Wider Willen
Der Abend war bereits weit fortgeschritten, als der Tränkemeister entschlossenen Schrittes durch die Gänge des Schlosses rauschte. Er zitterte leicht, was nur an der feuchten, zugigen Nachtluft liegen konnte, die sich in den Schlossmauern fing. Natürlich rührte das Zittern nicht von Anspannung. Severus Snape war ganz gewiss nicht angespannt.
Vor einer Tür im zweiten Stock blieb er stehen. Einen Moment lang haderte er mit sich selbst. Aber er wusste, er hatte sich sein eigenes Grab geschaufelt. Unter keinen Umständen wollte er der Niederlage des heutigen Tages eine weitere, weitaus schmählichere hinzufügen. Was blieb ihm also Anderes übrig als sich in sein Schicksal zu ergeben?
Energisch klopfte er an die Tür. Obwohl ihm nicht sofort geöffnet wurde, gab er sich diesbezüglich keinerlei Illusionen hin. Triumph war etwas zu Wertvolles, als dass man ihn nicht auskosten wollte. In dieser Hinsicht waren alle Menschen Egoisten.
Nachdem Severus offenbar lange genug auf die Folter gespannt worden war, öffnete sich die Tür erwartungsgemäß, gerade so weit, dass Severus in den Raum dahinter schlüpfen konnte.
„Du kneifst nicht.“ Lupins Stimme verriet nicht, ob dies eine bloße Feststellung war oder ob er überrascht war. So sah sich der Slytherin genötigt nachzuhaken.
„Was hast du erwartet?“
Die Antwort war nicht weniger unbefriedigend. „Du hast auf dich warten lassen.“ Wenn er wenigstens einen Vorwurf in Lupins ruhiger Stimme hätte hören können. Doch der Mann wurde zu Severus’ größtem Bedauern immer besser darin, seinen Ton ebenso wie seine Miene neutral zu halten, wenn er es wünschte. Vermutlich wusste er, dass dies dem Tränkemeister nicht behagte.
Severus entschied sich, die Aussage des anderen Zauberers als Vorwurf zu sehen, ob sie nun ein solcher war oder nicht. „Ich war für den allabendlichen Kontrollgang eingeteilt“, informierte er Lupin knapp. Tatsächlich war es heute Abend eigentlich Flitwicks Aufgabe gewesen dafür zu sorgen, dass nach vorgegebener Uhrzeit kein Schüler mehr in den Gängen umher streifte. Severus war dem zwergenhaften Zauberer auf seinem Weg zu Lupin begegnet und hatte ihn kurzerhand von seiner Pflicht entbunden, indem er selbst diese übernahm.
Natürlich hatte ihn nicht ein seltener Anflug von Mildtätigkeit zu dieser spontanen Entscheidung geführt. Zum einen hatte Severus damit seinen Besuch bei dem Gryffindor-Hauslehrer etwas hinauszögern können, mit welchem er es verständlicherweise nicht gerade eilig gehabt hatte. Zum anderen hatte der Tränkemeister gehofft, tatsächlich den einen oder anderen Schüler einer Straftat bezichtigen und einige Punkte abziehen zu können.
Letzteres Vorhaben hatte sich allerdings als Enttäuschung heraus gestellt: Die größten Unruhestifter kamen seit jeher aus dem Hause Gryffindor. Wenn also des Nachts ein Schüler unerlaubter Weise in den Gängen anzutreffen war, dann war es meist ein Schüler eben jenes Hauses, der sich für besonders mutig hielt. Doch offenbar feierten die Gryffindors ausgiebig ihren unverdienten Sieg im Quidditch – und blieben an diesem Abend ausnahmsweise in ihrem Gemeinschaftsraum.
Severus hatte nicht einmal einen Schüler bei dem Versuch überführen können, zu später Stunde noch einen Party-Nachschub an Essen aus der Küche des Schlosses zu besorgen. Dabei war der Tränkelehrer mindestens eine halbe Stunde lang vor dem Stillleben hin und her geschlichen, hinter welchem sich der Eingang zur Küche befand.
„Brauchst du etwas Wein?“ wechselte Lupin das Thema. Severus ging auf, wie sehr er diesen Mann hasste. Natürlich hätte er gern etwas Wein getrunken. Es hätte den gesamten Tag womöglich erträglicher erscheinen lassen – besonders, da dieser Tag für Severus noch immer nicht zu Ende war. Doch die Art und Weise, in welcher Lupin seine Frage formuliert hatte, machte es dem Slytherin unmöglich, sie mit ja zu beantworten. Würde er zugeben, dass er den Wein brauchte, käme dies einem Geständnis gleich, dass er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte. Das war vollkommen inakzeptabel.
„Danke, nein“, erwiderte er also würdevoll. „Es wäre zu bevorzugen, wenn wir… voran schreiten könnten.“ Immerhin hatte er den vermaledeiten Werwolf nun zu einer Gefühlsregung bewegt: Er lächelte. Zwar war Severus nicht sicher, was dieses Lächeln zu bedeuten hatte; aber ihm war nur allzu klar, dass es jedenfalls nichts Gutes bedeuten konnte.
Zu seiner Überraschung wies Lupin auf die Tür, durch welche Severus gerade herein gekommen war. „Dort entlang, bitte.“ Der Tränkemeister sah den anderen Zauberer misstrauisch an. Was hatte das zu bedeuten? „Ich dachte, wir…“
„Ich würde gern ein Bad nehmen.“
Severus warf einen viel sagenden Blick auf eine Tür zu seiner Linken, hinter der er Lupins Badezimmer wusste. Der andere Mann schüttelte lächelnd den Kopf. „Im Badezimmer der Vertrauensschüler.“
Severus befand, dass dies ein übler Scherz sein musste. Lupin konnte nicht allen Ernstes wollen, dass sie beide ein zweifelhaftes Intermezzo im Badezimmer der Vertrauensschüler haben würden. Was, wenn jemand sie sehen würde?
Doch offenbar scherzte der Gryffindor nicht. Er öffnete die Tür und bedeutete Severus mit einer Geste, voraus zu gehen. Dieser verschränkte die Arme vor der Brust und rührte sich nicht von der Stelle. Sollte Lupin sich etwas Anderes einfallen lassen. Diesen Spaß würde Severus jedenfalls nicht mitmachen.
„Bist du hierher gekommen, um am Ende doch noch zu kneifen?“ fragte der Werwolf in einem so sanften Ton, dass unweigerlich Wut in Severus aufloderte. Wollte Lupin ihn als Feigling bezeichnen? Wieder sah der Tränkelehrer sich in die Ecke gedrängt. Offenbar bestand seine einzige Wahl darin, sich Lupins Wünschen zu beugen oder sich einen Feigling nennen zu lassen.
Er verzog keine Miene, während er den innerlichen Kampf ausfocht. Schließlich siegte sein Stolz. Er warf Lupin einen vernichtenden Blick zu und rauschte durch die Tür.