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Finsterste Nacht

von

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Kapitel 7: Ich lass dich nicht hier


 

»Das ist unser nächstes Ziel?« Ungläubig starrte ich auf den Wald vor uns. »Wirklich?«

Delion, nun wieder mit offenen Haaren, musterte mich aufmerksam. »Was hast du erwartet?«

»Jedenfalls nicht das.« Ich gestikulierte ein wenig hilflos.

Von Cerinkton aus waren wir direkt nach Furlongham geflogen und standen nun vor dem Schlummerwald. Als ich letztes Mal hier gewesen war, hatte ich es nicht bemerkt, aber nun fiel mir auf, dass Sanias Worte stimmten: Über dem Wald gab es keine Dynawolke. Dafür lag immer noch ein dichter Nebel zwischen den Bäumen, der Besucher abhalten sollte.

Vor sechs Jahren hatten Hop und ich hier Schwert und Schild der alten Helden gefunden und den Segen der legendären Pokémon erhalten – und doch war es nicht genug gewesen, um Endynalos aufzuhalten. Schliefen Zacian und Zamazenta hier nun wieder? Oder waren sie an einen anderen Ort verschwunden?

Während mein Blick über die Bäume wanderte, entdeckte ich plötzlich ein Seil, das an mehreren Stämmen festgeknüpft war und tiefer in den Wald hineinführte. Delion folgte meinem Blick. »Früher war das nicht hier. Sieht aus, als kommen hier regelmäßig andere Leute vorbei.«

Während Delion für einen Moment in nachdenkliches Schweigen versank, fragte ich mich, wer diese Personen sein mochten, die sich in den Schlummerwald trauten. Waren es Schutzsuchende, die der Dynawolke entgehen wollten? Aber wäre es dann nicht leichter, einfach in die Kronen-Schneelande zu fliehen, so wie der Großteil aller anderen? Vielleicht waren es auch helfende Trainer, die in der Nähe bleiben wollten, aber am Ende des Tages einfach nur in Sicherheit sein wollten? Würden wir ihnen da drinnen begegnen?

Wahrscheinlich dachte Delion so etwas Ähnliches, denn plötzlich schüttelte er mit dem Kopf. »Wie auch immer. Lass uns trotzdem reingehen und den Leuten einfach ausweichen, falls sie da sind.«

Hoffentlich funktionierte das auch. Aber solange wir nicht dem Seil folgten, sollte es gutgehen.

Ich sah Delion an. »Willst du mir jetzt erzählen, was genau du eigentlich suchst?«

»Ich sag es dir, sobald wir da sind. Ist das okay für dich?«

Am liebsten hätte ich ihn direkt gefragt, ob das etwas damit zu tun hatte, dass Endynalos von ihm Besitz ergriffen hatte, damit er wusste, dass er dieses Geheimnis nicht mehr für sich behalten musste und ich ihm helfen würde. Aber ich fürchtete mich vor Endynalos' Reaktion – und vor Delions. Deswegen nickte ich und folgte ihm in den Wald hinein.

Innerhalb weniger Schritte wurden wir von dem dichten Nebel verschluckt, so dass ich nicht mal mehr meine Hand vor Augen richtig sehen konnte. Ich streckte den Arm aus, um nach Delion tasten zu können, um ihn nicht zu verlieren, doch da war nichts. Schlagartig breitete sich Panik in mir aus. Gerade eben war er doch noch genau vor mir gewesen!

»Delion!?« Selbst meine Stimme schien einfach unterzugehen und nirgendwo anzukommen.

Es kam keine Antwort. Selbst von Pokémon war nichts zu hören.

»Delion!«

Schlagartig fühlte ich mich an die Arena-Challenge zurückerinnert und wie ich mich während dieser im Wirrschein-Wald verlaufen hatte. Allein, an einem unbekannten Ort, davon überzeugt, nie wieder nach draußen zu finden. Würde mir das auch hier passieren?

Die Erinnerung ließ Tränen in meinen Augen aufsteigen, doch bevor ich wirklich weinen konnte, griff plötzlich jemand nach meiner Hand. Erschrocken schrie ich auf, aber da erklang direkt Delions beruhigende Stimme: »Ich bin es, Rae. Alles ist gut.«

Durch den Nebel konnte ich ihn kaum sehen, aber er stand wirklich direkt vor mir. Mit der freien Hand wischte ich mir hastig die Tränen weg. »Mach das nie wieder.«

»Tut mir leid. Ich lasse dich jetzt auch nicht mehr los.«

Und damit zog er mich auch schon mit sich.

Während ich schweigend hinter ihm herlief, wurde mir immer mehr bewusst, dass es kein Leben außer uns hier zu geben schien. Selbst als ich das allererste Mal in den Schlummerwald gegangen war, um ein verirrtes Wolly zurückzuholen, waren hier noch andere Pokémon gewesen. Und Zamazenta.

Aber heute war hier nichts. Wir waren vollkommen allein. Die Stille war unheimlich.

Delion wies mir den Weg, als wäre er schon unendlich oft hier gewesen, er hielt nur an manchen Gabelungen inne, um sich zu orientieren, ehe er weiterlief. Und erst als wir schon ziemlich tief im Wald waren, fiel mir auf, was mich daran irritierte: »Hey, warum kennst du dich hier eigentlich so gut aus? Sonst verläufst du dich schon zwischen Furlongham und Brassbury.«

Der kürzesten und geradesten Strecke, die ich in ganz Galar kannte.

Darauf antwortete er mir nicht. Dafür fragte er etwas anderes: »Soll ich dir vielleicht etwas erzählen? So wie gestern beim Kochen?«

Offensichtlich wollte er nicht darüber reden, aber da ich die Stille nicht mehr wollte, sagte ich Ja. »Das wäre wirklich gut.«

»Vor langer Zeit«, begann er, »fiel ein Meteor vom Himmel, mitten in diese Region. Im Inneren des Meteors befand sich ein Lebewesen, das ganz anders war als alle anderen auf dieser Welt.«

Ich sah ihn fragend an, aber konnte nur seinen Rücken und seine Haare sehen. Warum erzählte er mir die Geschichte von Endynalos? Wollte er mich damit vielleicht darauf vorbereiten, dass er mir bald beichtete, dass er von ihm besessen war?

»Dieses außerirdische Wesen, das so einzigartig war, lebte lange Zeit allein. Alle anderen mieden es, aus Furcht vor seinem Gift, mit dem es – ohne es zu wollen – Gebiete der Region nachhaltig veränderte oder anderen Wesen Schmerzen zufügte. Deswegen zog es sich tief in eine Höhle in den Bergen zurück, um niemandem mehr zu schaden.«

Hatte Endynalos ihm das alles erzählt? Konnte er überhaupt mit Delion kommunizieren? Ich war so neugierig, aber ich hörte ihm einfach weiter zu.

»Während es in dieser Höhle schlief und von seiner weit entfernten Heimat träumte, bemerkte es nicht, dass es Energie ausschüttete, die, anders als das Gift, der Region einem Segen gleichkam. Die Ernten in der Nähe seiner Höhle waren reichhaltig und die Bewohner erreichten ein höheres Alter als irgendwo sonst.«

Davon hatte ich noch nie gehört. Aber wenn alles, was Sania mir während der Challenge erzählt hatte, der Wahrheit entsprach, musste das vor über dreitausend Jahre geschehen sein. Wahrscheinlich gab es deswegen keine Überlieferungen – oder sie waren während der Finstren Nacht verlorengegangen. Oder mutwillig von jemandem zerstört worden.

»So verbrachte es Tausende von Jahren in Einsamkeit«, fuhr Delion ungerührt fort, »bis es bemerkte, dass seine Kräfte schwanden. Statt den Tod zu akzeptieren, verließ es seine Höhle und absorbierte die einstmals abgegebene Energie. Aber es hatte nicht bedacht, dass sich diese möglicherweise inzwischen potenziert hatte – und deswegen nahm es viel zu viel davon auf und beschwor einen schwarzen Sturm.«

Ich schluckte. Delions Stimme klang während der ganzen Erzählung so distanziert, als redete er von einem Ereignis, das ihn überhaupt nichts anging. Was eigentlich ja auch so war, denn es war lange vor seiner Geburt geschehen, aber es betraf immerhin Galar, deswegen kam es mir seltsam vor.

»Der Sturm dauerte viele Jahre und zerstörte fast die gesamte Region, bis es zwei Kreaturen – Pokémon genannt – gelang, das außerirdische Wesen zu besiegen und zu versiegeln. So fiel es wieder in einen tiefen Schlaf, während dem sich das Leben in der Region normalisierte und bald tauchte es nur noch in alten Schauermärchen auf und alle vergaßen, wie viel Gutes es für sie getan hatte.«

Hatte Endynalos das alles mitbekommen? Oder es in Delions Erinnerungen gesehen? Ich wollte immer mehr fragen. Aber noch war er nicht fertig.

»Und dann, 3000 Jahre später, wurde es brutal aus seinem Schlaf gerissen, geradezu berstend vor Energie, ängstlich, verwirrt, unter einem neuen schwarzen Sturm … einem Mann gegenüberstehend, der es bekämpfte und einzufangen versuchte.«

Seine Stimme brach ein wenig ein, als er zu diesem Punkt kam. Ich erinnerte mich wieder an jenen Moment, als Hop und ich auf der Spitze des Energiewerks angekommen waren, als Delion Endynalos gerade eingefangen hatte – und er dann aus dem Pokéball ausgebrochen war. Wie Delion bewusstlos auf dem Boden gelegen hatte, weswegen Hop und ich kämpfen mussten. Und wie dann trotz der Hilfe von Zacian und Zamazenta alles schiefgegangen war.

»Kaum war der Mann besiegt, waren da zwei Kinder, die sich ihm entgegenstellten, zusammen mit den Kreaturen von damals. Aber diesmal schaffte das Wesen es, sie zu besiegen. Und als sie alle am Boden lagen, wollte es die Bedrohung ein für alle Mal beseitigen – aber da stellte sich der Mann zwischen die Kinder und das Wesen.«

Endynalos hatte uns töten wollen. Im Prinzip war das verständlich, aber es zu hören, ließ mich doch wieder schlucken. Ich lebte nur noch, weil Delion rechtzeitig wieder aufgewacht war.

»Er bat das Wesen inständig darum, den Kindern nichts zu tun. Im Austausch dafür würde er dem Wesen helfen so lange es sein musste.«

Eigentlich wollte ich ihn ausreden lassen, aber ich konnte mich nicht beherrschen: »Dann hat das Wesen – Endynalos – Delions Körper übernommen?«

Für einen Moment sagte er nichts, ich machte mich schon auf einen Wutausbruch gefasst und fragte mich, wie ich in diesem nebligen Wald vor ihm fliehen sollte – da lachte er plötzlich leise. »Du kennst die Geschichte anscheinend schon. Aber sie ist nicht ganz korrekt. Es hat den Körper nicht übernommen, es … teilt ihn sich eher.«

Glurak hatte das anders gesehen. Und auch das Buch, das ich für Delion beschafft hatte, ging von etwas anderem aus. Warum klang er dann also plötzlich so?

Plötzlich traten wir aus dem Nebel auf die Lichtung in der Mitte des Waldes, an den See, wo auch der Schrein stand, an dem Hop und ich damals das rostige Schwert und den Schild gefunden hatten. Natürlich waren sie nicht mehr hier, denn wir waren nie hierher zurückgekommen, um sie wieder auf ihren Platz zu legen. Aber das kümmerte Delion offenbar auch nicht.

Er blieb stehen, ließ meine Hand los, drehte sich aber nicht zu mir um. »Seit sechs Jahren ist das Wesen, das ihr Endynalos nennt, nun schon in diesem Mann – und es weiß, dass es euch Schwierigkeiten macht. Deswegen hast du das Wesen hierher begleitet.«

Ich wich einen Schritt zurück. Die Erkenntnis traf mich mit einer solchen Wucht, dass ich selbst trotz des Verdachts erst nicht glauben wollte, was er mir sagte. Als wir den Wald betreten hatten, war er noch Delion gewesen, da war ich mir ganz sicher. Was war im Nebel geschehen? Und warum hatte er mir das alles erzählt? Was wollten wir hier?

Delion drehte sich um und obwohl er lächelte konnte ich ihn nur entgeistert anstarren. Die lila Adern reichten bis an sein Kinn, teilten sich in seinem Gesicht aber wieder in feine blaue und rote Verästelungen, die bis zu seinen Augen reichten – und entsprechend glühte sein rechtes Auge blau und das linke rot. Das pulsierende Leuchten der Juwelen auf seiner Brust war so intensiv, dass es selbst durch seine Kleidung drang.

»Endynalos?«, fragte ich leise.

»Ihr nennt mich so«, bestätigte er, mit derselben ruhigen Stimme wie zuvor. »Also kannst du damit fortfahren, wenn das für dich einfacher ist.«

»Was hast du mit Delion gemacht?«

»Er schläft. Du musst dir keine Sorgen machen, Rae.« Er zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. »Hast du Angst?«

An seinem Lächeln änderte sich nichts, nicht einmal ein kleiner Hauch. Je länger ich es betrachtete desto mehr verlor ich meine Furcht. Wenn die Geschichte, die er vorhin erzählt hatte, auch nur ansatzweise der Wahrheit entsprach, musste ich auch keine Angst haben, denn Endynalos war eigentlich nicht mein Feind, er wollte nur … Hilfe.

Vielleicht war es auch die Ruhe, die diesem Ort innewohnte und sich auf meiner Seele ablegte. Solange wir hier waren, würde mir nichts geschehen, auch er würde mir nichts antun.

»Nein«, sagte ich so aufrichtig wie möglich. »Wenn du mir etwas tun wolltest, hättest du das bestimmt schon getan.«

Seine Augen flackerten ein wenig, sein Lächeln wurde noch eine Spur herzlicher. »Das erleichtert mich. Delion hatte recht, als er meinte, es wäre in Ordnung, sich dir anzuvertrauen, Rae.«

Also konnten sie wirklich miteinander kommunizieren. Vor allem freute mich aber, dass Delion sich sogar ihm gegenüber für mich ausgesprochen hatte.

»Kann ich dich eigentlich etwas fragen, wenn wir schon reden können?«

Neugierig neigte er den Kopf, was ich als Zustimmung wertete und fortfuhr: »Warum ist Delion oft so wütend, wenn … na ja ...«

Ich war mir nicht sicher, wodurch es ausgelöst wurde, ich wusste nur, dass Glurak das schon oft erlebt hatte, deswegen konnte er damit umgehen.

»Ich befürchte, das ist meine Schuld. Menschliche Körper sind sehr eingeschränkt, das frustriert mich. Und manchmal verheddern sich unsere Gedanken und Gefühle und dann ...«

Dann wusste keiner von ihnen mehr, wer er war. Das musste furchteinflößend sein – und vor allem Endynalos wütend machen, nach allem, was er erlebt hatte.

»Wenigstens hat er das Pokémon, das ihr Glurak nennt. Es hat ihm geholfen, sich zu erden, damit er sich nicht selbst verliert. Und damit hat er auch mir geholfen.«

Während er das alles sagte, schwand sein Lächeln nicht und änderte sich auch kein bisschen. Ich war mir nicht sicher, ob er glücklich war oder ob er einfach nur nicht verstand, dass Menschen nicht immer lächelten. Im Endeffekt war das aber auch egal, denn ich hatte Delion versprochen, ihm zu helfen. Ich würde ihn nicht enttäuschen. Dafür musste ich aber vor allem eines wissen: »Erzählst du mir jetzt, warum wir hier sind?«

Er fuhr herum und bedeutete mir, ihm zu folgen, während er sich weiter auf den kleinen Schrein zubewegte. Oder das, was einmal ein Schrein gewesen war.

»Delion kann nicht für immer seinen Körper mit mir teilen. Schon gar nicht, wenn das bedeutet, dass diese Finstre Nacht für immer anhalten wird.« Noch im Laufen nahm er die Tasche ab, die er mit sich trug, ein Ende des Wisteria-Asts ragte daraus hervor. »Aber ich kann diesen Sturm nicht stoppen, ich weiß nicht einmal, wie ich überhaupt ein Teil von Delion wurde, deswegen muss ich-«

Ein lauter Knall zerriss die bis dahin angenehme Stille und ließ ihn abrupt verstummen und innehalten. Sofort fühlte ich mich hier nicht mehr sicher, überall glaubte ich bedrohliche Schemen zu sehen. Dabei war ich mir nicht mal sicher, was das gewesen war; vielleicht war es vollkommen harmlos. Aber mein Herz schlug dennoch viel zu schnell und aufgeregt und hielt mich in Alarmbereitschaft.

»R-Raelene …?«

Etwas an seiner Stimme war plötzlich anders als vorher, sie zitterte sogar ein wenig. Mit einem unguten Gefühl in meinem Inneren wandte ich mich ihm zu. Ich erkannte sofort, dass er wieder Delion war: die Adern hatten sich komplett zurückgezogen, seine Augen leuchteten nicht mehr, dafür sah er verwirrt an sich herunter.

Ich folgte seinem Blick, meine Knie wurden schlagartig weich. Auf seinem Oberteil breitete sich rasch ein dunkler Fleck im Bereich seines Unterleibs aus. In dem Moment, in dem ich realisierte, was geschehen war, fiel er bereits auf die Knie, dann stürzte er mit einem dumpfen Laut zu Boden.

»Delion!« Ich ließ mich neben ihn fallen und griff an seine Schultern. »Delion, nein!«

Mit ein wenig Mühe schaffte ich es, ihn umzudrehen, dabei stieß er ein schmerzerfülltes Keuchen aus. Vorsichtig hob ich seinen Oberkörper an und hielt ihn fest. Schwer atmend sah er mich an. »L-lauf weg, Raelene ...«

»Nein! Ich lass dich nicht hier!«

Nicht bei diesem unbekannten Feind, der auf ihn geschossen hatte. Einfach so. Wer würde so etwas tun?

Die Antwort kam schneller, als mir lieb war: »Es gibt ohnehin keinen Ort, an den du laufen könntest, kleines Dusselgurr. Wir kennen diesen Wald in- und auswendig.«

Unzählige Schauer liefen über meinen Rücken, als ich diese Stimme hörte. Es war Ike, und er trat gerade zwischen den Bäumen hervor, die Pistole immer noch in der Hand, ein überlegenes Grinsen im Gesicht. Hinter ihm traten auch die anderen Männer, die im Labor gewesen waren, aus dem Unterholz hervor. Eigentlich kannte ich ihre Namen, aber alle Gedanken wirbelten in meinem Kopf durcheinander und verhinderten, dass ich mich richtig erinnerte.

Die Angst wollte mich übermannen, aber für den Moment war meine Wut stärker: »Warum hast du auf ihn geschossen?!«

Ike zuckte mit den Schultern. »Du bist unser Ziel, Dusselgurr. Und er war im Weg.«

Es war meine Schuld? Weil diese Kerle mich unbedingt haben wollten? Ohne mich wäre das nie geschehen, ohne mich …

»Lauf weg«, wiederholte Delion, seine Stimme wurde schwächer.

Ich wollte noch einmal darauf bestehen, dass ich ihn hier nicht zurücklassen würde, aber die Juwelen auf seiner Brust leuchteten plötzlich so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen musste.

Dennoch ließ ich Delion nicht los, auch nicht, als er einen Schrei ausstieß, der sich mit einem anderen zu überlagern schien. Ein heftiger Wind erhob sich hinter mir, vereinte sich mit einer Macht, die ich schon einmal gespürt hatte, damals, vor sechs Jahren auf der Spitze des Energiewerks. Deswegen musste ich nicht einmal den Kopf wenden, als ich meine Augen wieder öffnete, um zu wissen, dass Ike und die anderen fassungslos Endynalos anstarrten, der hinter mir auch schon derart laut brüllte, dass die anderen erblassten.

»Ike«, sagte einer von ihnen, »wir sollten abhauen!«

Statt darauf zu reagieren, starrte Ike einfach nur Endynalos an, mit einer Entschlossenheit, die mich frösteln ließ. Unwillkürlich drückte ich Delion enger an mich. Er reagierte darauf nicht.

Endynalos brüllte noch einmal, dann sammelten sich Funken um uns – und im nächsten Moment schoss er bereits einen blendenden Strahl auf Ike und die anderen. Als das Licht wieder erlosch, führte eine Schneise mitten durch den Wald. Der Anblick allein genügte, dass sich meine Kehle zuschnürte. Endynalos' Energie war immer noch so beeindruckend und furchteinflößend wie damals.

Das war offenbar auch Ikes Erkenntnis, der seinen Männern gerade den Rückzug befahl. Offensichtlich glücklich darüber, wirbelten sie bereits herum und rannten davon.

Endynalos flog an mir vorbei, um ihnen zu folgen – doch da befreite sich Glurak selbst aus seinem Pokéball, um ihm den Weg zu versperren. Der Größenunterschied zwischen ihnen war so gewaltig, dass ich tiefen Respekt für Glurak empfand, als dieser Endynalos anbrüllte. Doch Endynalos ließ das nicht auf sich sitzen und brüllte zurück, so laut, dass der gesamte Wald zu erzittern schien.

Aber Gluraks Blick schien selbst für ihn zu viel zu sein, denn plötzlich wandte Endynalos sich von ihm ab, um mich anzusehen. Als seine Augen auf mich fielen, hielt ich den Atem an. In diesem Moment wirkte seine Präsenz so erdrückend, so allumfassend, dass die Furcht mich übermannte, obwohl ich mich kurz davor noch mit ihm unterhalten hatte und alles gut gewesen war. Aber in dieser Form …

Ich beugte mich ein wenig über Delion; da er mich diesmal nicht beschützen könnte, übernahm ich das einfach für ihn, obwohl alles in mir danach schrie, einfach wegzurennen.

»Bitte«, murmelte ich. »Bitte tu ihm nichts.«

Endynalos musterte mich und Delion für einen Moment. Etwas an seinem Verhalten veränderte sich kaum merklich, die Atmosphäre schien noch erdrückender zu werden – dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus, Energiewellen pulsierten und erschwerten mir das Atmen.

Ich spürte seinen Zorn und seinen Schmerz, und das Wissen, dass ich ihn enttäuscht hatte, stach direkt in mein Herz. Doch bevor ich mich entschuldigen oder erklären konnte, schoss er schon in den Himmel davon, so schnell, dass er wie ein umgekehrter Blitz wirkte.

Die Atmosphäre wurde sofort leichter, und ich war seltsam froh, dass er nicht hinter Ike und den anderen her zu sein schien. Obwohl er allen Grund hatte, auch auf sie wütend zu sein.

Glurak sah Endynalos hinterher, bis nicht einmal mehr eine Ahnung von ihm zurückblieb. Dann wandte er sich Delion und mir zu und kam ein wenig näher. Ich sah auf Delion hinunter, der blass geworden war, sein Atem ging auch viel zu flach. Wenigstens lebte er noch.

Doch für wie lange? Ich konnte ihn nicht behandeln, aber ich wusste auch nicht, wo ich ihn hinbringen sollte. Und wahrscheinlich wäre ich auch nicht schnell genug dort gewesen, denn ich hätte niemals so schnell auf Glurak fliegen können.

Was sollte ich tun?

Gerade als die Verzweiflung am höchsten schien, fuhr Glurak knurrend herum und breitete die Flügel aus, um Delion vor fremden Blicken oder Attacken zu schützen. So nahm er mir aber auch die Möglichkeit, zu sehen, was vor sich ging.

Irgendjemand kam mit langsamen Schritten auf uns zu. War Ike zurückgekommen, um zu beenden, was er angefangen hatte? Sollte ich einfach mit ihm gehen, in der Hoffnung, dass Glurak sich schon um Delion kümmern könnte?

Bevor ich dazu kam, den Vorschlag zu machen, weiterhin im Glauben, dass es Ike war, hörte ich eine Stimme, die ich erkannte, obwohl ich sie schon lange nicht mehr gehört hatte: »Da will ich nur einem Hinweis nachgehen, dass hier ein Glurak gesehen wurde, und werde fast von einem Laserstrahl gegrillt. Was ist hier denn passiert? Und wen beschützt du da?«

Glurak schien kurz nachzudenken. Er sah über seine Schulter auf mich und Delion hinunter. Ich erwiderte seinen Blick ängstlich. Wenn es jemanden gab, der Delion noch helfen könnte …

Ich musste nichts sagen, denn Glurak schien zu verstehen. Er trat beiseite und gab so den Weg frei für den stärksten Arenaleiter in Galar und Delions ärgsten Rivalen: Roy.

Es war eine Weile her, seit wir uns zuletzt begegnet waren, aber er erkannte mich sofort wieder: »Raelene? Was machst du denn hier?«

Bevor ich auch nur die Gelegenheit hatte, meine Gedanken zu ordnen, um ihm zu antworten, wanderte sein Blick nach unten. Kaum entdeckte er den bewusstlosen Delion, schien sogar Roy blasser zu werden. »W-was ist hier eigentlich passiert?«

»Ich kann alles erklären«, sagte ich rasch, flehend, gleichzeitig hoffend, dass es noch nicht zu spät war. »Aber bitte hilf Delion!«
 



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