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Heilloser Romantiker

von

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Kapitel 33

Kapitel 33
 

Mit gläsernem Blick sah Rick aus dem Fenster und bedachte die Dächer der Stadt mit Geringschätzung. Vor Stunden war er aus dem Schlaf gerissen worden und starrte nun schon seit einer ganzen Weile mürbe durch das Glas, das ihn vor der schwarzen Nacht abschirmte. Die Laternen waren bisweilen erloschen und sollten erst zum Morgengrauen wieder erstrahlen, der zwar nicht mehr in weiter Ferne lag, dennoch noch ein wenig auf sich warten ließ. Die Welt schien still zu stehen, keinerlei Regung zeichnete sich draußen ab, nicht einmal der sachteste Wind schien vorzuherrschen, denn selbst die Bäume verharrten ruhig in ihrem tristen Sein. Der Herbst hatte ihnen alle Blätter genommen und ihre Pracht sollten sie erst zum Frühling, wenn die Tage wieder länger und heller wurden, zurückerhalten.

Die Melancholie, die ihn beschlich, verurteilte Rick mit einem lauten Seufzen. Joe lag hinter ihm im Bett und schlief in Frieden und er? Er stand hier auf dem kalten Boden, allein, dem Schutz und der Geborgenheit entrissen. Seine erste, offizielle Verabredung lag nur wenige Augenblicke zurück, schien aber ihren Glanz verloren zu haben. Und das alles wegen einem Traum… wegen einem armseligen Traum, der ihm dazu gänzlich paradox vorkam. Jedes einzelne Wort, jede einzelne Tat waren nur Hirngespinste gewesen und doch fühlte er ein stechendes Ziehen in seiner Brust.
 

Der Tod hatte sich in sein Denken geschlichen…
 

Noch immer erzitterte der Dunkelhaarige, wenn er an die verzweifelten Schreie dachte, die an ihn gerichtet gewesen waren. Kreischende Töne, die von überall her widergehallt waren und dies wohl noch immer taten, denn seine Hände ballten sich unbewusst zu Fäusten und sein Körper war völlig stramm. Sein leicht geöffneter Mund sog keuchend das Gemisch aus Stickstoff, Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid ein und stieß es hart und unkontrolliert wieder aus. Das wenige Licht, das die Sterne am Himmel von sich gaben, ließen seinen blassen Teint für niemanden erahnen, gab die Leere in seinen Augen keinem preis.
 

„Ahhhhhhhhhhhh! Riiiiiiiick, duuu-“
 

Die Schreie sollten endlich aufhören! Er konnte sie nicht länger ertragen, aber sie verebbten nicht. Nichts brachte sie zum Verstummen, so sehr er den Wunsch auch hegen mochte. Ebenso wollte er das weiche Gesicht nicht mehr vor sich sehen, wie es schmerzverzerrt nach Hilfe schrie und ihn dabei merklich fokussierte.
 

/Dein Blick, der sich tief in mich einprägen möchte, verurteilt mich bis aufs Letzte. Dabei kannst du die Schuld doch nicht allein auf mich abwälzen,… Dass mir mein Verstand solch einen Traum beschert, begreife ich nicht, vor allem nicht nach diesem Brief, aber ich fühle noch immer diesen Stich im Herzen, der mich übermannte, als ich sah, wie sich ihre Augen das allerletzte Mal öffneten und das Licht der Welt erblickten und dann für immer schlossen… Jetzt, wo ich beschlossen habe, nach Hause zurückzukehren, wird mir der Tod meiner Mutter prophezeit…/
 

„Ein Traum“, entwich seinen Lippen. „Nur ein wahnsinniger Traum, der…“
 

/… mich zum Weinen bringt…/
 

Kleine Perlen flossen nun an seinen Wangen hinab. Als er allmählich realisierte, dass ihn der Verlust seiner Mutter tief traf, konnte er sich dem salzigen Nass nicht mehr verwehren. Er hatte ihren Brief in den Händen gehalten und nun trauerte er über ihren Tod, der nicht real war,… lediglich ein Trugbild seines inneren Ichs. Warum um alles in der Welt träumte er so etwas? Insbesondere jetzt, wo er doch seine Eltern bald besuchen wollte…
 

/Mir ist das Glück einfach nicht vergönnt. Immer wieder stellen sich mir ganze Gebirge in den Weg, die ich nicht zu erklimmen vermag. Durch was habe ich das verdient? Sag’ mir, weshalb mich immer von neuem Dinge plagen müssen…!/
 

Eine unerwartete Wärme ließ ihn seine Augen weit aufreißen.
 

/Sieh’ weg! Du sollst mich nicht schon wieder tränenüberströmt sehen…/
 

„Was stehst du mitten in der Nacht hier am Fenster?“, hauchte Joe sanft ganz nah an seinem Ohr.
 

/Er kann sie nicht sehen…!/
 

„Ich konnte nicht mehr schlafen“, erwiderte er, um eine ruhige Tonlage bemüht. Hatte der Blonde dennoch sein Beben in der Stimme bemerkt? Eigentlich war es nicht zu überhören gewesen.
 

„Mhh, dein Haar riecht gut, mein kleiner Romantiker.“
 

Starke Arme legten sich zärtlich um seine Hüften. Die Berührung war so wunderschön, so wohlig, und dennoch wollte Rick sich sofort wieder aus ihr befreien. Joe hatte schon oft genug seine Tränen getrocknet, es war an der Zeit, ihnen selbst Einhalt zu gewähren, sie nicht dem Wesen aufzubürden, das ihm so viel bedeutete.
 

„Ich…“ Mehr Worte brachte der Dunkelhaarige nicht über die Lippen. Stattdessen streifte er Joes Arme sachte von sich und ging stumm an dem Größeren vorüber. Mit weiteren silbrigen Perlen auf den Wangen legte er sich ins Bett, vergrub sich in die hinterste Ecke, presste sich an die Wand, die sich kalt auf seiner Haut anfühlte.
 

„Rick?“ Mit einer einzelnen Handbewegung schaltete der Blonde das bläuliche Licht an, das das Zimmer in einen fahlen Schein tauchte. Er besah sich nicht lange das unruhige Auf und Ab der Zudecke, schlüpfte alsbald selbst unter diese. Das Bett war noch warm und daher viel angenehmer als die Kälte an nackten Füßen.
 

/Nein, lass deine Hand nicht durch mein Haar streichen, ich muss endlich lernen, alleine mit meinen Ängsten fertig zu werden… Deine Finger sind so unendlich liebevoll und lassen mich nach mehr ersehnen… Nicht, Joe, näher dich nicht meinem Gesicht, sonst erkennst du doch noch, dass ich-/
 

„Tränen?“
 

Eiserne Stille trat ein und Joes Hand ruhte auf Ricks feuchter Wange. Keiner von beiden regte sich mehr und ihr Atem war das einzige Geräusch, das noch von Leben zeugte.
 

/Ja Tränen… meiner Bestürzung… Nun gibt es wohl kein Zurück mehr… Ich weiß sehr genau, was du von mir erwartest; ob ich dir gerecht werden kann, weiß ich nicht…/
 

„Ich…“ Wieder brach Rick ab. Für einen Moment schloss er die Augen und hörte auf das gleichmäßige Atmen seines Freundes. „Ich habe gesehen, wie meine Mom… starb.“
 

/Nun drückst du mich fest an dich und spendest mir Trost. Aber das war nicht die einzige Last, die meinen Traum begleitete… Möchtest du ernsthaft wissen, welche Vorwürfe sie mir vor ihrem Tod machte?/
 


 

„Bevor der Tod sie mit sich nahm, hat sie mir die Schuld dafür gegeben, dass ihrer beider Leben von Kummer und Elend geprägt gewesen waren. Dass die Lippen meines Vaters kein Lächeln mehr geziert hatte, dass sie sich aufgrund des Geredes der Nachbarn aus dem öffentlichen Leben zurückziehen hatten müssen… Ich sei der Grund gewesen, weshalb sie krank geworden war… Wegen mir ist sie gestorben.“
 

/Ich bin ein Sünder… Möchtest du mit einem Übeltäter wie mir zusammen sein?/
 

Eine ganze Weile lang beherrschte wieder vollkommene Stille den Raum. Irgendwann legte Joe dann seine Lippen an sein Ohr und hauchte hinein:
 

„Du hast nur geträumt, Rick.“
 

/Habe ich das tatsächlich? – Vielleicht hätte ich ihnen niemals Vorwürfe machen dürfen. Schließlich bin ich es, der missraten ist…/
 

In Ricks Herz kehrte der Schmerz zurück, den er für einen Tag ablegen hatte dürfen. Sanft, zärtlich, warm waren die Stunden mit Joe gewesen, die ihn all das vergessen haben lassen, was ihn quälte.

All die Verzweiflung begrüßte ihn nun, die ihn bald wahnsinnig gemacht hatte. Nur bestand sie plötzlich nicht mehr aus der Wut und dem Zorn, den er gegenüber seinen Eltern gehegt hatte, nein… er setzte sich auf einmal aus Scham und Selbstanklagen zusammen. Es war schon grotesk. All die Monate hatte er geglaubt, dass er nie verzeihen könnte, dass er nie vergeben könnte.
 

/Und dann sehe ich den Tod meiner eigenen Mutter…/
 

Waren ihre Verurteilungen gerecht gewesen?
 

/Ich bin nicht der Sohn, den sie sich immer erhofft haben. Ich wurde ihren Erwartungen nicht gerecht, die sie insgeheim hatten… /
 

Hatte er denn selbst versagt?
 

Schwere und Unmut begleiteten das verzagte Schlagen seines Herzens.
 

/Hätte ich versuchen müssen, eine Frau zu lieben?/
 

Ein hohles Lachen entwich mit einem Mal Ricks Kehle, was die Frage, was mit ihm los sei, zur Folge hatte. Doch der Dunkelhaarige blieb eine Antwort schuldig.
 

/Nie hätte ich sie so lieben können wie Joe. Alles in mir verzehrt sich nach ihm…/
 

„Und nun denke ich darüber nach, dass es falsch sei?“, fragte er höhnisch die Wand, die ihm nur leblos entgegenblickte.
 

„Was?“ Joe klang besorgt.
 

„Dass ich dich liebe“, entgegnete der Kleinere verächtlich.
 

Rick hörte, wie Joe schluckte und wohl nach Worten suchte. Irgendwann atmete der Blonde dann tief ein und erhob doch seine Stimme: „Die Gesellschaft möchte uns in ein Modell pressen und wenn wir den geforderten Ansprüchen nicht genügen, werden wir ausgemustert und für misslungen erklärt… Als Fehlerware landen wir dann auf der Müllhalde.“
 

/Fehlerware…!/
 

Ricks Körper versteifte sich merklich und er hätte am liebsten um sich geschlagen, um die Emotionen, die gerade in diesem Moment in ihm wüteten, herauszuwinden, doch er fühlte sich so unendlich taub.
 

„Du hast nur geträumt, Rick…“
 

Da war wieder dieser Satz! Nur ein Traum! Nichts weiter!
 

„Deine Mutter lebt und wünscht sich, dich zu sehen und dich in ihre Arme zu schließen.“ Zum Ende hin verebbte Joes Stimme.
 

Wild bebten Ricks Lippen, die ein einziges Wort formten: ’Fehler’…
 

Allmählich stahlen sich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durchs Fenster und schimmerten golden an der Wand, auf die Rick noch immer blickte. Das Tageslicht vertrieb die finstere Nacht, wies die Dunkelheit in ihre Schranken. Vermochte es dies auch mit seinem Gemüt zu tun?

Gleichmäßiges Atmen drang an sein Ohr, Joe schien wieder eingeschlafen zu sein. Er konnte es ihm nicht verdenken, denn er hatte nichts mehr gesprochen und das Schweigen in der zuvor bläulichen Färbung hatte anscheinend die Müdigkeit verstärkt. Lange lauschte er dem stetigen Ein und Aus.
 

/Wahrlich habe ich den gestrigen Tag mit dir genossen. Die Sorglosigkeit durfte mir endlich einmal wieder zuteil werden, wofür ich dir gerne im Gegenzug Glauben schenken möchte. Es war untrüglich nur ein Traum, der nicht der Realität entspricht. Aber er hat mir gezeigt, dass ich endlich ein ’Ja!’ geben kann… Ja, ich kann euch vergeben! Ich mag euren Vorstellungen nicht genügen, aber ihr bereut wohl ebenso wie ich. Wenn Joe mir keine Lügen aufgetischt hat und das wird er sicherlich nicht getan haben, dann möchte ich euch unter die Augen treten, um mich davon zu überzeugen, dass ich für euch kein Fehler bin… keine Fehlerware, der er euch auf immer entledigen wolltet…!/
 

Fest presste er seine Lippen aufeinander und sog die Luft streng ein, um sie dann nach und nach wieder auszustoßen. Er fühlte sich schwach, die Nacht hatte keinen erholsamen Schlaf mit sich gebracht.
 

/Euer Stolz hat euch dazu getrieben, mich nicht zu kontaktieren…/
 

Seine Lider wurden immer schwerer und sein Blick trübte sich mehr und mehr.
 

/… ihr ward nicht besser als diese verdammte Gesellschaft…/
 

Ein Gähnen begleitete seine Gedankengänge und ließ ihn sich nah an Joe kuscheln.
 

/… ihr seid meine Familie, die…/
 

Ohne seinen Gedanken zuende führen zu können, schlief er ein.
 


 

Durch den Traum hatte Rick begriffen, dass er seine Eltern unwiderruflich liebte. Ohne ihnen noch einmal gegenüber getreten zu sein, konnte er keinen von ihnen sterben lassen. Er wollte weder seine Mutter noch seinen Vater verlieren ohne sich je mit ihnen ausgesprochen zu haben. Der Tod bedeutete, sie nicht mehr zur Rede stellen zu können… sie nicht mehr sehen zu können. Ebenfalls würde er verlauten, dass er nie wieder die Möglichkeit bekäme, in Frieden von ihnen Abschied zu nehmen, wenn es denn einmal so weit sei. Mit Hass auf sie wollte er keinen von ihnen aus dieser Welt gehen lassen. Das oblag gänzlich seinen Vorstellungen.

Daran, dass seine Eltern einmal starben, hatte er nie gedacht. Erst sein Traum verdeutlichte ihm, dass alles endlich war und sich an keinem ewigen Leben ergötzte. Er würde sich nie verzeihen, sie zu begraben ohne sie ein letztes Mal in den Armen gehalten zu haben. Lieber verzieh er ihnen…



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  smily
2007-02-19T14:33:53+00:00 19.02.2007 15:33
Ich schließe mich inulin an, das ist ein trauriges Kapitel.
Aber ich freue mich für Rick, dass er die Liebe zu seinen Eltern nicht verloren hat auch wenn er es erst durch diesen Traum erkannt hat. In diesem Sinne finde ich dieses Kappi unheimlich schön.
Danke für die ENS! Ich bin schon auf das Treffen gespannt!
Ciao, ciao
smily
Von:  inulin
2007-02-18T14:45:36+00:00 18.02.2007 15:45
Ist das ne drückende Stimmung in diesem Kapitel. *seufz*
Da leidet man ja richtig mit.
Ich will nicht lesen, das Rick traurig ist und weint. >_< Da bin ich immer selber den Tränen nah. Du schreibst das so, dass man versucht in dem man mitleidet, seinen Schmerz zu lindern. =_=
So gesehen ist das Kapitel wieder toll geschrieben. Wie nicht anders zu erwarten war. ^^
Aber viel zu traurig... T~T


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