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Heilloser Romantiker

von

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Kapitel 44

Kapitel 44
 

Erschöpft und durchgefroren sank Joe auf eine Querstrebe irgendeines Gartenzaunes eines ihm völlig fremden Grundstücks. Obwohl er stundenlang in der Gegend umhergeirrt war, ein Auto nach dem anderen ins Visier genommen hatte, konnte er keinen Erfolg verbuchen. Einen einzigen Mercedes S-Klasse überhaupt hatte er gefunden und das Kennzeichen hatte keine Parallelen zu dem gesuchten aufgewiesen. Weder die Buchstaben noch die Zahlen hatten auf Übereinstimmung geschlossen, selbst dann nicht, als Joe das gesamte Alphabet durchgegangen war, um die Lettern auszutauschen, bei denen sich Sarah nicht sicher gewesen war. Wenn schon die Ziffern nicht passten, dann war das eigentlich unnötig, doch Joe war einfach froh gewesen, überhaupt einmal ein solches Auto entdeckt zu haben. Dass der Wagen keine getönten Scheiben hatte, war ihm im Nachhinein erst aufgefallen und er hätte sich die ganze Mühe von Vornherein sparen können. Doch darüber hatte er nur die Schultern gezuckt…

Nun saß er hier auf dem Grundstück eines Unbekannten, stützte seinen Kopf auf eine Hand und drehte die Taschenlampe in der anderen im Kreis. Ein ganz sanfter, bläulicher Lichtkegel fuhr die Hauswand auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. Vorsichtshalber stellte er sie ein paar Minuten später aus, nicht dass ihn noch jemand bemerkte. Die Polizei war gerade das Letzte, was er brauchte, denn sie würde in ihm sowieso nur wieder Wut aufkeimen lassen, ein Gefühl, das er nicht gerne in sich trug. Ihn befiel momentan ohnehin eine Lethargie, die sich perfekt zu der Kälte in seinen Gliedern mischte. Allmählich fühlte er sich einsam und hilflos. Egal, wie viele Autos er begutachten würde, er würde das richtige doch niemals finden in diesem Getümmel von Blech und Karosserien. Es gab eindeutig zu viele Wägen in dieser Stadt und es würde Tage dauern, sie alle in Augenschein zu nehmen. Obgleich das an sich eh nicht möglich war, denn zu viele standen im Schutz von Garagen oder in den Untiefen von Grundstücken, in die sich Joe nicht vorwagte. Resigniert seufzte er auf, sah aber aufgrund der Finsternis seinen weißen Atem nicht, der sich zur kalten Luft gesellte. Der Schnee glich immer mehr einer Schicht aus Eis und hatte ihn das ein oder andere Mal beinahe zu Fall gebracht. Ihn fröstelte nur noch mehr, als ein starker Hauch um seine Haare wehte. Nun spürte er erst richtig, wie entkräftet er eigentlich war. Die vorangegangene Nacht hatte er ja auch nicht viel geschlafen und nun merkte er die Müdigkeit in seinen Knochen. Doch konnte er jetzt so einfach nach Hause gehen und sich ins Bett legen, als ob nichts wäre?
 

/Ich kann mich jetzt nicht dem Schlaf hingeben, wenn ich nicht weiß, wie es Rick geht und wo er ist. Wenn ich wenigstens einen weiteren Anhaltspunkt hätte als dieses sinnlose Kennzeichen, würde ich mich viellicht ein wenig besser fühlen…

Das Adrenalin in meinem Körper zeigt keine Wirkung mehr. Immerzu verfalle ich einem Gähnen, das nicht gerade von Wachsamkeit zeugt. Und ich dachte wirklich, das Kennzeichen wäre die Stütze schlechthin auf der Suche nach dem für mich wichtigsten Menschen auf Erden, doch so kann man sich täuschen. Bisher hat es mir nichts gebracht und wird es wohl in Zukunft auch nicht tun…

Ich bin ja schon genauso pessimistisch wie Rick!/
 

Inbrünstig seufzte der Blonde und schob die Taschenlampe in eine seiner Manteltaschen, so dass er eine freie Hand hatte, um sich über die Augen zu reiben. Die andere verweilte unablässig unter seinem Kinn, da sich sein Kopf zu schwer anfühlte, um noch von allein aufrecht gehalten werden zu können.
 

/Ich brauche ein wenig von meinem Optimismus zurück, damit ich mich nicht in ein tiefes Loch manövriere, aus dem ich mich nicht mehr befreien kann. Denn Rick vertraut sicherlich auf mich und ich möchte ihn nicht auch noch enttäuschen. Ein nahestehender Mensch, der mir kritisch gegenübersteht, reicht mir vollkommen, ob berechtigt oder nicht. Was andere von mir halten, ist mir völlig gleich, doch die Menschen, die ich gern habe, sollen mich ebenso schätzen wie ich sie. Und das zeugt nicht einmal von Egoismus oder Arroganz, finde ich, sondern lediglich davon, dass man ein wenig Akzeptanz in dieser Gesellschaft benötigt… Bei Steven habe ich mir sie zunichte gemacht, doch Rick soll mich weiterhin achten können./
 

Er glitt vom Zaun hinunter und riss die Augen weit auf, ehe er sie zu schmalen Schlitzen verengte. Bestimmt ballte er seine Hände zu Fäusten.
 

„So schnell gebe ich nicht auf!“, presste er zwischen seinen Lippen hervor und seine Stimme hörte sich in der Stille der Nacht befremdend an. „Solange Rick meine Hilfe braucht, werde ich meine Bedürfnisse hinten an stellen, so wie ich es immer…“ Was er noch alles vor sich hinsagte, ging in dem Motorengeräusch eines Autos unter, das in einer Seitenstraße aufheulte und alsbald wieder verstummte. Allein schon der Laut eines Wagens ließ ihn seine Haltung noch entschlossener aussehen. Schlafen konnte er, wenn Rick wieder in seinen Armen lag, doch nun hatte er keine Zeit für solche Nebensächlichkeiten!
 


 

Während Joe weiter einem Auto nachjagte, das ihn zu seinem Freund führen sollte, versuchte eben dieser die Kälte des Raumes, in dem er lag, zu vergessen und endlich dem Schlaf zu verfallen, den er schon seit Stunden ersehnte. Nachdem ihn noch nach einer Ewigkeit keiner aus der immer tristeren Einsamkeit gerissen hatte, war Rick zurück zum Sofa gekrochen und hatte sich darauf zusammengerollt. Bedächtig hatte er dabei zugesehen, wie das letzte Licht in dem Zimmer erloschen war und sich gleichzeitig eine Finsternis über ihn gelegt hatte, die seine Isolation nur verstärkte. Die Tatsache, dass ihm nicht einmal etwas zu Trinken gebracht worden war, lastete schwer auf seinem Herzen, denn dadurch fühlte er sich noch abgeschotteter und ferner von seinem eigentlichen Leben. Er liebte es, in der Küche zu stehen und köstliche Delikatessen zuzubereiten und insbesondere Joe beim Naschen zu erwischen und ihn dann mit einem gespielt ernsten Blick zu tadeln. Doch weder duftete es hier nach Essen, noch nahm er sonst einen Geruch wahr außer Moder und alten Möbeln. Auch das Sofa roch unangenehm, wie er nach einiger Zeit festgestellt, als sich seine schiere Verzweiflung in pure Lethargie gewandelt hatte.

Er wollte nicht daran denken, wie seine Kehle nach Flüssigkeit lechzte, darum schloss er krampfhaft seine Augen und versuchte sich vorzustellen, wie er erneut Joes Lippen berühren würde, doch dieses Mal scheiterte er kläglich. So sehr er es wollte, es gelang ihm nicht erneut ein derartiges Bild hervorzurufen. Stattdessen wurde ihm immer schmerzhafter bewusst, wie sein Körper nach Wasser verlangte. Matt rollte er sich enger zusammen, um wenigstens der Kälte zu entgehen, die mittlerweile in dem Zimmer vorherrschte. Die Vorrichtung für eine Heizung gab es, aber mehr auch nicht. Rick kam vermutlich nicht unberechtigt der Gedanke, dass man ihn so lange quälen würde, bis er sich in sein Schicksal fügen und willenlos all das tun würde, was man von ihm verlangte. Aber was begehrte man denn von ihm? Bisher hatte keiner seinen Willen kundgetan, auch nicht der Kerl, der ihn hierher gebracht und einige Male zuvor aufgelauert hatte. Man hatte ihn hier in den Raum gesperrt und sich selbst überlassen, frei von irgendwelchem Luxus und Geräuschen, bis auf den eigenen rasselnden Atem. Seine Glieder taten weh, er hatte Durst und er wollte nichts als raus. Doch keiner erbarmte sich zu ihm und ersuchte sein Belieben, geschweige denn brachte ihm zumindest ein Glas Leitungswasser. Was tat er hier? Was wollte man von ihm? Eine Marionette, deren Fäden man nach eigenem Ermessen spann? Die mit einem schlief, wenn der Mechanicus es wollte?

Rick befiel eine gewaltige Gänsehaut, als er ein Bild von einem sichtlich erregten Kerl vor sich hatte, der lüstern auf ihn blickte und seine Hand bereits fordernd nach ihm ausstreckte. Leider besaß dieser Kerl sehr viel Ähnlichkeit mit dem Mann, dessen Lippen er schon mehrere Male auf sich gespürt hatte. Wenn er ehrlich war, erschien genau dieser Mann vor seinem inneren Auge und seine Haare stellten sich noch mehr zu Berge. Er wollte keine Puppe in seinem Kabinett sein!
 

/Ich will endlich einschlafen, um diesem Alptraum zu entgehen, der mir bei jedem Atemzug nur noch schlimmere Dinge offenbart. Befürchtungen, die nicht einmal ausgesprochen werden sollten! Vorahnungen, die an Grausamkeit kaum noch zu überbieten sind!
 

Und wieder einmal bettle ich dich an,

wiege mich in den Schlaf,

oh Dunkelheit komm’ mich holen,

damit ich mich der Wirklichkeit entreißen kann.
 

Wie eh und je lässt du mich im Stich,

du wiegst mich nicht,

was habe ich dir getan,

dass ich nicht in dein Reich kann?
 

Ich möchte, dass du mich wiegst,

in deinen Armen zum Schlafen bringst,

damit ich nichts mehr von all dem sehe,

vor dem ich doch meine Augen verschließ’…/
 

Zitternd vergrub Rick sein Gesicht immer tiefer unter seinen Armen und erhoffte sich, sich auf diese Weise der Realität entziehen zu können. Aber Minuten später lag er immer noch wach. Vielleicht lag es an der ungewohnten absoluten Stille; vielleicht an dem unbequemen Sofa; vielleicht an der widerwärtigen Szene, die ständig vor ihm ablief; vielleicht daran, dass er nicht in den schützenden Armen seines besten Freundes lag. Vielleicht hatten ja alle Aspekte Anteil an seinem Unvermögen einzuschlafen.

Gerade als er sich umdrehen wollte, ertönte ein Geräusch und er fuhr augenblicklich auf. Noch ehe er sich darüber Gedanken machen konnte, ob er sich getäuscht hatte, hörte er, wie ein Schlüssel im Schloss der Tür gedreht wurde. Quälend langsam wurde das Holz in den Scharnieren bewegt, so dass lediglich leises Knerzen an Ricks Ohren drang, aber einem Laut gleichkam, das unendliche Befreiung in ihm auslöste. Nach dem ersten Schreck löste sich seine kurz eingesetzte Starre und er sprang auf, sackte aber sofort in die Knie aufgrund der steifen Beine, die unter ihm nachgaben. Hastig rappelte er sich wieder auf und stürmte auf die Tür zu, die vor seiner Nase schnell wieder zugezogen wurde. Rick griff nach der Klinke, drückte sie herunter und zog an ihr mit aller Kraft, aber die Person auf ihrer Gegenseite schien stärker zu sein, denn sie bewegte sich keinen Millimeter.

„Mach auf!“, schrie der Dunkelhaarige und zog weiterhin erfolglos am Türgriff. „Bitte!“

Er drückte sich gewaltsam eine Hand auf den Mund, um nicht noch weiter sinnlos zu schreien, und um damit auch die Möglichkeit zu haben, jedes Geräusch auf der anderen Seite zu vernehmen. Es klapperte und raschelte und dann hörte er ein Tuscheln. Rick war sich sicher, dass sich zwei Personen miteinander unterhielten. Eine Stimme war herrisch, die andere eher untergeben. Rick konnte keine Worte, die einen Sinn ergaben, aus dem Gebrummel und Gemurmel herausfiltern, aber er hatte nun endlich die Bestätigung, dass nicht nur dieser Kerl anwesend war! Das konnte doch nur Hoffnung bedeuten, oder? Vielleicht… Ja vielleicht ließ sich dieser jemand ja erweichen, ihn hier rauszulassen!? Obgleich er das immer noch für unmöglich hielt, keimte auf einmal ein Fünkchen Hoffnung in ihm auf. Menschen brauchte man manchmal nur bereden, bis sie das taten, was man von ihnen wollte. Manchmal war ihr Kampfgeist leichter zu brechen als ihnen lieb war. Und genau das musste er ausnutzen! Vielleicht musste er einmal genauso schamlos sein wie seine Umwelt!?

Sein Herz bebte. Das Stimmengewirr auf der anderen Seite verstummte abrupt und es klopfte zweimal an der Tür. Rick wusste nicht recht, was das zu bedeuten hatte, doch er hob stumm seine Hand, schloss sie zu einer Faust und klopfte selbst einmal an das Holz, das ihn von dem Rest des Hauses trennte. Einmal wurde noch zurück geklopft, bis eine jungenhafte Stimme roboterartig meinte: „Gehe fünf Schritte zurück, dann stehst du exakt neben dem Schrank. Wenn du dort bist, dann öffnest du ihn. Darin findest du ein Paar Handschellen. Nimm sie und kette dich an die eine Seite des Sofas. Wenn du das getan hast, dann rufe ’4 Blätter’.“

Verwirrt starrte Rick auf die Tür und versuchte die Anweisungen erst einmal zu verarbeiten. Wenig später warf er einen Blick zum Schrank, dem er bisher kaum Beachtung geschenkt hatte. Nachdem der Rest des Raumes kahl und unbewohnbar war, hatte er sich gar nicht erst die Mühe gemacht, dort hinein zu schauen, denn er hatte nur leere, verstaubte Böden erwartet. Nun ging er tatsächlich die wenigen Schritte auf ihn zu, zählte unbewusst, wie oft er einen Fuß vor den anderen setzte.

„…vier, fünf.“

Zögerlich griff er nach dem kleinen, braunen Knopf und zog an ihm. Mit einem Quietschen öffnete sich die Schranktür und bis auf die eben erwähnten Handschellen, nach denen er fast blind tastete, befand sich auch nichts in dem Schrank, so wie er es vermutet hatte. Sollte er sich damit wirklich an die Querstange des Sofas ketten? Sich damit selbst jeglicher Gegenwehr berauben? Was, wenn er es nicht tun würde? Würde er dann elendig hier verenden, weil ihm Brot und Wasser verwehrt werden würden?

Wie er sich auch entscheiden würde, keine Wahl bot verlockende Zukunftsaussichten. Ihm entwich ein Stöhnen und dann umgriff er mit geschlossenen Augen das silberne Metall, das ebenso glanzlos war wie alles andere, was er seit Stunden zu Gesicht bekommen hatte. Als er den kalten Gegenstand vollends in seinen Fingern spürte, hob er in Zeitlupe seine Lider wieder an, doch als sein Blick wieder klar war, sah er weiterhin nur auf bis vor kurzem herrenlose Schellen.
 

„Jetzt habt ihr einen Besitzer…“, seufzte er leise.
 

Als er sich damit ans Sofa gekettet, das unvermeintliche Klicken gehört hatte, wand er seinen Kopf gen Tür.
 

„4 Blätter!“
 

Gespannt, regelrecht neugierig sah Rick auf die Tür, die erneut langsam geöffnet wurde. Er hatte mit einem schmächtigen Jungen gerechnet aufgrund der etwas dünnen Stimme, die ihm vorher die Anweisungen gegeben hatte, doch es trat ein breitschultriger, sehr groß gewachsener Mann ein. Mehr konnte Rick zunächst nicht erkennen, denn es fiel nur wenig Licht durch das kleine Fenster zu seiner Rechten und schummriges von hinter jener Gestalt.

„Zeig’ deine Hand!“, befahl der Mann und Rick erkannte sofort sowohl am Tonfall als auch an der Tiefe, dass dies nicht die Person war, die vor wenigen Minuten gesprochen hatte.

Rick rückte ein wenig zur Seite, so dass das spärliche Licht nun auf die Handschellen fiel, die brav und artig um sein Handgelenk und die Querstrebe geschlossen waren.

Mürrisch wand sich der Andere um und hob den linken Arm, gab anscheinend ein Zeichen, dann postierte er sich direkt neben der Tür und glich alsbald einer Statue, die jedoch nichts Liebliches oder Harmonisches an sich hatte. Nun trat ein weiterer Mann ein und dieses Mal verschlug es Rick den Atem. Sein Herz begann, wilde Rhythmen zu schlagen. Mit einem Mal entflammte grelles Licht und der Dunkelhaarige kniff die Augen fest zusammen, da die plötzliche Helligkeit höllisch wehtat. Benommen hörte er Schritte, die sich näherten, und er versuchte sich so schnell wie möglich an das Licht zu gewöhnen, indem er unkontrolliert und hastig mit den Lidern blinzelte.

„Schön hier, nicht wahr?“, fragte der Mann mit leichtem Spott.

„Gewiss“, meinte Rick und sah seinen Entführer durch schmale Schlitze an.

„Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, dir einen herzlichen Empfang zu bereiten.“

„Das ist Ihnen gelungen“, entgegnete Rick ebenso ironisch.

Er brauchte diesen Kerl nur zu sehen, da entfachte in ihm bereits blanker Hass. Nein, dieses Mal würde er sich nicht wieder vor Angst kaum regen können! Nun hieß es, diesem Wahnsinnigen Parole zu bieten! An die Folgen dachte er dabei nicht, denn seine Lage konnte sich sowieso kaum noch verschlimmern. Die Müdigkeit war darüber hinaus auch verflogen und die Feindseligkeit konnte in ihm jetzt so richtig zu wallen beginnen!

„Sie haben viel Geschmack bewiesen!“, fügte der Kleinere an.

Der Fremde beugte sich nach vorne und lächelte ihm kalt ins Gesicht, strich zu allem Überfluss mit einem seiner Finger über seine Wange. Rick ließ das über sich ergehen und grinste nun genauso entseelt.

„Mehr Charme hätte ich Ihnen aber auch nicht zugetraut.“

Der Mann packte ihn am Kinn. „Doch kein so scheues Rehkitz, hm?“ Das Funkeln in den tiefdunklen Augen nahm zu. „Um so besser.“ Grob presste er seine Lippen auf die von Rick, ließ aber sogleich wieder von ihm ab.

„Und ich dachte, dass Sie deshalb Ihren Wachhund mitgebracht haben!“ Rick tat sich schwer mit sprechen, da der andere ihn immer noch am Kinn festhielt, aber er ließ sich durch nichts mehr hindern. Obgleich er im Begriff war vollkommen lebensmüde zu sein, konnte er nicht an sich halten. Vielleicht musste Böses mit Bösem beglichen werden, um nicht unterzugehen!

„Nicht schlecht, mein Kleiner. Du entwickelst dich ja langsam zum bissigen Tiger.“ Ein weiteres Mal zwang er ihm seine Lippen auf, worauf Rick gewartet hatte, denn das bedeutete einen Moment der Unaufmerksamkeit seitens des Mannes. Mit voller Wucht rammte er ihm sein Knie in den Magen. Laut stöhnte der Fremde auf und sein kalter Blick wandelte sich in Zorn um. Während Rick mit allen möglichen Gegenattacken rechnete, die widerlichen Lippen bereits erneut auf sich spürte, konnte er dabei zusehen, wie sich der andere aufrichtete und einen Schritt entfernte.

„Olivier!“, hallte es laut durch den Raum und ein hagerer Junge erschien im Türrahmen, zu dem mit größter Wahrscheinlichkeit die Stimme von vorhin gehörte. „Bring unserem Gast Manieren bei!“ Der Fremde lief geradewegs auf den Jungen zu und meinte beiläufig im Vorbeigehen: „Du weißt, was du zu tun hast!“

Alsbald waren nur noch Rick und dieser schmächtige Knabe im Raum und der Dunkelhaarige grinste gelassen. Man konnte mit ihm nicht immer umspringen, wie es einem beliebte und diesem Kerl hatte er sein Statement wohl deutlich genug gemacht! Als der blasse Junge ein Tablett neben dem Sofa abstellte, betrachtete sich Rick ihn genauestens. In etwa so groß wie er, schmale Schultern und ein lang gezogenes, ausdrucksloses Gesicht.

„Ich bin keine Schaufensterpuppe!“, meinte der Betrachtete scharf, aber in derselben monotonen Stimmlage wie in seiner früheren Befehlsfolge. Unelegant richtete sich Olivier auf und blickte Rick geringschätzig an, überbrückte die kurze Distanz zwischen ihnen und schlug Rick mit einer Hand mitten ins Gesicht. Aufgrund dessen, dass der Dunkelhaarige nicht im Geringsten mit dieser Aktion gerechnet hatte, konnte er auch nicht ausweichen und fühlte nun den stechenden Schmerz, den seine Nase an sein Gehirn sandte. Das war eindeutig nicht die Art und Weise, auf die er behandelt werden wollte und schon kamen ihm erste Zweifel, ob sein Verhalten dem Kerl gegenüber richtig gewesen war oder sich seine Situation in der Tat noch verschlechtert hatte.

„Alexandros duldet kein Unbenehmen!“

„Entführungen gehören also zu gehobenen Manieren, verstehe ich das richtig?“

„Noch ein Wort von dir und du wirst dich nicht wieder erkennen!“

Irgendwie klang ein Gemisch aus Monotonie und Kälte noch wesentlich schlimmer als pure Unmenschlichkeit und Rick beschloss vorerst sich zu zügeln, zumal seine Nase ziemlich pochte. Glücklicherweise blutete sie nicht und er vermutete, dass sie auch nicht gebrochen war. Misstrauisch verfolgte er all die Bewegungen des Knaben, den er auf gerade mal sechzehn oder siebzehn schätzte. Er mutmaßte, dass er bei diesem Alexandros aufgewachsen war und aus dessen ’Erziehung’, wenn man eine solche überhaupt annähernd so nennen konnte, diese Gleichgültigkeit, und Gefühllosigkeit herrührten. Ohne jedwede Übertreibung kam Olivier einem Roboter gleich, der alles tat, was ihm einprogrammiert worden war. Rick wollte sich gar nicht erst vorstellen, was dieser Junge für eine Kindheit gehabt haben musste.

„Du wirst jeden Morgen und jeden Abend Wasser und etwas zu essen bekommen. Wir legen keinen Wert auf deine Wünsche und wenn du das Essen verschmähst, dann wirst du eben verhungern. Ich werde dir gleich den Schlüssel für die Handschellen überreichen und solange du dich loskettest, werde ich draußen vor der Tür darauf warten, dass du den Schlüssel unter ihr hindurch schiebst. Falls du das nicht tust, dann wird Alexandros trotz der Absprache mit Serrat keine Rücksicht mehr nehmen.“

Rick saß einfach nur da und folgte Oliviers Worten und konnte sich einfach nicht begreiflich machen, wie man nur ohne jedwede Form von Emotion leben kann. Vorsichtig nickte er, gab damit ein Zeichen, dass er verstanden hatte, was von ihm verlangt wurde, und begann ein Gebet zum Himmel zu schicken, dass dieser Knabe bei diesem oder bei einem seiner nächsten Besuche unvorsichtig sei. Auf gutes Zureden oder gar ins Gewissen reden würde bei solch einem Menschen wohl nichts bringen und darum würde er auf einen Fehler seitens seines ’Feindes’ hoffen müssen. Vielleicht meinte es sein Schicksal ja irgendwann wieder gut mit ihm. Schließlich gab es da draußen jemanden, der auf ihn wartete und sich sicherlich schreckliche Sorgen um ihn machte. Er durfte nicht einfach die Zuversicht und den Lebensmut verlieren, das war er Joe und auch sich selbst schuldig. Irgendwann würde er hier wieder rauskommen und auf diesen Moment würde er warten und sich derweil fügen, was aber nicht hieß, dass er sich alles gefallen ließe.

Ohne weitere Worte legte Olivier einen kleinen silbernen Schlüssel auf das Sofa neben Rick und verschwand in nächster Sekunde auch schon aus dem Zimmer. Sofort griff Rick nach dem Metall und schob es in das vorgesehene Loch. Ein Klick und er war frei. Übereilt sprang er auf und sprintete zur Tür, doch egal, wie oft er die Klinke drücken und an ihr ziehen würde, sie würde verschlossen bleiben.

„Mistkerl“, murrte er. Bei solcher Sorgfalt würde er also in der Tat viel Geduld und Nerven aufbringen müssen…
 

Als der Pendlerverkehr seinen Anfang nahm, war Joe auf dem Weg nach Hause. Egal, wie viel Adrenalin durch seinen Körper schoss, er konnte sich kaum noch auf den Beinen, geschweige denn die Augen offen halten. Langsam trottete er zu seiner Wohnung zurück und sah nur noch hier und da auf die Autos, die ihm entgegenkamen oder die am Straßenrand parkten. Er war kurz davor, aneinander gereihter Buchstaben und Ziffern überdrüssig zu werden. Es mussten hunderte gewesen sein, die er sich näher angesehen hatte. Irgendwann war er nämlich dazu übergegangen, jedes Kennzeichen in Augenschein zu nehmen, falls dieser Kerl auf die Idee gekommen war, das dazugehörige Auto auszutauschen. Verbrecher waren klug und planten ihre nächsten Schritte schon im Voraus. Doch Joe war auch nicht auf den Kopf gefallen und hatte genügend Filme gesehen respektive Bücher gelesen. Zu seinem Leidwesen gab es leider zu viele Kombinationen, selbst bei lediglich vier Zahlen; es gab grob 10000 und dazu kam, dass sich welche entsprachen, wenn die Lettern im Gegenzug verschieden waren. Bei drei Buchstaben bedeutete, dass es über 17000 Buchstabenkombinationen gab. Und beide zusammengenommen? – Daran wollte Joe gar nicht erst denken, denn sonst hätte er gleich beschließen können, seine Suche nach einer kurzen Pause nicht wieder fortzusetzen.

Missgestimmt stieg er die Treppen hinauf und mit einem Mal musste er wieder intensiv an Steven denken, von dem er die ganze Nacht nichts gehört hatte. Ob er noch durch die Straßen irrte? Oder hatte er beschlossen, sich in irgendein Café zu setzen und die ganze Aktion zu boykottieren?

Eine Entschuldigung war bitter nötig. Joe zückte sein Handy und wählte ihn kurzerhand an. Jeder hatte eine zweite Chance verdient und so hoffte er, dass er eine von Steven bekam. Während es tutete, nahm er gerade die letzte Treppe.

„Hallo Joe.“

„Hi Dad“, er wollte ihn nicht anders nennen, denn schließlich verkörperte er genau diesen dennoch auf gewisse Art und Weise, „ich würde gerne noch einmal mit dir reden und mich in aller Form bei dir entschuldigen. Ich-“ Gebannt blickte er auf etwas an seiner Wohnungstür, das sich dort eigentlich nicht befinden dürfte.

„Joe?“

„Komm schnell zu meiner Wohnung!“, meinte er nach ein Mal Luft holen und klappte das Handy zu.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 4 Blätter ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Süden ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

~~~~~~~ Über die Spitze ragt im Winter die Sonne niemals! ~~~~~~~



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  smily
2007-03-04T09:59:48+00:00 04.03.2007 10:59
Jetzt bin ich wütend! Wie können diese Mistkerle Rick so behandeln? Das ist unfair, warum passiert ihm immer sowas? Er hat soetwas nicht verdient!
Und die Sätze am Ende habe ich auch nicht versanden *heul*
Ich will zwar wissen wie es weiter geht, aber du sollst lieber lernen ^^ XD
ciao, ciao
smily
Von:  inulin
2007-03-03T20:24:09+00:00 03.03.2007 21:24
Häää? @_@
Ich hab Rätsel noch nie gemocht und jez kann ich sie absolut nicht leiden.
Du kannst so toll mit Worten umgehen. Deine Gedichte zwischendurch find ich ja schon immer toll, aber musst du jez auch noch so ein Rätsel drauf setzen? Q_Q
Das ist wirklich super. Vor allem, weil das so gut passt. Dass dieser Kerl Joe irgendwie eine Nachricht zukommen lässt, ist wirklich gut. Er will also nicht nur Rick 'quälen'...
Weiter! Ganz schnell!! Bitte!!!


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