerin, der die Neue nie etwas entgegenzusetzen haben würde. Ja, sie selbst war eine gute Schülerin, aber wenn man dazu noch so war wie der stille Neuzugang, dann war man nur eine Streberin, deren Schüchternheit oft mit Arroganz verwechselt wurde. Diese Asuka war anders.

Das war eine von der Sorte, die alle bewunderten. Die Sorte, die sich über die hässlichen, unbeliebten Mädchen den lieben, langen Tag lang lustig machte…

Ihre direkte Art verstärkte ihre natürliche Attraktivität noch.

Wenn das seine Freundin war, dann konnte der Rest der Schule definitiv packen…

Aber glücklicherweise (?) machte es überhaupt nicht den Anschein, als seien die Beiden zusammen – Ganz im Gegenteil. So, wie der Rotschopf schnurstracks auf ihn zumarschierte und sich in einer solchen Nähe direkt vor ihn stellte, sah es eher so aus, als sei er eines der regelmäßigen Opfer auf ihrer Piesackungs-Liste – oder aber sie war zur Zeit einfach nur ziemlich wütend auf ihn und machte kein Geheimnis daraus – Sie hatte keinen Grund dazu.

„So war es nicht? So war es nicht?” wiederholte sie, die Worte scheinbar als beleidigend wertend. „Ich sage euch, wie es war: Dieser Spanner hier hatte heute Morgen das Glück, mich nackt zu sehen!“

„W-Was? Stimmt das etwa, Shinji?” hakte Kensuke augenblicklich nach.

Interessanterweise klang er dabei irgendwie eher neidisch als entsetzt.

„Also, das war… uhm… ein Unfall…“

„Also wie jetzt?” fragte Kensuke noch mal leicht quengelnd nach.

„Uh, das war ja eigentlich… Shikinami-sans eigene Schuld, sie hat…“

„Faule Ausreden!“ entgegnete das Second Child. „Wenn du mich angafft hast, hast du mich angegafft!“

„Schon, aber…“

„Ich hätte doch eigentlich für einen besseren Menschen gehalten, Ikari-kun.“ Begann sich Hikari im Hintergrund bereits zu empören. Die Situation sah für Shinji gar nicht gut aus… das war doch alles nur ein einziges, großes Missverständnis, und Asuka machte es nur noch schlimmer und schlimmer… Vielleicht, weil sie deutlich zementiert haben wollte, dass sie beide kein Paar waren, was den männlichen EVA-Piloten, der sie ja schon irgendwo heimlich verehrte, nicht wirklich tröstete.

„Pah!“ setzte Asuka die Kommunikation ihrer Abneigung fort. „Wenn du aus freien Stücken nicht weggesehen hast, ist und bleibt es dein eigenes Vergehen!“

„Uhm... aber-uhm?“

Da Asuka darauf bestanden hatte, mehr und mehr seines Blickfeldes mit ihrem niedlichen, aber eindeutig wütendem Gesicht zu füllen, bemerkte er diesen kleinen Spritzer Blau am Rande nur so durch den Augenwinkel. Als er aber die tödliche Bedrohung direkt vor seiner Nase zur Abwechslung mal zugunsten seiner Neugier vergaß, entdeckte er jenseits von Asukas Feuerrotem Haarschopf keine geringere als Ayanami Rei.

Sie lief nicht besonders schnell, aber doch gleichmäßigen Schrittes dahin, mit ihrer Schuluniform bekleidet und ihre Tasche bei sich tragend. Sie blickteschnurstracks nach vorne, ohne sich von irgendetwas ablenken zu lassen, als würde sie keine anderen Richtungen kennen.

Obwohl sie genauso wenig auf die Klassenfahrt gefahren war wie er oder Asuka, hatte er auch sie die ganze Woche lang fast gar nicht gesehen, und wenn, dann nur kurz bei den Synchrontests oder eben damals in der hauseigenen NERV-Schwimmhalle, wo er schon mal darüber nachgegrübelt hatte, dass er seinen Wunsch, ihr näher zu kommen nicht allzu effektiv in die Tat umgesetzt hatten.

Nach dieser Sache auf dem Futagoyama waren alle möglichen Gefühle da gewesen und er hatte es im Eifer des Gefechtes geschafft, ehrlich mit ihr zu sprechen und ihre Hand zu nehmen, aber in einer normalen Situation auf sie zuzugehen, fiel ihm deutlich schwerer, und so, wie er Rei mittlerweile kannte, würde sie wohl auch kaum von sich aus auf ihn zugehen…

Wie so oft schaffte es Shinji einfach nicht, nach dem ersten Schritt auch noch den zweiten zu tun und stand wie festgefroren in der Türschwelle, unfähig sich dafür zu entscheiden, weiter zu gehen und sie zu kontaktieren, ohne dafür auf einen Vorwand zu warten… und ehe er sich versah, waren schon mehr als drei Wochen vergangen… Zugegebenerweise hatten sie sobald die Schule angefangen hatte, wieder mit ihren kurzen, morgendlichen Dialogen begonnen… Es waren ruhige, angenehme, stille Momente in seinem turbulenten Alltag, der ja sehr von aufgedrehten Leuten wie Touji, Asuka und Misato geprägt war, aber das änderte nicht daran, dass es selten über „Hallo, wie geht’s dir?“ und dergleichen hinausgegangen war. Gestern hatte Rei die Frage an ihn zurückgegeben. Das war vermutlich ein Erfolg, aber kein besonders großer, zumal seine Antwort nicht besonders kohärent gewesen war.

Heute schien es damit jedoch nichts zu werden, denn obwohl er sie dahinschreiten sah, schien sie nicht vorzuhaben, in die Richtung des Eingangsbereiches der Schule abzubiegen, sondern lief an dem Zaun entlang, der das Gelände begrenzte – Was die Frage aufwarf, weshalb sie überhaupt hier war…

„Hey! Papasöhnchen! Hörst du mir überhaupt zu, wenn ich mit dir rede? Wo guckst du da eigentlich hin?!“

Wenn es etwas gab, das Shikinami Asuka Langley auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann war das, ignoriert zu werden. Einfach nur die Tatsache, dass irgendetwas interessanter sein könnte, als sie, dass er der Junge, für den sie Gefühle hegte, einfach an ihr vorbeiblickte.

„Uhm… Da hinten ist Ayanami…“

Jetzt doch etwas aus dem Konzept gebracht drehte sich Asuka kurz um – und erspähte das First Child, wie sie fast schon mechanisch ihres Weges ging, ihren Befehl ausführend, ohne sich die Zeit zu nehmen, ihnen auch nur Hallo zu sagen.

„Wo geht sie denn hin?“ fragte das third Child, anscheinend selbst darüber nachgrübelnd.

Inakzeptabel! Zugunsten dieser… dieser eingebildeten Tuss ignoriert zu werden, war das letzte, was sie an diesem Tag brauchen sollte… Nicht nur schien dieser Hohlkopf ihr Winken mit dem Zaunpfahl nicht zu verstehen, nein, er wagte es auch noch, sie während sie vor ihm stand einfach zu ignorieren! Wegen ihrer ärgsten Feindin! Wollte er etwa unbedingt noch eine Ohrfeige?

„Die kommt heut nicht in die Schule, die ist nur hier, weil hier in der Nähe ja ein Zugang zur Geofront ist. Unser Prinzesschen wird heute für ein Aktivierungsexperiment mit Einheit Null gebracht. Anscheinend haben die den Schrotthaufen endlich wieder zusammengebastelt, auch, wenn man sich fragen könnte, ob sich das denn lohnt...“ erklärte sie.

„Aha…“

Das hieß dann wohl, dass Rei demnächst wieder mit dem Rest von ihnen in die Schlacht ziehen würde. Vielleicht standen sie dem Feind ja demnächst zu dritt gegenüber.

Das war gut, reichlich Unterstützung zu haben.

„Hey! Du ignorierst mich ja schon wieder! Und dann noch diese Nummer heute Morgen… Glaub ja nicht, dass das kein Nachspiel haben wird…!”

Da Asuka nun endgültig der Kragen geplatzt zu sein schien, fasste Touji den mutigen Entschluss, seinen Freund vor weiteren Blessuren zu bewahren, indem er ihn einfach von hinten packte, und mit seinem Arm ein gutes Stück von ihrer aufgebrachten Mitschülerin wegzog.

„Aber, aber, jetzt mal halblang, ihr beiden!“ warf er mit einem etwas gezwungenem Lächeln ein, um die Situation etwas zu entschärfen.

Kensuke, der bei der Aktion zunächst etwas fragend geguckt, dann aber recht schnell verstand, was sein Freund vor hatte, gab auch sein bestes Grinseln zu der Schow hinzu: „Genau! Ihr könnt ja später in Ruhe weiter reden, ohne dass hier ein Auflauf entsteht… Hach du liebe Zeit, es könnte ja jeden Moment zum Unterricht klingeln, nicht wahr, Nagato?“

„Uhm…“ Nagato, der insgesamt kein Freund solch großer Menschenmengen war und die ganzen Geschehnisse, die sich da vor seinen Augen vorgetragen hatten, nicht so richtig glauben konnte (Schon allein Asukas Dreistigkeit oder dieses ständige Gerede über nackte Mädchen…), beschloss nach einigem hin- und her blicken, das es das beste sei, einfach mal zu nicken.

„Da seht ihrs!“ setzte Touji hinzu, während er seinen noch immer recht eingeschüchterten Kumpeln mal ganz rasch an den Schultern packte, da er ohne die liebevollen Weisungen seiner Freunde wohl wie festgeklebt stehen bleiben würde. „Los, Shinji, lass uns gehen!“

„Uhm…“

Ohne weitere Zeit zu verschwenden machten sich Touji, Kensuke und Nagato, der sich nicht ganz entscheiden zu können schien, ob er jetzt nun verwirrt oder abgeschreckt war, erst mal daran, ihren gemeinsamen besten Kumpel in die Sicherheit zu geleiten, bevor Asuka Gelegenheit hatte, ihm das Genick zu brechen.

Davon ließ sie zwar tatsächlich ab, aber nicht, ohne ihm ein ärgerliches „Du Feigling!“ hinterherzurufen.

Hikari zog es einfach mal vor, die ganze Angelegenheit mit einem Seufzen zu kommentieren, sich ihrer Freundin zuzuwenden und das Gesprächsthema auf die allgemeine Beschränktheit männlicher Wesen zu lenken.
 

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Weil es noch im Zeitraum der Vorbereitungen lag, und sich zugetragen hatte, bevor der erste Kampf stattgefunden hatte, hätte Kaji dem Bericht über dieses Zwischenfall kaum Beachtung geschenkt, aber dieser Bericht über diesen Terroristenangriff war erstaunlich vage.

Rückfragen bei seinen Kollegen vom Innenministerium hatten seinen Verdacht nur erhärtet…

Sollte dieser „Terroranschlag“ am Ende nur eine Tarnung sein, um ein ganz anderes Geschehnis zu vertuschen? Er würde die Herren von SEELE einfach mal testen, indem er sich dumm stellte, und sich bei ihnen unter dem Vowand meldete, Belege für eigenmächtige Handlungen von Ikari gefunden zu haben. Auch, wenn sie vermutlich wieder nur in kryptischen Metaphern sprechen würden… wenn es eine Chance gab, dass sie ihm etwas verrieten, musste er sie nutzen…
 

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„Ach ja, Leute, habt ihr schon gehört, dass wir heute eine Neue bekommen sollen?“ warf Kensuke dann beiläufig in die Konversation ein, welche die vier Jungs auf dem Weg zum Klassenzimmer geführt hatten.

„Was, echt?“ wunderte sich Touji. „Und das, obwohl wir ja sonst eher immer weniger zu werden scheinen… Ich dachte, Nagato hier wäre definitiv der letzte, den wir je neu dazu kriegen würden…“

„Meint ihr, sie ist irgendwie in die ganze Sache involviert…?“ fragte Nagato irgendwo besorgt.

Doch Kensuke lächelte ihn nur gelassen an. „Ach was, wahrscheinlich ist es bei ihr einfach nur so wie bei uns dreien, und ihre Eltern arbeiten einfach bei NERV…“
 

Während sie sich unterhielten, bemerkte keiner von ihnen das stille Mädchen, dessen mit langen, schwarzen Socken bestückte Füße ihnen in einigem Abstand hinterhertrappelte und sie beobachtete, wie sie sie mit ihren lebhaften Gesprächen übertönten, und sich wünschte, dass sie nur einmal irgendwo dazugehören könnte…
 

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„Ich bin neu in dieser Stadt und freue mich, euch alle kennen zu lernen.“ Sagte erklärte das neuste Mitglied ihrer Klasse, nachdem sie damit fertig war, ihren Namen mit dünnen, simplen Strichen an die Tafel zu schreiben. Anders als Asuka, die ihren Namen gleich quer über die Tafel geschmiert hatte, belegte der Titel des Neuzugangs nur ein dünne, genau beschränkte Spalte, fast, als habe sie Angst, irgendwelche Grenzen zu übertreten: „Yamagishi Mayumi“

So ähnlich, so fiel es Shinji ein, hatte wohl auch sein eigener Name ausgesehen, als er vor einem Zeitraum, der sich bereits länger anfühlte, als er war, selbst neu in diese Klasse gekommen war.

Mayumi war die Sorte von Mädchen, die wohl irgendwann einmal eingeredet bekommen hatte, dass sie hässlich sei, obwohl sie wunderschön war, und sich seither wünschte, im Erdreich verschwinden zu können – Man sah es deutlich am leicht zögerlichen Klang ihrer Stimme und der offensichtlichen Nervosität, mit denen sie ihre neue Klasse musterte, während sie ihr bestes gab, um trotz ihrer Verlegenheit und Verunsicherung zu lächeln, an der Haltung ihrer Schultern und der Art, wie sich ihre Hände vor ihrem Körper gegenseitig ergriffen hielten, als wollte sie sich selbst Sicherheit spenden oder als wisse sie einfach nicht, wo sie mit den Händen selbst und dem Schweiß darauf hinsollte.

Shinji konnte sich auch gut vorstellen, wo die neue Schülerin wohl ihre sogenannten Fehler sah: Sie war ein gutes Stück größer als die meisten anderen Mädchen hier und er hätte sich nicht gewundert, wenn sie auch ihn selbst ein Stückweit überragen hätte – Größe war etwas, für das Mädchen sich bis weilen schämten, obwohl es die Männerwelt an sich eigentlich begehrlich fand, und ähnlich sah es dann wohl auch mit ihren üppigen, weiblichen Rundungen an den Hüften, wegen derer sie sich vermutlich für mollig hielt. Ihr glänzendes Haar war tiefschwarz, glatt und kurz unterhalb der Schultern wie auch in Form eines Ponys ein Stück über den Augen gerade abgeschnitten. Das meiste davon fiel ihr über den Rücken, links und rechts von ihrem Gesicht verliefen jedoch auch ein paar Strähnen an ihrer Vorderseite, deren Vorbau mit dem Rest ihres Körpers ins Verhältnis gesetzt wohl im oberen Bereich des noch als „durchschnittlich“ zu wertenden Spektrums anzusiedeln war. Die Augen selbst zeigten ein hübsches hellgrau und bedurften zur korrekten Funktion einem Paar runder Brillengläser, die sie wohl als weiteres Minus an sich empfand, ähnlich wie die recht blasse Haut an ihren schlanken Gliedmaßen und den kleinen Schönheitsfleck rechts unter ihrer Unterlippe.

In dem, was wohl die Uniform ihrer alten Schule war, und als solche aus einem grünen Faltenrock, einer weißen Bluse und einem gelben Pullunder bestand, wirkte sie irgendwie recht verloren.

Aber eigentlich, so dachte Shinji, war sie ja eigentlich wunderschön, ja, man könnte sie glatt auf die Liste der hübschesten Mädchen der Klasse setzen. Ihr irgendwo zerbrechliches Äußeres zog gemeinsam mit ihrer scheinbar zurückhaltenden Art irgendwo an seinen Beschützerinstinkten…

„Herzlich Wilkommen.“ Begrüßte sie der alte Lehrer. „Na, wo sollen wir dich hinsetzen? Ah, ich hab’s. Der Platz neben Horaki-san ist doch noch frei. Wäre das in Ordnung?“

„Natürlich.“ Bestätigte Hikari sogleich, wie immer vorbildliches Betragen an den Tag legend.

Rasch setzte sich Mayumi an ihren neuen Platz und hängte ihre Schultasche an den am Tisch befindlichen Haken, und drehte sich dann zu ihrer Nebensitzerin, um diese mit einem zaghaften, aber recht niedlichem Lächeln zu begrüßen:

„Freut mich dich kennen zu lernen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits.“ Bestätigte Hikari freundlich.
 

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Dann begann der Unterricht, der bald wie so oft auch in eine lange Erzählung aus Anekdoten ausartete, denen Shinji wohl selbst dann nicht wirklich hätte folgen können, wenn er sie nicht schon zum zigtausendsten Mal hören würde und genau wusste, dass ein netter Anteil der offiziellen Geschichte die allen hier erzählt wurde, nur Propaganda war.

Es gab so viel, das seine Gedanken beschäftigt hielt – Dass die Klasse jetzt um eine Schülerin zugelegt hatte, war nur eine dieser Sachen. Mehr aus Unachtsamkeit als aus irgendwelchen niederen Beweggründen hatte er es kaum das alle entweder in den Unterricht vertieft waren oder aber vor sich hin dösten und so höchstwahrscheinlich nicht auf ihn aufmerksam werden würden gewagt, sie noch mal näher zu betrachten – Oder zumindest hatte er das vorgehabt, denn kaum, dass er in ihre Richtung schielte, stellte er fest, dass auch sie aus irgendeinem Grund zu ihm hinübergeblickt hatte (Das er ihr schon im Eingangsbereich aufgefallen war, war ihm ja nicht aufgefallen) und seine wandernden Augen auf der Stelle zu bemerken.

Statt aber zu lächeln, einfach zurückzuschauen oder sich irgendwie aufzuregen, zeigte sich die Brillenträgerin höchst ertappt und wendete sich beschämt ab, bevor das Third Child Gelegenheit hatte, das selbe zu tun.

Na, hoffentlich hatte sie da keinen falschen Eindruck von ihm bekommen – wobei er dabei, den ersten Eindruck zu vergeigen, ja schon immer ein ganz großer Experte gewesen war – Vor Misato war er nackt aus dem Bad gerannt, Rei hatte er sogar versehentlich begrabscht, und von Asuka brauchte er wohl gar nicht erst anzufangen… Er hörte ja trotz aller Versuche, es irgendwie auszubügeln, nicht auf, sie ständig auf die Palme zu bringen…

Sich fragend, ob sie wohl noch sauer war, blickte er zu ihrem ein paar Reihen weiter hinten befindlichen Sitzplatz hinüber. Wie lange es wohl dieses Mal brauchen würde, bis sie wieder Lust bekam, in irgendeiner Form mit ihm zu reden?

Na ja, ihrer Reaktion auf sein erneutes Versagen dabei, unauffällig und diskret hinzuschauen, ließ vermuten, dass es bis dahin wohl noch eine ganze Weile dauern würde – Kaum, dass sie ihn bemerkt hatte, streckte sie ihm auch schon die Zunge raus.

Mindestens konnte er sich sicher sein, dass er am dritten Fleck in diesem Klassenraum, der seine Aufmerksamkeit auf sich zog, definitiv keine abweisende Reaktion auslösen würde… denn der Tisch dort war leer. Es war der von Rei.

Seine Besitzerin dürfte demnächst bei NERV ankommen und an diesem Experiment teilnehmen… Auch, wenn ihm der Gedanke, sie auf dem Schlachtfeld mit dabei zu haben, im Wesentlichen gefiel, so hatte er doch nicht vergessen, dass es ein solches Experiment gewesen war, bei dem sie sich die Verletzungen zugezogen hatte, mit denen er sie das erste Mal gesehen hatte… zugegeben, das letzte war gut gegangen und sie hatte schon einmal mit ihrem EVA an seiner Seite gekämpft aber er konnte doch nicht anders, als sich irgendwo Sorgen zu machen… Letztes Mal hatte das ja Nachmittags stattgefunden, da konnte er dabei zusehen, aber heute, da musste er überlegen, wie lange es wohl dauern würde, bis er von einer etwaigen Katastrophe erfahren würde…
 

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Was nur ein Vorwand und eine Lüge sein sollte, stellte sich völlig überraschend als die Wahrheit heraus – Keiner der Männer in SEELEs innerem Zirkel wusste irgendetwas über dieses „Projekt Kronos“, und so gelangte man freilich schnell zu dem Schluss, dass es tatsächlich auf Ikaris Mist gewachsen sein musste.

„Wenn das so ist, dann werde ich…-“

Kajis Angebot wurde ausgeschlagen. Anscheinend war es nicht nötig, dass er weiter handelte – Bedeutete das, dass er von den alten Männern bereits verdächtigt wurde? Nein, nein, er sollte sich deshalb nicht beunruhigen. Das war einfach nur SEELEs Arbeitsweise, siewollten ihre Untergebenen so weit wie möglich im Dunkeln lassen – Ihnen war es lieber, viele kleine Handlanger zu haben, die alle kleine Legosteinchen für etwas fertigten, für das nur sie den Bauplan hatten. So wie sich eine echte Seele nicht in irgendeinem speziellen Teil des Gehirns isolieren ließ, so waren auch SEELEs Handlanger sehr dezentral organisiert…

Aber wenn sie glaubten, die Sache aufklären zu können, ohne, dass er weiter darin involviert sein musste, dann hieß das, dass SEELE einen weiteren Agenten im Herzen von NERV haben musste… Aber wer? Wer nur?

Er hatte einfach gesagt keine Möglichkeit, das herauszufinden.

Die Sache lag nicht mehr in seinen Händen… wenn er der Wahrheit also näher kommen wollte, dann blieb ihm keine Wahl.

Er musste Ikari warnen.
 

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Früher, in den guten alten Zeiten vor dem Second Impact, so erzählten es die Legenden und die alten Kinderfilme, hatte es noch eine wundersame Sache namens „Hitzefrei“ gegeben, welche die glückseligen Schüler der Vergangenheit wie der Name schon sagte an sehr, sehr heißen Tagen von den Qualen des Unterrichts befreite.

Mit der Wettersituation, wie sie sich nach der fast apokalyptischen Katastrophe eingestellt hatte, hätte dies jedoch bedeutet, praktisch an jedem zweiten Tag den Unterricht abzublasen.

Da dies jedoch nicht als besonders sinnvoll erachtet wurde, beschloss man, dieses wundervolle „Hitzefrei“ abzuschaffen. Natürlich waren in solch einer modernen Stadt wie Neo-Tokyo-3 alle Klassenzimmer klimatisiert, aber das nütze Shinji, Touji und Kensuke herzlich wenig, wenn sie draußen Sportunterricht hatten.

Nagato hatte da wohl Glück im Unglück gehabt und war aufgrund seiner Kopfverletzung immer noch vom Sportunterricht ausgeschlossen, wobei es Shinji doch irgendwo fragte, ob die besagte Verletzung nicht irgendwann mal verheilt sein müsste – Er konnte sich nicht entsinnen, das der Kopfverband des jüngeren Mitsurugi in der ganzen Zeit, die er diese Schule jetzt schon besuchte, nennenswert dünner geworden wäre.

Auch, wenn Shinji zugegebenermaßen keine Ahnung davon hatte, wie lange so eine Verletzung eigentlich brauchte, um zu heilen… oder was für eine Verletzung das überhaupt war.

So oder so, das Endergebnis war, das Shinji und seine Freunde nur zu dritt unten in der Sonne brutzelten – wobei Nagato dabei zu haben möglicherweise auch bedeutet hätte, dass dieser etwas dagegen gehabt hätte, dass sich der Rest von ihnen am imposanten Anblick der oben am schuleigenem Schwimmbecken beschäftigen Mädchen labte, nachdem sie nach mehreren Runden um den Sportplatz verschwitzt auf die Ersatzbank gesunken waren.

„Immer dieser Dauerlauf!“ beklagte sich Touji. „Wenn ich bedenke, dass die Mädchen schwimmen und die von der Para-Klasse Basketball spielen, wird ich richtig grün vor Neid!“

„Ach ja, Leute…“ begann Kensuke dann. „Habt ihr euch schon überlegt, was ihr wegen dem Schulfest für ein Projekt vorstellen wollt…?“

„Ach, das ist den Aufwand nicht wert…“ meinte Touji. „Unsere Väter sind eh viel zu beschäftigt, um dort aufzukreuzen…“

„Das mag stimmen, aber was ist denn mit einer bestimmten Person, die ganz bestimmt dort aufkreuzen wird?“

„Welche Person denn…?“

„Na, Misato-san natürlich! Sich um den ganzen Schulkram von unserem Kumpel hier zu kümmern, ist doch praktisch ihr Job.“

Bei der Erwähnung des M-Wortes wurde Touji sofort hellhörig: „Was, wer?! Das ändert die Sache natürlich bedeutend…“
 

Spätestens ab da hatte Shinji, der ohnehin sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen war, nicht mehr so ganz zugehört, sondern seinen Blick nach oben zu den Mädchen gerichtet, wie sie in ihren Badeanzügen ins Wasser hüpften, darin auf verschiedene Art und Weise herumschwammen oder sich einfach nur unterhielten.

Rei war, selbstverständlich, nicht dabei.

Aber ähnlich wie sie damals fiel ihm dieses Mal Mayumi auf – Sie war nicht im Abseits, sondern stand wie alle anderen die auf ihren „Einsatz“ warteten in der Schlange, aber sie schien mit niemandem ein Gespräch zu führen und hatte den Blick gesenkt, als würde sie jetzt überall lieber sein als dort unter all diesen Menschen… Sie wirkte einsam, es war zu erwarten, dass sie die anderen wahrscheinlich gerne ansprechen würde, genauso, wie er gerne auf Rei zugehen würde… Sie stand zögernd in der Türschwelle und brachte es nicht fertig, einen Schritt nach dem anderen zu tun.

Deshalb war sie auch noch genauso allein, wie er es in seinen ersten paar Wochen in dieser Klasse gewesen war. „Die Neue… Sie scheint mir irgendwie ähnlich zu sein…“

Nur, dass er jetzt einen ganzen Haufen von Leuten um sich hatte, und sie noch alleine dastand.

Und Shinji wusste genug darüber, wie es war, alleine dazustehen, um zu dem Schluss zu kommen, dass niemand so etwas verdient hatte…

Doch egal was für ein halbfertiger Entschluss sich da zusammengeballt hatte, als er diese Worte dachte, es löste sich alles in Luft auf, als Mayumi ihn urplötzlich bemerkt zu haben schien. Sie drehte sich in seine Richtung, zuckte zusammen und entfernte sich schnellst möglichst aus seinem Blickfeld.

Na toll, noch ein Mädchen, dass ihn noch am Tag ihres Kennenlernens schon für einen absoluten Perversling halten würde… Entmutigt senkte er den Kopf…

„Na, was gibt’s denn da so interessantes zu gucken?“ fragte Kensuke, der wohl gemerkt hatte, dass das Third Child dem Gespräch zwischen ihm und Touji nicht mehr so ganz zuzuhören schien, aber nicht mitbekommen zu haben schien, was sich gerade zugetragen hatte.

„Uhm… nichts weiter…“ antwortete er.

Da es bei seinen Freunden wohl Fragen aufgeworfen hätte, wenn er den Kopf weiterhin hängen lassen hätte, und er nicht wirklich darüber reden wollte, entschied er sich, einfach mal anzusehen, was auch immer Touji gerade ansah – auch, wenn Shinji nicht erwartet hätte, dass dessen Blickrichtung ziemlich genau bei eben der Klassensprecherin endete, über deren er Zickigkeit er sich für gewöhnlich zu beklagen pflegte.

Hässlich war sie sicherlich nicht, aber sie war auch nicht gerade Shinjis Typ… anders, als die Person, der sie wohl soeben aufgefallen war, und daher direkt ins Bild sprang und ihnen die Zunge herausstreckte. Toll, bei Asuka brauchte er wohl gar nicht mehr nachzusehen, die war definitiv noch sauer. „Wo guckst du denn jetzt schon wieder hin, du notorischer Spanner!“ rief sie ärgerlich, sich nicht sonderlich darum scherend, dass die Lautstärke, der dafür vonnöten war, dass er sie da unten noch hörte, implizierte, dass die halbe Schule ihr Gespräch mitbekommen würde – das war ihm dann doch bei aller Friedfertigkeit zu viel, nein danke!

„Es.. es ist ja nicht so, als ob ich dich angesehen hätte!“ entgegnete er – es klang nicht so feurig, wie er es einmal geplant hatte, aber immerhin war er aufgesprungen, um ihr seine Meinung auf beiden Beinen stehend zu kommunizieren.

Das hätte sie jetzt vielleicht beeindruckt, wenn seine Aussage für sie nicht einem tief beleidigendem Sakrileg gleichgekommen wäre, von dem sie sich schlichtweg weigerte, es in irgendeiner Form als die Wahrheit anzunehmen.

(Was war an ihr so unattraktiv, dass er ausgerechnet sie nicht ansah?)

Er hatte sie nicht angesehen? Pah!

(Sie hasste nichts mehr, als ignoriert zu werden.)

„Pustekuchen! Deine feigen Ausreden kannst du dir sparen!“

„Das sind keine Ausreden, das ist die Wahrheit!“

„Von wegen! Du könntest dich wenigstens wie ein Mann benehmen und dazu stehen!“

Entschlossen, ihm seine Meinung nicht nur verbal, sondern auch physisch zu geigen, griff sie nach einem herumstehenden Besen.

„Hey, ist dir klar, dass du damit jemanden treffen könntest, du Klapsmühlenfall?“ mischte sich schließlich auch Touji ein, der das Second Child noch nie besonders gemocht hatte.

„Ja!“ erwiderte sie direkt. „Genau das hatte ich vor! Denn weißt du, dieser Besen würde sich unglaublich gut in deiner unglaublich dummen Fresse machen!“

„Was hast du da gesagt?!“

Da ihm Touji das Streiten scheinbar abgenommen hatte, ließ sich das Third Child seufzend wieder auf seinen Platz sinkend und begann zutiefst zu hoffen, dass die Zwei recht bald aufhören würden, so ein Spektakel zu veranstalten.

Zumindest Kensuke schien halbwegs vernünftig zu sein und wirkte angesichts des lokalen Kriegstreibens nicht besonders begeistert: „Hach, diese Ruhe und dieser Frieden…“
 

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Natürlich verriet er nicht, dass er selbst es gewesen war, der SEELE auf „Projekt kronos“ aufmerksam gemacht hatte.

Aber dafür schienen sowohl Ikari als auch Fuyutsuki ja ohnehin jemand ganz anderen zu verdächtigen.

Er hatte ganz den Eindruck, dass die Beiden schon ahnten, wer dieser andere Agent sein könnte… es wunderte ihn, das Ikari so ruhig bleiben konnte, wenn es doch beinahe so aussah, als könne sein Projekt, sein Magnum Opus, für dessen Ausführung er ständig vom Hinterkämmerchen aus die Fäden zog, ins Wanken geraten sein könnte.

Dieser Mann, so war es Kaji schon seit langer Zeit klar geworden, zeigte niemals eine Schwäche…
 

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Die Frau, die sich Asahina Najiko nannte, klappte dünn grinsend ihr Mobiltelefon zu und steckte es ein. Es schien, als würde sie das, worauf sie schon so lange gewartet hatte, schon viel früher tun können, als sie es zu hoffen gewagt hatte.
 

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Bezüglich des Endes der Keilerei beim Sportunterricht reichte es wohl zu sagen, dass Touji und Asuka immer noch damit beschäftigt waren, einander anzukeifen, als sie beide wieder in ihren Schuluniformen oben im Klassenzimmer angekommen waren, und von Kensuke und Nagato gerademal so noch wieder auf den Tepich gebracht wurden, bevor die Lehrerin eingetreten war und Gelegenheit gehabt hätte, zu fragen, was denn los sei.

Letzten Endes hatte sie das Klassenzimmer jedoch zum Glück wieder verlassen, ohne je zu erfahren, was denn das ganze Geschrei sollte.

Auch Nagato bekam als er fragte, was denn eigentlich los gewesen sei, trotz seines mutigen Einsatzes als Streitschlichter nur gesagt, dass er das gar nicht wissen wolle.

Nachdem noch ein weiterer Lehrer gekommen und gegangen war, klingelte es dann jedoch zur Pause, und Shinji wusste nicht so recht, was er tun sollte – Touji, Kensuke und Nagato hatten sich in Richtung Cafeteria verabschiedet, aber Shinji hatte gerade nicht wirklich Appetit… oder vielleicht wollte er es auch vermeiden, dort Asuka oder Mayumi über den Weg zu laufen.

Also blieb er im Klassenzimmer, zusammen mit ein paar Mädchen, die die Zeit nutzen, um Karten zu spielen. Für gewöhnlich würde auch Rei immer hier zurückbleiben, und an ihrem Platz am Fenster sitzen, wie sie es auch sonst immer tat… aber Heute war sie ja anderwärtig beschäftigt.

Er fragte sich, ob sie mit dem Experiment denn schon angefangen hatten, oder wohlmöglich bereits damit fertig waren…

Theoretisch könnte er ja nachfragen – Der nächste Zugang zur Geofront war ja praktisch gleich um die Ecke, damit sie wenn ein Engel während der Unterrichtszeiten angriff, immer innerhalb von Minuten im NERV-Hauptquartier sein konnten… Wenn er sich wirklich, wirklich beeilte dann… dann schaffte er es vielleicht auch rechtzeitig zum Ende der Pause zurück, oder er würde nur geringfügig zu spät sein. Er hatte zwar noch nie darüber nachgedacht, aber eigentlich müsste es klappen…

Wenn er das aber hinbekommen wollte, dann musste er wenigstens dieses eine Mal in seinem Leben nicht zögern und sofort losgehen. Vielleicht… vielleicht war das ja eine Gelegenheit, nach dem ersten Schritt, den er damals nach dem Kampf auf dem Futagoyama gelaufen war, auch noch den zweiten zu gehen.

Er verlor keine Sekunde, und doch traute er sich nicht wirklich, zu rennen, oder zumindest nicht, wenn er glaubte, nicht allein zu sein; Er schlich viel mehr über die Gänge der Schule, die Straße und schließlich auch durch die Anlagen der Geofront – Theoretisch sollte er sich ja nicht vom Schulgelände entfernen, und auch, wenn er hier arbeitete und dementsprechend auch seinen Sicherheitsausweis und alles hatte, was er brauchte, um hier reinzukommen, hatte ihn doch eigentlich keiner hierher gebeten und keiner von den Erwachsenen wusste, dass er hier war… Jeder hier wusste, wer er war, und würde ihm mit Gewissheit Fragen stellen…

Er kam sich vor wie eine Art Dieb auf der Flucht… umso tiefer durchfuhr ihn der Schock, als er schon im Aufzug im Eingangsbereich nicht nur irgendeiner, sondern gleich der Autoritätsperson schlechthin begegnete, dem einen Menschen auf dieser Welt, dem er am allerweinigsten irgendwelche Fragen beantworten wollte.

Die Rede war von seinem obersten Vorgesetzten, dem Albtraum seiner Kindheit und nicht zu Letzt seinem eigenen Vater, alles vereint in der Form eines hochgewachsenen, kräftig gebautem Mannes in einer ehrfurchtgebietenden schwarzen Uniform, der wie eine Wand vor ihm stand, ihn gleich einem Turm überragte und durch seine getönte Brille hartherzig auf ihn herabstarrte: Commander Ikari Gendo, Leiter von NERV.

Er war ihm vollkommen ausgeliefert, absolut verloren.

Wie festgefroren blieb Shinji an Ort und Stelle stehen, bereits begreifend, dass er diesen Fahrstuhl nicht betreten können würd