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Epilogue

KaibaxWheeler
von

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Encounter

Vorwort(e): Hiermit beginne ich meine Serie Epilogue. Dies ist eine von allen anderen Fanfics unabhängige Serie. Sie spielt etwa 16 bzw.17 Jahre nach dem Ende der letzten Staffel von Yu-Gi-Oh!. Die genauen Zahlen zu allem bekommt ihr im Verlauf. Es ist alles meine freie Interpretation, doch hier wird meine Vorstellung geschildert, wie es aussehen könnte. Und auch wenn es hin und wieder lustig sein kann (ganz werde ich mich nicht von der Komödie lösen können) ist diese Fanfic doch überwiegend ernst.

Falls euch Charaktere OOC vorkommen sollten, dann liegt es daran, dass sie 17 Jahre älter und erwachsen sind. Ich habe mich aber bemüht, ihre wesentlichen Charakterzüge beizubehalten. Was meine Vorstellung ihrer Entwicklung oder ihres Berufsweges bzw. familiären Werdegangs betrifft, so ist dies freie Interpretation meinerseits - sollte sie euch nicht gefallen tut es mir leid, aber geschrieben ist geschrieben ; )
 


 

Titel: Epilogue

Pairing: KaffexKakao (werdet ihr schon sehen ^ ^)

Serie: Yu-Gi-Oh!

Genre: Drama, Yaoi (+ Humor)

Disclaimer: Keine Rechte, kein Geld, nur Spaß ; )
 


 

In der Ferne ertönte ein dumpfes Grollen. Der Regen fiel prasselnd auf den Asphalt, hüllte die Straßen in noch tristeres Grau. Wie ich den Regen doch verabscheute.

Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch, vergrub die Hände in den Manteltaschen und setzte mich in Bewegung. Mir war der Regen zuwider und dennoch ging ich an genau diesen Tagen aus.

Diese Tage, an denen der Himmel verdunkelt und die Stimmung der Menschen getrübt war, zogen mich nach draußen, brachten mich dazu, die Akten und Verträge oder die dunkle Villa hinter mir zu lassen.

Ein Auto fuhr einsam über die Straße, das dreckige Wasser einer Pfütze spritzte auf, beschmutzte das Fahrzeug und verfehlte mich knapp. Der Regen endete abrupt, als ich unter einer überdachten Bushaltestelle Schutz suchte, stattdessen nahm das Prasseln an Lautstärke zu. Ihre Wände waren mit Sprüchen und Namen beschmutzt, doch ich beachtete es nicht weiter.

Ich schob meine Hand in die Innentasche meines Mantels und griff nach der verbliebenen, halbleeren Packung Zigaretten. Mit einer routinierten Handbewegung öffnete ich die Packung, griff nach einer der Nikotinstangen und schob sie mir zwischen die Lippen. Das Feuerzeug klappte auf und ratschend entzündete sich das einsame Licht der Flamme, die beinahe wieder im Wind verloschen wäre.

Ein schwaches Glimmen durchbrach den grauen Schleier des Abends als die Spitze der Zigarette aufglühte. Mit einem metallischen Schnappen schloss ich das Feuerzeug und ließ es in meiner Manteltasche verschwinden. Ich schloss die Augen als ich genüsslich an der Zigarette zog. Der weiße Rauch stieg in die Luft, löste sich auf.

Minuten verstrichen - der Regen erwies sich als stetiger Begleiter - bis ich nach der Zigarette griff, sie auf den Boden fallen ließ und austrat. Unter normalen Umständen wäre dies in Japan unmöglich gewesen,d och bei diesem Wetter war niemand auf der Straße, der mich zurechtgewiesen hätte. Als ob sie es überhaupt gewagt hätten.

Wieder schlug ich den Kragen meines Mantels etwas höher, bevor ich den Schutz der Bushaltestelle verließ. Ein Blitz zuckte über den Himmel und das Grollen wurde lauter. Es brachte mich dazu, aufzusehen. Es klang wie das Knurren eines Drachen. Eines Drachen, der aufgegeben hatte, dachte ich bitter, während ich im Scheinwerferlicht eines sich langsam nähernden Autos die Straße überquerte.
 

„Abend, Kaiba. Dein Platz ist frei.“

Ich nickte als Reaktion auf die Worte, während die Ladentür hinter mir einem Klingeln der kleinen Glocken, die an dem Innengriff hingen, zufiel. Ich blieb neben dem alten Kleiderständer stehen und begann mich meines nassen Mantels zu entledigen. Anschließend nahm ich an dem kleinen Tisch am Fenster in der Ecke des Cafés platz.

„Dasselbe wie immer?“

Ein erneutes Nicken als Antwort auf seine Frage. Wie immer. Mein Blick wanderte automatisch zu den teilweise von innen beschlagenen Fenstern des Cafés. Regentropfen liefen an ihnen hinab.

„Was für ein Sauwetter.“ Eine dampfende Tasse wurde vor mir auf dem dunklen Holztisch abgestellt. Wie immer. Mit denselben Worten.

Ich löste meinen Blick von den Fenstern und ließ ihn durch das Café gleiten. „Ganz schön leer hier.“

„Bei diesem Wetter ist eben niemand unterwegs. Abgesehen von dir“, fügte er mit einem Zwinkern hinzu. Wie immer.

Ich hob den Blick nun zur Gänze und sah direkt in das grinsende Gesicht meines Gegenübers, taxierte ihn provozierend. „Stört es dich?“

„Nicht doch.“ Er stemmte die Hände in die Hüften. „Wir freuen uns über jede Art von Kundschaft.“

Meine Finger legten sich um den Henkel der Tasse und ich hob sie an meine Lippen. Flüchtig nippte ich an ihrem Inhalt, bevor ich sie zurück auf die Untertasse stellte und mich wieder dem anderen zuwandte. „Devlin, wo hast du Taylor gelassen?“

„Der steht hinten in der Küche und wäscht ab.“ Er wusste, dass es mich nicht wirklich interessierte. Und trotzdem. Auch dies war wie immer. Wie an jedem verregneten Tag in den letzten Jahren.

Der Stuhl mir gegenüber wurde knarrend nach hinten geschoben und Devlin setzte sich. Er stützte seinen Kopf auf seine Handflächen und musterte mich interessiert. „Und, gibt’s was Neues?“

Meine Augenbraue wanderte noch ein Stück weiter in die Höhe, während ich seinen Blick mit stoischer Gelassenheit erwiderte. Dieselbe Frage wie jedes Mal, wenn ich in dieses Café kam, um einen Kaffee zu trinken. Wiederholt griff ich nach meiner Tasse. „Nichts, was du nicht bereits aus den Nachrichten wüsstest“, erwiderte ich, bevor ich einen Schluck des heißen Getränks zu mir nahm.

Er verzog beleidigt den Mund. Genauso wie jedes Mal, wenn ich ihm mit meiner Antwort nicht die gewünschte Auskunft gab.

„Na Duke, versuchst du schon wieder, unserem Freund Insider-Informationen zu entlocken?“ Die Schwingtüren der Küche quietschten, als Taylor näher trat, sich dabei mit der Hand durch die Haare fahrend.

Meine Mundwinkel zuckten. Obwohl ich mich niemals öffentlich als ihr Freund bekannt hätte, verzichtete ich darauf, ihn zu korrigieren. Über seiner Schulter hing ein Trockentuch und er trug eine weiße Schürze. Es war ein vertrauter Anblick. Grüßend hob er die Hand. Ich erwiderte diese Geste lediglich mit einem Nicken.

„Du solltest doch nach vier Jahren merken, dass das nichts bringt“, bemerkte Taylor mit Blick auf Devlin. Ich stockte in der Bewegung. Mein Blick ruhte auf der schwarzen Flüssigkeit in der Tasse. Ich konnte mein eigenes Gesicht auf ihrer Oberfläche erkennen. Meine Stirn war kaum merklich gerunzelt. Vier Jahre? Waren es wirklich schon Vier lange Jahre? Vier Jahre hielt dieser Rhythmus nun schon an? Ich hob die Tasse an die Lippen.

Vier Jahre kam ich nun bereits jeden verregneten Tag in dieses Café, bestellte einen Kaffee und verließ es anschließend wieder. Vier Jahre stellte Devlin mir dieselbe Frage und vier Jahre lang hatte ich ihm keine Antwort darauf gegeben.

Das Klirren des Porzellans wirkte wie ein brutaler Schnitt in die Stille. Ich griff in meine Manteltasche. Devlin schob den Stuhl zurück und stand auf. „Zweihundert Yen, wie immer.“

Ich öffnete meiner Brieftasche und legte einen Fünfhunderter neben die Tasse. So, wie jedes Mal. Devlin nahm ihn dankend entgegen und wandte sich um. Wann ich begonnen hatte, ihm dieses Trinkgeld zu geben wusste ich selbst nicht mehr. Vielleicht war es ein stummer Dank dafür, dass ich hier für wenige Minuten dem erdrückenden Alltag entkommen konnte. Dass ich hier für einen Moment wieder in die Vergangenheit zurückkehren konnte, die ich vor so langer Zeit verloren hatte.

Ich lehnte mich zurück, die letzten Augenblicke meines Aufenthaltes auskostend. Anschließend würde ich dieses Café verlassen und zurückgehen. Zurück in die verlassene Villa mit leeren Fluren und kalten Zimmern.

Ich leerte meine Tasse, als die Tür zu dem Café mit einem Klingeln der Glocken geöffnet wurde. Ich schenkte der Tür in meinem Rücken keine Beachtung. Ich hörte Duke hinter der Theke. Er sortierte die Gläser. „Schönen Abend. Was kann ich für Sie tun?“

Das Rascheln von Stoff war zu vernehmen. „Ich weiß nicht. Was kann ich tun?“

Ich richtete mich auf. Diese Stimme war vertraut. Fremd und dennoch vertraut. Seit Jahren hatte ich sie nicht mehr gehört und ihren Besitzer nicht mehr gesehen. Ein Glas ging zu Bruch. Das Klirren brachte mich dazu, mich umzudrehen. Vor der Tür stand ein Mann, gehüllt in eine rote Jacke. Seine blonden Haare waren vom Regen durchnässt und klebten ihm am Kopf. Ein Lächeln lag auf seinen Zügen und seine unverkennbar braunen Augen ließen keinen Zweifel daran, um wen es sich handelte.

„Joey!“
 

Wheeler.
 

Devlin hatte als erster seine Stimme wieder gefunden. Die Scherben knirschten unter seinen Schuhen, als er einige Schritte auf den Mann an der Tür zumachte. Das Lächeln auf Wheeler Zügen wurde eine Spur breiter. Devlins Unglauben belustigte ihn. Er hatte sich kaum verändert. Sein Lächeln war noch immer dasselbe. Seine Augen hatten ihren Glanz nicht verloren und seine Haare waren selbst in nassem Zustand genauso widerspenstig wie ich sie in Erinnerung hatte. Wie kam es, dass er sich kein bisschen verändert hatte?

„Joey ... ich fasse es nicht. Du ...“ Devlin schüttelte den Kopf. Er warf einen Blick über die Schulter. „Tristan, komm schnell her!“

Die Schwingtüren gaben ein Jammern von sich, als Taylor sie aufstieß. „Was hast du jetzt wieder kaputt gemacht?“ Sein Blick fiel auf die Scherben am Boden und verdüsterte sich. „Duke, das war eines unserer besten Gläser. Kannst du mir mal sagen, was das soll?“ Er sah auf und erblickte Wheeler. Seine Augen weiteten sich, als er ihn erkannte. „Joey? Alter, bist du es wirklich?“

Ich löste meinen Blick von dieser Szene, kehrte ihr den Rücken und starrte auf die Tasse vor mir. Wheeler war wieder da. An einem Mittwochnachmittag stand er ohne Vorwarnung in diesem Café und trat somit unangekündigt wieder in mein Leben.

Gesprächsfetzen drangen an mein Ohr.

„Wo bist du gewesen?“, fragte Devlin.

„Überall und nirgendwo“, entgegnete Wheeler und lachte.

„Warum hast du dich nie gemeldet?“, verlangte Taylor gekränkt zu wissen.

„Ich hatte es vor - wirklich. Aber es kam immer etwas dazwischen.“

„Joey, du musst uns alles genau erzählen, was in den letzten Jahren passiert ist. Gott, du bist ja nass bis auf die Knochen. Tristan, koch ihm einen Kaffee. “

„Ein Kakao wäre mir offen gestanden lieber.“

„Du hast es gehört, Tristan, Joey möchte einen Kakao.“

„Dann koch ihm einen“, entgegnete Taylor.

Du bist für die Küche verantwortlich.“

„Dann mach dich nützlich und hilf mir.“

Ihre Stimmen entfernten sich und die Schwingtüren quietschten. Mein Blick war starr auf das weiße Porzellan der Kaffeetasse gerichtet. Wheeler stand wenige Meter von mir entfernt und nun spürte ich seinen Blick nur allzu deutlich auf mir. Außer ihm und mir befand sich niemand sonst in diesem Café.

Ich hörte seine Schritte. Sie kamen näher. Ich drehte mich nicht um. Auch nicht, als er unmittelbar hinter mir stand.

„Kaiba?“

Wenige Momente spielte ich mit dem Gedanken, seine Frage zu verneinen, doch dann machte ein anderer Teil von mir den ersten Schritt. Ich wandte den Kopf und sah ihn offen an. „Wheeler.“

Überraschung lag auf seinen Zügen. Natürlich hatte er nicht erwartet, dass er mir begegnen würde. Noch viel weniger hatte er vermutlich erwartet, mich ausgerechnet in diesem Café anzutreffen.

„Das bist ja wirklich du“, entwich es ihm überrumpelt. Dann formten sich seinen Lippen zu einem Lächeln. Es war das erste Mal, dass er mich anlächelte. Dieser Moment war beunruhigend paradox.

Er umrundete den Tisch, zog den Stuhl mir gegenüber zurück und setzte sich. Die Jacke hatte er achtlos über die Lehne eines Stuhls am Nachbartisch gehängt. Er musterte mich. „Das ist ja ’ne Überraschung. Dich hier zu treffen, hätte ich nicht im Traum erwartet.“

Ich erwiderte seinen Blick stumm. Er hob die Hand, fuhr sich durch seine nassen Haare und grinste mich an. Auch aus der Nähe betrachtet hatte er sich kaum verändert. Selbst sein Grinsen war noch immer dasselbe. „Mann, wie lange ist es jetzt her? Sieben Jahre? Acht?“

„Zehn“, korrigierte ich ihn tonlos. Zehn Jahre, in denen er wie vom Erdboden verschluckt gewesen war. Zumindest sagte dies meine Duellantendatenbank. Ich hatte die Jahre nicht selbst gezählt.

Er lachte leise. „Zehn schon? Wow, länger als gedacht. Wie geht es dir?“

Ich bedachte ihn mit einem abweisenden Blick. „Wie sollte es mir gehen, Wheeler? Ich lebe, wie du siehst. Und du offensichtlich auch noch.“

Obwohl zehn Jahre vergangen waren seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, verfiel ich nur wenige Momente nach seinem Erscheinen in mein altes Verhaltensmuster. Es war, als wären diese zehn Jahre nie gewesen.

„Ja, ich lebe noch.“ Er kicherte. „Zehn Jahre und du hast dich, was deine Freude an Smalltalk angeht, kein bisschen verändert.“

Offenbar dachten wir in dieselbe Richtung.

Er schwieg. Ich tat es ihm gleich. Wir sahen uns einfach an. Natürlich war er nicht ganz unverändert. Zehn Jahre mussten einen Menschen verändern. Kleine Falten hatten sich um seine Augen gebildet - sicher stammten sie von seinem dauerhaften Wheeler-Lachen. Seine Haare waren eine Spur heller, als ich sie in Erinnerung hatte, ebenso war seine Haut dunkler. Wahrscheinlich war er in den letzten Jahren oft in der Sonne gewesen. Ich schüttelte den Kopf. Warum dachte ich überhaupt darüber nach? Zehn Jahren hatte er nicht existiert und heute tauchte er einfach so aus dem Nichts wieder auf.

„Was tust du hier?“

Die Worte hatten meinen Mund verlassen, bevor ich sie daran hindern konnte. Sie formten die Frage, die ich mir stellte, seit er einen Fuß in dieses Café gesetzt hatte.

Er neigte leicht den Kopf. Noch immer lächelte er, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Ich bin hier, um einige Dinge ins Reine zu bringen.“

Er hatte sich verändert. Früher hätte Wheeler niemals in Metaphern geredet. Ohne dass ich es wollte, bildete sich in mir eine weitere Frage: Wo war er zehn Jahre lang gewesen?

„Was sollte es hier geben, dass du noch ins Reine bringen müsstest?“, fragte ich und bedachte ihn mit einem gelangweilten Blick.

„Vieles.“ Sein Lächeln drohte zu bröckeln, doch bevor es dazu kam hatte er sich wieder unter Kontrolle und grinste mich an. „Ich hab ’ne Menge Scheiße gebaut.“

„Wen soll das überraschen“, entgegnete ich. „Du bist seit jeher dafür bekannt, alles falsch zu machen.“

„Das stimmt“, lachte er. „Schön zu wissen, dass du es nicht vergessen hast.“

Ich sah ihn forschend an. Er hatte sich mehr verändert als ich dachte. Der junge Joey Wheeler hätte meinen Vorwurf rigoros abgestritten und mich beleidigt, doch dieser stimmte mir zu, lachte darüber und fand es gut.

„Es ist ungewohnt, euch mal nicht streiten zu sehen“, bemerkte Devlin, der mit Taylor und einem Tablett das Café durchquerte und zu uns kam. Er stellte das Tablett auf den Tisch und zog sich und Taylor einen Stuhl heran.

Wheeler griff nach der Tasse Kakao und einem der Kekse, die dazu gebracht wurden. „Danke.“

Devlin stützte den Kopf auf seine Handflächen und sah Wheeler aufmerksam an. Er hatte genug Zeit gehabt, um sich von seinem anfänglichen Schock zu erholen und unverhohlene Neugierde lag in seinem Gesicht. „Raus mit der Sprache, Joey, wo bist du die letzten Jahre gewesen?“

Wheeler stellte die Tasse auf den Tisch. Sein Blick war nachdenklich. „Wo soll ich da anfangen ...?“

„Sechs Jahre, Mann!“, entfuhr es Taylor und alle sahen ihn an. Er starrte Wheeler finster an. „Sechs Jahre hast du nichts mehr von dir hören lassen. Der letzte, der etwas von dir gehört hat, ist Yugi, bis du einfach den Kontakt abgebrochen hast!“

Wheelers Blick trübte sich. „Ich weiß. Und ich habe schon gesagt, dass ich immer vorhatte, mich wieder bei euch zu melden, aber es ist immer etwas dazwischen gekommen.“

„Was soll bitte dazwischen kommen?“, entgegnete Taylor und schien zornig. „Du hattest sechs verdammte Jahre Zeit, um dich zu melden, du kannst mir nicht erzählen, du hättest nicht die Gelegenheit gehabt, auch nur eine Karte zu schreiben!“

Ich hatte also vier Jahre länger nichts von Wheeler gehört, geschweige denn gesehen, als seine Freunde. Es wunderte mich nicht. Nach unserem Schulabschluss hatten wir uns lediglich auf Turnieren gesehen und ein einziges Mal flüchtig auf dem Klassentreffen, fünf Jahre nach unserem Schulabschluss. Damals war ich 24 und hatte mein Studium an der teuersten Universität Japans längst abgeschlossen. Was Wheeler getan hatte, wusste ich nicht. Es hatte mich nicht interessiert. Danach hatte ich ihn nicht wieder gesehen. Auf keinem Turnier und auch auf keinem der folgenden Klassentreffen.

„Es tut mir leid, Tristan“, meinte Wheeler und in seinem Gesicht stand Bedauern und ehrliche Reue. „Es tut mir wirklich Leid.“

„Nicht einmal Serenity wusste, wo du bist“, knurrte Taylor und bedachte Wheeler mit einem gekränkten Blick. „Hast du eine Ahnung, wie besorgt sie war, als du mit einem Mal den Kontakt abgebrochen hast? Weiß sie überhaupt, dass du wieder in der Stadt bist?“

Wheeler zögerte, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, ich bin erst seit wenigen Stunden hier. Ich wollte ihr noch Bescheid geben, aber nicht mehr heute.“

„Du bist es ihr schuldig, dich sofort bei ihr zu melden“, entgegnete Taylor. Wheeler sah ihn an. „Du hast Recht, aber ich möchte noch nicht mit ihr sprechen. Dazu“, er biss sich auf die Unterlippe, „ich muss klar denken können, um ihr alles zu erklären und das kann ich heute nicht mehr. Ich bin müde und erschöpft. Bitte Tristan, versteh das. Ich möchte mich bei ihr entschuldigen und wenn es dir hilft – ich werde gleich morgen zu ihr gehen.“

Seine Worte erzielten Wirkung. Taylor schien besänftigt.

„Warum bist du einfach verschwunden?“, mischte Devlin sich nun zum ersten Mal offen ein. Er hatte seinen Blick in den letzten Minuten nicht von Wheeler genommen und sah ihn ernst an.

Wheelers Haltung versteifte sich kaum merklich. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ich hatte meine Gründe“, erwiderte er, dann richtete er seinen Blick auf Devlin und Taylor. Mit Verwunderung registrierte ich, wie seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde zu mir blickten.

„Welche Gründe?“, hakte Devlin nach und rückte näher an Wheeler heran. Dieser zögerte für wenige Momente, dann lockerte sich seine Haltung. „Ich wollte die Welt sehen“, antwortete er und lächelte. „Ich wollte raus aus dieser Stadt, weg von all dem und etwas Neues sehen.“

„Sechs Jahre lang?“, wandte ich skeptisch ein. Sein Blick richtete sich auf mich und Wheeler zeigte die Zähne, als er mich anlächelte. „Ja Kaiba, sechs Jahre lang.“

Ich schüttelte den Kopf. „Eigentlich dürfte diese hirnrissige Idee bei dir niemanden überraschen.“

„Dann nehme ich an, dass sie dich nicht überrascht.“

„Nein, das tut sie nicht wirklich.“ Es war eine Lüge, aber das brauchte er nicht zu wissen.

„Und jetzt hast du genug von der Welt?“, fragte Taylor und griff ebenfalls nach einem Keks. „Ist das der Grund, warum du wiedergekommen bist?“

Wheeler schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin hier, weil es Dinge gibt, die ich klären muss.“

„Und was sind das für Dinge?“ Devlin ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen, als befürchtete er, Wheelers Anwesenheit wäre nur ein Hirngespinst.

„Dinge, die zu schwierig sind, um sie hier zu erklären.“ Wheeler lächelte sie entschuldigend an.

Taylor zuckte die Achseln. „Okay. Da lässt sich nichts machen.“ Er sah Wheeler durchdringend an. „Es ist gut, dass du endlich wieder da bist. Du hast uns gefehlt, Mann.“ Er lächelte.

„Und ihr mir erst. Sechs Jahre. Verdammt, das ist eine Ewigkeit“, erwiderte Wheeler und lachte.

„Wo wohnst du jetzt?“, fragte Devlin und trommelte mit den Fingern auf das Holz des Tisches. „Hast du schon eine Wohnung?“

Wheeler hob die Schultern. „Nein, ich bin erst vor ein paar Stunden hier angekommen. Ich weiß noch nicht, was ich mache. Wahrscheinlich suche ich mir für diese Nacht ein Zimmer.“

Devlin und Taylor warfen sich skeptische Blicke zu. „Hast du dafür denn genug Geld?“, sprach Devlin ihre Frage laut aus.

Wheeler brach in Gelächter aus. „Da habt ihr mich erwischt. Offenbar kennt ihr mich selbst nach sechs Jahren noch gut genug. Nein, ich habe nicht genug Geld. Mein Geld reicht wahrscheinlich gerade für den Kakao.“

Fassungsloses Kopfschütteln folgte auf seine Worte.

Wheeler war tatsächlich noch genauso nachlässig wie früher. An seiner Art hatte sich abgesehen von seiner Wortwahl kein bisschen geändert. Wie konnte ein Mensch zehn Jahre verschwinden und sich trotzdem nicht im Geringsten verändern? Selbst auf mich hatten zehn Jahre Wirkung gehabt. Beträchtliche Wirkung.

„Und was hast du jetzt vor? Willst du auf der Straße schlafen?“

„Nein. Das heißt, ich weiß es nicht ...“

Taylor neigte bedauernd den Kopf. „Bei uns ist kaum Platz für ein Sofa und auf dem, was Duke und ich bei uns stehen haben, willst du ehrlich nicht schlafen. Ich hab einmal den Fehler gemacht und konnte tagelang nicht mehr gerade stehen.“

Wheeler gluckste. Unvermittelt sah ich mich mit den aufmerksamen Blicken von Devlin und Taylor konfrontiert. „Kaiba, deine Villa ist doch groß und leer.“

Zu meiner Verärgerung wirkten ihre Worte wie ein Faustschlag auf mich. Groß und leer ...

Verdammt, sie war immer groß und leer, aber warum war dieser Gedanke nun so furchtbar unangenehm? Ich zwang mich zu einer Antwort. „Ja, das ist sie in der Tat.“

Ich wusste worauf sie hinauswollten. Und der Gedanke behagte mich ganz und gar nicht.

„Könnte Joey nicht bei dir übernachten?“

„Nein.“ Hatten sie etwas anderes erwartet? Ich hatte ihnen nie Anlass für das Gegenteil gegeben.

„Kaiba, gib dir einen Ruck. Jetzt wo Mokuba aus dem Haus ist, ist etwas Gesellschaft doch sicher eine nette Abwechslung.“

Ich verengte die Augen. Diese Worte lösten einen Schwall Zorn in mir aus. „Ich brauche keine nette Abwechslung “, gab ich kalt zurück. Natürlich trafen mich diese Worte. Und das machte mich nur noch wütender.

„Komm schon, Kaiba.“

Nette Abwechslung. Wer brauchte bitte eine nette Abwechslung? Mein Blick richtete sich auf Wheeler, der dem Gespräch nun stumm folgte. Warum versuchte er nicht auch, mich umzustimmen? Wahrscheinlich war er genauso dagegen wie ich. Oder er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mich darum zu bitten.

„Willst du etwa, dass Joey die Nacht draußen verbringt?“

Ich bedachte Devlin mit einem abschätzigen Blick. „Euer Sofa ist noch immer eine Option.“

„Ja, aber keine angenehme. Kaiba.“

Ich hatte die Wahl.

Ich hätte aufstehen und gehen können.

Ich hätte sie abweisen können.

Ich hätte schweigen können.

Doch ich handelte anders.

„Ihr werdet allmählich nervig. Wenn ihr dann endlich Ruhe gebt, bitte, Wheeler kann diese Nacht bei mir verbringen.“ Ich warf Wheeler einen warnenden Blick zu. „Aber nur diese Nacht.“

Das Lächeln kehrte auf seine Züge zurück. Mir wurde beinahe übel. Ich hatte tatsächlich zugestimmt, ihm für eine Nacht Asyl zu geben. Die letzten Jahre waren wahrlich nicht gut für mich gewesen. Devlins und Taylors Gesellschaft färbte ab.

„Danke Kaiba.“

„Spar dir das, Wheeler. Ich tue das nur, weil ich keine Lust habe, mir ein neues Stammcafé zu suchen.“

Ich erhob mich und die anderen taten es mir gleich. Mit einer Hand griff ich nach dem Mantel und zog ihn mir über, Devlin und Taylor dabei mit missbilligenden Blicken strafend.

„Darüber reden wir noch.“

„Sicher doch.“ Devlin räumte das Geschirr zusammen und stellte es auf das Tablett. Im Vorbeigehen warf er mir einen flüchtigen Blick zu. „Danke Kaiba.“ Dann wandte er sich an Wheeler. „Und wage es nicht, einfach wieder für mehrere Jahre zu verschwinden. Verdammt, das waren sechs Jahre, Joey! Hast du eine Ahnung, wie viel das ist? Weißt du überhaupt, was du alles nicht mitbekommen hast?“

Wheeler streifte sich ebenfalls seine Jacke über. Er seufzte. „Ich weiß. Yugis und Téas Sohn. Marik hat es mir erzählt.“

„Du hattest Kontakt zu Marik, aber nicht zu uns?“, fragte Taylor entrüstet. „Und dieser Verräter hat es nicht einmal für nötig gehalten, es uns zu sagen? Und warum erfahren wir das alles erst jetzt, wo du schon wieder gehen willst? Sechs Jahre und wir reden nicht mehr als zehn Minuten! Wir wissen immer noch nicht, wo du all die Jahre über gewesen bist.“

Wheeler vergrub die Hände in seinen Jackentaschen. „Tut mir leid, Tristan. Ich bin müde.“ Er lächelte entschuldigend. „Ich hab nicht vor in nächster Zeit wieder zu gehen. Wir haben also genug Zeit, um über alles zu reden. Über all die sechs Jahre.“ Sein Lächeln wurde verschmitzt. „Versprochen.“

Murrend stimmte Taylor zu. Sie umarmten sich ein letztes Mal, ebenso Devlin und Wheeler, dann wandte er sich mir zu.

Ich nickte den beiden ein letztes Mal zu, dann traten Wheeler und ich nach draußen in den Regen. Ich schlug den Kragen meines Mantels wieder hoch und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass er den Reißverschluss seiner Jacke vollends zuzog. Ich bedeutete ihm, mir zu folgen. Er lief neben mir und Minuten verstrichen, in denen wir schwiegen und ich meinen Gedanken nachhing.

Warum hatte ich zugestimmt? Warum ließ ich Wheeler die Nacht bei mir verbringen? Zehn Jahre hatte ich ihn nicht mehr gesehen und dann ließ ich diesen Fremden mit mir kommen. Lag es daran, dass in der Villa abgesehen von Leere nichts auf mich wartete?

Seit Roland pensioniert worden war, hatte ich es nicht für nötig gehalten, ihn durch einen Nachfolger zu ersetzen. Die Hausmädchen bildeten die einzige Gesellschaft, die ich noch hatte und diese auch nur gezwungenermaßen. Sie kamen morgens, säuberten das Haus und verließen es anschließend wieder. Ich war alleine in der Villa. War dies der Grund, warum ich kein echtes Missbehagen bei dem Gedanken verspürte, Wheeler für diese eine Nacht ein Bett zu überlassen? Was war nur aus mir geworden? Ich sollte wieder öfter in die Firma gehen.

„Gehen wir den ganzen Weg zu Fuß?“ Wheeler durchbrach als erster das Schweigen zwischen uns. „Ich meine, gar keine Limousine, die auf dich wartet oder ein roter Porsche im Parkverbot, den ohnehin niemand abschleppen würde, weil er dir gehört?“

Meine Mundwinkel zuckten, dann hatte ich mich wieder unter Kontrolle. „Nein Wheeler, nichts dergleichen. Ich verzichte bereits seit langem auf die Limousine und warum sollte ich einen meiner Wagen für diesen kurzen Weg benutzen?“

Ich sah ihn aus den Augenwinkeln den Kopf schütteln. „Ich war definitiv zu lange weg.“

Ich biss mir auf die Lippen um ihm nicht zuzustimmen. Es fehlte noch, dass ich ausgerechnet Wheeler Recht gab. Auch nach zehn Jahren nicht.

Der Regen prasselte auf uns herab, während wir einen anderen Teil der Stadt anstrebten. Den Teil, in dem der Wert der Häuser stieg, die Holzzäune am Bürgersteigrand den Eisengittern eines alarmgesicherten Sicherheitszauns wichen. Das Eingangstor schob sich lautlos auf, als wir uns ihm näherten. Nun war ich also wieder Zuhause. Warum hatte ich dann das Gefühl, das es mir fremder war als alles andere? Ich ignorierte diesen Gedanken. Es war nicht wichtig. So, wie vieles nicht mehr wichtig war.
 

„Halt mich ruhig für verrückt, aber genau so habe ich mir die Eingangshalle deiner Villa immer vorgestellt.“ Wheeler Blick wanderte belustigt umher, blieb an dem Marmorboden hängen und schweifte dann weiter.

Ich hing meinen Mantel an die Garderobe neben dem Eingang und bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. „Du hattest eindeutig zu viel freie Zeit, wenn du dir über meine Inneneinrichtung Gedanken gemacht hast.“

„Vielleicht.“ Mehr sagte er nicht.

„Gib mir deine Jacke.“ Ich hielt ihm eine Hand hin und er sah mich einige Sekunden überrascht an, bevor er meiner Aufforderung folgte und sich seiner Jacke entledigte. Wieder lächelte er. „Ich hätte niemals damit gerechnet, dass ich mir einmal von dir die Jacke abnehmen lasse.“

„Und ich hätte niemals für möglich gehalten, dass ich dich überhaupt wieder sehe“, gab ich gleichgültig zurück. Mir wurde erst Momente später bewusst, dass das alleinige Aussprechen dieser Wörter bereits ein Fehler war. Doch nun war es zu spät. Ich konnte sie nicht rückgängig machen und sie entsprachen der Wahrheit.

Er stutzte. „Hast du nicht?“

Ich gab ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er mir folgen sollte. „Nein, das habe ich nicht. Das letzte Mal habe ich dich vor etwa zehn Jahren auf dem Sommerturnier von Industrial Illusion gesehen. Danach nicht mehr. Bis heute.“

„Oh.“

Ja, oh. Das traf es ziemlich genau.

„Ich habe aufgehört mit Duellieren.“

Ich musste mich beherrschen, um nicht stehen zu bleiben und ihn fassungslos anzustarren. Wheeler hatte das Duellieren aufgegeben. Wheeler? Ausgerechnet er, dem so viel daran gelegen hatte? Beinahe kam ich mir kindisch vor, weil ich erst vor drei Jahren mit Duel Monsters aufgehört hatte. Dennoch war das Wissen, dass Wheeler bereits so früh damit Schluss gemacht hatte, ein regelrechter Schock für mich. Was war der Auslöser für diese Handlung gewesen? Ich riss mich zusammen, um diese Frage nicht laut zu stellen. Er sollte nicht glauben, dass er mich interessierte.

„Aha.“ Ich beließ es bei einer einfachen Stellungnahme.

„Ich hab an keinem Turnier mehr teilgenommen. Und vier Jahre später hab ich die Stadt verlassen. Das war der Zeitpunkt, an dem ich den Kontakt zu Yugi und den anderen abgebrochen habe.“

Er sprach davon, als seine vier Jahre nichts für ihn. Ein Jahr war wenig, zwei Jahre auch und selbst drei Jahre waren mit dem richtigen Blickwinkel noch wenig. Aber vier Jahre gewiss nicht. Und zehn schon gar nicht.

„Duke meinte vorhin, dass Mokuba nicht mehr hier wohnt. Stimmt das?“ Seine Frage war vorsichtig formuliert. Ihm war meine Reaktion im Café nicht entgangen. Dennoch spürte ich Unbehagen in mir aufwallen. Ich zwang mich zu einer Antwort. „Mokuba wohnt nicht mehr hier. Er ist nach Amerika gegangen, um dort die Leitung der Zweigstelle der Kaiba Corporation zu übernehmen. Er ist der Vizeleiter der Firma und mein Nachfolger.“

„Er ist in Amerika? So weit weg?“

Musste er mich daran erinnern, dass es so weit weg war? Ich arbeitete noch immer daran, diese Tatsache zu verdrängen. Zusammen mit der Tatsache, dass Mokuba mich mittlerweile nicht mehr brauchte. Er war erwachsen, bei Gott, er war neunundzwanzig und nun wirklich alt genug, um mich nicht mehr zu brauchen. Und trotzdem ...

Trotzdem ...

Ich riss mich von diesem Gedanken los. „Es mag weit weg sein, aber es gibt eine nützliche Erfindung namens Telefon.“ Ich hatte bereits seit zwei Wochen nicht mehr mit ihm gesprochen. Er war zu beschäftigt und ich wollte ihn nicht von der Arbeit abhalten. Vielleicht würde ich ihn morgen ...

„Heißt das, du wohnst ganz alleine in dieser Villa?“ Seine Stimme klang ungläubig.

Ich warf ihm im Gehen einen abschätzigen Blick zu. „Ja Wheeler, das heißt es.“

Ich blieb vor der Tür zu einem der Gästezimmer stehen und öffnete sie. „Hier, dein Zimmer. Wenn du Hunger hast, sag mir bescheid, dann zeige ich dir die Küche. Ein Bad findest du im Nebenraum, einen Schlafanzug im Schrank. Und jetzt entschuldige mich.“

Ich machte Anstalten zu gehen.

„Ist es einsam?“

Seine Worte brachten mich dazu, inne zu halten. Ich drehte mich um. „Was?“

„Ist es einsam? Hier, ganz alleine in dieser Villa zu leben?“

Ja.

„Nein.“

Ja, es war einsam.

„Ist es nicht.“

Es war trostlos. Und es zerfraß mich. Doch ich wollte es nicht wahr haben. Wie so vieles.
 


 

tbc

Endeavour

2. Kapitel: Endeavour
 


 

Ich starrte an die gegenüberliegende Wand des Schlafzimmers, ohne sie wahr zu nehmen. Der Regen hatte nicht an Intensität abgenommen und die Vorhänge schlugen flatternd ins Zimmer als der Wind sich einen Weg durch eines der offenen Fenster in den Raum suchte. Kälte folgte ihm, doch ich registrierte sie kaum.

Ist es einsam?

Wheeler hatte kaum fünf Minuten in der Villa verbracht und mir dennoch eine Frage gestellt, die mir schmerzhaft vor Augen führte, was ich in den vergangenen Jahren zu verdrängen versucht hatte. Zehn Jahre war er aus meinem Leben verschwunden, tauchte dann schließlich wie aus dem Nichts wieder auf und schaffte es innerhalb weniger Minuten, das an die Oberfläche zu holen, an dessen Vergessen ich so hart gearbeitet hatte. Ausgerechnet Wheeler.

Ein Klopfen riss mich aus den Gedanken und ließ mich aufsehen. Wie lange war es her, dass jemand an meiner Tür geklopft hatte? Wie lange hatte niemand außer mir mehr dieses Zimmer aufgesucht? Als Mokuba noch ein Kind gewesen war, war er nachts, wenn draußen ein Unwetter tobte, zu mir gekommen, aus Angst vor Monstern in seinem Kleiderschrank. Ich hatte diese Angst nie gebilligt, doch seine Suche nach meiner Nähe hatte mich auch nie wirklich gestört. Nun vermisste ich dieses Verhalten. Es tat beinahe weh.

Die Klinke wurde runter gedrückt und die Tür aufgeschoben. Eine schattenhafte Gestalt spähte ins Zimmer.

„Kaiba?“

Wheeler. Wer hätte es sonst sein sollen? Außer ihm und mir befand sich niemand in diesem Haus. In diesem Haus mit achtunddreißig Räumen - davon sechsunddreißig unbewohnt. Wheeler trat ein. Ich nahm die Bewegung aus den Augenwinkeln wahr.

„Es ist kalt hier.“ Er trat näher, dann erblickte er mich. „Willst du dich erkälten? Warum lässt du bei so einem Sturm das Fenster auf? Dein ganzer Boden wird nass.“

Ich richtete meinen Blick auf ihn. „Was willst du?“

„Ich habe Hunger. Und du hast gesagt, du würdest mir die Küche zeigen.“

Das hatte ich. Wenige Sekunden ruhte mein Blick auf dem schemenhaften Umriss seiner Gestalt, schließlich stand ich auf. „Dann schätze ich, dass es das Beste ist, dir den Weg zu zeigen, damit du ihn bei Bedarf von selbst findest.“

Ein flüchtiges Wenden meines Kopfes zeigte mir, dass die Digitalanzeige des Weckers neben dem Bett soeben auf kurz nach zehn gesprungen war. Wenige Sekunden stellte ich mir die Frage, was Wheeler in den letzten Stunden in dem Gästezimmer getan hatte. Eine Tasche mit Gepäck hatte er nicht bei sich gehabt, ebenso wenig einen Rucksack. Ich verwarf diesen Gedanken, ebenso die dazugehörige Frage. Auch nach zehn Jahren würde es mich nicht interessieren, was Wheeler tat. Auch nach zehn langen Jahren nicht.

Wir verließen mein Schlafzimmer und ich führte ihn über den Flur der ersten Etage, an seinem Gästezimmer und unzähligen anderen vorbei. Der Grund, warum er mein Zimmer ohne Probleme gefunden hatte war, dass seins direkt nebenan lag. Warum ich ihm ausgerechnet dieses Zimmer überlassen hatte, war mir selbst noch nicht wirklich klar. Die unerwartete Anwesenheit eines anderen Menschen in der Villa mochte der Grund dafür sein, dass ich ihn lieber in meiner Nähe wusste. Kontrolle war besser.

Die Treppenstufen knarrten leise unter unseren Füßen, als wir das Erdgeschoss erreichten und ich eine der großen Flügeltüren zu meiner Rechten anstrebte. Es folgten weitere dunkle und kaum beleuchtete Flure. Ich machte keine Pause und hielt auch nicht an, um Wheeler eine Möglichkeit zu lassen, sich den Weg zu merken. Er musste sehen, wie er klar kam. Ich wohnte nun schon seit knapp dreißig Jahren in dieser Villa, ich wusste mich auch im Dunkeln sicher zu bewegen. Ich kannte dieses Gebäude zu gut. Viel zu gut.

Die Tür zur Küche war aus dunklem Holz, so wie alle anderen Türen in diesem Haus. Meine Hände tasteten nach dem Bewegungsmelder neben der Tür und die Lampen an der Decke gingen keinen Augenblick später an.

Die Küche war groß. Sie hätte einladend gewirkt, wüsste ich nicht, dass sie lediglich von einem Menschen genutzt wurde, anstatt von einer Familie. Vor Jahren hatte ich den Koch entlassen, da es lächerlich war, sich als einzelne Person bekochen zu lassen. Auf diesen Luxus konnte ich verzichten.

Seit Mokuba mein Stellvertreter geworden war, somit einen Teil meiner Arbeit übernommen und mein Arbeitstag sich daraufhin von neunzehn auf knapp zehn Stunden Arbeit verringert hatte, besaß ich eine nie gekannte Freizeit. Sie hätte mich zermürbt, wenn ich mich nicht zu Beschäftigen gewusst hätte.

In den letzten Jahren hatte ich mehr gelesen als viele Menschen in ihrem gesamten Leben. Ich hatte mir einen Fitnessraum einrichten lassen und mich verausgabt, um nachts schlafen zu können. Ich hatte mich zeitweise noch mehr zurückgezogen und die Technologie der Kaiba Corporation weiterentwickelt. Und ich hatte Kochen gelernt. Es gefiel mir nicht, aber es war nützlich und erfüllte seinen Zweck.

„Was möchtest du, Wheeler?“ Ich durchquerte die Küche und öffnete den Kühlschrank.

„Brot reicht aus. Vielleicht mit etwas Käse. Und ein Glas Wasser wäre nicht schlecht.“

Ich griff nach einer unberührten Packung Käse und schloss den Kühlschrank. Anschließend öffnete ich einige der Schränke, nahm Teller und Besteck und stellte es anschließend auf den Tisch in der Mitte der Küche. Zögernd ließ Wheeler sich auf einen der Stühle nieder. Ich spürte seinen Blick auf mir, während ich nach dem Brot griff. Ich sah ihn über die Schulter missbilligend an. „Was ist?“

„Ich hätte nie erwartet, dich irgendwann in meinem Leben einmal gewöhnliche Dinge tun zu sehen. Ich meine ... du machst gerade etwas, wofür du noch vor Jahren Angestellte gehabt hast.“

Für wenige Sekunden verharrte ich, dann drehte ich mich um und legte ihm das Brot ebenfalls auf den Tisch. „Das mag sein, aber wie du richtig gesagt hast, war dies vor Jahren. Menschen verändern sich, Wheeler. Ich ziehe es mittlerweile vor, selbst für das zu sorgen, was ich brauche.“

„Du musst eine Erleuchtung gehabt haben. Wenn das doch nur schon mit achtzehn so bei dir gewesen wäre, Kaiba.“ Er schüttelte den Kopf und begann, sich sein Brot zu machen. Er hielt inne und sah zu mir auf, da ich noch immer reglos vor dem Tisch stand. „Vielleicht hätten wir dann sogar Freunde werden können.“

Ich sah ihn stumm an. Dann wandte ich mich um. „Du wolltest Wasser?“

Freunde?

„Ja.“

Freunde?!

Ich griff nach einem Glas und hielt es unter den Wasserhahn.

Wheeler und ich ... Freunde?!

Er sah auf, als ich ihm das Glas auf den Tisch stellte und mich auf den Stuhl ihm gegenüber setzte. Er lächelte. „Danke.“

Ich schwieg. Mein Blick war auf ihn gerichtet. Noch immer schaffte ich es nicht, mich von seinen Worten zu lösen. Sah Wheeler es wirklich so? Wäre es seiner Meinung nach wirklich so leicht gewesen, mit ihm befreundet zu sein?

„Was ist?“ Er biss in sein Brot. Sein Blick war fragend, während er kaute.

„Hättest du mit mir befreundet sein wollen?“ Die Frage hatte meinen Mund ohne mein Zutun verlassen. Ich hatte sie nie laut aussprechen wollen. Nun war es zu spät.

Er kaute langsamer, schien zu überlegen. Dann schluckte er und sah mich lange an, das Brot in der Linken. „Ich weiß es nicht. Wenn du damals nicht so arrogant und selbstherrlich gewesen wärst ... vielleicht. Aber das war damals“, fügte er hinzu und sprach somit das aus, was ich bei seinen Worten gedacht hatte. „Und jetzt sind wir in der Gegenwart. Es ist zu spät, um darüber zu spekulieren.“ Er senkte den Blick. „Diese Chance ist vertan.“ Er biss erneut in das Brot. Ich beobachtete ihn schweigend. Er schien es beinahe zu bedauern. Täuschte ich mich?

Er aß sein Brot, ohne noch etwas zu sagen und ich hielt es nicht für nötig, ein Gespräch zu beginnen. Es klirrte leise, als er das Messer auf den leeren Teller legte und nach seinem Wasserglas griff. Seine Augen richteten sich auf mich und ich wusste, dass er nun von sich aus den ersten Schritt machen würde.

„Wie lange ist Mokuba schon aus dem Haus?“

Warum beharrte er auf diesem Thema? Ich wollte nicht darüber sprechen.

„Sechs Jahre.“

Und dennoch tat ich es.

„Und was ist mit – wie hieß er noch gleich – deinem Butler oder was immer er war. Der, der dich damals immer überall hin begleitet hat. Ich komm gerade nicht auf seinen Namen ...“

Meine Augenbraue schwang in die Höhe. „Du meinst Roland?“ Dass er sich noch an ihn erinnern konnte ...

„Ja, genau.“ Er nickte bestätigend. „Was ist aus ihm geworden?“

„Er ist in Pension gegangen. Vor fünf Jahren, wenn du es wissen willst.“

„Das heißt, du bist seit fünf Jahren alleine in diesem Haus? Ohne irgendjemanden? Gab es nicht mal eine Freundin?“

Ich schloss resignierend die Augen. Ich hätte Wheeler überhaupt nicht erst diese Villa betreten lassen dürfen. Kaum war er wieder in meinem Leben getreten, verlange er jede Einzelheit zu erfahren. Warum interessierte es ihn? Vielleicht tat es das auch überhaupt nicht. Vielleicht war ihm einfach nur langweilig.

„Derzeit gibt es keine Freundin.“

Ich log, aber das konnte er nicht wissen. Es gab bereits seit Jahren keine Freundin mehr. Seit ebenfalls sechs Jahren, um genau zu sein. Davor hatte es hin und wieder Affären gegeben, Zweckgemeinschaften, Bindungen, die jedoch nach kurzer Zeit wieder gelöst worden waren. Ich war kein Beziehungsmensch. Ich war es mit achtzehn nicht gewesen und später genauso wenig. Auch heute nicht.

„Und davor? Wie viele hattest du schon? Du konntest dich doch damals schon nicht vor Verehrerinnen in der Schule retten. Gib es zu, alleine bei unserem Abschlussball hattest du mehr Angebote, als alle Jungen aus unserem Jahrgang zusammen.“

Beinahe hätte ich geschmunzelt. Wheeler hatte tatsächlich nicht Unrecht. Dumm war er nach all der Zeit offenbar nicht mehr.

„Also hab ich recht.“ Ein Grinsen erschien auf seinen Zügen. „Ich glaube, ich hab damals mit Tristan eine Wette abgeschlossen, wie viele Angebote du wohl bekommen hast. Ich weiß nur nicht mehr, wie viel ich geschätzt habe ...“

Ich selbst konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie viele es wirklich gewesen waren. Es lag zu lange zurück.

Er zuckte die Schultern. „Na ja, das mal beiseite. Wie es mit deiner Firma läuft, brauche ich ja kaum zu fragen. Deine Einrichtung spricht Bände und außerdem“ – er grinste mich verschmitzt an – „kommt man nirgendwo umhin, zu hören, dass es besser nicht sein kann. Selbst außerhalb von Japan.“

Er schwieg und lediglich das stetige Prasseln des Regens durchbrach die Stille.

„Kommst du damit klar?“

Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück. „Womit?“

Sein Blick war ernst. „Damit, dass Mokuba nicht mehr da ist? Kommst du damit klar?“

Ich schnaubte. „Natürlich komme ich damit klar, Wheeler. Ich hatte sechs Jahre Zeit.“

Damit hatte ich ungewollt mehr verraten, als beabsichtigt. Beinahe hätte ich mir auf die Lippen gebissen. Warum stellte Wheeler auch derartige Fragen? Konnte er sich nicht um seine Angelegenheiten kümmern?

Er beugte sich vor. „Also bist du nicht damit zurecht gekommen.“

„Warum interessiert es dich?“

Er seufzte und lehnte sich ebenfalls zurück. „Du hast dich verändert, Kaiba.“

„Menschen verändern sich, Wheeler“, gab ich spöttisch zurück. „Zehn Jahre sind eine lange Zeit.“

Er schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht Kaiba. Du hast dich total verändert.“

Wie kam er darauf? Abgesehen von einigen Sichtweisen und Einstellungen hatte sich bei mir nichts geändert. Ich war noch immer derselbe. Ich war Seto Kaiba. „Mach dich nicht lächerlich.“

„Das tue ich nicht. Früher hättest du mich niemals in deiner Nähe geduldet. Ich war es deiner Meinung nicht einmal wert, dieselbe Luft wie du zu atmen.“

„Ich war achtzehn, Wheeler. Und um offen zu sein, würde ich diese Ansicht immer noch vertreten, wenn es nicht zehn Jahre her wäre, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

Er richtete sich auf. „Also hast du mich vermisst?“

Ich lachte humorlos. „So sehr, wie ein Stofftier, Wheeler.“

„Ich habe es vermisst“, meinte er leise. In seinen Augen lag bitterer Ernst.

Ungläubig runzelte ich die Stirn. „Was hast du vermisst, Wheeler?“

„Mit dir zu streiten.“ Er lächelte mich an und von dem Ernst war nichts mehr zu sehen. „Es war so schrecklich ruhig. Niemand, der mich beleidigt oder nieder gemacht hat. Man gewöhnt sich zu sehr daran, wenn man während der Schulzeit nichts anderes gehört hat.“

„Du bist verrückt, Wheeler.“

„Genau das meine ich.“

Ich verlor die Geduld. „Wie kommt es, dass du so widerlich freundlich zu mir bist, wo du mich damals nicht hast ausstehen können? Woher kommt diese plötzliche Sinneswandlung? Leidest du unter einer unheilbaren Krankheit und willst vor deinem Ableben alles rein waschen?“ Mein Tonfall war verletzend und das wusste ich. Dennoch legte ich es drauf an.

„Nein, da muss ich dich enttäuschen.“ Er sah mich durchdringend an. „Ich bin gesund und werde sicherlich noch vierzig Jahre vor mir haben.“ Ein bitteres Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Aber mit dem Reinwaschen hast du nicht ganz Unrecht. Wenn auch auf eine Art und Weise, die du dir sicher nicht vorstellen kannst.“

Ich musterte ihn stumm. Er sprach absichtlich in Rätseln. „Es interessiert mich auch nicht. Und jetzt sage mir noch einmal, dass ich mich verändert habe, Wheeler.“

„Das hast du“, erwiderte er entgegen meiner Erwartung. „Sehr. Deine Ausstrahlung ist vollkommen anders.“

Meine Ausstrahlung? Ich sah noch immer genauso gut aus wie vor zehn Jahren, wenn es das meinte. Ich hatte keine Falten und meinte Haare würden auch in zehn Jahren keinen Anzeichen von Grau zeigen. Was konnte man sich mehr wünschen mit vierunddreißig? Vierunddreißig ...

„Du wirkst traurig.“ Wheeler sah mich nicht an. Sein Blick ruhte auf dem leeren Glas Wasser neben seinem Teller. In seinen Augen lag etwas, das ich nicht deuten konnte. Auch das hatte sich geändert. Früher hatte man in seinen Augen lesen können, wie in einem offenen Buch.

„Traurig?“, wiederholte ich. Wheeler hielt mich für traurig? „Warum sollte ich traurig sein? Ich besitze alles, was man sich nur wünschen kann. Ich wohne in einer Villa, ich habe einen teuren Wagen für jeden Tag in der Woche, zahllose Ferienhäuser und Dinge, von denen du nicht einmal träumen könntest.“ Ich lachte trocken. „Warum sollte ich traurig sein?“

„Weil du abgesehen von all den Dingen nichts hast. Du bist einsam.“

„Wheeler, ich bitte dich. Damals konnte ich mir diese Worte von Muto anhören, jetzt fang du nach zehn Jahren nicht auch noch damit an.“

„Yugi lag falsch. Damals warst du nicht einsam.“

„Schön, dass nach all der Zeit endlich jemand einsieht, dass ich Recht hatte.“

„Du bist heute einsam.“

„Wheeler.“

„Mokuba wohnt nicht mehr hier und selbst Roland ist nicht mehr da, um dir Gesellschaft zu leisten. Du wohnst in einer Villa mit dreißig Zimmern –“

„Achtunddreißig“, berichtigte ich ihn nüchtern.

„Mit achtunddreißig Zimmern und bist ganz alleine. Du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht einsam bist.“

„Doch, das kann ich sehr wohl. Ich bin nicht einsam. Ich habe mich. Und ich bin die beste Gesellschaft, in der ich mich befinden könnte.“

„Bist du schizophren?“

Mit dieser Frage warf er mich aus dem Konzept. Ich blinzelte irritiert. „Was?“

„Ob du schizophren bist, habe ich gefragt, Kaiba. Du bist deine beste Gesellschaft? Das klingt verrückt und verdammt nach einer gespalten Persönlichkeit.“

„Wheeler, bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?“ Wovon redete dieser Mann?

„Wenn man fünf Jahre lang alleine in einer Villa wohnt, kann es schon vorkommen, dass man verrückt wird. Mich wundert es offen gestanden, dass du es noch nicht zugibst.“ Er nickte.

„Wovon redest du, Wheeler?“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf. „Bist du mittlerweile Therapeut oder was?“

„Man muss nicht Psychologie studiert haben, um zu sehen, dass es nicht gut für dich ist, alleine in so einem großen Haus zu wohnen.“

Langsam wurde es mir zu bunt. Ich beugte mich vor und sah ihm finster ins Gesicht. „Wheeler, was willst du? Willst du mich dazu bringen, mir deine Gesellschaft zu wünschen? Ist das deine Art, um mich darum zu bitten, auf Dauer hier einzuziehen? Sprich direkt, wenn du etwas willst und hör auf, mich mit den leeren Phrasen eines Therapeuten zu nerven.“ Davon hatte ich in den letzten Jahren genug gehört.

Er tat es mir gleich und beugte sich ebenfalls vor. Wir befanden uns auf derselben Augenhöhe und unsere Gesichter waren nahe beieinander. „Dann sage ich es dir auf meine Weise: Wenn du noch mehr Jahre vollkommen alleine in diesem Haus verbringst wirst du früher oder später komplett durchdrehen vor lauter Einsamkeit.“

„Warum beschränkst du dich nicht auf deine eigenen Probleme und spielst stattdessen meinen Seelensorger?“, fragte ich und sah ihn aus schmalen Augen an.

„Weil deine Probleme mich geradezu anspringen. Sie sind mehr als nur offensichtlich“, entgegnete er leise.

„Warum hat dann niemand abgesehen von dir meine angeblichen Probleme bemerkt?“ Es war eine Lüge. Mokuba argwöhnte bereits seit zwei Jahren und bat mich regelmäßig, in ein kleineres Haus zu ziehen oder mir Gesellschaft zu suchen. Doch das ging Wheeler nichts an.

„Wahrscheinlich, weil alle blind sind“, antwortete er und sah mich provozierend an. „Genauso blind wie du sein musst, um es nicht zu bemerken.“ Er verengte die Augen. „Oder vielleicht hast du es schon bemerkt und hast bloß Angst, es dir einzugestehen.“

Das Geschirr klapperte, als ich es ruckartig zu mir zog und mich mit ihm erhob. „Du bist derjenige von uns, der ein Problem hat, Wheeler. Entweder dir ist zu langweilig, oder du versuchst, von deinen eigenen Problemen abzulenken.“

Ich wandte mich um. Die Spülmaschine öffnete sich lautlos und ich räumte das Geschirr ein, dann schloss ich sie mit einer nachlässigen Bewegung. Als ich mich dem Tisch zuwandte begegnet ich Wheelers forschendem Blick.

„Du willst nicht darüber reden.“

Und er hatte nicht einmal zehn Minuten gebraucht, um das zu bemerken. Er war noch immer so langsam, wie früher, wenn es um derartige Dinge ging.

„Aber du solltest darüber reden, bevor es dich zerfrisst.“

Der Tisch erzitterte und das Glas klirrte, als meine Hand stärker als notwendig auf ihn niederfuhr und die Packung Käse beinahe zerdrückte. „Zum letzten Mal, Wheeler: Ich habe keine Probleme, ich brauche keine Ratschläge und ich bin nicht einsam!“

„Warum siehst du mich dann so an?“

„Wie sollte ich dich ansehen? Ich sehe dich an, wie ich dich vor zehn Jahren schon angesehen habe.“

„Das tust du gerade nicht. Und da liegt der Punkt. Damals hast du mich mit Herablassung angesehen, während unserer Schulzeit mit Verachtung und wenn ich dich jetzt ansehe, dann sehe ich nichts.“

„Das ist alles?“, fragte ich uns sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Du offenbarst mir all diese haarsträubenden Theorien, nur weil du nichts in meinen Augen siehst? Wenn es dir nicht passt, dass du mir egal geworden bist, dann verschwinde oder geh zu einem Augenarzt und beschwere dich bei ihm über deine nichtvorhandene Sehstörung.“ Ich warf ihm einen düsteren Blick zu, dann kehrte ich ihm den Rücken, um den Käse und das Brot wegzuräumen.

„Das klingt schon eher nach dir, Kaiba“, kommentierte er meine Worte und als ich einen Blick über die Schulter warf sah ich ihn grinsen. Ließ er sich denn von nichts aus der Bahn werfen? Meine Worte hätten ihn zumindest kränken sollen. Ich schloss den Kühlschrank, als ich das Kratzen der Stuhlbeine über den Parkettboden und seine Schritte vernahm. Ich drehte mich um, doch er stand bereits hinter mir.

„Wir sollten reden Kaiba.“ Seine Augen lagen im Schatten seines Ponys, doch seine Stimme war ruhig und ernst. Ich wollte schon protestieren, doch er schritt an mir vorbei. Er hob die Hand und öffnete einen der Schränke.

„Es ist spät, draußen ist es kalt und es regnet. Ich schätze, ein heißer Kakao passt am besten zu diesem Wetter.“

Kakao.

Kakao?

„Bist du dafür nicht etwas zu alt, Wheeler?“, bemerkte ich bissig.

Er warf mir einen belustigten Blick zu. „In deinen Augen mag es kindisch erscheinen, aber ich für meinen Teil trinke gerne Kakao. Außerdem soll er die Nerven beruhigen.“

„Da verwechselst du etwas. Das Getränk nennt sich Kaffee.“

„Ich verwechsele überhaupt nichts.“ Er schloss den Schrank und öffnete einen anderen, anschließend noch einen. „Kakao schmeckt gut und beruhigt. Und er hält nicht unnötig wach, wie Kaffee.“ Er schloss den nächsten Schrank wieder und sah mich anklagend an. „Hast du in deiner Küche keinen Kakao?“

Ich warf ihm einen abwertenden Blick zu. „Hätte ich gewusst, dass du nach zehn Jahren spontan entscheidest, heute aufzutauchen und dich bei mir einzuquartieren, hätte ich eine Wagenladung Kakao beordert. Wofür hältst du mich? In diesem Haus gibt es keinen –“

„Ich hab ihn.“

„Was?“ Ich schüttelte den Kopf. „Unmöglich, ich habe nie welchen kaufen lassen.“

„Und was ist dann das hier?“ Er hielt eine Packung in die Höhe. Braune Buchstaben zeugten von ihrem Inhalt. Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Hatte Mokuba bei seinem letzten Besuch vor einem halben Jahr Kakao gekauft? Er liebte das Pulver noch immer, obwohl er nur vier Jahre jünger war als ich selbst.

Wheeler durchquerte die Küche und öffnete neben mir den Kühlschrank. „Milch wirst du doch wohl haben. Oder bist du dir dafür auch noch zu fein?“

Ich schwieg. Stattdessen ließ ich mich wieder auf meinem Stuhl nieder und beließ es dabei, Wheeler beim Zubereiten des Kakaos zuzusehen. Während er die Milch zum Kochen brachte, summte er leise und wippte mit einem Fuß im Takt einer nicht vorhandenen Musik. Es war unfassbar, dass Wheeler wirklich schon vierunddreißig sein sollte. Er wirkte auf mich noch immer, wie der achtzehnjährige Junge von damals, der so voller Leben und Elan gewesen war. Wie hatte er es geschafft, dieses Wesen in all den Jahren zu behalten?

Eine dampfende Tasse schob sich in mein Blickfeld. Mit einem dumpfen Laut berührte das Porzellan den Holztisch, dann kratzten Stuhlbeine über den teuren Boden und Wheeler saß wieder mir gegenüber, in den Händen eine ebenfalls dampfende Tasse voll mit süßem Kakao.

„Und jetzt rede.“

Ich streckte meine Hand aus und legte meine Finger über den kühlen Henkel der Tasse, zog sie bedächtig zu mir und musterte ihren Inhalt mit Skepsis, bevor ich den Blick hob und mich dazu herabließ, auf Wheelers Worte zu reagieren. „Ich habe in den letzten Minuten mehr mit dir geredet, als in den gesamten Jahren unserer Schulzeit.“

„Du weißt genau, was ich meine, Kaiba.“

Als ich die Tasse hob und an meine Lippen führte, fiel mein Blick auf den dunklen Ring, den sie als Abdruck hinterlassen hatte. Auf dem hellen Holz des Tisches wirkte er fehl am Platz, eingeengt durch den Farbkontrast. Ich riss mich davon los und nippte an dem heißen Getränk. Mit einer raschen Bewegung stand die Tasse wieder dort, wo Wheeler sie mir hingestellt hatte.

„Schmeckt’s?“ Er nahm ebenfalls einen Schluck, doch im Gegensatz zu mir, ließ er die Tasse kaum sinken.

Ich verzog die Lippen zu einem abfälligen Lächeln. „Ich habe selten etwas Schlimmeres getrunken.“

Seine Augenbrauen wanderten in die Höhe und verschwanden unter den Haarsträhnen, die ihm in die Stirn fielen. „Jetzt sag bloß, du magst ihn nicht. Dir ist echt nicht zu helfen, Kaiba.“

„Das sagt mir jemand, der Kaffee boykottiert.“

„Das ist nicht nur ein Boykott, das ist eine Lebenseinstellung. Kaffee ist bitter, und kalt schmeckt er überhaupt nicht mehr. Kakao ist das genaue Gegenteil.“

„Tatsächlich?“

„Versuch doch wenigstens, ein bisschen Interesse zu zeigen.“

„Interesse an etwas, das du von dir gibst. Es fällt mir schwer.“

Er stellte die Tasse ab. Dampf stieg aus ihr hervor, schien für wenige Momente sein Gesicht zu umwabern, bevor er verblasste. „Ich meine es ernst, Kaiba. Du solltest reden.“

Ich erwiderte seinen Blick. „Wenn du darauf bestehst: Ja, ich habe ein Problem.“

Seine Miene hellte sich merklich auf. „So ist es richtig Kaiba. Was ist dein Problem.“

„Es taucht nach zehn Jahren unerwartet aus dem Nichts auf, quartiert sich bei mir ein und meint, mir kostenlose Therapiestunden geben zu müssen, aufgrund eines Problems, das aus nichts mehr als Einbildung besteht.“ Meine Lippen verzogen sich boshaft.

Seine Haltung sank in sich zusammen. „Kaiba ...“

„Nein Wheeler, nicht ‚Kaiba’ und vor allem nicht in diesem Tonfall. Ich habe kein Problem und ich werde mich nicht wiederholen. Ich weiß nicht, warum du meinst, deine Hirngespinste auf mich übertragen zu müssen, aber ich werde nicht noch mehr von meiner Zeit opfern, um auf Umwegen an eine Antwort zu gelangen.“ Ich stand auf und blickte von oben auf ihn herab. „Ich verliere allmählich die Geduld, Wheeler. Du kannst diese Nacht hier bleiben, aber erwarte von mir keine Gastfreundschaft, kein Verständnis und auch sonst nichts, denn du bist hier nicht willkommen.“ Ich wandte mich ab. Nein, auch zehn Jahre Abwesenheit änderten nichts daran, dass seine alleinige Präsenz nur von kurzer Dauer ertragbar war.

Ich verließ die Küche, ließ ihn dort, ohne mich noch ein letztes Mal umzudrehen. Er hielt mich nicht auf, weder mit Worten noch mit Taten, ließ mich gehen, ließ mich flüchten und ich wusste, dass er es als eine Flucht betrachtete, genauso wie ich es tat. Es war eine Flucht. Ob vor ihm, vor der Leere dieses Hauses oder vor der Vergangenheit, die mich seit seinem Auftauchen wieder einzuholen versuchte, war mir selbst nicht klar.

Ich schritt über dunkle, leere Flure, die in ebenso verlassene Zimmer führten, die bereits seit Jahren nicht mehr bewohnt waren und deren einzige Gesellschaft die stetige Stille in ihnen war.

Erst Minuten später, als ich auf meinem Bett saß und starr in die Leere vor mir blickte, war mein rasselnder Atem, den ich bis dahin nicht einmal bemerkt hatte, imstande, sich wieder zu beruhigen. Ich blickte zur Seite, erfasste den Boden vor dem offenen Fenster, auf dessen Oberfläche sich eine schimmernde Pfütze gebildet hatte, während kalte Luft stetig in das Zimmer strömte.

Meine rechte Hand tastete über den Nachttisch neben meinem Bett, zog die oberste Schublade auf und griff nach dem kleinen Röhrchen aus Plastik. Es brauchte nur wenige Handgriffe, dann hielt ich die mattweiße Tablette in der Hand, die in der Schwärze des Zimmers trotz des fehlenden Lichts zu erkennen war, als würde sie von Innen heraus glühen. Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und nahm das bittere Stück, das mich jedes Mal aufs Neue einen Schritt näher an die völlige Verfremdung brachte.

Als ich unbestimmte Zeit später seitlich auf dem Bett liegend wieder halbwegs zu mir kam, meinte ich für den Bruchteil einer Sekunde einen dunklen Schemen am anderen Ende des Raums wahrzunehmen, dann senkten sich meine Augenlider, gezwungen von der beruhigenden Droge von Medizin. Ein Gedanke schaffte es, sich in meinem Bewusstsein zu formen, während mein Geist mehr und mehr abdriftete.
 

Wheeler und ich waren wie Kaffee und Kakao. Ich war der Kaffee, er der Kakao. Ich war bitter, er war süß.

Ich hasste Kakao und er hasste Kaffee. Ich drehte mich im Kreis.
 

Wheeler und ich waren wie Kaffee und Kakao ...
 


 

tbc

Enforcement

3. Kapitel: Enforcement
 


 

Mein Erwachen am darauf folgenden Morgen wurde begleitet von Kopfschmerzen und einer penetranten Übelkeit. Schwerfällig richtete ich mich auf, nur um festzustellen, dass ich die vergangene Nacht mit meiner Kleidung verbracht hatte.

Während ich mich erhob und begann, mir mein Oberteil abzustreifen, fiel mein Blick auf das Fenster am anderen Ende des Raums. Es war geschlossen; Regen prasselte von außen dagegen, und die Pfütze auf dem Parkettboden schimmerte im Licht der Nachttischlampe.

Meine Kopfschmerzen ließen es nicht zu, mir weitere Gedanken darüber zu machen, sie führten mich geradezu mechanisch ins angrenzende Badezimmer, wo ich die Tabletten gegen sie in dem kleinen Schrank über dem Waschbecken vorfand. Dort, wo sie immer waren.

Unbestimmte Zeit später fiel die Tür zu meinem Schlafzimmer leise hinter mir ins Schloss, während ich, betäubt von der Schmerztablette, in die Küche ging, um mir meinen allmorgendlichen Kaffee zu gönnen. Doch noch bevor ich die Tür der Küche öffnen konnte, nahm ich Geräusche wahr, die befremdlich in meinen Ohren nachklangen. Geräusche von jemand anderem. Geräusche von Wheeler, der es tatsächlich wagte, meine Küche zu benutzen.

„Morgen Kaiba“, meinte er, ohne sich umzudrehen, als ich den Raum betrat und die Tür hinter mir schloss.

„Warum bist du so früh schon auf?“, entgegnete ich, seinen Gruß nicht erwidernd, mit Blick auf die digitale Uhr oberhalb des Backofens. Es war viertel vor sieben. Wheeler stand vor dem Herd, die Abzugshaube war eingeschaltet und summte leise, während es vor ihm in der Pfanne brutzelte. Auf meine Worte hin wandte er den Kopf und lächelte mich an. „Ich bin ein Frühaufsteher.“

Er schien bester Laune und das nervte mich. Wheeler ein Frühaufsteher? Zehn Jahre waren eine lange Zeit, da wurde selbst Wheeler, der damals als Morgenmuffel bekannt war und regelmäßig in Unterricht einschlief, zu einem Menschen, der früh aufstand. Doch was interessierte es mich überhaupt? Ich begann mir, ihn ignorierend, einen Kaffee zu machen. Die Maschine brummte, während ich mich an einen der Schränke lehnte und Wheeler dabei beobachtete, wie er Eier in die Pfanne gab. Sekunden verstrichen, bevor er meinen Blick bemerkte und mich ansah.

„Ich dachte mir, da ich schon hier übernachten darf, wäre es nur fair, wenn ich als Entschädigung das Frühstück mache.“

Er deutete über die Schulter auf den gedeckten Tisch, der mir erst jetzt bewusst auffiel. Es musste an der Tablette liegen, denn für gewöhnlich war ich nicht so unaufmerksam. Ich griff nach meiner gefüllten Kaffeetasse und setzte mich an den Tisch. Schweigend, dabei hin und wieder an dem Kaffee nippend, sah ich Wheeler zu, bis er schließlich den Herd ausstellte und mit der Bratpfanne zum Tisch kam.

„Wie viele Eier möchtest du?“

Als ich ihm nicht antwortete, häufte er mir kurzerhand zwei auf den Teller und anschließend sich selbst dieselbe Menge. Ich ließ ihn weiterhin nicht aus den Augen und machte auch keine Anstalten, das Frühstück anzurühren. Dumme Fragen, deren Antwort mich eigentlich nicht hätte interessieren dürfen, lagen auf meiner Zunge und waren viel zu dicht dran, laut ausgesprochen zu werden.

Hatte er letzte Nacht den Weg zurück in sein Zimmer gefunden? Hatte er überhaupt geschlafen? Hatte er das Fenster in meinem Zimmer geschlossen? Warum war Wheeler zu einem Frühaufsteher geworden?

Draußen war es noch dunkel, der Regen schlug wie kleine Kieselsteine gegen die Fenster, die Küche wurde einzig beleuchtet von einer kleinen Lampe, deren Existenz ich bis heute vergessen hatte und welche auf einem der Fensterbretter stand.

Wheeler ließ die Gabel mit dem Ei, die er bereits an seinen Mund gehoben hatte, sinken. „Was ist? Hast du keinen Hunger?“

Das Geräusch der Tasse, die ich in einer ruckartigen Bewegung zurück auf den Tisch stellte, klang wie ein Hammerschlag in der erdrückenden Stille, die von dem gleichmäßigen Summen der Abzugshaube begleitet wurde. „Warum bist du zurückgekommen?“

Die Gabel klirrte, als er sie ablegte. „Was meinst du?“

„Warum bist du zurückgekommen? Zehn Jahre - davon sechs außerhalb dieser Stadt - und du tauchst aus dem Nichts wieder auf. Nenn mir einen Grund.“ Meine Stimme klang schon lange nicht mehr annähernd gleichgültig, wie ich es gerne gehabt hätte. Ungeduld, begleitet von zunehmender Schärfe, schlug Wheeler entgegen und ließen seine Züge erstarren.

„Ich dachte, es interessiert dich nicht“, bemerkte er und wirkte dabei ungewohnt abweisend.

„Glaub mir, das würde es nicht, wenn du nicht seit deinem Auftauchen versuchen würdest, mir eine scheinbare Charakterstörung nachzuweisen.“

„Ich habe schon gesagt, dass ich Dinge wieder ins Reine bringen möchte. Reicht dir diese Erklärung nicht?“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seltsamerweise wirkte diese Reaktion auf mich mehr defensiv, als der Situation erhaben.

„Was soll daran eine Erklärung sein, Wheeler?“

„Ich schulde dir keine.“

„Das stimmt, aber du kannst mir nicht weiß machen, dass du aus plötzlicher Sehnsucht nach deinen Freunden zurückgekehrt bist.“

Er biss sich auf die Lippe. Sein Blick wanderte unruhig durch die Küche, bis er schließlich an mir hängen blieb. „Ich habe einen Fehler gemacht, Kaiba, und ich habe sechs Jahre gebraucht, um mich damit abzufinden. Jetzt bin ich darüber hinweg und kann meinen Freuden wieder unter die Augen treten.“

„Was für ein Fehler muss es sein, dass du sechs Jahre brauchst, um damit fertig zu werden?“, entgegnete ich spöttisch. „Hast du jemanden umgebracht oder was?“

„Darüber macht man keine Witze, Kaiba“, zischte er und seine Augen verengten sich.

„Wer sagt, dass es ein Witz war?“

„Ich habe niemanden umgebracht, Kaiba. Ich rede nicht von so einem Fehler.“

„Es wäre besser für dich. Denn andernfalls sähe ich mich gezwungen, die Polizei zu informieren.“ Er wirkte, als müsse er sich zur Ruhe zwingen, dann straffte sich seine Haltung und das Lächeln kehrte auf seine Züge zurück. „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, ich hätte jemanden umgebracht. Mach dich nicht lächerlich, Kaiba. Nein, ich rede von einer anderen Sache, aber sie dürfte dich nicht interessieren. Jedenfalls bin ich jetzt wieder hier und es ist an der Zeit, mich bei den anderen zu entschuldigen. Vor allem bei meiner Schwester.“ Sein Blick trübte sich. „Sie wird sich für alles die Schuld gegeben haben.“

Je länger er mit diesem Blick auf seinen Teller hinabstarrte, desto unwohler fühlte ich mich. An der Tablette konnte es nicht liegen, denn ihre Wirkung hielt für mehrere Stunden, es war vielmehr wegen Wheeler. Sein ganzes Verhalten warf Fragen auf, die ich mir nie hatte stellen wollen.

„Wo wohnt deine Schwester?“, fragte ich beiläufig und nahm einen Schluck Kaffee, bevor ich nach der Gabel griff und zu frühstücken begann.

„Wieso willst du das wissen?“

Ich sah ihn abschätzend an. „Ich erinnere mich nur an deine gestrigen Worte. Du meintest, du hättest kein Geld. Wie willst du ohne einen Yen zu deiner Schwester kommen, noch dazu bei Regen? Zu Fuß?“, fügte ich spottend hinzu.

Er hob die Hand und fuhr sich durch die Haare. „Daran hatte ich noch nicht gedacht.“ Er grinste verlegen.

Ich ließ die Gabel sinken. „Du bist tatsächlich noch genauso planlos, wie vor zehn Jahren. Man könnte meinen, du seiest noch immer nicht erwachsen.“

„Bei dir ist es das genaue Gegenteil“, meinte er und erwiderte meinen Blick aufrichtig. „Du wirkst mehr als nur erwachsen. Aber zu gleichen Teilen verbittert.“

Zunächst hielt ich seine Worte für einen Scherz, doch als der Ernst nicht aus seinen Augen wich, wurde mir klar, dass es alles andere als das war. Er meinte es so, wie er es sagte.

Verbittert ...

„Ich bitte dich Wheeler, wie kommst du auf Verbitterung? Fängst du jetzt wieder mit deinen Psychospielen an?“

Er schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“

Ich tat es mit Freuden und wir frühstückten schweigend.
 

Stunden später stand ich vor der Tür zu Wheelers Zimmer. Ich stutzte, als ich mir des Gedankens vollendlich bewusst wurde. Wheelers Zimmer? Seit wann betitelte ich es so? Nur weil er eine Nacht dort verbracht hatte, wurde es nicht automatisch zu seinem Eigentum. Es war mein Anwesen, meine Villa und demnach mein Zimmer. Auch, wenn ich es nie benutzte. Momente lang spielte ich mit dem Gedanken, anzuklopfen, doch ich besann mich fast augenblicklich eines Besseren. Mein Haus, meine Regeln, kein Klopfen.

Ich legte eine Hand auf das kalte Metall der Tür, welches so leblos wirkte, wie alles in diesem Haus und drückte sie hinunter. Mit einem Knarren schwang die Tür auf. Mein Blick fiel auf Wheeler, der ausgestreckt auf dem Himmelbett lag, den Blick an die Decke gerichtet. In diesem Moment wirkte er so befremdlich klein auf dem großen Bett und ich brauchte Sekunden, um mich von diesem Anblick loszureißen und mich zu daran entsinnen, warum ich überhaupt erst einen Schritt in dieses Zimmer gesetzt hatte.

„Wir sollten los.“

Meine Worte wirkten fehl am Platz genauso wie meine Stimme. Sie klang in meinen eigenen Ohren wie die eines anderen und doch stammte sie von mir, da Wheeler seine Lippen nicht bewegt hatte.

Wie eine Marionette drehte er den Kopf in meine Richtung. Es war dämmrig in diesem Zimmer, denn draußen war der Himmel noch immer bedeckt von dunklen Regenwolken, die ihren Inhalt gen Erde schickten und einen endlosen Vorrat des kalten Nass zu beherbergen schienen. Wheelers Gesichtszüge lagen im Schatten, doch er begann zu sprechen, bevor ich meine Worte mit Nachdruck wiederholen konnte:

Wir?“

„Ja, wir. Es sei denn du legst Wert darauf, bei strömendem Regen durch Domino zu irren.“

Die Federn der Matratze quietschten, als Wheeler sich aufsetzte. Noch immer konnte ich sein Gesicht kaum sehen, doch seine Stimme sagte mehr über seinen Gefühlszustand aus, als jede Mimik es hätte tun können.

„Willst du damit sagen, du fährst mich?“ Er war verwirrt. Zweifellos.

„Ja, Wheeler. Möchtest du es schriftlich?“

„Warum?“

Ich verschränkte die Arme und lehnte mich an den Rahmen der Tür. Das Holz war kühl, das spürte ich sogar durch den dichten Stoff meines Oberteils. Irgendwo in diesem Haus musste es undichte Stellen geben, denn ich spürte ebenso, dass es in meinem Nacken unangenehm zog. Ich musste bei Gelegenheit jemanden herbeordern. Doch das spielte momentan nichts zur Sache. Meine Lippen verzogen sich zu einem reservierten Lächeln. „Ich tue es nicht aus Nächstenliebe, Wheeler. Doch ich gehe davon aus, dass ich dich nicht loswerde, ehe du nicht – wie hast du dich noch gleich ausgedrückt? – alles ins Reine gebracht hast.“

Wheeler schwang die Beine über den Bettrand. „Sag es mir und ich verlasse sofort deine Villa, Kaiba. Ich bin nicht auf dein Asyl angewiesen.“ Seine Stimme war kälter als das Holz des Türrahmens.

„Interessante Einstellung, Wheeler. Dennoch kann ich nicht zulassen, dass du – verantwortungslos wie du bist – durch diese Stadt irrst. Devlin und Taylor würden es nicht gutheißen, wenn ich es zuließe und wie ich dir bereits gestern gesagt habe, bin ich nicht erpicht darauf, mir ein neues Stammcafé zu suchen.“

Es war offensichtlich, dass er diese Lüge durchschauen würde. Ich selbst hatte keine Antwort auf sein warum, die auch nur annähernd glaubwürdig war, geschweige denn mich selbst durch angebrachte Argumentation befriedigte. Nein, ich hatte keinen nachvollziehbaren Grund, ihm dieses Angebot zu machen. Vielleicht tat ich es aus Langeweile. Tatsächlich klang dieser Grund wieder verhältnismäßig plausibel.

„Verstehe.“ Seine Stimme holte mich zurück in die Realität und ich begegnete seiner Aussage mit Skepsis. Meine Argumentation war weniger als nachvollziehbar gewesen, doch er ging darauf ein. Vielleicht waren wir uns doch ähnlicher als angenommen. Ich stieß mich von dem Türrahmen ab und gab ihm mit einer unmissverständlichen Geste zu verstehen, dass er mir folgen sollte. Wir ließen die Zimmer hinter uns, folgten den Gängen und Treppen hinab in die Eingangshalle, wo wir uns Jacken überzogen. Anschließend folgten weitere verlassene Gänge und Treppenstufen hinab in die Tiefgarage unter der Villa. Als die schwere gesicherte Eisentür hinter uns zufiel und nichts als schwere Stille zurückließ, wurde mir vollends bewusst, wie lange ich nicht mehr hier unten gewesen war.

In einer Reihe standen meine Wagen, auf Hochglanz poliert von einem Mann, der jede Woche kam, um sich um sie zu kümmern, nur um anschließend wieder zu gehen und sie in der Dunkelheit der Garage zurückzulassen, in welcher sie standen und auch weiterhin tun würden, ohne jemals benutzt zu werden.

Ich konnte mich nicht erinnern mit auch nur einem von ihnen mehr als ein Mal gefahren zu sein. Ich erledigte meine Arbeit zwar von der Firma aus, doch für den Weg dorthin stand jeden Morgen ein schwarzer Wagen vor der Eingangstür in der Einfahrt bereit. Für vereinzelte Reisen benutzte ich denselben Wagen und denselben Chauffeur und anschließend ein Privatflugzeug, aber keinen von meinen eigenen Wagen.

„Das bedeutet, es ist dein Ernst gewesen“, meinte Wheeler neben mir und wirkte fassungslos.

„Denkst du, ich würde scherzen?“

„Nein“, wandte er ein und lächelte mich auf eine Art an, die mich für wenige Momente wieder in das Gesicht eines Achtzehnjährigen blicken ließ. „Das mit deinen Wagen, meine ich. Dass du für jeden Tag in der Woche einen hast. Ich hab es für eine Lüge gehalten.“

„Auch wenn zehn Jahre vergangen sind, heißt es nicht, dass ich lüge“, sagte ich, ohne ihn anzusehen und sprach damit unwiderruflich die zweite Lüge innerhalb weniger Minuten aus.

„Anscheinend.“ Er nickte und sprach dann nicht mehr.

Ich verspürte wenig Verlangen danach, mir den schönsten der Wagen auszusuchen, darum griff ich wahllos nach einem der Schlüssel die, ebenfalls aufgereiht, an in der Wand eingelassenen Haken hingen und drückte den Türöffner. Ein Piepen, begleitet vom Aufleuchten der Blinker am anderen Ende der Garage bestätigte meine Wahl.

Der Wagen war schwarz, die Scheiben verdunkelt und seine Marke kostspieliger als ein Grundstück im Zentrum von Domino. Ehrfurcht lag in Wheelers Blick, als er sich auf dem Beifahrersitz niederließ, doch als ich einen Blick zur Seite warf, starrte er aus dem Fenster und hatte sich von mir abgewandt.

Ich startete den Motor, legte den Gang ein und fuhr los. Es war ungewohnt nach mehreren Jahren das erste Mal wieder selbst ein Auto zu steuern und auf den ersten Metern der Steigung hinauf zum Garagentor, welche sich automatisch öffnete, hätte ich den Wagen beinahe abgewürgt. Wheeler neben mir gluckste leise, und selbst ein warnender Blick ließ ihn nicht verstummen. Auch in dieser Hinsicht hatte er sich kaum verändert.

„Wo wohnt deine Schwester?“, fragte ich beiläufig, während wir den Kiesweg zum Eisentor entlangfuhren und die weißen Steine unter den dunklen Rädern knirschten.

„Am anderen Ende der Stadt. Zwei Blocks von dem alten Spielladen von Yugis Großvater entfernt.“

Ich warf ihm aus den Augenwinkeln einen flüchtigen Blick zu. „Du weißt, dass der Laden bereits seit Jahren nicht mehr existiert?“

Er nickte. „Ja, ich habe es von Marik gehört. Nachdem Großvater Muto gestorben ist, hat Yugi den Laden geschlossen.“ Er lächelte wehmütig. „Dort habe ich meine ersten Duel Monsters Karten von Großvater Muto geschenkt bekommen.“

Ich zog es vor, zu schweigen, während er vergangenen Erinnerungen nachhing. Die Scheibenwischer arbeiteten in regelmäßigem Takt, die Straßen waren trotz des Wetters voll und eine halbe Stunde verstrich in Stille, bis ich schließlich vor dem verwahrloste Gebäude des ehemaligen Spielladens blinkte und anschließend rechts ran fuhr.

„Von hier aus musst du den Weg beschreiben“, bemerkte ich knapp, doch Wheeler hörte mir überhaupt nicht zu. Sein Blick war wie hypnotisiert auf das heruntergekommene Gebäude gerichtet.

„Wheeler.“

Ohne auf meine Worte zu reagieren, öffnete er die Tür und stieg aus. Ich richtete mich auf und blickte ihm im ersten Moment überrumpelt hinterher, bevor ich regierte.

„Wheeler, was zum -?!“ Ich löste mit einer raschen Bewegung den Gurt und stieg ebenfalls aus. „Komm sofort wieder her, hast du verstanden?!“

Der Regen fiel in Strömen vom Himmel und es bedurfte nur weniger Sekunden und ich war beinahe bis auf die Haut durchnässt. Mein Mantel bot der Nässe keinen Widerstand und einen Schirm hatte ich nicht dabei. Doch Wheeler dachte nicht daran, zu reagieren. Ungeachtet der Tatsache, dass auch er zunehmend nasser wurde, führten ihn seine Schritte immer weiter an das Haus heran, bis er schließlich vor der einstigen Eingangstür stand.

Dort, wo vor Jahren Glas gewesen und ein Schild mit der Aufschrift Geöffnet gehangen hatten, war klaffende Schwärze. Wo einmal die Schaufenster mit den Auslagen voller Spielwahren und Duel Monster Karten gewesen war, versperrte nasses Holz den Blick auf das Innere. Wheelers Blick wanderte an der Außenwand des Hauses entlang nach oben und schließlich wieder zurück.

Er hob die Hand und umfasste den rissigen Türgriff. Ich schlug rasch die Wagentür hinter mir zu und machte einige schnelle Schritt auf ihn zu. „Wheeler, verdammt, komm wieder her. Wir sind nicht hier, um Besichtigungen zu machen!“

Er wollte mich nicht hören. Dieser einfältige Idiot war viel zu sehr gefangen in seinen Erinnerungen, um auf mich zu achten. Die Tür des Gebäudes öffnete sich mit einem Knarren, lauter als das stetige Prasseln des Regens. Wheeler ging hinein und ich sah mich gezwungen, ihm zu folgen.

Dunkelheit umfing uns, als wir über die Türschwelle traten. Verbrauchte modrige Luft schlug mir entgegen und ich hob die Hand vor Mund und Nase, unterdrückte einen angewiderten Laut. Ich erhaschte einen Blick auf Wheeler, der in der Mitte des Raumes stand, den Blick gen Decke gerichtet.

„Hier habe ich mich jeden Nachmittag nach der Schule mit Yugi getroffen.“ Seine Worte hallten von den Wänden wider und wirkten unnatürlich laut. „Hier hat mir Großvater Muto Duel Monsters beigebracht, hier haben Yugi und ich immer geübt.“

„Wheeler“, setzte ich an und machte einen Schritt auf ihn zu.

„Als Serenity wieder sehen konnte, bin ich auch mit ihr hierhin gekommen. Sie hat es auch lernen wollen, nachdem ich ihr mit dem Preis vom Königreich der Duellanten die Operation bezahlen konnte.“

Ich verspürte den störenden Drang ihn zu schütteln, damit er aufhörte, in Erinnerungen zu ertrinken.

„Ich hatte eigentlich immer vorgehabt, Yugi eines Tages zu helfen, diesen Laden weiter zu führen.“ Seine Worte wurden leiser und seine Haltung sank in sich zusammen. Er sah sich um, blickte von dem zerfallenen Ladentisch zu den gesplitterten Regalen an den Wänden, auf deren Brettern Staub und Schmutz lag. „Wenn ich nicht sechs Jahre weg gewesen wäre, vielleicht hätte ich Yugi nach Großvater Mutos Tod dazu ermutigen können, dies hier nicht aufzugeben.“

Dieser pathetische Dummkopf gab sich die Schuld für den Zustand dieses Gebäudes.

Ich verzog missbilligend den Mund und packte Wheeler am Arm. Grob zerrte ich daran und zwang ihn, sich umzudrehen und mich anzusehen.

„Sei still“, fuhr ich ihn an und begegnete dem erschütterten und zugleich verwirrten Blick aus seinen Augen mit Gleichgültigkeit. „Ja, wohlmöglich ist es deine Schuld, dass es hier jetzt so aussieht, aber daran kannst du nichts mehr ändern. Du hast selbst entschieden, sechs Jahre aus dem Leben von Muto zu verschwinden also kannst du auf keine Rücksichtnahme von ihm rechnen. Vergiss dein jämmerliches Selbstmitleid und jetzt komm gefälligst mit.“

Ich zog ihn hinter mir her, aus dem Gebäude, weg von den Erinnerungen und der Dunkelheit, die von Sekunde zu Sekunde erdrückender schien.

Schließlich saßen wir wieder gemeinsam im Wagen. Ich griff nach dem Gurt und schnallte mich an, dann schaltete ich den Warnblinker aus. Wheeler neben mir schwieg beharrlich, doch ich konnte es momentan nicht dabei belassen. Die nasse Kleidung sorgte allmählich für zunehmende Kälte, darum stellte ich die Heizung an.

„Wo genau wohnt deine Schwester?“ Meine Frage schien ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Bis eben war sein Blick abwesend auf das Gebäude neben uns gerichtet, aus welchem ich ihn noch vor wenigen Minuten gezerrt hatte, nun ruhte er auf mir. Er öffnete den Mund und begann zu erklären, wie ich zu fahren hatte. Ich hörte ihm stumm zu, nickte zwischendurch, dann fuhr ich los.

Der Motor war warmgelaufen – auch ihn hatte ich nicht ausschalten können, bevor ich Wheeler in das Gebäude gefolgt war, wir konnten uns also glücklich schätzen, dass der Wagen in den Minuten, in denen wir nicht auf ihn geachtet hatten, nicht gestohlen worden war. Genau genommen konnte ich mich glücklich schätzen, dass er nicht gestohlen worden war. Wheeler konnte sich glücklich schätzen, dass ich ihn mitnahm. Doch das stand momentan nicht zur Debatte.

Als ich in die Straße der gegebenen Adresse einbog nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, wie Wheelers Haltung sich neben mit anspannte. Nun saß er so gerade, dass er mit dem Kopf beinahe die Decke berührte. Nachdem ich eine geeignete Parklücke gefunden und den Motor ausgeschaltet hatte, wandte ich mich Wheeler zu. Mit einem Arm stützte ich mich vom Lenkrad ab, während ich ihn eingehend betrachtete.

Er sah schlecht aus. Unnatürlich blass schien er sogar noch heller als das weiße Leder der Sitze, welches – wie mir nun zum ersten Mal auffiel – geradezu beleidigend geschmacklos war. Sein Blick wanderte ruhelos über das Gebäude mit der Nummer zwölf. Was immer zwischen ihm und seiner Schwester vorgefallen war, es musste ernst genug sein, um bei Wheeler die Befürchtung entstehen zu lassen, nicht mehr willkommen zu sein. Nicht, dass es mich interessierte. Es fiel mir lediglich auf.

„Ich warte hier. Du kannst gehen.“

Er nickte, zögerte und stieg aus. Er schlug die Tür härter als notwendig hinter sich zu und für kurze Zeit verspürte ich den Drang, ihm ins Gedächtnis zu rufen, wie teuer und gleichsam empfindlich dieses Fahrzeug war, bis ich mir bewusst wurde, dass ich vor zehn Jahren so gehandelt hätte. Ich blickte ihm nach, sah, wie er sich dem Gebäude nur langsam näherte, wenngleich der Regen auch weiterhin erbarmungslos auf ihn niederfiel und nicht an Intensität abnahm. Durch einen grauen Schleier konnte ich erkennen, wie er die Hand zum Klingeln hob und weitere Sekunden verstrichen, bevor sich die Tür öffnete und Wheeler in dem mehrstöckigen Gebäude verschwand.

Lange blickte ich auf die geschlossene Eingangstür, als erwartete ich jeden Moment Wheeler, der zurückkehrte, doch nichts tat sich. Letztendlich schwand mein Interesse und ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und genoss die angenehme Wärme, die das Innere des Wagens erfüllte. Sie konnte die klamme Kälte nicht vollends vertreiben, dennoch tat sie ungemein gut und machte mich schläfrig.

Normalerweise benötigte ich nicht viel Schlaf, aber die letzte Nacht war unruhig gewesen, begleitet von Träumen, vermengt mit Ereignissen aus der Vergangenheit, die ich vergessen geglaubt hatte. Nun machten sich die Konsequenzen bemerkbar, erschwerte meine Augenlider gleichsam wie meinen Körper und ich spürte, wie ich tiefer in den Sitz sank, begleitet von dem Prasseln des Regens auf dem Wagendach.
 

Als ich meine Augen öffnete, hatte ich zunächst das Gefühl, nur für wenige Sekunden abgedriftet zu sein, doch als ich das Radio anstellte, verkündete mir die Nachrichtensprecherin, dass es bereits halb zwei war. Ich richtete mich auf und streckte mich, so gut es im Inneren eines Wagens ging.

Es hatte aufgehört zu regnen, doch ein Blick in den Himmel machte klar, dass dies nicht von langer Dauer sein würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es wieder anfangen würde.

Für wenige Momente wanderte mein Blick zu der Eingangstür, durch welche Wheeler vor nun etwa eineinhalb Stunden verschwunden war, dann lehnte ich mich wieder zurück und schloss die Augen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals in einem Wagen eingeschlafen zu sein. Selbst im Flugzeug hatte ich es nur wenige Male geschafft – und in jedem dieser Ausnahmefälle war es nach einem achtundvierzig Stundentag gewesen. Und nun hatte ich es mehr als eine Stunde getan, in einem Wagen, geparkt vor dem Haus, in dem Wheelers kleine Schwester wohnte.

Seit Wheeler wieder in mein Leben getreten war, bildeten sich auffallend viele Ungereimtheiten. Ich hatte mich bereits mehrere Male gegen meine Art verhalten. Ich ließ mich von seinem Verhalten beeinflussen. Ich schlief in einem Wagen. Beunruhigende Ungereimtheiten. Hinzu kam, dass mit Wheelers Auftauchen nicht nur alte Verhaltensmuster, sondern auch Erinnerungen freigelegt worden waren. Erinnerungen, die ich in den letzten Jahren erfolgreich aus meinem Bewusstsein verbannt hatte. Erinnerungen, die mehr Schmerzen mit sich brachten, als gut war.

Erinnerungen, die Wheeler durch seine haarsträubenden Diagnosen provoziert und heraufbeschworen hatte. Erinnerungen, die ich nicht haben wollte.

Ich schloss die Augen und massierte mir mit einer Hand die Schläfen, während ich versuchte die Bilder, die vor meinem inneren Auge wie bei einer Diashow erschienen, zurückzudrängen. Bilder, die weitere Erinnerungen mit sich brachten.
 

~ „Du ziehst aus?“

„Weißt du Seto, ich denke, ich bin mittlerweile alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen.“

„Ich würde es mir an deiner Stelle gründlich überlegen, Mokuba.“

„Das habe ich. Sehr gründlich sogar ... Kommst du damit klar, Seto?“

„Natürlich. Du hast Recht, du bist alt genug. Wenn es deine Entscheidung ist, akzeptiere ich sie.“ ~
 

~ „Und Sie haben ihm gesagt, dass Sie damit zurecht kommen, obwohl dem nicht so war?“

„Was hätte ich tun sollen? Er ist fünfundzwanzig, alt genug um für sich selbst entscheiden zu können.“

„Er hätte es sicherlich verstanden, wenn Sie mit ihm geredet hätten.“

„Warum soll ich ihm seine Zukunftspläne erschweren, nur weil ich mich unwohl fühle? Außerdem gibt es nicht einmal einen relevanten Grund, sich so zu fühlen. Ich sollte stolz sein, weil Mokuba endlich erwachsen ist.“

„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie ihn erzogen wie einen Sohn. Bei Eltern gibt es einen Abnabelungsvorgang und besonders bei Vater und Sohn führt dies in vielen Fällen zu Komplikationen, weil der Vater nicht loslassen kann.“

„Ich bin nicht hier, um mir Ihre Theorien über meine angeblichen Komplexe anzuhören.“

„Doch, Herr Kaiba. Genau deshalb sind Sie hier. Und ich möchte Ihnen lediglich erklären, was derzeit in Ihnen vorgeht.“

„Was genau in mir vorgeht, weiß ich immer noch am besten.“ ~
 

~ „Sie sollten etwas weniger arbeiten.“

„Ich werde weniger arbeiten, sobald Mokuba die Leitung unserer Zweigstelle in den Vereinigten Staaten übernommen hat.“ „Bis dahin sind es noch sechs Monate.“

„Dann werde ich noch sechs Monate so arbeiten.“

„Wenn Sie so weitermachen wie jetzt, werden Sie in sechs Monaten nicht mehr in der Lage sein, zu arbeiten.“

„Roland, Sie haben morgen Ihren letzten Tag, aber noch alle Urlaubstage. Warum nehmen Sie ihn sich nicht frei?“

„Weil ich Master Mokuba versprochen habe, mich bis zu meinem letzten Tag um Sie zu kümmern und dafür zu sorgen, dass Ihre Gesundheit erhalten bleibt.“

„Um meine Gesundheit steht es bestens, fragen Sie meinen Hausarzt, er wird es Ihnen bestätigen.“

„Daum geht es mir nicht ausschließlich. Mit Gesundheit meinte Master Mokuba nicht nur Ihre körperliche Verfassung.“

„Es geht mir gut. Und solange Mokuba nichts von den Terminen bei meinem Therapeuten erfährt, wird es auch so bleiben.“

„Warum haben Sie sich die Liste der Bewerber für meine Stelle nicht angesehen, Master Kaiba?“

„Roland, ich habe sie mir angesehen und ich habe Ihnen bereits erklärt, dass ich keinen der Bewerber für geeignet hielt.“

„Sind Sie sich wirklich sicher?“

„Ich brauche niemanden, Roland.“ ~
 

~ „... neuesten Informationen zufolge, die wir von den Sprechern der Kaiba Corporation erhalten haben, wird in den nächsten Monaten eine revolutionäre Software auf dem Weltmarkt erscheinen. Ihr Erfinder und Hersteller ist niemand geringeres als Seto Kaiba persönlich. In einem Gespräch mit einem unserer Reporter teilt uns Seto Kaibas Pressesprecher mit, dass die neue Software all ihren Vorgängern um Jahre voraus ist. Seto Kaiba scheint sich wieder einmal selbst übertroffen zu haben. Seriösen Quellen zufolge soll er an der Entwicklung ein Jahr gearbeitet haben. Das ist eine wahrlich vorbildliche Leistung, denn für einen viel beschäftigten Mann wie ihn ist ein Jahr viel Zeit ...“ ~
 

Ich schlug die Augen wieder auf. Es fühlte sich an, als hätte man mir einen Schwall kalten Wassers ins Gesicht geschüttelt. Die Wärme des Wagens schien vergangen, sie drang nicht mehr bis zu mir vor. Wie lange würde Wheeler noch brauchen? Wann kam er zurück?

Und je länger ich mir dese Fragen stellte, desto deutlicher wurde die Erkenntnis, dass die Antworten nicht wichtig waren. Dass sie schlichtweg an Relevanz verloren hatten. Es spielte keine Rolle, wann er wiederkam. Denn ich hatte Zeit. So viel Zeit, dass bei dem alleinigen Gedanken daran ganz anders zu werden drohte.

‚Du wirkst mehr als nur erwachsen. Aber zu gleichen Teilen verbittert.’

Ich war verbittert, denn ich hatte in den vergangenen Jahren erkannt, dass es niemanden gab, der mich brauchte. Dass es niemanden gab, der auf mich wartete. Und dass es keinen Grund gab, sich zu beeilen.
 

Denn ich hatte Zeit ...
 


 

tbc

Endurance

!Charakterinfo! Meine Vorstellung von der Entwicklung der Figuren ist natürlich rein fiktiv und ziemlich subjektiv. Natürlich habe ich mir vorher meine Gedanken gemacht und lasse sie nicht etwas tun, was unmöglich zu ihnen passen würde. Selbst, wenn ihr finden solltet, dass das eine oder andere absolut unpassend ist, bitte ich euch doch, einen Moment inne zu halten und es euch einfach mal vorzustellen. Vielleicht ist es dann gar nicht so unmöglich. !Charakterinfo Ende!
 

Das bezieht sich jetzt nicht nur auf dieses Kapitel, sondern auch auf die vorherigen und zukünftigen. Ich bedanke mich jetzt schon für eure Geduld und Ausdauer! *verbeug*
 


 

4. Kapitel: Endorsement
 


 

Als die Tür zu dem Gebäude sich öffnete, war es viertel nach zwei. Wheeler war mehr als zwei Stunden weg gewesen und der Regen hatte wieder eingesetzt.

Ich konnte die Umrisse einer weiteren Person neben ihm ausmachen. Es musste seine Schwester sein, denn sie war mindestens einen Kopf kleiner als er. Sekunden verstrichen, dann löste er sich von ihr und kam durch den Regen auf meinen Wagen zu. Seine Schwester schien ihm nachzusehen und als er die Tür des Wagens öffnete, wandte sie sich um und schloss die Eingangstür hinter sich.

Wheeler ließ sich schnaufend auf den Beifahrersitz fallen und zog die Tür zu. Seine Jacke war auf den wenigen Metern durchweicht worden und seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Er lächelte. „Entschuldige die Verspätung. Wir haben die Zeit vergessen.“

„Ich bin nicht überrascht“, entgegnete ich und startete den Wagen. „Deine Unfähigkeit, eine Uhr zu lesen, scheint selbst nach all den Jahren die gleiche zu sein.“

„Möglich“, gab er zu und lehnte sich seufzend auf dem Sitz zurück. „Ich muss sagen, deine Sitzheizung bringt mich dazu, sich in sie zu verlieben. Glaubst du, du könntest bei ihr ein gutes Wort für mich einlegen?“

Ich zog es vor, seine Aussage zu ignorieren und konzentrierte mich stattdessen auf die Straße. Als der Wagen vor einer roten Ampel hielt schürzte ich herablassen die Lippen und wandte mich Wheeler zu. „Und?“

„Hm?“ Er öffnete ein Auge und betrachtete mich interessiert, bevor er sich vorlehnte und sich mit einer Hand durch die nassen Haare fuhr. „Wir haben geredet. Zugegeben, ich habe die meiste Zeit geredet, aber das tut nichts zur Sache. Das wesentliche ist geklärt.“ Sein Blick wanderte an mir vorbei aus dem Fenster. Ich trommelte mit den Fingern ungeduldig auf das Lenkrad, mein Blick wanderte alle Sekunden zu den Lichtern der Ampel und anschließend zurück zu Wheeler.

„Davon spreche ich nicht. Es kümmert mich nicht, was zwischen dir und deiner Schwester vor sich geht. Was ich wissen möchte ist vielmehr, ob wir noch irgendwo hin müssen, oder ob du nun alles ins Reine gebracht hast.“

Ein freudloses Lächeln teilte seine Lippen und brachte meine Finger zum Verharren. „So leicht ist es nicht, Kaiba.“ Er hob die Hände und verschränkte sie hinter dem Kopf - eine für sein Alter viel zu jugendliche Geste. „Ein Gespräch alleine reicht bei weitem nicht aus, damit Serenity mir ganz verzeiht. Dafür war ich zu lange weg.“

Die Ampel sprang auf Grün und ich legte den nächsten Gang ein. „Ich sagte bereits“, erinnerte ich ihn kühl, während ich die Scheibenwischer auf die höchste Stufe stellte, um die Sicht auf die Straße mit geringem Resultat zu verbessern, „das interessiert mich nicht. Alles, was ich wissen möchte ist, ob wir jetzt zurückfahren sollen oder nicht.“

„Das tust du bereits, Kaiba“, bemerkte Wheeler von der Seite.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte die Kopfschmerzen zu verdrängen, die seit mehreren Stunden penetrant um die Vorherrschaft kämpften. Eine Antwort gab ich Wheeler nicht, hätte ich ihm in diesem Fall doch zustimmen müssen.

„Ich müsste noch zu Yugi und Téa. Ich schulde ihnen mehrere Jahre und eine Erklärung. Und das Grab von Großvater Muto muss ich besuchen. Aber nicht heute“, fügte er hinzu und hinderte mich dadurch an einer Ermahnung. „Doch zuallererst habe ich Hunger“, seufzte er leidend.

Vor die Wahl gestellt, zwischen den verlassenen Zimmern der Villa und irgendeiner Fastfood-Kette, bog ich auf den Parkplatz eines Schnellimbisses, zur offenen Überraschung Wheelers. Ich rechtfertigte mein Handeln nicht und wenige Minuten später saßen wir uns an einem Tisch gegenüber. Um uns herum hingen Plakate, die für die derzeitige Gewinnspielaktion beim Kauf sämtlicher Menüs warben und mit dem richtigen Zahlencode auf dem Los sogar eine Reise nach Europa versprachen.

Vor Wheeler ausgebreitet befanden sich sämtliche Standartrepräsentanten des Begriffes Fastfood. Ich dagegen hatte einen Kaffee als Alternative gewählt, weil er unter all den mit Geschmacksverstärkern getränkten Lebensmitteln noch am nahrhaftesten auf mich gewirkt hatte.

Wheeler ließ den Burger, den er bereits an den Mund gehoben hatte, unberührt sinken. „Nimm bloß nicht zuviel zu dir“, bemerkte er mit Blick auf den Pappbecher in meiner Hand. „Ich nehme nicht an, dass sie dir dein Essen noch an den Tisch bringen?“

Ich nippte an meinem Kaffe. Er schmeckte nach 100 Yen. „Du hast neben mir gestanden als ich bestellt habe“, bemerkte ich und wusste, dass diese Aussage überflüssig war. Wheeler hatte sich an dem rhetorischen Mittel der Ironie versucht. Vielleicht würde er das später in seinen Kalender eintragen.

Wheeler hatte den ersten Burger bereits beseitigt. Von essen konnte bei dem Anblick, der sich mir bot, kaum die Rede sein. Ich verstand den Sinn von Fastfood zwar, aber bei dem Gedanken, dieses Zeug auch noch mit den Fingern essen zu müssen, regte sich Übelkeit in meinem leeren Magen.

„Vielleicht gibt dir das Mädel an der Kasse noch einen Kuchen aus“, nuschelte er zwischen zwei Bissen. „So, wie sie dich die ganze Zeit über angestarrt hat, hätte man meinen können, sie springt gleich über den Tresen.“

Ich stellte den Becher ab. Ich hatte beschlossen, seinen Inhalt nicht einmal mehr in die Nähe meines Magens zu lassen. „Tatsächlich?“ Ich heuchelte Interesse. Warum, wusste ich nicht.

„Ist es dir nicht aufgefallen? Gott, Kaiba, kein Wunder, dass du single bist.“

Ich widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. „Natürlich. Wheeler, das Mädchen war kaum volljährig.“

„Also ist sie dir aufgefallen?“

War Wheeler so beschränkt oder tat er nur so? Ich hatte eine Bestellung bei ihr aufgeben müssen, natürlich hatte ich dafür in ihre Richtung sehen und mit ihr reden müssen. Ich hätte ihr die Namen der Dinge, die Wheeler wollte, auch schriftlich von einem Kurier überbringen lassen, wenn es nicht zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Doch so, wie ich Wheeler kannte, hätte er niemals die nötige Geduld dafür besessen. Warum nervte er mich jetzt also damit und verschlang nicht einfach weiter diese Geschmacksverstärker?

Stattdessen sagte ich: „Ja, es ist mir aufgefallen.“ Obwohl ich sie nicht wirklich angesehen hatte. Obwohl es mich nicht interessierte, was sie von mir hielt. Ganz zu schweigen davon, dass ich bestimmt doppelt so alt war wie sie.

„- frustrierend“, war alles, was ich von Wheelers Satz noch mitbekam. Weil ich einen Moment nicht aufpasste, fragte ich tatsächlich nach:

„Bitte?“ Und bereute es sofort.

„Ich sagte, es ist frustrierend. Du bis über dreißig, aber die jungen Hüpfer starren dir wahrscheinlich immer noch auf den Hintern.“

Ich wusste nicht, was mich mehr stören sollte: Das Wheeler die Worte junger Hüpfer in den Mund nahm, dass er sich über meinen Hintern Gedanken machte oder dass er das Gesagte tatsächlich ernst meinte. Da mir plötzlich alle anderen Optionen ausgegangen waren, nahm ich noch einen Schluck Kaffee.

„Aber vielleicht sollte es mich gerade nicht verwundern“, fuhr Wheeler fort und ich wusste wirklich nicht, ob er glaubte, ich würde ihm zuhören, geschweige denn mich auch nur ansatzweise dafür interessieren. „Mädchen stehen ja auf reifere Männer. Und man kann nicht sagen, dass du großartig gealtert bist.“ Sein Blick ruhte jäh auf mir und ich hätte beinahe noch mehr Kaffee getrunken. „Nein. Dein Gesicht hat sich etwas verändert, aber ansonsten siehst du so aus wie früher. Deine Haare sind kürzer. Warst du kürzlich beim Frisör?“

Die Dinge geschahen gleichzeitig: Das Unwetter draußen entschloss sich, zu einem Gewitter heranzuwachsen und ein Blitz zuckte über den Himmel, gefolgt von einem grollenden Donner. Mein Griff um den Kaffeebecher verkrampfte sich so sehr, dass ich ihn zerdrückte und seinen restlichen, lauwarmen Inhalt auf meiner Hand und dem Tisch verteilte. Wheeler entdeckte einen Gewinncode auf seinem letzten Burger.
 

„Kannst du mir mal sagen, was ich damit soll?“

Ich schob den Karton, mit dem Wheeler vor meinem Gesicht herumfuchtelte, beiseite und versuchte, mich auf die Straße zu konzentrieren. Es verging keine Sekunde, da war seine Hand wieder da.

Beinahe hätte ich eine rote Ampel übersehen und musste scharf bremsen.

Ich starrte Wheeler an. „Willst du unbedingt der Verursacher eines Unfalls sein?!“

„Jetzt mal ehrlich, was ist das?“

Die Ampel war noch immer rot. Ich riss Wheeler die Verpackung aus der Hand und begutachtete sie. Es interessierte mich nicht, aber ich wollte, dass er endlich aufhörte zu nerven. Er hatte ein elektronisches Spielgerät gewonnen. Nicht von meiner Firma, sondern von Sony. Ich warf Wheeler den Karton in den Schoß. „Es ist wie für dich geschaffen. Pack es aus, schalte es an und sei still. Es ist dafür gedacht, Leuten wie mir den Verlust weiterer Nerven zu ersparen.“

„Aha. Also ein Kaiba-Calmer.“

Ich musste ihn wirklich überrascht angesehen haben, denn er sagte: „ Auch wenn dir gerade ein Weltbild abhanden gekommen ist, aber ich kann Englisch. Die Ampel ist übrigens grün.“

Ich fuhr los und war dankbar dafür, dass Wheeler die Miniatur-Spielkonsole ohne weitere Worte auspackte und die nächsten Minuten der Fahrt mit ihr beschäftigt war.
 

„Wir sind da.“

Wheeler hob den Kopf und sah sich zum ersten Mal seit zwanzig Minuten um. Das Gerät hielt wirklich, was es versprach. „Wo?“

„Bei Muto.“

Er drehte den Kopf in die eine, dann in die andere Richtung und blickte die Straße einmal hinauf und hinab. Dann pendelte er sich bei dem Gebäude, vor dem wir parkten, ein. Ein Einfamilienhaus in einer Wohnsiedlung am Stadtrand. Minimaler Vorgarten hinter einem hohen Tor und eine Garage, die gerade groß genug für ein Auto war. In deutlich lesbarer Schrift prangten die Lettern Muto auf einem Schild des Torpfostens.

Wheeler drehte sich zu mir um. „Aber sie wissen nicht, dass ich komme.“

„Das wusste deine Schwester auch nicht.“

„Das war etwas Anderes.“

„Tatsächlich? Warum war es etwas Anderes?“

Wheelers Hände verkrampften sich um das Elektrogerät. „Das verstehst du nicht.“

Ich verdrehte die Augen. „Ich will es auch gar nicht verstehen.“

„Ich würde mich lieber anmelden, bevor wir sie besuchen.“

„Sind die beiden neuerdings die Kaiserfamilie und verlangen, dass man um Audienzen bittet?“ Wheeler nagte an meiner Geduld. „Steig aus, klingele und melde dich an der Gegensprechanlage an, wenn du dich dann besser fühlst, aber hör gefälligst auf, dich zu benehmen als würden sie dich bei lebendigem Leib vierteilen.“

Wheelers Entspannung schien auf ein realistisches Maß zu fallen. Sein Blick wanderte unruhig durch das Auto. Er rang nach Worten. „Kaiba, könntest du ... würdest du ...“ Er sah mich an. „Mitkommen?“

Ich musste mich verhört haben. Wheeler hatte nicht gerade ernsthaft –

„Nein.“

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Warum nicht?“

„Nein.“

„Die beiden freuen sich bestimmt. Wann habt ihr euch das letzte Mal –“

„Ich sagte nein.“ Vor etwas mehr als drei Jahren. Auf meinem letzten Turnier. Ich hatte ihn nie schlagen können, nicht einmal bei unserem letzten Duell.

Wheeler verschränkte die Arme. „Hast du etwa Angst?“

Machte er sich über mich lustig?

„Wovor denn bitte?“

„Dann kannst du auch mitkommen.“

„Nein.“

„Warum?“

Weil es nicht meine Welt war. Weil er Dinge ins Reine bringen wollte und nicht ich. Ich wollte nicht involviert werden. Ich wollte Muto und Gardn- Frau Muto nicht sehen. Ich brauchte sie nicht sehen. Das Haus, der Vorgarten, das Namensschild – sie sagten mir mehr als ich wissen wollte.

Mein Haus. Meine Frau. Mein Kind.

Muto hatte sein Glück gefunden. Ich wollte es nicht sehen müssen.

„Kaiba.“

„Was?“

„Bitte.“ Es war kein flehender Blick, denn auf diesen wäre ich niemals angesprungen. Es war etwas Anderes: In Wheelers Augen sah ich das, was ich empfand. Auch er wollte Yugis Glück nicht alleine gegenüber treten müssen. Wheeler brauchte Beistand.

Und ich wusste nicht warum, aber das Wissen, dass es Wheeler genauso gehen würde wie mir, ließ meinen Widerstand verebben. Ich seufzte und lehnte mich auf meinem Sitz zurück. In diesem Moment hätte ich vieles für eine Schmerztablette getan.

„Dieses eine Mal tue ich dir den Gefallen, Wheeler. Aber erwähne es. Mit. Keiner. Silbe.“

Da war es wieder: Wheelers Lächeln.

„Danke.“

„Spar dir das.“

Wir stiegen aus. Das Unwetter war zu einem stetigen Nieselregen geschrumpft, der uns langsamer, aber dennoch kontinuierlich durchnässte. Wheeler klingelte. Die Sekunden schienen sich in die Länge zu ziehen, dann schaltete sich die Freisprechanlage an.

„Hallo?“, meldete sich eine Frauenstimme.

„Téa. Hier ist Joey.“

Ein Klicken und die Leitung war unterbrochen.

Ich musterte Wheeler skeptisch. „Ich hätte nicht erwartet, dass sie so begeistert sind, dich zu sehen.“

Hinter dem Tor erklangen schnelle Schritte. Dann wurde es geöffnet und Téa Gardner stand vor uns. Sie trug noch immer ihre Hausschuhe, hatte keine Jacke übergezogen und wirkte, als sei sie direkt aus der Küche gekommen, die Schürze noch immer umgebunden und einen Löffel in der Hand. Ihr Blick richtete sich erst auf Wheeler, dann auf mich, dann wieder auf Wheeler. Sie schüttelte den Kopf, dann riss sie Wheeler mit einer Umarmung beinahe von den Beinen. Die Umarmung dauerte keine drei Sekunden, da hatte sie sich wieder von ihm gelöst und verpasste Wheeler mit dem Löffel in ihrer Rechten einen harten Schlag auf den Kopf.

„Wo zum Teufel bist du gewesen?!“

Mit einem Schmerzenslaut wich Wheeler zurück. „Téa!“

Er duckte sich und der Löffel, mit dem sie nun nach ihm geworfen hatte, verfehlte ihn knapp. Dann stand sie wieder vor ihm und schlang die Arme um ihn.

„Du bescheuerter Idiot“, hörte ich sie sagen, begleitet von einigen üblen Verwünschungen. Wheeler lächelte und erwiderte die Umarmung.

„Du hast mir auch gefehlt, Téa.“

Nach einer gefühlten Ewigkeit machte sie einen Schritt zurück und strich sich eine Träne aus den Augenwinkeln. „Du bist mi- uns eine verfluchte Erklärung schuldig!“

„Ich weiß.“

Nun schien sie auch mich zum ersten Mal bewusst wahr zu nehmen. „Kaiba!“ Sie schüttelte den Kopf, ihr Blick suchte Wheeler.

„Was bei -? Was macht -?“ Sie sah mich wieder an. „Kaiba!“

„Gardner.“

Sie verschränkte die Arme. „Genau genommen heiße ich jetzt auch Muto.“ Sie lächelte, dann schien sie sich daran zu erinnern, wo sie standen. „Aber kommt erst einmal rein, ihr werdet ja noch ganz nass.“ Sie wies uns an, ihr zu folgen.

Wheeler hob den geworfenen Löffel auf und wir durchquerten den Vorgarten, dann standen wir im Vorraum des Erdgeschosses. Gardner (sie würde für mich immer so heißen) stellte mit einem Seufzen ihre durchweichten Hausschuhe in ein Regal und schlüpfte in ein zweites Paar. Dann bot sie uns Besucherhausschuhe an. Sie waren einige Nummern zu klein, aber besser als nichts.

Dann führte sie uns ins Wohnzimmer. „Setzt euch.“ Sie nahm uns die Jacken ab und deutete auf das Sofa. Ich setzte mich an den äußersten Rand.

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und blieb an einem Regal mit Fotos hängen. Als hätte Wheeler meine Gedanken gehört, ging er auf das Regal zu und griff nach einem. Ich konnte nicht sehen, was darauf abgebildet war, aber ich sah genug von den anderen.

Wheeler und Muto nach dem Battle City Turnier.

Die gesamte Gruppe nach unserem Abschluss.

Muto und Gardner bei ihrer Hochzeit.

Ich riss meinen Blick davon los und sah nach draußen.

„Er ist gerade zwei Jahre alt geworden.“ Gardner hatten den Raum wieder betreten. Sie stand neben Wheeler und lächelte auf das Foto in seinen Händen hinab. „Er hat schon angefangen, zu sprechen und laufen kann er auch schon. Er ist ziemlich schnell und gerissen. Ich muss immer ein Auge auf ihn haben, sonst ist er im Handumdrehen im Wäschekorb oder versucht, wieder in die Waschmaschine zu klettern.“

„Von wem er das wohl hat?“

„Ich hatte immer befürchtet, Yugi würde ihn unbedingt Atemu nennen wollen. Darum hatte ich mir insgeheim ein Mädchen gewünscht“, fügte sie zwinkernd hinzu. „Aber als er dann da war, war es einfach einen Namen zu finden.“

„Wie heißt er?“

„Jou.“

Wheeler starrte sie an. Das Foto in seiner Hand zitterte. Rasch stellte er es zu den anderen zurück. „Téa, ich ...“ Er rang nach Worten. „Ich weiß, ich war zu lange weg und ich bin euch eine Erklärung und eine Entschuldigung schuldig und –“

„Nein, Joey. Du bist Yugi eine Entschuldigung schuldig. Mir steht natürlich auch eine Erklärung zu, denn es war verdammt noch mal nicht leicht, jemanden zu Jous Paten zu machen, der seit Jahren nicht mehr aufzufinden war. Aber Yugi ist derjenige, dem du mehr schuldest.“

„Pate?“, wiederholte Wheeler. „Soll das heißen, ich bin der Pate von -? Téa, warum -? Wie konntet ihr-?“

„Wie konnten wir nicht? Joey, wie konnten wir dich nicht zu seinem Paten machen?“

„Ich war nicht einmal bei seiner Geburt dabei! Ich hab euch die letzten sechs Jahre nicht mehr gesehen, ich bin abgehauen!“

„Ja, das bist du. Aber trotzdem warst du immer noch Joey. Unser Freund. Yugis bester Freund.“

Wheelers Schultern sanken nach unten. „Nicht nach all den Jahren. Er hat einen besseren besten Freund verdient.“

Ich fühlte mich wie in einer billigen Sitcom. „Noch etwas mehr Selbstmitleid, Wheeler. Ich glaube, Gardner hat noch Nachholbedarf.“

Zwei Augenpaare richteten sich auf mich.

„Was mich aber beinahe genauso interessiert wie Joeys plötzliches Wiederauftauchen“, begann Gardner und tippte sich nachdenklich ans Kinn, „ist, warum er dich als Begleitschutz hat.“

„Man hat mich zu Wheelers Bewehrungshelfer ernannt.“

Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. „Tatsächlich? Was hat er verbrochen?“

„Fahnenflucht.“

„Ich bin bei Kaiba untergekommen, seit ich gestern wieder in die Stadt gekommen bin.“ Gardners hochgezogene Augenbrauen waren nur allzu verständlich. Ich verstand ja selbst noch nicht, warum ich Taylor und Devlin zugestimmt hatte. „Ja, es ist unglaublich. Ja, Kaiba und ich haben uns noch nicht gegenseitig umgebracht.“

„Noch nicht“, warf ich zur Betonung dieser Worte dazwischen.

„Und er hat mir angeboten, mich zu fahren. Er war wohl auch neugierig, euch wieder zu sehen.“

Ich öffnete bereits den Mund, um ihm zu widersprechen, doch ein flüchtiger Blick Wheelers ließ mich widerwillig innehalten. Ich verschränkte die Arme und schwieg. Es kostete mich viel Überwindung.

„Ach?“ Gardner betrachtete mich nun deutlich größerem Wohlwollen als vorher. „Kaiba, das ist schön. Wirklich“, bekräftigte sie ihre Worte, denn mein Blick war skeptisch. „Weil du nicht den Eindruck erweckt hast, als würde es dich irgendwie kümmern, haben wir uns nie bei dir gemeldet. Ich weiß, dass Yugi es getan hätte, wenn er gewusst hätte –“

„Schon gut.“

„Wie geht es Mokuba?“

Meine Augenbraue zuckte. „Hervorragend.“

„Er lebt jetzt in Amerika“, erklärte Wheeler, als hätte ich ihm irgendwie die Erlaubnis gegeben, Informationen über mein Leben Preis zu geben.

„Oh.“

Und Gardner hatte diesen mir verhassten Ich-verstehe-den-tieferen-Sinn-hinter-diesen-Worten-und-bedauere-es-Blick, der in mir den Wunsch weckte, aufzustehen und zu gehen. Ich konzentrierte mich auf das Bücherregal an der anderen Seite des Raumes.

„Darf ich ihn sehen?“, fragte Wheeler schließlich.

„Natürlich! Warte einen Moment.“ Schritte entfernten sich. Wheeler setzte sich neben mich auf das Sofa.

„Danke, dass du mitmachst, Kaiba.“

„Was habe ich dir gesagt? Erwähne es nicht.“ Nun stand ich auf. Etwas in dem Bücherregal hatte meine Aufmerksamkeit geweckt. Außerdem hatte ich so einen Grund, Wheeler den Rücken zu kehren und die Wahrscheinlichkeit, dass er mit mir redete, war dadurch geringer.

Gardner kehrte zurück und Wheelers Aufmerksamkeit wurde von mir abgelenkt.

„Du hast Glück, er ist offensichtlich vor ein paar Minuten wach geworden.“

„Wow, Téa. Er hat deine Haare und Yugis Augen.“

Ich unterdrückte ein Schnauben. Er hatte Glück gehabt, nicht Mutos Haare zu erben.

„Ich weiß. Und ich könnte schwören, er hat Yugis Nase, aber das kann man jetzt noch nicht genau sagen. Hey Jou, das ist Joey. Sag Joey hallo.“

Ein leises Jammern war zu hören.

„Bis du noch müde? Am Anfang ist er immer etwas Schüchtern bei Fremden. Aber er wird bald auftauen und dann will er dich bestimmt nicht mehr gehen lassen.“

Ich griff nach einem dünnen Buch unter vielen und zog es heraus. Es war ein Kinderbuch. Aber nicht irgendeins. Ich hatte schon davon gehört, denn es fand reißenden Absatz. Die Illustrationen handelten von Duel Monsters. Doch erst heute hielt ich zum ersten Mal eins in Händen. Und sah somit auch zum ersten Mal den Namen desjenigen, der die Illustrationen anfertigte.

Ich drehte mich zu Gardner um. „Wie lange schon?“

Sie betrachtete das Buch mit einem liebevollen Blick. „Seit er das Duellieren aufgegeben hat. Er ist nie ganz davon losgekommen. Und jetzt hat er seine eigene Buchreihe. Es ist kein Bestseller und der Verlag macht die eigentlichen Gewinne, aber es lässt sich davon leben.“

Ich schlug das Buch auf und betrachtete einige Seiten. Muto war in jeder einzelnen Zeichnung zu finden. Nicht, weil er sich selbst dort hineingezeichnet hatte, sondern weil der Stil einfach viel zu sehr Muto war.

Mein Blick viel auf die Wörter Herz der Karten. Ich schnaubte. Eindeutig Muto.

„Jou liebt die Bücher“, sinnierte Gardner und fuhr dem Jungen durch die Haare. „Ich weiß nicht, wie viel er wirklich schon davon versteht, aber er will, dass man sie ihm immer wieder vorliest.“

Ich betrachtete den Jungen auf ihrem Schoß, der sich die Augen rieb und gähnte. Dann sah er mich. Er streckte die Hände nach mir aus. Ich runzelte die Stirn, dann gab ich ihm das Buch. Er ließ es fallen und streckte die Arme wieder aus.

Ich begegnete Gardners amüsiertem Blick. „Sieht aus, als wolle er zu dir.“

„Er scheint kein guter Menschenkenner zu sein“, bemerkte ich abschätzig.

Gardner und Wheeler wechselten bei diesen Worten einen Blick. Der Junge begann zu quengeln.

„Willst du wirklich einen Zweijährigen zum Weinen bringen, Kaiba?“, fragte Gardner provozierend.

Kleine Hände griffen in die Luft vor sich, versuchten, mich zu erreichen. Ich verstand nicht, warum er ausgerechnet zu mir wollte.

Aus dem Quengeln wurde ein Wimmern, das bereits verdächtig nach einem Weinen klang. Ich gab nach und setzte mich wieder auf das Sofa. Gardner lächelte triumphierend und setzte ihn auf mein Bein. Seine Hände klammerten sich an mein Oberteil.

„Verwechselt er mich mit jemandem?“

„Nein. Er wollte zu dir, Kaiba.“

Ich betrachtete den zweijährigen Jungen, der fasziniert den Anhänger beäugte, welchen ich um meinen Hals trug. Seufzend zog ich Jou näher und hielt ihm den Anhänger hin, den er neugierig betastete. Dann öffnete er ihn und inspizierte das Innere.

Auf der einen Seite war noch immer das Kinderbild von Mokuba. Die andere Seite beherbergte eine Karte des Weißen Drachens mit eiskaltem Blick. Das Original des Bildes, das Mokuba mir mit fünf Jahren im Weisenhaus gemalt hatte. Meine erste Duel Monsters Karte.

„Drache“, sagte Jou und legte seine Hand darauf. „Blauer Drache.“

„Weißer Drache“, korrigierte ich ihn sachlich.

Er blickte zu mir auf und es war tatsächlich als würde ich Muto ansehen. „Drache ist blau.“

„Weiß“, wiederholte ich.

Er verschränkte die kurzen Arme. „Blau“, beharrte er und schob die Unterlippe vor. Als ob ihm das in einer Diskussion etwas bringen würde. Dann schien er es von einem Moment auf den anderen zu vergessen und streckte die Hand wieder nach dem Anhänger aus.

Ich ließ ihn und blickte auf. Begegnete Wheelers nicht zu deutendem Blick. „Was?“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich bin nur überrascht.“

„Dass ich ihn nicht verschlinge?“

„Nein. Dass du so gut mit Kindern umgehen kannst.“

Ich lächelte herablassend. „Das kann ich nicht. Oder tue ich etwas, dass dich zu dieser Annahme verleitet?“

„Ja.“

„Das wäre?“

„Du bist du selbst.“

Das war etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Wheeler schlug wieder diese Richtung ein. Ich warf ihm einen warnenden Blick zu und er sagte nichts mehr dazu. Aber die Worte hingen zwischen uns und auch Gardner hatte sie mitbekommen.

Doch bevor sie etwas Unpassendes, geschweige denn Gardner-typisches äußern konnte, erklangen von draußen Motorgeräusche. Wheeler versteifte sich und wirkte plötzlich, als würde er am liebsten überall sein, bloß nicht hier. Ein gewisses Maß an Schadenfreude regte sich in mir, das jedoch mit Wheelers zunehmender Blässe schwand.

Die Wohnungstür öffnete sich und selbst der Junge auf meinem Schoß hielt lauschend inne, meinen Anhänger noch immer in beiden Händen haltend.

Muto hatte sich kaum verändert. Er war in den vergangenen Jahren nicht gewachsen (es wäre auch mehr als verwunderlich gewesen, wenn ein Mann wie er in seinen Dreißigern noch gewachsen wäre) und auch seine Haare sahen noch so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Lediglich seine Kleidung hatte sich der Arbeit angepasst und waren durch Hemd und Krawatte ersetzt worden. Es war erstaunlich, wie unpassend diese Kleidungsstücke selbst in seinem Alter noch an ihm aussahen.

Sein ritueller Heimkehr-Gruß verlor sich irgendwo auf dem Weg zwischen ihm und uns. Seine Augen erfassten erst mich, dann Joey. Und weiteten sich.

Steif und unbeholfen stand Wheeler auf. Seine Handflächen presste er auf die Oberschenkel, seine Haltung war eine Mischung aus Beklommenheit und Missbehagen.

Bevor er etwas sagen konnte, öffnete Muto den Mund:

„Joey.“

„Yugi.“

Und dann tat Muto etwas, das ich nicht erwartet hätte: Er drehte sich um und verließ den Raum.
 


 

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Enervation

5. Kapitel: Enervation
 


 

„Yugi!“

Ein Ruck ging durch Wheeler und er eilte Muto hinterher.

„Yugi, warte!“

Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Gardner die Hände in ihre Schürze krallte. Hastige Schritte erfüllten das Haus. Dann Wheelers Rufen. Und schließlich eine Antwort, ablehnend und so wuterfüllt, dass selbst Mutos Sohn verwundert den Kopf hob.

„Was tust du hier?“

Stille.

Angespanntes Lauschen. Ich schüttelte den Kopf und richtete meine Aufmerksamkeit auf das zweijährige Kind. Bedauerlicherweise konnte ich den Dialog zwischen Muto und Wheeler nicht so ausblenden, wie ich es gerne getan hätte.

„Um Rechenschaft abzulegen.“ Noch etwas hochgestochener und man würde meinen, Wheeler müsste sich vor dem höchsten Gericht behaupten.

„Das kommt etwas spät.“

Doch vielleicht war es sogar genau das für ihn. Muto war für Wheeler immer die höchste Institution gewesen.

„Ich weiß. Und dafür gibt es keine Entschuldigung.“

„Das stimmt. Die gibt es nicht.“

Ich wollte nicht zuhören. Ich wollte nicht mit hineingezogen werden. Doch durch meine Präsenz wurde ich es. Ich hatte Mutos zweijährigen Sohn auf dem Schoß – ich war schon tief genug selbst in der Sache mit drin. Und weil ich ohnehin schon zuviel mitbekommen hatte, entging mir nicht, wie anders Muto sich verhielt. Wheeler musste es sich ordentlich mit ihm verscherzt haben, wenn Muto so mit ihm sprach. Selbst ich hatte diesen Tonfall nie auf mich gezogen.

„Keine Entschuldigung“, wiederholte Wheeler. „Aber eine Erklärung.“

Wieder Stille. Anspannung. Dann ein Seufzen. „Welche Erklärung?“ Ein Funke des alten Mutos.

„Können wir das Gespräch ... woanders weiterführen?“

Eine Tür wurde geöffnet, dann geschlossen. Und auf einmal war es geradezu gespenstig still. Ich musterte Gardner, deren Griff sich wieder gelockert hatte. Sie lächelte mich an. „Möchtest du einen Kaffee?“

Er war mir selten willkommener.
 

Wheeler und Muto ließen sich Zeit. Garnder versuchte mir zu vermitteln, dass die beiden viel zu klären hatte. Ohne dass ich fragte, legte sie mir die komplizierte Situation dar.

Vor sechs Jahren hatte Wheeler ohne ein weiteres Wort vom einen auf den anderen Tag die Stadt verlassen. Niemand hatte gewusst wieso, niemand hatte sagen können, wohin er gegangen war. Zunächst herrschte Ratlosigkeit, dann Sorge, schließlich Ärger.

Und dann ein Lebenszeichen: Ein Anruf. Nur wenige Worte. Wheeler hatte beteuert, es ginge ihm gut. Er hatte nicht gesagt, wo er war oder wann er wiederkommen wollte. Nur eins:

„Ich brauche Zeit.“

Natürlich hatten sie ihm die Zeit gegeben.

Es verging ein Monat, ein halbes und schließlich ein ganzes Jahr. Dann zwei. Im dritten Jahr starb Yugis Großvater. Keine Reaktion von Wheeler. Gardner erzählte mir, dass es Muto in der Zeit schlecht gegangen sei. Er hatte mit dem Verlust zu kämpfen und musste sich überlegen, ob er das Geschäft seines Großvaters fortsetzte oder aufgab.

Noch immer keine Nachricht von Wheeler. Muto resignierte und schloss den Laden.

Ein Monat später traf eine Karte ein. Muto hatte sie nicht einmal angesehen, sondern sie wortlos in den Müll geworfen.

„Er war verletzt“, erklärte mir Gardner. „Und erschöpft. Normalerweise hätte er nie so reagiert – so ist Yugi nicht – aber die Umstände ... er war so enttäuscht.“

Sie erzählte mir, dass sie die Karte ohne sein Wissen wieder aus Abfall geholt und behalten hätte. Sie ging zum Regal und griff nach einem Buch. Sie schlug es auf und präsentierte eine unscheinbare Karte. Kommentarlos reichte Gardner sie mir.

Ich betrachtete sie mit geringem Interesse. Die Vorderseite hatte ein gängiges Trauermotiv – nichts Außergewöhnliches. Wheeler hatte sie in irgendeinem Discounter gekauft. Dann drehte ich sie um und hob unwillkürlich die Brauen.
 

Ich bin ein idiotisches Arschloch. Du musst mir nicht verzeihen. Ich habe Mist gebaut.

Ich habe Angst, Yugi. Wenn ich dir das nächste Mal unter die Augen trete, habe ich hoffentlich den Mut, ehrlich zu dir zu sein.

Es tut mir leid, aber ich weiß noch nicht, wann das sein wird.
 

Ich gab ihr die Karte zurück. Ich sah in ihrem Blick, dass sie nicht wusste, wovon Wheeler gesprochen hatte und dass sie die schwache Hoffnung hatte, ich könnte es ihr sagen. Als ich das nicht tat, seufzte sie und setzte sich wieder neben mich. Das aufgeschlagene Buch lag auf ihrem Schoß.

Ich erinnerte mich an Wheelers Unbeholfenheit und offensichtliches Missbehagen, als er Yugi gegenübergestanden hatte. Es war nicht nur die Reue gewesen. Was immer er in der Karte gemeint hatte, würde er Muto heute mitteilen. Sonst wäre er nicht hierher gekommen.

Ein Jammern lenkte die Aufmerksamkeit auf Jou. Er sah seine Mutter aus flehenden Augen an. Gardner schien das Prozedere zu kennen und legte lächelnd das Buch beiseite. Sie schien dankbar für die Ablenkung.

„Da hat jemand großen Hunger“, trällerte sie und hob den Jungen auf die Arme. Er ließ meinen Anhänger nur widerwillig los, doch er schien zu wissen, dass es Essen geben würde und der Hunger siegte über die Neugier.

Bevor Gardner den Raum verließ, drehte sie sich zu mir um. „Wenn du möchtest, kannst du mitkommen. Es ist unhöflich, einen Gast alleine zu lassen.“

Ich schnaubte. „Bitte. Ich fühle mich in keinster Weise gekränkt, wenn man mir einen Moment der Ruhe gönnt.“

Sie verstand den Wink und zuckte die Schultern. „Wenn dir nach Gesellschaft ist, findest du mich in der Küche. Der Raum rechts neben der Eingangstür. Nicht zu verfehlen. Folge den glücklichen Lauten eines essenden Kindes.“ Sie zwinkerte mir zu und ging.

Und ich war endlich allein.

Mit zu vielen Gedanken.

Gardners Offenheit war irritierend. Sie hatte keinen Grund, mich zu behandeln wie einen alten Freund. Und dennoch tat sie es.

Dann Mutos offensichtliche Veränderung, die mir mehr zu denken gab als ich angenommen hatte. Vom Duel Monster Champion zum Kinderbuchautoren und Illustrator mit Hemd und Krawatte. Er hatte eine Familie mit Frau und Kind. Gardner blühte in ihrer Muterrolle auf und auch wenn ich nicht darüber nachdenken wollte, konnte ich mir Muto nicht als schlechten Familienvater vorstellen. Also gelang ihm auch das.

Sie hatten sich verändert, hatten ihr Leben fortgesetzt.

Ich wollte es nicht denken, aber mir war bewusst gewesen, dass es passierte, seit Gardner vor einer Stunde das Tor geöffnet hatte:

Und was ist mit mir?

Diese eine Frage, die doch so ausschlaggebend war. Der Vergleich, den ich mir bis jetzt verboten hatte. Das Ergebnis, das offensichtlich war und das ich versucht hatte, auszublenden.

Ich stand an derselben Stelle wie vor zehn Jahren. Ich hatte mich kaum vorwärts bewegt. Muto schien mir immer einen Schritt voraus gewesen zu sein. Heute konnte ich nicht einmal mehr seinen Rücken sehen.

Und das Schlimmste an allem war, dass diese Erkenntnis schmerzte.
 

Ich blieb noch sieben Minuten und dreiundzwanzige Sekunden sitzen. Dann hielt ich es nicht mehr aus. Meine Gedanken wandten sich gegen mich. Ich verlor die Kontrolle über sie.

Ich richtete mich ruckartig auf. Mit schnellen Schritten durchquerte ich das Wohnzimmer, dann den Flur. An der Wohnungstür zog ich mir mit viel zu unruhigen Bewegungen die Schuhe an.

„Kaiba?“

Gardner hatte mich gehört. Ich reagierte nicht und streifte mir meinen Mantel über.

„Kaiba, ist alles in Ordnung?“

Aufrichtige Sorge. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn.

„Ich muss gehen.“

Ich brauchte mir keinen weiteren Gedanken bezüglich Wheelers machen. Ich hatte ihm den Gefallen getan, hatte keinerlei Verpflichtung ihm gegenüber.

„Warum? Ist etwas passiert?“

Es ging sie nichts an! Und selbst wenn etwas passiert wäre, gäbe es keinen Grund, ausgerechnet ihr davon zu erzählen.

„Kaiba. Kaiba, hörst du mich?“

Mein Atem ging zu schnell. Gardners Stimme klang viel zu besorgt. Ich war viel zu lange hier gewesen.

Ohne ein weiteres Wort verließ ich das Haus. Schloss die Tür hinter mir bloß, um Abstand zu Gardner zu schaffen. Und nicht nur zu ihr. Zu allem, was in diesem Haus war.

Erst als ich im Auto saß und meine Hände das Lenkrad umklammerten erlaubte ich es mir, mich etwas zu entspannen. Ich startete den Wagen und fuhr viel zu schnell, um Mutos Haus so rasch wie möglich hinter mir zu lassen.
 

Meine Hand war am Türgriff. Ich stand halb im Raum. Mein Blick war unfokussiert auf das gegenüberliegende Fenster gerichtet.

Die Erinnerung an den Weg zurück zur Villa war wie von einem Nebel getrübt. Ich stolperte in das Zimmer und schloss nicht einmal die Tür hinter mir. Ich hatte keinen Grund. Außer mir war niemand im Haus.

Niemand.

Ich tastete über den Nachtschrank. Nichts. Ich öffnete die Schublade. Meine Finger erfassten einen Tablettenstreifen.

Niemand.

Ich wusste nicht, welche Tabletten es waren, aber in diesem Moment war mir alles recht. Scherztabletten, Schlaftabletten, Halsbonbons. Solange ich nur irgendwas hatte, mit dem ich meinen Verstand austricksen und meine zitternden Hände beruhigen konnte. Ich schluckte die Tablette ohne Wasser.

Und wartete.

Mein Atem beruhigte sich. Ich strich mir über die Stirn. Sie war noch immer feucht, vielleicht vom Regen, vielleicht vom Schweiß. Ich mobilisierte meine Kräfte und stand auf. Ging ins angrenzende Badezimmer und nahm eine Dusche.

Danach ging es mir kaum besser, aber die klamme Kälte hatte mich kurzzeitig verlassen. Ich zog frische Kleidung an und setzte mich aufs Bett.

Ich lauschte dem Prasseln des Regens und dem Ticken der Uhr. Die Zeit ging schleichend vorüber, draußen wurde es dunkler.

Der Regen schlug schwach, dann stärker gegen die Fenster. Das Ticken der Uhr schien sich zu verlangsamen, auch wenn ich wusste, dass es nur meine subjektive Wahrnehmung war. Dann erklang ein neues Geräusch.

Ein Klirren. Ich lauschte, doch es wiederholte sich nicht.

Ich erhob mich langsam und durchquerte den Raum. Vielleicht ein offen gelassenes Fenster? Ich seufzte und durchquerte den Flur, und ging ins Erdgeschoss. In der Eingangshalle war es still und ich hörte nichts. Ich spürte auch keinen Windzug.

Ich musste mir das Geräusch eingebildet haben. Ich erklomm die Treppen und kehrte in die erste Etage zurück. Ich achtete nicht auf meine Schritte und erst als ich mitten im Zimmer stand fiel mir auf, dass es nicht meins war. Es war Wheelers. Das Zimmer, in dem Wheeer geschlafen hatte.

Ich wollte mich zum Gehen umdrehen, da schlagen sich Hände um meinen Hals und ich wurde zu Boden geworfen. Ich konnte nicht einmal überrascht aufschreien, da mir jegliche Luftzufuhr abgeschnitten wurde. Ich blickte fassungslos in das schwarze Gesicht einer maskierten Person über mir. Das einzige, was ich trotz der Schwärze sehen konnte, war das diabolisch verzerrte Grinsen.

Ich erwachte mit einem Ruck. Blickte schwer atmend an die Decke über mir. Ich schnappte nach Luft und fing an zu husten. Ich presste eine Hand auf meine Kehle und rang keuchend nach Atem. Unfokussiert blickte ich mich um.

Ich war in meinem Zimmer. Alleine. Kein Angreifer. Niemand außer mir.

Niemand.

Ich richtete mich auf, bis ich aufrecht saß. Lange blickte ich auf meine Hände hinab. Ich schrieb Träumen keine große Bedeutung zu, aber es war das erste Mal, dass ich meinen eigenen Tod vor Augen gehabt hatte. Ich kannte Träume, in denen ich um Mokuba gekämpft hatte. Auch in meinem Alter kehrten die Szenarien zurück, in denen ich ihn nicht hatte retten können. In denen ich vor seinem Grab gestanden und keine Vergebung gefunden hatte.

Dieser Traum war realer gewesen. Ich konnte die Hände um meinen Hals förmlich noch immer spüren. Das Lächeln meines Angreifers noch immer sehen. Seinen Atem noch immer hören.

Ich schauderte und schüttelte den Kopf. Idiotisch. Nicht mehr als ein Traum. Irrational.

Ich zuckte zusammen, als jemand an der Tür schellte. Und fluchte über meine eigene Reaktion.

Ich spielte mit dem Gedanken, einfach sitzen zu bleiben. Es gab niemanden, den ich erwartete. Es war halb fünf – niemand klingelte um halb fünf bei mir.

Ich ging ans Fenster und sah nach draußen. In der Entfernung sah ich am Tor des Grundstücks eine schemenhafte Gestalt. Alleine. Ungeschützt im Regen. Mir viel nur eine Person, die idiotisch genug war, hierher zurück zu kehren.

Ich wandte mich ab und verließ den Raum. Neben der Eingangstür war ein Schaltkasten in der Wand. Er hatte ein Zahlenfeld für die Alarmanlage und Knöpfe, mit denen die Garage und das Eingangstor geöffnet wurden. Ich drückte den Knopf für letzteren Befehl. Dann öffnete ich die Eingangstür und wartete.

Wheeler brauchte drei Minuten vom Tor bis zur Tür. Er war bis auf die Haut durchnässt. Und lächelte mich tatsächlich an als er mich erblickte.

„Danke“, sagte er. Weiter nichts.

Ich fragte: „Was willst du hier?“ Und verschränkte die Arme. Es wehte ein kühler Wind.

„Fragen, ob ich noch hierbleiben darf.“

„Warum? Ich habe dich zu den Mutos gebracht. Sie nehmen dich doch mit Freuden bei sich auf. Ein Kind mehr oder weniger macht keinen Unterschied.“

Ich war heute viel zu nachsichtig mit Wheeler gewesen. Er hatte sich zuviel rausgenommen.

„Sie haben kein Gästezimmer.“

Vielleicht log er. Vielleicht auch nicht. Japanische Häuser waren auf ein Minimum reduziert, was den Platz betraf. Es waren meist kaum genug Zimmer für alle Familienmitglieder vorhanden. Doch was dachte ich überhaupt darüber nach?

„Aber ein Sofa besitzen sie“, bemerkte ich sachlich. Und ich sah Wheeler an, dass sie ihm genau das Angebot gemacht hatten, auf das ich jetzt anspielte.

„Das haben sie.“

„Es ist passabel. Dir sollte es zum Schlafen reichen.“

„Das würde es.“

„Warum bist du dann zurückgekommen?“

Er lächelte. Und wieder war es dieses kaputte, viel zu bittere Lächeln. „Einfach so.“

Ich verzog den Mund. „Ich bin nicht dazu verpflichtet, dich aufzunehmen. Genau genommen schuldest du mir nach dem heutigen Tag etwas.“

„Ich weiß.“

„Ich sollte dich hier draußen stehen lassen. Du hast mich in etwas hineingezogen, das mich nichts anging.“

„Ich weiß.“

„Du nervst.“

Regenwasser rann über sein Gesicht. Löste sich in Tropfen und fiel mit dem Regen zu Boden.

„Ich weiß.“

„Köter.“ Mir gingen die Optionen aus.

„Reicher Pinkel.“

Ich trat zurück und schloss die Tür. Ließ zwölf Sekunden verstreichen, bevor ich sie wieder öffnete. Und ließ Wheeler, der sich kein Stück vom Fleck bewegt hatte, hinein.
 

Eine halbe Stunde später war Wheeler geduscht, trug frische Kleidung von mir (ich wollte nicht später beschuldigt werden, jemanden vorsätzlich krank werden zu lassen) und saß mir in der Küche wieder mit einem heißen Kakao gegenüber. Ich trank einen Kaffee. Schwarz.

Draußen hatte es noch immer nicht aufgehört zu regnen.

Warum ich hier mit Wheeler saß, wusste ich nicht genau. Er hatte mich nie danach gefragt, mit ihm etwas zu trinken. Ich hatte als erster den Weg in die Küche gefunden und mir einen Kaffee gemacht. Ich hatte kaum zwei Minuten hier gesessen, da war Wheeler durch die Küchentür gekommen, hatte begonnen, sich wie selbstverständlich die Milch aufzuwärmen und hatte sich schließlich zu mir gesetzt.

Er hätte vieles sagen können. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er auch stundenlang schweigen können. Natürlich würde Wheeler so etwas für ihn Unnatürliches niemals tun. Ich rechnete schon damit, dass er mir lang und breit berichtete, wie es zwischen ihm und Muto gelaufen war. Stattdessen sagte er:

„Du hattest eine Panikattacke.“

Ich ließ die Kaffeetasse sinken. Und bemerkte zu spät, dass mein Zögern Antwort genug für ihn war.

„Téa hat mich darauf angesprochen. Sie war wirklich besorgt. Sie sagt, du hättest fürchterlich ausgesehen. So hätte sie dich noch nie erlebt.“

Ich schwieg.

„Ich weiß, dass ich recht habe. Ich kenne Panikattacken. Ich hatte ebenfalls welche, auch wenn es Jahre her ist.“

Ich musterte Wheeler eingehend. Ich hätte niemals erwartet, dass jemand wie er Panikattacken hatte. Dass er Panikattacken hatte. Ich fragte nicht, warum. Er sagte nicht, warum. Wir schwiegen uns an.

„Wie oft?“, fragte er als sein Becher schon halb leer war.

„Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“

„Also leugnest du es nicht.“

„Was würde es mir bringen? Pseudo-Analysen von dir oder vielleicht sogar Behandlungs-Empfehlungen. Danke, aber das brauche ich nicht.“

„Also hast du es im Griff?“

„Wheeler, was kümmert es dich? Ich habe einen Moment meine Nerven verloren – so ungern ich es auch zugeben. Ich wüsste nicht, was daran für dich von Relevanz ist. Lass es einfach.“

„Nicht, wenn es solche Ausmaße annimmt.“

„Was für Ausmaße? Habe ich Gardner verschreckt? Habe ich die Einrichtung beschädigt? Habe ich auf meinem Heimweg einen Unfall verursacht? Du überinterpretierst schon wieder.“

„Nimmst du Medikamente?“

„Nimmst du Medikamente?“

„Nicht mehr.“

Und wieder erwischte er mich unerwartet. Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. „Frage ich dich, was für welche du genommen hast?“

„Schlaftabletten. Manchmal Beruhigungsmittel, wenn es besonders schlimm war.“

„Habe ich gesagt, dass es mich interessiert? Wheeler, du hättest von mir aus auch Drogen nehmen können und es wäre mir egal.“

„Ich habe mit dem Gedanken gespielt. In manchen Ländern ist es nicht illegal, so wie hier in Japan.“

Ich verdrehte die Augen. „Hörst du mir eigentlich zu? Es interessiert mich nicht.“

„Warum bist du dann hier?“

„Es ist meine Küche.“

„Du könntest mittlerweile genauso gut wieder in deinem Zimmer sein. Du hättest keine Skrupel, mich hier einfach sitzen zu lassen. Aber du bist hier geblieben. Bei mir. Mit mir. Also hindert dich etwas daran, zu gehen. Neugier? Verleugnetes Interesse?“ Er beugte sich vor. „Einsamkeit?“

Ich stand auf. „Das reicht. Ich hab genug von deinen Unterstellungen. Du weißt, wo du mich findest. Also komm nicht einmal in die direkte Nähe des Zimmers, es sei denn, das Haus steht in Flammen.“ Ich wandte mich zum Gehen.

„Du bist einsam, Kaiba“, sagte Wheeler und ich hielt inne. „So einsam, das es wehtut. Du lebst isoliert. Du nimmst Tabletten, um damit klarzukommen. Du gehst langsam, aber sicher kaputt.“

Ich verließ die Küche. Und kam trotzdem nicht umhin, Wheelers hinterher gerufene Worte zu hören: „Aber du bist es, der sich von der Außenwelt abschottet, nicht umgekehrt.“

Was wusste er schon?!

Gar nichts.

Absolut gar nichts.
 

~ „Das war es dann wohl. Das Flugzeug startet gleich, Seto.“

„Es ist ein Privatjet, Mokuba. Er wird nicht ohne dich fliegen.“

„Weißt du es mit Sicherheit? Selbst unser gebündelter Kaiba-Einfluss kann den festgelegten Start eines Flugzeuges nicht verhindern.“

„Doch, wenn wir den Flughafen kaufen.“

„Seto.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich es vorhabe. Aber ich könnte es in Erwägung ziehen.“

„Wir brauchen keinen Flughafen.“

„Man weiß nie.“

„Seto.“

„...“

„Ich muss jetzt los.“

„Du hast recht. Ich muss auch los. Ich habe noch einen Termin.“

„An einem Feiertag?“

„Hat das je einen Unterschied gemacht?“

„Ach, Seto.“

„Pass gut auf dich auf, Mokuba.“

„Du auch auf dich, Seto. Ich komme dich immer wieder besuchen, ja?“

„Ich weiß.“

Ich wandte mich zum Gehen.

„Seto?“

„Ja?“

Mokuba wirkte, als würde er um die richtigen Worte ringen. „Vergiss nicht ... ich meine, du darfst nicht immer ...“ Er seufzte. „Vielleicht solltest du Yugi mal besuchen?“

„Vielleicht“, antwortete ich und ging. Ich wusste, dass er meinen Worten ebenso wenig glaubte, wie ich. ~
 

~ „Wie oft haben Sie dieses Gefühl?“

„Hin und wieder. Morgens nach dem Aufstehen. Manchmal spät abends, wenn ich von der Arbeit wiederkomme. Hin und wieder auch an freien Tagen.“

„Ich verstehe.“

„Tun Sie das wirklich oder wollen Sie mir nur das Gefühl vermitteln, damit ich ihnen weiterhin Schecks schreibe?“

„Herr Kaiba, Ihre Feindseligkeit ist unangebracht. Ich versuche, Ihnen zu helfen.“

„Dann sagen Sie mir, was ich habe.“

„Panikattacken.“

„Panikattacken.“

„Eben diese.“

„Habe ich etwa gesagt, ich renne schreiend durch mein Haus oder verkrieche mich unter meinem Bett und in Schränken?“

„Panikattacken zeigen sich nicht nur durch derartige Symptome. Alles, was sie beschrieben haben, spricht dafür. Herzrasen. Kalter Schweiß. Unkontrolliertes Zittern. Der Fluchttrieb.“

„Panikattacken.“

„Panikattacken, Herr Kaiba. Ausgelöst durch Stress –“

„Ich habe keinen Stress.“

„Oder Einsamkeit.“

„Ich bin nicht einsam.“

„Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal gesehen? ... Herr Kaiba?“

„Vor zwei Monaten.“

„Wann haben sie kürzlich mit ihm gesprochen?“

„Vor drei Wochen.“

„Haben Sie in dieser Zeit Besuch empfangen?“

„Nein.“

„Waren Sie bei jemandem zu Besuch?“

„Nein.“

Ich spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte.

„Wie groß ist ihr Freundeskreis? ... Haben Sie mehr als fünf enge Freunde? ... Zwei? Einen?“

„Ich brauche keine Freunde.“ Schweiß bildete sich auf meiner Stirn

„Wie lange liegt ihre letzte Beziehung zurück? Mehr als ein Jahr?“

Meine Hände begannen zu zittern. „Zwei Jahre.“

„Was ist der erste Gedanke, den sie morgens nach dem Aufstehen haben?“

An diesem Tag hatte ich meine erste Panikattacke während der Sprechstunde. ~
 

Wieder eine heiße Dusche. Wieder frische Kleidung. Ich verließ mein Schlafzimmer und ging in mein Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Flures. Setzte mich an den Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch. Mein Blick blieb an einem Bild von Mokuba hängen, das vereinsamt am anderen Ende des Schreibtisches stand.

Ich schüttelte den Kopf und begann mit der Arbeit. Da mein Arbeitspensum in den vergangenen Jahren stetig geschrumpft war, hatte ich es mir angewöhnt, Arbeiten, sofern sie nicht drängten, zu sammeln, bis sie sich so anhäuften, dass ich stundenlang durcharbeiten konnte, manchmal sogar eine ganze Nacht am Stück. Denn es waren Stunden ohne störende Gedanken.

Heute Abend war es wieder so weit: Es hatte sich genug Arbeit angehäuft, um mich die Nacht über zu beschäftigen. Ich spürte, wie meine Stimmung sich hob, während ich das erste Programm öffnete.
 

Als ich den Computer ausschaltete hatte es aufgehört zu regnen. Am Horizont zeigte sich der erste Rotschimmer der aufgehenden Sonne. Ich streckte meine steifen Glieder und stand zum ersten Mal seit Stunden auf. Einen Moment lang wurde mir schwarz vor Augen, doch so schnell wie er gekommen war, verschwand der Schwindel wieder.

Ich schloss die Tür hinter mir und durchquerte den Flur. Auf dem Weg zu meinem Schlafzimmer kam ich an Wheelers Zimmer vorbei. Ich blieb stehen. Nicht, weil ich ein plötzliches Interesse an Wheeler entwickelt hatte, sondern weil die Tür sperrangelweit offen stand. Stirnrunzelnd trat ich näher. Wheelers Zimmer war leer. Seine zum Trocknen über die Heizung gelegten Kleidungsstücke waren nicht mehr da. Der Schlafanzug sowie die geliehene Hose und der Pullover lagen sauber zusammengefaltet auf dem unberührt wirkenden Bett.

Wheeler war weg.

Er war gegangen.

Und das Ausbleiben meiner Genugtuung war allarmierend.
 


 

tbc

Entity

Vorwort(e): Entschuldigt die Verspätung, ist alles etwas ereignisreich im Moment. Und dann laufen da noch zahlreiche Nebenprojekte, die um Aufmerksamkeit buhlen :-) Ich versuche aber, diese FF nicht zu kurz kommen zu lassen. Dafür liegt sie mir einfach zu sehr am Herzen. Viel Spaß mit dem neuen Kapitel!
 


 

6. Kapitel: Entity
 


 

Ich saß am sonst leeren Küchentisch und trank meinen Kaffee. Es war still im Raum.

Ich versuchte mir einzureden, die Stille sei angenehm. Tatsächlich war sie erdrückend.

Ich leerte meine Tasse schneller als sonst.

Schließlich musste ich mir die Frage stellen, was ich mit dem heutigen Tag anfangen würde. Während ich meine dritten Kaffee dezimierte, legte ich fest, dass ich die nächsten Tage wieder in die Firma gehen würde. Von hier aus zu arbeiten war zu monoton. Mich wunderte, dass meine Sekretärin noch nicht längst angerufen hatte.

Ich stellte die Tasse in die Spüle und verließ die Küche. In der Eingangshalle nahm ich mir einen trockenen Mantel von der Garderobe und steckte meinen Geldbeutel in die Innentasche. Dann ging ich den gleichen Weg wie gestern mit Wheeler zur Tiefgarage. Ich hatte beschlossen, wieder selbst zu fahren, da ich zunehmend Gefallen daran fand. Vielleicht würde ich es mir angewöhnen. Es war eine angenehme Abwechslung und nahm ein kleines bisschen Lächerlichkeit von der hohen Anzahl an Autos in der Tiefgarage.

Ich war auf der obersten Treppenstufe als es passierte.

„Kaiba.“

Ich hatte mich noch nie zuvor so sehr erschreckt. Auch wenn ich mich im Nachhinein für diese Reaktion verfluchen wollte, hatte ich in diesem Moment keine Kontrolle über meinen Körper, als ich wie unter einem Schlag zusammenzuckte und mein Fuß die nächste Treppenstufe verfehlte. Dann ging alles in wechselnden Lichtern, Schmerz und Schwärze unter.
 

~ „Haben Sie noch Kontakt zu Ihren ehemaligen Mitschülern?“

„Nein.“

„Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, den Kontakt wieder aufzunehmen?“

„Nein.“

„Herr Kaiba.“

„Nein.“
„Ich verstehe. Wissen Sie, was aus ihnen geworden ist?“

„Bei einigen.“

„Wollen Sie es mir erzählen?“

„Ich wüsste nicht, was das bringen sollte.“

„Oh, es bring eine ganze Menge.“

„Wenn ich nicht plane, sie jemals wieder zu sehen?“

„Das sind harte Worte. Haben sie Ihnen einen Grund gegeben, so über sie zu denken?“

„Nein.“

„Warum sind Sie sich dann so sicher?“

„Ich bin es einfach.“

„Erzählen Sie mir über sie.“

„Da wäre zunächst Yugi Muto. Sie kennen ihn sicher – König der Duellanten, Sieger über alle, ungeschlagener Champion.“

„Ihren Worten entnehme ich, dass Sie daran scheiterte, ihn zu schlagen.“

„Oft genug. Aber das tut hier nichts zur Sache.“

„Doch, das tut es. Aber ein anderes Mal. Erzählen Sie weiter.“

„Er hat seine Sandkastenliebe geheiratet. Wie in einem albernen Roman. Fehlt nur noch das Kind.“

„Aber wenn sie doch glücklich sind.“

„Oh, ich wette, sie sind glücklich. Und leben in ihrer gemeinsamen Traumwelt.“

„Weiter, Herr Kaiba.“

„Dann wäre da sein bester Freund, Wheeler, der ihm hinterherläuft, wie ein treuer Hund. Eine Nervensäge. Vielleicht spielt er den Haushund, vielleicht macht er sonst was. Ich will es gar nicht wissen. Zu guter Letzt gibt es Devlin und Taylor. Sie haben ein Café eröffnet und versuchen, den Amerikanischen Traum nach Japan zu bringen.“

„Sie sagen das sehr abwertend.“

„Vielleicht meine ich es nur teilweise so. Ihr Versuch ist mutig, aber aussichtslos. Man baut kein Geschäft aus dem Nichts auf.“

„Sie haben es gemacht. Sie haben aus den Überresten der Firma ihres Stiefvaters die heutige Kaiba Corporation gegründet.“

„Das war ich.“

„Und?“

„Devlin und Taylor sind Devlin und Taylor. Sie sind nicht ich.“
„Heißt das, Sie sind der einzige, der es kann?“

„Ich bin einer von wenigen, der es kann. Sie nicht.“

„Tatsächlich?“

„Tatsächlich.“

„Was halten Sie davon, wenn Sie es selbst herausfinden? Besuchen Sie doch dieses Café einmal und urteilen dann.“

„Warum sollte ich?“

„Warum nicht?“

„Sie werden nicht erfreut sein, mich zu sehen.“

„Das wissen Sie erst, wenn Sie sie sehen.“

„Das ist sinnlos.“

„Wirklich?“

„Wirklich.“

„Ich kann Sie zu nichts zwingen.“

„Das können Sie nicht.“

„Gut, dann erzählen Sie mir doch noch von den anderen ...“ ~
 

Als meine Sicht zurückkehrte lag ich am Fuß der Treppe auf dem Rücken und blickte in Wheelers besorgtes Gesicht über mir.

„Kaiba? Scheiße, Kaiba, hörst du mich?!“

Ich versuchte verzweifelt, wieder Luft zu bekommen. Meine ersten Worte waren: „Verdammt, Wheeler ...“

Sie waren nicht ganz so wirkungsvoll, wie ich es mir gewünscht hatte, da mein Gesicht schmerzverzerrt und meine Stimme nicht mehr als ein Krächzen war. Stöhnend schloss ich die Augen.

„Kaiba, bleib bei mir. Sieh mich an.“

Ich funkelte ihn so gut es ging an. „Machst du dich ... über mich lustig?!“

Ein Lächeln erschien auf seinem von Sorge gezeichneten Gesicht. „Wenn du mich schon wieder so anfauchen kannst, kann der Sturz nicht so schlimm gewesen sein.“

Nicht so schlimm? Mein Kopf drohte vor Schmerz zu bersten und was meinen Rücken betraf, wollte ich gar nicht erst davon anfangen.

„Kannst du dich bewegen?“

„Sehr witzig.“

„Ist etwas gebrochen?“ Er begann, meine Arme abzutasten. Ich entzog mich seinen Händen.

„Nein, ist es nicht. Hör auf damit.“

Langsam setzte ich mich auf. Der Schmerz musste mir deutlich anzusehen gewesen sein, denn Wheelers Hände waren auf einmal wieder da und er half mir, mich aufzusetzen, sodass ich mich mehr oder weniger aufrecht an die Wand hinter mir lehnen konnte. Dann wich er zurück, als befürchtete er, ich würde nach ihm schnappen. Das erfüllte mich mit Genugtuung.

Wheeler fuhr sich durch die Haare. Die Geste wirkte mehr hilflos, denn gefasst. „Tut mir leid, Kaiba. Ich wollte dich nicht erschrecken. Verdammt, wer ahnt denn auch, dass du gleich die ganze Treppe runter fällst.“

„Vielen Dank Wheeler. Du schaffst es tatsächlich, dich hier als Opfer darzustellen.“

„So meine ich das doch gar nicht.“ Er verdrehte die Augen. „Ich will damit nur sagen, dass ich dich niemals hier angesprochen hätte, wenn ich gewusst hätte, dass du dich so erschreckst.“

„Ich habe nicht mit dir gerechnet.“ Ich hatte keinen Grund, mich zu verteidigen. Ich musste mich nicht rechtfertigen. Ich war der festen Überzeugung gewesen, alleine im Haus zu sein. Ich wollte Wheeler sehen, wenn er in der gleichen Situation derart erschreckt würde.

Was mich an etwas Anderes erinnerte ...

„Was machst du hier?“

Wheeler hob die Brauen. „Wieso? Du hast mir doch erlaubt, zu bleiben.“

„Ich korrigiere meine Frage: Was machst du noch hier? Ich hatte angenommen, du seist gegangen. Dein Zimmer war verlassen.“

„Na ja, das mag daran liegen, dass ich außer mir selbst nichts dabei habe. Und sobald ich nicht im Zimmer bin wirkt es dann eben verlassen.“

Wheeler argumentierte tatsächlich logisch mit mir. Mein Schweigen schien ihn zu verunsichern. „Soll ich gehen?“

„Nein.“ Ich hatte geantwortet, bevor ich über seine Frage genauer reflektieren konnte. Und hätte mich im nächsten Moment vor die Stirn schlagen können. Wheeler hatte es praktisch angeboten und ich hatte ohne zu Zögern abgelehnt. Was war nur in mich gefahren? Vermutlich Nachwirkungen des Sturzes.

Ich seufzte und schloss die Augen. Dann warf ich das beklemmende Gefühl ab, mehr und mehr die Kontrolle über die Situation zu verlieren. „Hilf mir wenigstens auf.“

Wheeler griff nach meinem Arm und zog mich vorsichtig hoch. Einen Moment drehte sich alles, dann stand ich neben ihm und mein Blick fokussierte sich wieder. Ich schüttelte den Kopf, um den Schwindel loszuwerden.

„Willst du dich hinlegen?“

„Es geht schon.“

„Bist du sicher? Das war ein ganz schön heftiger Fall.“

„Siehst du mich weinen?“

„Nein.“

„Blute ich?“

„Nein.“

„Dann kann er so schlimm nicht gewesen sein.“

Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Wheeler wieder die Augen verdrehte. „Dickschädel“, murmelte er. Und sagte dann noch einmal: „Tut mir leid. Das mit dem Sturz.“

„Zur Kenntnis genommen.“

Ich wollte mich in Bewegung setzen, doch musste ich mich an der Wand abstützen, um nicht zu taumeln. Wheeler war sofort wieder neben mir. „Auch wenn es nicht so schlimm war, solltest du dich wirklich lieber hinlegen.“

„Hinsetzen dürfte genügen“, bemerkte ich knapp. „Bring mich zum Wagen.“

„Du hast doch nicht ernsthaft vor, in diesem Zustand zu fahren?“

„In welchem Zustand, Wheeler?“

„Benommen. Nicht ganz bei Sinnen. Wirr. Bist du sicher, dass du keine Gehirnerschütterung hast?“

„Ja.“

Nein, ich war mir nicht sicher. Aber solange ich noch aufrecht stand, konnte es nicht so schlimm sein.

„Lügner.“

„Ich werde mich nicht hinlegen.“

„Du wirst aber auch nicht Auto fahren.“

„Dann fahr du mich“, entgegnete ich gereizt und realisierte meinen Fehler zu spät. Wheeler sprang natürlich sofort darauf an.

„Gut.“

Na wunderbar.
 

Ich presste eine Hand auf meine geschlossenen Augen und wagte es nicht, Wheeler beim Manövrieren des Wagens zuzusehen. Erst als wir die Tiefgarage und das Grundstück hinter uns ließen, öffnete ich die Augen. Während er der Hauptstraße folgte, erwischte ich mich dabei, wie ich ihn kritisch beobachtete.

„Besitzt du auch wirklich einen Führerschein?“

Der Sturz musste mich mitgenommen haben, wenn ich die Frage erst jetzt stellte, wo es doch ohnehin zu spät war.

„Ja, Kaiba.“

„Und er ist auch noch gültig?“, harkte ich nach.

„Definiere gültig.“

Als hätte ich es geahnt. Ich lehnte mich resignierend zurück. Wheeler schien zumindest keine Probleme mit dem Wagen zu haben. Das war auch schon der einzige Trost. Mich störte jedoch am meisten von allem, dass mich seine Anwesenheit nicht so sehr nervte, wie ich es erwartet hatte. Und als ich vorhin angenommen hatte, er wäre wortlos gegangen, war ich weniger erleichtert als nachdenklich gewesen.

Wie konnte es sein, dass ich erst zwei Tage in Wheelers Gegenwart verbracht und mich bereits so an seine lästige Präsenz ... gewöhnt hatte. Gewöhnt traf es tatsächlich.

Vielleicht lag es an der Abwechslung, die er mit sich brachte. Auch wenn ich darunter nicht unbedingt den Besuch bei Muto verstehen würde, denn dieser war mehr nervenaufreibend denn angenehm gewesen. Genau genommen entsprach keine Minute mit Wheeler meiner Definition von angenehm. Dennoch tolerierte ich es und hatte ihm gestern sogar angeboten, ihn zu fahren. Ich konnte meine eigenen Beweggründe nicht mehr nachvollziehen.

Ich beobachtete Wheeler aus den Augenwinkeln. Heute fuhr er mich. Welche Ironie.

„Wir sind da.“ Wheeler hielt an.

Irritiert blickte ich mich um. „Das hier ist nicht meine Firma.“

Er runzelte die Stirn und mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich ihm nie die Kaiba Corporation als Ziel genannt hatte. Dass er demnach nicht wissen konnte, ich hinwollte. Was die Frage aufwarf, wo wir waren.

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, während ich die Schrift auf dem Schild neben dem Eingang betrachtete. Das Gebäude selbst sprach schon für sich.

„Du hast mich zum Krankenhaus gebracht.“

„Du bist ziemlich tief gestürzt.“

„Es war nur eine Treppe.“

„Mit fünfzehn Stufen.“

„Siebzehn.“

„Noch schlimmer. Du könntest eine Gehirnerschütterung haben. Das sollte untersucht werden.“

„Ich habe einen privaten Arzt.“

„Er wird nichts anderes feststellen können als das Krankenhaus.“

„Wheeler, ich werde nicht dort hineingehen.“

„Dann werde ich dich hinein schleifen.“

„Das will ich sehen.“

Wheeler hob die Brauen, dann schnallte er sich ab, stieg aus und umrundete das Auto. Als er meine Tür öffnete und sich mit entschlossener Miene über mir aufbaute, wirkte er ziemlich überzeugend. Ich gab mich unbeeindruckt.

„Und was hast du jetzt vor? Mich über deine Schulter werfen und an der Rezeption abgeben?“

„Wenn es sein muss.“

„Woher kommt die plötzliche Anteilnahme? Sehe ich aus, als ginge es mir schlecht?“

„Das tust du nicht. Aber dein Äußeres sagt nie etwas über deinen tatsächlichen Zustand aus.“ Wheeler ging vor der geöffneten Tür in die Hocke und war nun auf meiner Schulterhöhe. Sein Blick war durchdringend. „Du hast dich gut unter Kontrolle, Kaiba. Du bist nach all den Jahren Meister darin, dich abzuschotten.“

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Wheeler kam mir zuvor.

„Du könntest vor meinen Augen zerbrechen und ich würde es nicht mitbekommen.“

Und damit hatte Wheeler recht. Sein verständnisvoller Blick war mehr als ich ertrug.

Ich machte eine flüchtige Kopfbewegung. „Geh zur Seite.“ Er richtete sich auf und trat zurück. Ich stieg aus und hielt mich anschließend an der Autotür fest, um nicht den Halt zu verlieren.

Wheeler trat neben mich, doch ich wies ihn zurück. „Ich kann alleine laufen.“

Er zuckte die Achseln. „Wie du meinst.“

Tatsächlich konnte ich ohne weitere Probleme den Weg vom Wagen zum Krankenhauseingang hinter mich bringen. Der Schwindel war auf ein erträgliches Maß zurückgegangen. An der Notaufnahme trug ich mich ein und wurde in die Wartezone gewiesen. Niemand hatte bei meinem Namen auch nur gezuckt. Ich war offensichtlich kein Geldgeber für dieses Krankenhaus.

Wheeler wich nicht von meiner Seite. Er lungerte in meinem Schatten als wartete er darauf, dass ich taumelte oder stolperte. Ich rechnete schon damit, dass er mir ins Behandlungszimmer folgen würde, doch er kannte das Wort Diskretion offenbar doch und blieb sitzen.

Es stellte sich heraus, dass ich recht gehabt hatte. Keine Gehirnerschütterung, nur einige blaue Flecke und eine Beule am Hinterkopf. Nichts Ernstes, aber der Arzt verordnete mir Ruhe und verschrieb mir Schmerztabletten.

„Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?“

Man hatte mir irgendwann nahe gelegt, einen Arzt nicht zu belügen.

„Schlaftabletten“, antwortete ich. „Hin und wieder Medikamente zur Beruhigung.“

Er sah mich nicht einmal an und nickte. Dann notierte er etwas auf einem Zettel und reichte ihn mir. „Ein Rezept für die Schmerztabletten. Maximal drei pro Tag mit mindestens zwei Stunden Pause dazwischen.“

Dann stand ich wieder draußen und wurde von Wheeler empfangen.

„Was hat er gesagt?“

Ich ging an ihm vorbei. „Was ich schon längst wusste.“

„Also keine Gehirnerschütterung?“

„Natürlich nicht.“

„Sonst noch etwas?“

„Wir fanden uns auf Anhieb sympathisch und haben unsere Handynummern ausgetauscht.“

Wirklich?

„Selbstverständlich nicht.“

„Ha ha. Entschuldige, dass ich mich kümmere.“

Ich blieb stehen und wirbelte zu ihm herum. „Ganz genau. Es hat dich niemand darum gebeten.“

Wheeler hob die Schultern. Eine defensive Haltung. „Du würdest mich niemals von dir aus darum bitten, selbst wenn du Hilfe bräuchtest.“

„Ich brauche aber rein zufällig keine Hilfe, Wheeler. Und demnach auch niemanden der sich kümmert.“

„Und wenn es so wäre?“

„Was?“

„Was, wenn du Hilfe bräuchtest? Wen würdest du fragen?“

Ich hatte keine Antwort auf seine Frage. Und wir beide wussten es. Wheeler ging es nur darum, mir zu zeigen, dass er es wusste. Ich kehrte ihm den Rücken und stieg auf der Beifahrerseite ein.

„Fahr mich zu meiner Firma.“

Vier Sekunden blieb er stehen, dann stieg auch er ein. Die Hälfte der Fahrt verbrachte er schweigend. Dann fragte er:

„Wirfst du mich jetzt raus?“

„Während der Fahrt? Das wäre ziemlich selbstzerstörerisch von mir.“

„Aus der Villa.“

„Noch nicht, Wheeler. Dieses Vergnügen hebe ich mir auf.“ Meine Stimme war viel zu gönnerhaft und es entging ihm natürlich nicht. Aus diesem Grund lächelte er wieder.

„Ich muss noch einkaufen“, sagte er als er auf den Parkplatz der Kaiba Corporation fuhr und parkte. „Ich brauche einige Dinge.“

Ich verzog den Mund. „Nur ein Vorschlag: Frische Kleidung.“

„Stell dir vor, diese Idee ist mir auch schon gekommen.“

Wheeler hatte kein Gepäck dabei. Er hatte nichts, abgesehen von der Kleidung, die er trug. Dazu kamen vielleicht eine Geldbörse mit Papieren und Kreditkarten.

„Gibt es hier in der Nähe eine Einkaufspassage?“

„Die Hauptstraße runter, etwa vierhundertfünfzig Meter von hier entfernt. ... Ich kenne die Umgebung meiner Firma“, fügte ich angesichts seines fragenden Blickes hinzu.

„Sehr gut.“ Wir stiegen aus und er reichte mir die Schlüssel. „Treffen wir uns wieder hier?“

Mir behagte der Gedanke nicht, so eingeschränkt zu werden, aber ich konnte es nicht ändern.

„Drei Stunden“, erwiderte ich darum. „Melde dich an der Rezeption.“

„Brauche ich ein Codewort?“

„Sag, du bist die Reinigungskraft. Sie werden es dir ohne Zweifel glauben.“

„Sehr witzig.“

„Ich war schon besser. Es muss an dem Sturz liegen. Geh schon, Wheeler.“

„Ach, Kaiba.“ Ich verharrte. „Du solltest etwas essen.“

Ich gab keine Antwort und ließ ihn stehen.
 

Drei Stunden vergingen viel zu schnell. Ich genoss die Atmosphäre meines Büros, die Geräusche eines funktionierenden Unternehmens im Hintergrund. Tatsächlich hatte ich nach der arbeitsreichen Nacht sogar noch einige Aufgaben zu erledigen, darunter einige Telefonate und Unterzeichnungen von Verträgen.

Um zehn vor zwei klingelte das Telefon. An sich wäre es nichts Außergewöhnliches gewesen, hätte die Nummer nicht eine amerikanische Vorwahl gehabt.
 

„Kommst du damit klar?“

„Womit?“

„Damit, dass Mokuba nicht mehr da ist? Kommst du damit klar?“

„Natürlich komme ich damit klar, Wheeler. Ich hatte sechs Jahre Zeit.“
 

„Lächerlich“, murmelte ich und griff nach dem Hörer. „Kaiba Corporation, Seto Kaiba.“

„Seto.“

„Mokuba.“ Und meine Haltung entspannte sich. Die Verspannung in meinem Nacken schien mit einem Mal weniger penetrant, das Pochen hinter meinen Schläfen rückte in den Hintergrund. Es war albern, dass Mokubas Stimme all dies auslöste, aber es zu leugnen wäre die infantilste Lüge, zu der ich je im Stande wäre.

„Ich hatte es in der Villa versucht, aber dort ist niemand drangegangen, also konntest du nur hier sein.“

Hätte Mokuba gestern zur gleichen Zeit angerufen, wäre ich weder in der Firma noch in der Villa gewesen. Er hätte bei Yugi anrufen müssen, um mich zu erreichen. Aber das hätte er nicht getan, denn nie hätte er damit gerechnet, dass ich beim Mutos auf dem Sofa sitzen und ihren Sohn auf meinem Schoß lassen würde.

„Du kennst mich einfach zu gut“, erwiderte ich.

„Seto, dafür brauche ich dich nicht einmal gut zu kennen.“

„Das stimmt wohl.“

„Wie geht es dir?“

„Hervorragend.“

Ein Moment Stille. Hatte ich so unüberzeugend geklungen?

„Das ist schön.“ Selbst über die Distanz hörte ich, dass er mir nicht glaubte. „Hast du über das nachgedacht, was ich beim letzten Anruf angesprochen habe?“

„Dass ich mir Urlaub nehmen soll, damit ich noch weniger zu tun habe?“

„Nein. Ich meine, die Villa zu verkaufen und in eine kleinere Wohnung zu ziehen.“

„Mokuba.“

„Ich meine es ernst. Das Haus ist viel zu groß für dich. Und du weißt, dass ich recht habe, Seto. Du sollst ja auch gar nicht in die Vorstadt ziehen, du kannst genauso gut ein Penthouse kaufen. Wenn du natürlich lieber aufs Land ziehen willst, dann kannst du das auch tun ...“

„Mokuba ...“

„Ich will damit ja auch nur sagen, dass ich es einfach nicht ... Ich mache mir Sorgen um dich, okay?“

„Du musst dir keine Sorgen um mich machen.“

„Doch, das muss ich. Zwischen uns liegen sechstausend Kilometer. Ich kann nicht einfach mal eben rüber fliegen, wenn etwas passiert. Ich würde Stunden brauchen, um ...“

Doch ich hörte ihm längst nicht mehr zu. Seine letzten Worte hallten wie ein Echo in meinen Ohren nach. Wenn etwas passiert. Nicht falls etwas passiert, sondern wenn. Als wäre es nur eine Frage der Zeit. Rechnete Mokuba damit, dass mir etwas zustieß. Dass ich mir vielleicht etwas antat?
 

„Ist es einsam? Hier, ganz alleine in dieser Villa zu leben?“

Ja.

„Nein.“

Ja, es war einsam.

„Ist es nicht.“

Es war trostlos. Und es zerfraß mich.
 

„Seto?“

Was war aus mir geworden, dass mein kleiner Bruder befürchten musste, dass mir etwas passierte?

„Seto.“

Meine Hände zitterten. Ich wischte mir über die Stirn. Kalter Schweiß hatte sich gebildet. Ich kannte die Anzeichen, kannte sie nur zu gut. Nur Mokuba wusste nichts davon. Durfte nichts davon wissen.

Seto.

„Mokuba, es tut mir leid, aber auf der anderen Leitung wartet ein wichtiges Gespräch auf mich. Ich rufe dich zurück.“

„Se-“

Und damit legte ich auf. Würgte meinen Bruder ab.

Und bekam zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine Panikattacke.
 

~ „Bleiben Sie ganz ruhig, Herr Kaiba. Konzentrieren sie sich auf Ihre Atmung, auf Ihren Herzschlag und atmen Sie ein und aus, ein und aus. Hören Sie auf meine Stimme. Ein. Aus. Ein. Aus. Sehen Sie, es wird schon besser, nur nicht aufgeben. Konzentrieren Sie sich weiter, Sie machen das sehr gut. Verkrampfen sie ihre Hände nicht, das erhöh nur die Anspannung und verstärkt das Zittern. Genau, legen Sie sie locker auf die Stuhllehnen. Weiter atmen. Ein und aus. Sehr gut. Sehen Sie, es wird schon besser. Und jetzt schauen Sie mich an. Sie müssen sich nicht schämen, eine Panikattacke ist kein Zeichen der Schwäche.“

„Ich schäme mich nicht.“

„Das ist gut. Weiter konzentriert atmen, Herr Kaiba. Noch nicht aufhören.“

„Es geht mir besser.“

„Sind Sie sich sicher?“

„E ist gleich mc Quadrat und Pi entspricht 3,14159265. Reicht Ihnen das als Beweis für meine Zurechnungsfähigkeit?“

„An ihr habe ich nie gezweifelt. Aber es ist nur natürlich, sich während einer Panikattacke kaum bis gar nicht artikulieren zu können. Und eine Regenerationszeit von mehreren Minuten ist unter normalen Umständen auch nicht ungewöhnlich.“

„Das ist nicht nötig.“

„Ich gestehe, dass Sie sich außerordentlich schnell erholt haben.“

„Selbstkontrolle.“

„Äußerlich erholt haben. Da ich nun aber bereits mehrere Sitzungen mit Ihnen hatte, schätze ich, dass lediglich das, was sie gemeinhin als Maske bezeichnen, wieder am rechten Platz sitzt. Sie müssen sich vor mir nicht verstellen, Herr Kaiba. Genau daran arbeiten wir hier: Körperliche Schwäche ist etwas Anderes als geistige Schwäche. Und eine Panikattacke ist in keiner Hinsicht eine Schwäche.“

„Wenn Sie das sagen.“

„Erinnern sie sich noch an meine Anweisungen?“

„Wort für Wort.“

„Bemerkenswert. Tun Sie genau das, wenn Sie wieder in einer ähnlichen Situation sind. Wenn Sie in einem engen Raum sind, verlassen Sie diesen. Wenn es dunkel ist, schalten Sie Licht ein.“

„Und ich schätze, sollte ich alleine sein, wäre es besser, mir Gesellschaft zu suchen?“

„Ich verstehe, weswegen sie diesen Ratschlag verhöhnen. Tatsächlich ist es zutreffend, aber nicht zwingend erforderlich. Einige Betroffene können sich besser erholen, wenn sie allein sind.“

„Ach.“

„Panikattacken sind nichts Unnatürliches. Sie sind ein Zustand, in dem die betroffene Person anfälliger für alles um sie herum ist, ausgelöst durch zu hohe emotionale Belastung, Stress oder starke Angst. Tauchen sie öfter auf, müssen wir eine konzentrierte Behandlung in Betracht ziehen. Sind sie jedoch nur vereinzelt und mit Abständen, können wir die Treffen fortsetzen.“

„Äußerst beruhigend.“ ~
 

Siebenunddreißig Sekunden lag saß ich vornübergebeugt auf meinem Stuhl, die Hände gefaltet, um das Zittern unter Kontrolle zu behalten. Konzentrierte mich auf meine Atmung, auf meinen Herzschlag.

Dann begann das Telefon wieder zu klingeln. Wahrscheinlich Mokuba, der wissen wollte, was los war. Ich reagierte nicht, versuchte das Läuten auszublenden, das mit jeder verstreichenden Sekunde lauter zu werden schien.

Es klopfte an meiner Tür. Ich antwortete nicht. Mein Herzschlag drohte, sich wieder zu beschleunigen. Mein Atem kam in abgehackten Zügen und ich hätte geflucht, wenn ich genug Luft dazu gehabt hätte.

Ich presste mir eine Hand gegen die Stirn. Meine Sicht verschwamm für einen Moment und ich zählte innerlich bis zehn. Dann bis zwanzig. Als das nicht reichte, schloss ich die Augen und zählte von hundert rückwärts bis null.

Danach öffnete ich die Augen wieder. Meine Sicht war klar, mein Atem ging noch immer schneller als unter idealen Umständen, aber er hatte wieder einen Rhythmus gefunden. Ich hob den Blick und begegnete Wheeler, der mir gegenüber auf einem der Besucherstühle saß und mich mit ernstem Gesichtsausdruck musterte.

Er musste dort die letzten Minuten schweigend gesessen haben. Ich drängte die Übelkeit zurück, die sich plötzlich in meinem Magen gebildet hatte.

„Seit wann bist du schon da?“, fragte ich schließlich.

„Lange genug.“

Ich richtete mich auf und wischte mir über die Stirn. „Wer hat dich rein gelassen?“

„Deine Sekretärin. Nachdem ich ihr deine Brieftasche gezeigt habe, hat sich mich reingelassen.“
Im ersten Moment nahm ich noch an, mich verhört zu haben. Dann beugte ich mich vor. „Meine Brieftasche?“

Wheeler verdrehte die Augen. „Ich habe sie dir nicht gestohlen, Kaiba. Du hattest sie bei deinem Sturz verloren und ich hatte sie eingesteckt. Vorhin habe ich vergessen, sie dir wieder zu geben. Hier“, er warf sie vor mir auf den Schreibtisch. Ich verspürte den Drang, sie zu öffnen und zu kontrollieren, ob noch alles drin war, doch ich ignorierte das Verlangen, da meine Hände noch immer zu stark zitterten und ich nicht wollte, dass Wheeler es sah.

„Das ist deine zweite innerhalb von vierundzwanzig Stunden gewesen.“

„Das musst du mir nicht sagen.“

Ich konnte es nicht fassen, dass er mich so gesehen hatte. Niemand sollte mich so sehen. Ich wollte mich so nicht sehen! Ich zwang mich zur Ruhe und musterte Wheeler betont desinteressiert. Er hatte die Arme verschränkt und erwiderte meinen Blick unbeeindruckt. Dann, als würde er jedes Wort vorher genau abmessen, sagte er:

„Willst du darüber reden?“

Und der Umstand, dass Wheeler es nicht in lockere Mir-kannst-du-es-erzählen-Alter-Manier sagte, sondern wirkte, als hätte er die Frage vorher sorgfältig überdacht und wüsste selbst nach dem Aussprechen nicht, ob sie angebracht war, ließ mich tatsächlich einen Moment lang inne halten.

„Nein.“

An meiner Antwort änderte es nichts.

Dann sagte keiner von uns beiden etwas und die Stille zwischen uns war selten unangenehmer gewesen. Ich verstand es nicht, hatte es mich doch immer mit einer gewissen Erleichterung erfüllt, wenn Wheeler irgendwann einmal schwieg. Lange konnte ich mich darüber nicht wundern, denn das Telefon begann erneut zu klingeln.

Ein Blick auf die Anzeige ließ meine wieder im Reflex ausgestreckte Hand zum zweiten Mal heute erstarren.

Mokuba.

„Was ist?“, fragte Wheeler und beugte sich vor, um meinem Blick folgen zu können. Er sah die Vorwahl, zählte - schneller als ich es ihm je zugetraut hätte - eins und eins zusammen und tat etwas, was ich ihm niemals zugetraut hätte:

Er griff an meiner Hand vorbei und nahm ab.
 


 

tbc



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Von: abgemeldet
2021-12-15T15:05:40+00:00 15.12.2021 16:05
Ich hoffe du hast irgendwann die Zeit oder Lust oder Idee um weiter zu schreiben
Von:  Yui_du_Ma
2021-10-23T16:03:46+00:00 23.10.2021 18:03
Ein sehr interessanter Schreibstil.
Sehr drückende Stimmung bei Kaiba.
Wie kam es zu der ganzen Situation?
Warum ist Joey verschwunden?
Dieses Kapitel macht einen sehr neugierig.
Bin gespannt wie es da weiter geht. ^.^
Von:  Jenka93
2020-03-12T21:59:38+00:00 12.03.2020 22:59
Hallo, bitte bitte schreib weiter, deine ff ist so toll <3
du kannst doch an so einer stelle nicht aufhören !! :(
Von:  Muto_Yuugi
2014-10-17T16:11:53+00:00 17.10.2014 18:11
bitte bitte bitte schreb weiter. es ist so spannend und einnehmend.fie ganze zeit flattert mein herz und wartet auf erlösung!
Von: abgemeldet
2014-02-04T01:05:06+00:00 04.02.2014 02:05
Kann mich da jemand bitte sofort reinbeamen?! Ich will jetzt sofort in diese Fanfiction ><! Da ich Seto sehr ähnlich bin, würde ich ihm wohl auch am besten helfen, wenn Jonouchi es nicht tut. Also los, lass mich rein da xD!
Von:  Niua-chan
2013-11-22T10:11:43+00:00 22.11.2013 11:11
Es ist eindeutig mal eine andere Sichtweise und ich bin sehr beeindruckt davon. Es liest sich gut und ist fesselnd.
Für diese Geschichte lohnt es sich zu warten.

LG
Niua
Von:  lilac
2013-09-09T21:17:55+00:00 09.09.2013 23:17
Also ..was kann man sagen ...weiterschreiben?
Aber aufjedenfall.
Man weis imner noch nichts über joeys verschwinden!
Dieser kaputte Seto ist dir echt gelungen.

Von:  lilac
2013-09-09T20:45:34+00:00 09.09.2013 22:45
Man diese FF ist so bedrückend ...das sie mich heute denn ganzen Tag gequällt hat.
Schade das sie bsld zuende ist.
Von:  lilac
2013-09-08T22:41:44+00:00 09.09.2013 00:41
So was kann man sagen, ein weiteres gelungenes Kapitel.
Senr spannend ...
Von:  lilac
2013-09-08T22:10:38+00:00 09.09.2013 00:10
Du rückst auch kein bißchen mit der sprache raus warum joey abgehauen ist ...
Wieder mal sehr schön geschrieben.


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