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Eine Lüge und viele Wahrheiten

von

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Der Zauberlehrling

Nach - ich weis - viel zu langer Wartezeit nun das dritte Kapitel. Ich hoffe das trotzdem noch ein wenig Interesse besteht. Dieses Kapitel war ursprünglich länger. Ich hab es an einer früheren Stelle beendet, sonst hätte der geneigte Leser eine Flut von Informationen auf verhältnismäßig wenig Seiten zu spüren gekriegt.

Bleibt nur noch das übliche "Viel Vergnügen beim Lesen."
 

Der Zauberlehrling
 

„Zwar gibt es ohne Kopf kein Denken,

Doch ist es darum nicht so schad,

Man kann mit Wein die Kehle tränken,

Es ist das beste Gurgelbad.

Und ach, wie lebt es sich so stille:

Kein Wort, kein Lärm, kein grelles Licht!

Und nie mehr sucht man seine Brille

Und nie mehr macht man ein Gedicht.“
 

H. Hesse – Kopflos
 

Als vernunftbegabtes Lebewesen beschäftigt man sich doch irgendwann mal mit der Frage, was eigentlich gut und richtig ist. Früher war das natürlich ganz einfach: Alles was das eigene Leben schützte galt zumindest als annehmbar.

Wie auch immer das heute aussehen mochte, es gab immer wieder einige hinterlistige Widehupfe, die in ihrem ganzen traurigen Leben noch keine nachdenkliche Sekunde an diese Frage verschwendet hatten.

Selene lag ausgestreckt auf drei aneinander geschobenen Hockern und döste in Holzmanns Küche vor sich hin. Plötzlich riss jemand ohne Vorwarnung die Stütze unter ihrem Kopf zur Seite und Selene hätte wohl eine schmerzhafte Begegnung von Holzkopf zu Holzfußboden gehabt, wäre da nicht ein zuvorkommendes Händepaar gewesen, das ihr seine kalten Nägel in den empfindlichen Nacken rammte. Selene grummelte müde und blinzelte in zwei dunkelbraune Augen unter einer Flut von langen blonden Haaren. Lydia. Kaum hatte sie Selenes offene Augen bemerkt, ließ sie sie auch schon los und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Kurz wirken lassen“, grinste sie. Das linke Bein hatte sie hinter dem rechten angewinkelt. Es wurde von einer schweren stählernen Schiene geschützt. Vor einigen Jahren war sie mit dem Bein in die Quetsche geraten und Jonas munkelte in ihrem Schienenbein steckten etliche Nägel, damit die einzelnen Knochenstückchen nicht durcheinander purzelten. Lydia gab auf seine Frotzelei nichts. Sie wusste auch so, dass es stimmte.

„Lyda…“ Selene klammerte sich noch im Halbschlaf an den Küchentisch und ihre Antwort ging in einem unglücklichen Wimmern unter. „Bitte, lasse mich in mei Ruhe. Seit dri Tage, ich haben nicht richtige geschlafen...“

Lyda hob verständnislos eine Augenbraue. „Und dein Deutsch ist so scheiße, wie eh und je!“

Selene stemmte sich aus ihrer unangenehmen Liegeposition in Richtung der Tischplatte.

„Was du meckern! Ich war siebenzehn, wenn ich kommen nach New-old-Germany. Wie viel du hättest da noch gelernt! Please speak france or english with me, but not this damn german.”

Lyda grinste ein weiteres Mal und schüttelte mitleidlos den Kopf.

„Ach, Mumpitz und Krittelei! Du musst das doch irgendwie lernen. Wie magst du deinen Kaffee?“

Es war früh halb fünf und die meisten Einwohner der Furtstraße lagen noch tief schlummernd in ihren gemütlichen Betten eingekuschelt. Nur in der Dreiundzwanzig herrschte stille Allnacht, wie Ewan es gerne nannte. In dieser kleinen Sechs-Zimmer-Wohnung schlief man am Tag und vergnügte sich oder arbeitete nachts. Was Dinge wie Staubsaugen und andere geräuschvolle Tätigkeiten anging, hatte Lydas „gutes“ Herz ein Einsehen mit den Nachbarn und so verrichtete sie solche immer schon am frühen Abend.

Selene brummelte. „Ich nehm’ ihn wie immer.“ Sie war einfach wieder zu einer anderen Sprache übergegangen, die ihr zu solch gottlosen Zeiten weniger Probleme bereitete.

„Schon verstanden. Ich weis, dass du keinen Kaffe magst, sondern bloß schwarzen Tee mit Zucker.“

Die Antwort war ein müdes Lächeln. „Mercy.“

Mit einem Klacken öffnete sich die ehemals grüne Haustür. Jonas watschelte mit hängenden Schultern herein. „Ich bringe Besuch.“, gähnte er und zog die Kapuze von seinem blonden Zausschopf.“ Selene lugte über den Rand ihrer Tasse und entblößte ihre leicht schiefen Zähne.

„Bonjour, Manna.“ Das große rothaarige Mädchen hinter Jonas nickte grüßend und ließ ihren Schulrucksack einfach fallen. Müde sank sie auf einen Küchenstuhl. Jonas nahm neben ihr Platz. Lydas jüngerer Bruder war einer der Gründe für das nächtliche Leben der drei Holzmanns, bestehend aus Jonas, Lyda und Ewan.

Sowohl bei Jonas, als auch bei Manna hinterließen die nächtlichen Unterrichtszeiten ihre Spuren. Lang und dünn waren sie beide, blass und in ihre Augen hatte sich ein stumpfer Ausdruck eingebrannt.

Selene wärmte ihre klammen Hände in der Zwischenzeit an der heißen Tasse. „ Ihr beiden seht aus, wie einfach nur lang gezogen und nicht, als würdet ihr wachsen. Habt ihr in eurem Bunker denn nur solche Jammergestalten?“

„Pao Chai nicht …und Kasimir auch.“, murmelte Manna in ihre Teetasse. Die lange Pause in ihrem Satz war darauf zurückzuführen, dass Manna daran gewöhnt war, dass ihre Zwillingsschwester Marthe ihre Sätze zu Ende brachte. Doch die war jetzt nicht mehr.

„Wie geht’s eigentlich Kasimir?“, unkte Jonas in die unbehagliche Stille.

Selene sackte in sich zusammen und strich eine hellblond gefärbte Strähne hinters Ohr.

„Der liegt immer noch flach. Aber gib ihm noch zwei, drei Tage und er kann wieder anfangen sich zu bewegen.“

„Kida-Sensei wird Zeter und Mordio schreien, wenn er noch länger fehlt.“, warf Manna ein. „Wie will er den ganzen Stoff aufholen?“

Selene setzte den Becher ab. „Na auf die herkömmliche Art! Eiskalt die Tage durchlernen.“
 

Hallo, Leute. Ich bin’s – der Kasimir. Um ehrlich zu sein, ich hatte schon bessere Tage gesehen. Die Genesung wollte auch nicht so recht vorangehen und der Grund waren unter anderem Giebels miserable Fähigkeiten als Krankenpfleger. Vor drei Tagen hatte mich Selene mit diesem zwei Zentner schweren Kerl allein gelassen und ich machte mich auf ein Martyrium gefasst. Bereits heute Morgen erinnerte mich der Lärm von Giebels antikem Staubsauger wieder daran, wie krank ich doch eigentlich noch war.

Nachdem Selene – mit meinem flehenden Blick im Nacken- verschwunden war, hatte ich mich sofort darauf schlafend gestellt, um von Giebels Fürsorge verschont zu bleiben. Zu dumm auch. Das hatte leider gar nichts gebracht.

Kaum hatte ich mich eine halbe Stunde in Sicherheit geglaubt, musste ich das beklemmende Gefühl der chinesischen Wasserfolter erfahren, als Giebel mir einen triefenden Lappen auf das Gesicht drückte, um gegen mein fast erloschenes Fieber vorzugehen. Weiterhin flößte er mir eine Jauchebrühe von Medikament ein, die mir die Speiseröhre verätzte und bestand außerdem darauf, mich den ganzen Weg zur Toilette zu stützen. Das er mir dabei ununterbrochen in die Fersen trat, war ihm einerlei. Zum Glück hatte er nicht auch noch darauf bestanden, mir den Po abzuwischen.

Mein Magenknurren holte mich zurück in die Gegenwart. Ich rollte mich zu einer Kugel zusammen und vergrub die Nase in dem platt gekuschelten Kissen. Und wieder einmal juckte es mich in den Fingern. Ich hätte ihm am liebsten Feuer unterm Hintern gemacht, damit er mir vielleicht endlich einen genießbaren Tee brachte.

Bei zehn zur Verfügung stehenden Sorten kochte er mir natürlich Zitronentee, dessen Schwebeteilchen fast jeden meiner Hustenanfälle in Erstickungsanfälle verwandelten.

Kurz gesagt, ich war auf dem besten Wege wieder ganz der Alte zu werden und sei es nur, um Giebels Fürsorge zu entrinnen.

Letztlich war es mal wieder Selene, die mich aus meiner Krankheitsdepression riss. Sie hatte die letzten drei Tage, in dehnen ich krank daniedergelegen und mich foltern lassen hatte, genutzt um ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, nämlich der äußerlich nicht angebrachten Veränderung. Ihr Haar war inzwischen wieder hellblond, eingefasst in einen knapp schulterlangen Schnitt, den man nicht mehr als gestuft, sondern nur noch als radikal bezeichnen konnte. Nachdem Giebel sie freundlicher als beim letzten Mal begrüßt hatte, wuchtete er einen Riesenordner auf den Küchentisch, den er bis dahin unter seinen kräftigen Arm geklemmt hatte. Ich, wie der Blitz, hob neugierig den Kopf von den Kissen. Neue Fälle?

„Sind die für mich?“, meldete ich ein wenig zu hastig an und wurde nach meinem abgeklungenen Hustenanfall sofort von Selene zurück ins Bett gedrückt. („Du bist noch krank.“) Giebel würdigte mich wenigstens überhaupt einer Antwort, die auch im Bezug zu meiner Frage stand.

„Hm, naja fast.“, grummelte er und hob dabei eine angegraute Braue. „Dachtest du die magischen Unfälle stehen still, während du faul im Bett liegst, Junge? Oh nein.“

Den letzten Teil hätte er sich sparen können, von Selenes missbilligenden Blicken gar nicht zu reden. Giebel pflügte sich weiter fröhlich durch die Seiten.

„Hm, hm, hm,… Aha. Verunglückter Zauberlehrling seit drei Tagen in Zwangsjacke gefangen, fünf angebrannte Tischplatten bei nächtlichem Gläserrücken, Werwolf in Mitsalza…. Hä?!“ Und wieder mal hatte ich es im Voraus gewusst: Aller Guten Dinge sind drei! Selene indessen zog bei der letzten Nennung die Nase kraus.

Mal was anderes, als immer nur schief gelaufene Experimente junger Zauberlehrlinge, die noch immer nicht geschnallt hatten, dass Magie nun mal immer etwas bewirkte, egal ob der eigentlich angestrebte Zaubertrick nun gelang oder nicht.

„Dieser Bericht ist falsch formuliert.“. murrte Giebel.

„Ach?“ Selene hob eine dunkle Augenbraue und zerrte Giebel die Folie aus den Händen. „Ich erkenn daran nichts Falsches. Keine Rechtschreibfehler.“

Giebel stieß Luft aus und schien daraufhin ein wenig einzusacken. „Du hast mich wie immer missverstanden, Selene.“

„Was?!“

„Es gibt keine Werwölfe. Das meinte ich.“

„Wirklich nicht? Es gab doch Fälle… in nicht allzu junger Vergangenheit. Dieser Stüpp, oder?“ Giebel überlegte einen Moment. Und ich? Ich war vergessen wurden, wie immer.

„Du meinst Stübbe, Selene.“ Angesäuert verdrehte meine herzensgute Schwester die Augen. „Ich weis ja, dass es da mal eine Zeit gab, an der ich an jeden Satz ein ‚Korrigier mich, wenn ich etwas Falsches sage’ angehängt hab. Aber jetzt weist du doch, was ich meine!“

„Ja, ja, weis ich. Und ich weis auch, dass der Werwolf, unter dem Einfluss des Hexenglaubens, mehr zum Gegenstück der Hexe wurde und sich damit einige Schritte von der Sagenfigur entfernte, die er eigentlich war. Dieser Stüppe war, sollte er wirklich dreizehn Menschen getötet haben, nur verrückt, und halt ein Mörder, aber kein Werwolf.“

„Nur verrückt?!“, echote Selene in dümmlicher Manie. Sie beugte sich mit gerunzelter Stirn vor und brachte damit die Kupferplättchen an ihrem Pulli zum Klingen. „Gleich wirst du mir sagen, dass nur die Verrücktheit böse und der Mensch im Grunde immer gütig ist.“, fauchte sie angriffslustig. Giebel stand halt nicht nur im Ruf des gläubigen Christen, sondern auch in dem des kosmopolitischen Humanisten. Trotzdem prallte die geistige Attacke so gut wie wirkungslos ab. Giebel kratzte sich am Kopf, auf dem aufgrund seiner fortschreitenden Kahlheit nicht mehr so viel vorhanden war. Dann musterte er Selene durch die Gläser seiner Plastikbrille, die bei mir unwillkürlich den Eindruck hinterließ, er hätte sie vor etlichen Jahren mal im Chemieunterricht mitgehen lassen und dann einfach die Gläser ausgetauscht.

„Sehr scharfsinnig, Selene. Aber das Böse waltet in allen Dingen und steckt auch im Menschen. Auch wenn es auf das Dasein der meisten von uns nur einen blassen Schatten wirft. Aber es ist trotzdem eine interessante Theorie“, fügte Giebel nach seiner moralischen Standpauke hinzu, „wir sollten uns bei Gelegenheit darüber unterhalten. Was dann auch immer das Ergebnis dieses zweifellos interessanten Gesprächs wird, es hat nichts mit unserem Fall zu tun.“

Nachdem Giebel die Diskussion im Keim erstickt hatte, wandte er sich wieder seinem Zettelberg zu.

„Unser ‚Stüppe’ hat zwar „bloß“ drei Menschen getötet, dafür aber nachweislich.“, fasste Giebel den Zettelinhalt zusammen.

„Fällt so was nicht eigentlich in die Abteilung Soko Okkult? Wieso krieg ich das auf den Teller?“, brummte ich den Raum. Giebel und Selene starrte mich an, wie zwei Nachtmützen, die aus einem Traum erwachten und ich fand mich in meiner Ahnung bestätigt. Man hatte mich tatsächlich vergessen.

Giebel knirschte hörbar mit den Zähnen und verfluchte den Umstand, dass seine Türmerwohnung nur aus drei Zimmern bestand.

„Ich dachte, du schläfst? Wären wir nicht dazu verdammt, alle im selben Zimmer zu sitzen, hättest du diesen Fall gar nicht zu Gesicht bekommen, bevor ich nicht seine ominöse Herkunft in Erfahrung gebracht habe!“, knurrte er und unterstrich seine Worte, indem er mir drohend den Zeigefinger unter die Nase hielt, die bei diesen Worten wie aufs Stichwort zu laufen anfing. Sein Arbeitszimmer dürfte eben nach wie vor nur er selbst betreten. Da blieb nicht mehr viel.

Selene hatte sich bis jetzt erstaunlich ruhig verhalten, doch bei Giebels letztem Satz horchte sie wieder auf.

„Nur damit auch ich das verstehe, Giebel. Du hast einen Fall in deinen Akten und weist nicht, wer ihn versehentlich in deinen Briefkasten fallen gelassen hat?!“ Sie machte eine kurze Pause. „Bist du sicher, dass nicht vielleicht nur ein makaberer Scherz ist? Von der Göre vielleicht? Passen würde das zu ihr….Autsch!“

Selenes Indizienführung wurde von einem jähen Fußtritt Giebel seits beendet.

„Hey! Nur weil du die Kleine nicht magst, musst du ihr nicht alles aufhuckeln, was hier in letzter Zeit schief läuft.“ Giebel überflog den Bericht noch ein weiteres Mal.

„So harmlos ist es nämlich nicht. Wenn du gelegentlich mal Augen und Ohren aufhalten würdest, Selene, wüsstest du nämlich, dass die Person, um die es geht, tatsächlich existiert. Und seit einiger Zeit in Untersuchungshaft hockt.“

„Mein Analphabetentum ist noch nicht so weit vorangeschritten, wie du denkst!“, keifte Selene. Ich kann deutsch verstehen. Ich kann es nur halt nicht sprechen.“, fügte sie eine Spur kleinlauter hinzu.

„Was dir in diesem Fall auch nichts genützt hätte.“, sagte Giebel unsinnigerweise.

Der Streit ging unentschieden aus und von dem Moment an schlummerte der Werwolf in Giebels Schreibtischschublade.

Und ich erhielt endlich von - Selenes liebevollen Händen zubereitet – eine Tasse Pfefferminztee. Während der Honig auf meiner Zunge zerging geschahen in unserem kleinen Anwesen mehrere Dinge. Giebel hatte sich zu seinen Konfirmanden in den Gemeindesaal zurückgezogen und Selene stand auf dem Kirchhof und tat etwas gegen die Gesundheit, während mehrere Eimer Regenwasser den Weg auf die Erde fanden und sich trommelnd an unserer Fensterscheibe niederschlugen. Nach wenigen Minuten gesellte sich zu dem gleichmäßigen Klang der Tropfen ein hastiges Trippeln, Schritte, die die Treppe heraufkamen, untermalt von einem schmatzenden Geräusch beim Auftreten. Das ließ mich darauf schließen, dass der Jemand fürchterlich nasse Hosenbeine hatte und ich machte mich erneut auf die Ehre von Selenes Anblick gefasst. Beinahe im selben Moment lugte ein blonder Kopf um die Ecke und grinste mich unter einer Kapuze dümmlich an. Aber es war nicht Selene.

Es war Jonas. Der Kerl hatte vermutlich den gesamten Schlamm des Kirchhofes an Hosenbeinen und Schuhen klebend herauf getragen, und ließ diesen jetzt gewissenlos auf die sauberen Holzdielen tropfen. Wie die Personifizierung des Wortes ‚spannenlanger Hansel’ kam er auf mein Bett zugestapft und zog dabei eine matschige Fußspur.

„So sieht aber kein gesunder Junge aus, was Kasi? Ich gehe davon aus, dass du mich heute nicht zum Unterricht begleiten wirst.“ Volltreffer.

„Ich entdecke gerade die angenehmen Seiten des Krankseins.“ Jonas grinste wehleidig.

„Nicht mehr allzu lange, hoffe ich. Wenn du nicht bald wieder zum Unterricht erscheinst, reißt Kida - Sensei sich ’n Bein aus.“

„Na und. Lasse’ doch.“, grummelte ich. Jonas platzierte als Antwort einen Stapel durchweichter Kopien auf meinem Schoß, dessen Schwere mir gleich die Knie einsacken ließ.

„Was?! Das alles!“ Seufzend nahm ich das erste Blatt und ließ es im gleichen Zug wieder sinken. „Deine Handschrift ist erbärmlich, Jonas.“

„Verzeiht, euer Merkwürden.“

Nach einer quälend dahin schleichenden, halben Stunde verabschiedete sich Jonas, nachdem er noch einmal sanft gemahnt hatte, dass ich schon zu lange krank war und endlich wieder aufstehen müsste. Den Blätterstapel ließ ich unangetastet liegen. Stattdessen zog ich mir die Decke über den Kopf und schlief mit dem Gedanken, der das Wort „Werwolf“ formte, ein.

Von Träumen voll glühender Augen und Jaulbojen blieb ich zum Glück verschont.
 

Das Grauen stellte sich nämlich noch früh genug ein und zwar am nächsten Morgen. Giebel hatte in unserem Badezimmer den Fußbodenbelag abgerupft und darunter hatte sich – seinem gedämpften Fluchen nach zu urteilen – der Alptraum offenbart.

„Ein vergammelter Balken..“ Selene hockte mit einer Tasse Milch in der Hand auf einem der Küchenstühle und gab ihre fachliche Meinung kund.

„Er ist nicht vergammelt!“, protestierte Giebel in Tönen, die den mittelalterlichen Vorbesitzern dieser Türmerwohnung alle Ehre gemacht hätten. „Er ist nur ein wenig grün und…. Ach du Schreck! Da bröckelt’s.“

Selene setzte die Tasse ab und raste mit klingendem Oberteil in Richtung Bad. Ich folgte ihr stehenden Fußes und zog mir dabei drei Splitter ein. Wie von einer unsichtbaren Mauer aufgehalten passten wir in der Tür und starrten mit aufgerissenen Augen auf Giebels Husarenstück. Selene nutzte den Halt um ihr Tuch festzuziehen, das über den Pulli gekreuzt um ihre Brust geschlungen war. Als Dominic die Kläranlage auf dem Hinterhof reparieren und dabei fachliche Kompetenz demonstrieren wollte – und bemerkte, dass er dazu nicht im Stande war – hatte er sich an Selenes Pulli gekrallt um nicht in den stinkenden Schacht zu stürzen. Seitdem wies der Pulli im Brustbereich einen Riss auf.

„Hm.“ Selene legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Am besten, Giebel, klebst du den Fußbodenbelag wieder drauf und tust, als hättest du diesen Balken nie gesehen.“

In Anbetracht der Umstände schien das eine annehmbare Alternative. Bei einer eventuellen Renovierung hätte ich um mein Leben fürchten müssen, denn Giebel hätte in seinem Renovierungswahn sicher die ganze Kirche eingerissen. Und damit wäre Greifenwalda um ein wunderschönes Feldsteinbauwerk und einen genialen Magier ärmer gewesen.

Dieses Ereignis lieferte für mich letztendlich den Beweis, dass die Tage im Bett gezählt waren und der Alltagstrott mit drohendem Finger auf mich wartete. Ich zog mich für den Rest des Tages auf meine Schlafstatt zurück und begann unauffällig die Arbeitsblätter durchzulesen. Mit jedem Blatt, das sich auf der Bettdecke neben mir wieder fand, sackte meine Laune unaufhaltsam dem absoluten Nullpunkt entgegen. Offensichtlich hatte Kida – Sensei auf die üblichen sieben noch einige Zusatzstunden gepackt. Es gab gar keine andere Erklärung für diese Menge an Unterrichtsmaterial. Ich war doch nur vier Tage krank gewesen!

Jonas dürfte während dieser Zeit das Erfolgserlebnis seiner gesamten Schullaufbahn gehabt haben. Mit meiner Abwesenheit, war die sichere Instanz, immer jemanden zum Abschreiben zu haben versiegt und so hatte er notgedrungen seine eigenen Hände benutzt. Das Ergebnis ließ noch etwas zu wünschen übrig, dann nach der ersten halben Seite nahm die Schrift Ähnlichkeit mit dem Nachlass einer an Durchfall leidenden Fliege an, aber ich wollte mich nicht beschweren. Ich hatte die Aufzeichnungen.
 

Weder Giebel noch Selene zeigten für meinen plötzlichen Lerneifer Verständnis und bei der Erwähnung, dass ich gedachte, heute Abend wieder in gewisse heilige Hallen zurückzukehren, zog sich hinter den Augen meiner Schwester ein Orkan zusammen. Es hagelte eine Bandbreite von Argumenten auf mich ein, die im Grunde alle das Selbe bedeuteten: „Du bist noch krank!“

Da keines der Argumente auf fruchtbaren Boden fiel, verließ Selene schließlich vor Wut stampfend die Wohnung und den Kirchhof in einer Auspuffwolke. Nachdem der Dunst von Selenes Motorrad sich verzogen hatte, gesellte ich mich an den Abendbrottisch. Giebel musterte mich über den Rand seiner Brille mit zusammengekniffenen Augen. Er hieß die Sache genauso wenig gut, wie Selene, war aber anscheinend doch der Ansicht, dass ich ein großer Junge war und in der Lage eigene Entscheidungen zu treffen. Trotzdem lies er es sich nicht nehmen, mich mit guten Ratschlägen einzudecken.

„Hey, Kasimir.“, fing er an, während er sich ein weiteres Käsebrot herrichtete. „ Es kann gut sein, dass die Leute in deiner Schule über diesen Fall Bescheid wissen, den wir gestern so ausschweifend erörtert haben. (Das war gut. Eigentlich hatten wir ihn ruckartig zur Seite geknallt.)

„Und ich dachte die Sache wäre irgendwie geheim.“, grummelte ich durch einen Löffel Nudelsuppe.

„Ist es auch.“, war Giebels unverblümte Antwort. „Aber immerhin hat dieser vom Floh gebissene „Werwolf“ drei Menschen in die ewigen Jagdgründe geschickt. Und das mitten in einem Provinznest.“ Er verzog wehleidig das Gesicht. „Glaubst du, es bestand auch nur der Hauch einer Möglichkeit, dass das nicht durchsickert?“

„Schon gut, schon gut.“ Ich hielt einen Moment inne. „Ich frage mich, wieso davon nichts in der Zeitung stand.“

„Gute Frage.“, pflichtete Giebel bei. „Die kannst du an den Absender richten, wenn wir ihn gefunden haben.“ Er ließ das Käsebrot, welches er gerade zum Mund führen wollte sinken.

„Falls dich jemand auf die Sache ansprechen sollte – du weist nichts! Mit ein bisschen Glück wissen wir dann hinterher mehr.“

„Hä?!“

„Wir müssen den Tatsachen auf die Schliche kommen, die nicht in diesem Bericht stehen, Kasimir. Und eine öffentliche Untersuchung verschließt meist mehr Wahrheit, als sie preisgibt.“

„Sollten wir in diesem Fall nicht eher von Spekulationen reden?“, wagte ich meine Bedenken offen zu äußern.

„Die wirst du noch massenweise zu hören kriegen, wenn die Angelegenheit in Form des rollenden Steinchens in Gang kommt. Bis dahin sollten wir uns nicht von irgendwelchen Mutmaßungen beeinflussen lassen, sondern unseren Verstand gebrauchen.“

„Und am Ende herausfinden, dass von Anfang an was faul an der Angelegenheit war.“, fügte ich provokativ hinzu.

Giebel zog die Nase kraus. Sein Blick glitt über den Käse zum Badezimmer. „Das ist nicht das Einzige, was hier faul ist.“
 

Ich hatte mich mit Absicht ein wenig früher auf die Socken gemacht und mit Unbehagen festgestellt, dass ich nach zehn Minuten Laufschritt ins Hecheln geriet und ein unsichtbares Körnerkissen warm auf meinen Nacken drückte. Ich wusste es: Es war doch keine so gute Idee gewesen. Oder fairer gesagt, hatten es andere gewusst.

Nachdem ich mit der Schnelligkeit eines Senioren den Einstieg passiert hatte, sank ich auf meinen Stammplatz im Gang, während der Bus beschleunigte. Und als die Straßenlaterne mein Gesicht, wie ein Spot streifte, durchzuckte mich ein warnender Geistesblitz. Rasch

okkupierten meine Augen die übrigen Sitzreihen. Keine Naemi – Gelobt sei der Herr.

Schon fast gemütlich rollten wir durch Greifenwaldas Straßen – ich und der Busfahrer. Und zugegeben, die Straßen waren etwas ungewöhnlich. Es gab zum Beispiel keinerlei Müll. Vielleicht lag der Grund dafür darin, dass die Stadtverwaltung die Verunreinigung dieses lange Zeit industriell genutzten Schrottplatzes mit hohen Gebühren versehen hatte.

Das ewige Rätsel, wo die Anwohner ihre Tonnen versteckt hielten würde wohl nie gelöst werden. Greifenwalda war keine feindselig wirkende Stadt und der Architekturbrutalismus war fast spurlos an ihr vorübergegangen. Die Einwohner fristeten ihr Dasein nicht in Betonklötzen sondern in Häusern. Dennoch ertappte ich mich immer wieder bei dem Gedanken, dass dieses Städtchen nur oberflächlich gesehen heimelig und aufenthaltsfreundlich wirkte, sobald ich einen Blick auf die Zeit warf, in der die Stadt gebaut wurden war. Für gewöhnlich ging man darüber hinweg, denn das Gesicht der Stadt wurde nicht nur von seiner Architektur geprägt, sondern auch von den Bewohnern.

Von der präsenteren Seite betrachte, war unsere Stadt eine gute Stadt zum Leben. Die Leute waren freundlich, sobald man sich ihnen ein wenig nährte. Ein Vermögen nannte wohl keiner sein Eigen und einige Scherzbolde verbrachten die Nächte mit unverschlossener Tür. Um jeder Zeit erreichbar zu sein, behaupteten sie, um zu vertuschen, dass sie ihre Schlüssel verloren hatten, alle anderen.

Aber mit dem Aufkommen der Abenddämmerung sank diese Seite von Greifenwalda in sich zusammen. Andere Städte erwachten nachts überhaupt erst zum Leben, Greifenwalda dagegen sackte in ein Komatief. Über die Dächer wabberte eine unheimliche Stille, die alle Nachtschwärmer – wie mich gerade – mit hübscher Regelmäßigkeit irritierte und wenn es dafür eine Erklärung gab, war sie vermutlich in den Köpfen der Urgesteine unter all dem unterschlagenen Müll verschüttet.

Die Lautstärke ebbte mit dem Schwinden des Lichts und die ganze Stadt hatte sich die Gewohnheit zu eigenen gemacht nur noch zu flüstern, um nicht irgendwas zu erwecken.

Und wer genau hinschaute, konnte es erkennen…

„Hey! Seit ihr denn nur des Wahnsinns?!“ Die urplötzlich hereinbrechende Stimme des Busfahrers durchbrach meine sentimentalen Überlegungen mit der Wucht einer biblischen Heimsuchung. Urheber des wiedererwachten Geräuschpegels war offenbar ein klackerndes Geräusch, ausgelöst von einem noch unbekannten Wesen, dass die Fensterscheiben des Busses mit Wurfgeschossen traktierte.

Ich drückte mir das Gesicht an der Scheibe platt und erkannte wenige Meter entfernt unter einer Straßenlaterne zwei atmende Zaunlatten. Während der eine fröhlich weiter Zielwerfen betrieb, gestikulierte der andere wild mit den Armen und wies dabei immer wieder mit beiden Zeigefingern in die Richtung, in die ich nicht fuhr.

Sofort schoss ich in die Höhe und jagte schnaufend zur Tür. „Halt! Lassen sie mich raus!“

Dem Busfahrer ging in diesem Moment vermutlich der Grund für das ganze Theater auf, und so fiel es ihm nicht schwer mich loszuwerden.

Dann steuerte ich zielgerecht auf die beiden Übeltäter zu.

„Was sollte denn das?!“, fauchte ich und unterstrich meine Frage mit ebenso wilden Handbewegungen, wie zuvor Manna – die die Arme mittlerweile wieder gesenkt hatte.

„Das fragst du noch? Du bist an allen drei möglichen Haltestellen vorbeigefahren! Das konnten wir doch nicht einfach zulassen.“, erleuchtete Jonas mich und schob dabei die Tatsache, dass er eben fast zwei Fensterscheiben zu Bruch geschmissen hatte unauffällig in den Hintergrund. Manna sagte nichts.

„Musstest du deswegen gleich mit Steinen schmeißen?“

Jonas kaute als Antwort zunächst an den Schnüren seiner Jacke. „In Wahrheit waren es … Getränkedosen.“, murmelte er und hob den Fuß von einem zerquetschten Subjekt, das nicht mehr zum Einsatz gekommen war. „Aber es war nicht gut. Sie fliegen schlecht.“

Manna holte uns zurück in die Wirklichkeit, indem sie uns warnend ihre Uhr unter die Nase hielt, die an ihrem dünnen Handgelenk schlackerte. Und so machten wir uns angesichts des drohenden Unterrichtsbeginns auf den Weg und erreichten Alex’ Bahnhof in rekordverdächtigen sechs Minuten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Asaki_Lux
2007-08-22T09:28:54+00:00 22.08.2007 11:28
hehe
wie das kasimir beschreibt wie seine "krankenschwester" (eine männlich übrigends) sich um den kümmert...man ich hab mich ect weggeschmissen und saß laut lachend auf meinen drehbaren chefsessel (der sich übrigends auch in seine bestandteile auflöst)
ich finde das echt genial wie du das schreibst aber zeit neusten kommt mir immer kasimir (der schwarze kater) in den sinn.
jaja woran kann DAS nur liegen? das wäre ein weiteres mysterium das schon bald geklärt werden müsste aber bitte bevor ich meinen verstand noch verliere..halt moment....stimmt ja den habe ich schon vor jahren verloren xD
boah jetzt sind meine kopfschmerzen zu einem tumor ausgewachsen aber ich muss sagen die geschichte zu lesen hat sich nun wirklich gelohn.
ich mag deine schreibweise der leser taucht förmlich mit ein und du hast eine gabe dazu das der leser einfach nur mitfühlen kann und wenns einen einfach nur peinlich ist XD
ich mag diesen giebel x3
aber als krankenbruder will ich ihn lieber nicht haben ^^°
dann werde ich ja noch kränker als ich schon eh bin XD
aber der angenehme zentner mann meint es ja nur gut und so wird unser gewissen gereinigt xD
hach werwölfe
*verträumt guck*
+aufschreck*
hä was?
man oh man xD bei denen ist echt ne menge los das kann man nicht bestreiten ^^
boah das ist so anstrengend sowas langes auf pc zu lesen meine augen drücken nu wie sau *kopf hält* aber das wars wert auch wenn ich lieber immer die ausgedruckte version in den händen halte.
das beansprucht nicht so meien augen und mein kopf ich glaube nach der hammer geschichte muss ich mich ertsmal hinlegen und erholen ^^°
was soll das heisen keine naemi? xD
kannst sie ja mit vorkommen lassen *.*
naja das ist bestimmt nicht deine absicht^^
so schlimm sit die kleine nun auch wieder nicht
*protestier*
sie kann ja nichts dafür wenn sie so nach fuori kommt das arme ding XD
das lass ich sie nicht höre sonst hat sie gleich mal eine ausrede dafür wenn sie wieder mist macht
"ich kann nichts dafür, ich komm nach mama"
oh shit gott bewahre xD
alles in allen en lustiges und nachdenkliches kapitel^^

dein herbstmorgenlicht (das nu kopfweh hat)

Asaki Lus

Hdmdl
*ich umarme dich*


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