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Absolute beginners

von

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Tu's für mich.

Tatsuro zog an seiner Zigarette, lehnte sich zurück, nur um im nächsten Moment erneut seine Sitzposition zu ändern. Immer wieder huschte sein Blick auf den niedrigen Tisch vor ihm, auf dem neben dem Aschenbecher ein Buch lag. Ein letztes Mal atmete er den Rauch tief ein, bevor er den Stummel entsorgte und seufzend den Roman in beide Hände nahm. Das Cover war schlicht gestaltet, eine neblige Seenlandschaft, der Titel in blassem Grau gehalten. Definitiv kein Einband, den er gewählt hätte, aber Hazuki brauchte keine aussagekräftigen Bilder oder ins Auge springende Titel, um auf sich aufmerksam zu machen. Hazuki war eine Institution, ein Name, den in der Autorenwelt Japans jeder kannte. Tatsuro war einst einer seiner glühendsten Fans gewesen, hatte nicht fassen können, als sein Vorbild erst zu seinem Mentor wurde und später noch zu so vielem mehr. Ein Freund sagte einmal, triff nie deine Idole, du wirst es bereuen, und dem war wirklich so. Er hatte geglaubt, die Sache mit Hazuki hinter sich gelassen zu haben, doch seit er ihm gestern über den Weg gelaufen war, war wieder alles da. Die Wut, die Trauer, die Verunsicherung, die ihm jeden Elan raubte, und gleichzeitig sehnte sich jede Faser seines Körpers nach dem älteren Mann.

 

Zu allem Überfluss hatte sich Yukke vor ein paar Stunden mit den Worten verabschiedet, er hätte einen wichtigen Termin in der Stadt und hatte ihn mit seinen Grübeleien allein gelassen. Tatsuro verzog das Gesicht. Es war seinem Mitbewohner gegenüber nicht fair, so zu denken, aber verdammt, warum hatte Yukke ausgerechnet heute verschwinden müssen? Sonst war er doch auch immer hier und schaffte es, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, heute mit seinem Roman ein ganzes Stück weiterzukommen, hatte er seit dem Morgen gerade mal ein paar Hundert Worte geschrieben. Viel fehlte nicht mehr, dann wäre die Rohfassung fertig, leider blieb ihm auch kaum noch Zeit, bevor Garas Frist von sechs Wochen abgelaufen war. Eine Handvoll Tage noch, eigentlich zu schaffen, würde er sich nicht fühlen, als hätte ihm Hazuki gestern jegliche Kreativität geraubt. Er konnte an nichts weiter denken, als an den Verrat, der ihm vor knapp einem Jahr schon so zugesetzt hatte.

 

Lautlos schlug er das Buch auf, blätterte durch die Seiten und überflog Passagen, die er vor Monaten mit gelbem Leuchtmarker gekennzeichnet hatte. Nicht nur, dass Hazuki seine Idee gestohlen hatte, er hatte nicht einmal so viel Anstand besessen, um seine eigenen Worte zu verwenden. Tatsuro schätzte, dass ungefähr zwanzig Prozent des Romans eins zu eins aus seinen damaligen Texten bestanden.

Warum nur hatte er ihm das angetan?

Er hatte Hazuki … nun ja, geliebt wäre ein zu großes Wort, um das zu beschreiben, was er für den Älteren empfunden hatte. Er war verliebt gewesen, hatte ihn für sein Können verehrt und hätte vermutlich alles für ihn getan. Verdammt, hätte Hazuki ihn gefragt, ob er seine Idee für einen eigenen Roman verwenden durfte, Tatsuro wäre geehrt gewesen, aber so?

So war ihm alles genommen worden und dennoch hatte der andere nichts von seiner Anziehungskraft verloren.

 

„Ich bin so dumm“, murmelte er, legte das Buch beiseite, stand auf und schlurfte ins Schlafzimmer. Tetochi hob den Kopf, als er am Bett vorbeiging, auf dem sie es sich gemütlich gemacht hatte. Ein gelbes Auge musterte ihn kurz, bevor es sich wieder schloss und sich die Katze noch enger zusammenrollte.

„Ach, Süße, du hast ein Leben.“

Er lächelte auf seine Mieze herab, unterließ es jedoch, sie zu streicheln. Wenn er selbst schon keine Ruhe fand, sollte Tetochi wenigstens ihren faulen Nachmittag genießen. Apropos Nachmittag, ein schneller Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es bereits sechs Uhr abends war und er sich mit seiner zeitlichen Einschätzung gehörig vertan hatte.

 

Dennoch öffnete er die Türen seines Kleiderschranks nur langsam und betrachtete für einen langen Moment den Inhalt, obwohl er bereits wusste, was er anziehen wollte. Seine Arme schienen sich mit einem Mal nur noch in Zeitlupe bewegen zu wollen; Tatsuro kannte diesen Trick seines Gehirns nur zu gut. Dieses Phänomen überkam ihn immer dann, wenn er im Begriff war, etwas zu tun, von dem er wusste, dass es eine Dummheit war.

 

Eine riesige Dummheit, um genau zu sein, und dennoch hatten ihn Hazukis Worte gestern Abend eingewickelt und zogen nun unnachgiebig an ihm.

„Ich bin morgen Abend im Eden Blue. Wir sehen uns, Ro-chan.“

 

Er wusste, dass er nicht hingehen sollte. Natürlich tat er das. Gleichzeitig versuchte er, sich schon seit Stunden einzureden, dass er sich nur mit Hazuki treffen würde, um sich endlich mit ihm auszusprechen. Obwohl der andere gestern deutlich gemacht hatte, dass er sich keinerlei Schuld bewusst war, mussten sie noch einmal über alles reden, oder etwa nicht? Tatsuro konnte die ganze Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen lassen. Wenigstens eine ehrliche Entschuldigung sollte drin sein. Er lachte unterdrückt auf und rieb sich über die Nasenwurzel. Als würde ein Mann wie Hazuki sich bei jemandem wie ihm entschuldigen. Für den anderen war er ein Nichts, ein Kind, das in der Welt der Autoren gerade laufen lernte. In Hazukis Augen hatte er Tatsuro an die Hand genommen, ihn ein Stück des Weges in die richtige Richtung geführt und hatte sich dafür nur das genommen, was ihm zustand.

 

Seufzend zog er sich sein T-Shirt über den Kopf und erschauerte, als der tränenförmige Anhänger der Halskette, die ihm Yukke gestern geschenkt hatte, erstaunlich kühl auf seiner Haut zum Liegen kam. Die Empfindung war wie ein Schwall kalten Wassers, der den lethargischen Nebel über seinen Gedanken wegwusch. Automatisch griff er nach dem Kristall, drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und verlor sich im Spiel des Lichts, das sich in den filigranen Facetten brach. Er ließ den Anhänger in seine Handfläche gleiten, schloss die Finger zu einer festen Faust darum und lehnte seine Stirn dagegen. Die Augen zusammengekniffen, atmete er ein und wieder aus, ein und wieder aus, bis sich der Tumult in seinem Inneren wenigstens ein bisschen gelegt hatte. Wenn er Hazuki derart aufgewühlt gegenübertrat, würde er seine Chancen auf ein Gespräch auf Augenhöhe bereits sabotiert haben, bevor es überhaupt stattfand. Er würde sich nicht noch einmal überrumpeln lassen, das schwor er sich hier und jetzt.

 

Mit nun wieder sicheren Handgriffen zog er ein schwarzes, eng anliegendes Shirt aus dem Schrank, eine stilvoll zerrissene Jeans in derselben Farbe und Unterwäsche, bevor er sich auf den Weg ins Bad machte. Eine heiße Dusche würde ihm guttun und vielleicht half sie gegen seine Verspannungen, die ihn mit Nachdruck verleiten wollten, seine Schultern in einer typischen Abwehrhaltung nach oben zu ziehen. Es war wirklich nicht zu fassen, welche Wirkung Hazuki noch immer auf ihn hatte, selbst wenn er nicht in seiner Nähe war.

 

Kaum traf das Wasser auf seinen Körper, atmete er erleichtert aus und lehnte sich mit dem Hinterkopf gegen die Duschwand. Mit geschlossenen Augen fuhr er sich übers Gesicht, den Hals hinab über die Brust, bis er erneut an dem kleinen Kristall hängen blieb. Mit all den Eindrücken und aufgewühlten Erinnerungen, die seit gestern Abend ohne Unterlass auf ihn einstürmten, war er noch gar nicht richtig dazugekommen, genauer über Yukkes Geschenk nachzudenken. War es normal, dass ihm jemand, den er erst seit ein paar Wochen kannte, so etwas Schönes schenkte? Einfach so? Die Träne einer Muse… Eigenartig, wie oft er in letzter Zeit von diesen mythischen Wesen hörte. Er öffnete die Augen, blinzelte den Wasserschleier fort und betrachtete erneut das Schmuckstück.

 

„Damit bin ich wirklich bei dir“, hörte er wie aus weiter Ferne Yukkes Worte, die er ihm zugeraunt hatte. Sie waren sich so nah gewesen, hätten sich beinahe … Tatsuro leckte sich über die Lippen, ließ den Anhänger sinken und griff nach dem Shampoo. War er wirklich kurz davor gewesen, Yukke zu küssen? Seine Finger fuhren mit festem Druck über seine Kopfhaut, durch sein Haar in den Nacken. Ja, ja er hatte Yukke küssen wollen und anders, als er sich gestern noch eingeredet hatte, musste er jetzt zugeben, dass er das noch immer wollte.

 

Wie, als hätte sein Mitbewohner gespürt, dass er gerade an ihn dachte, hörte Tatsuro über das Rauschen der Dusche hinweg ein Poltern, das eindeutig aus Richtung des Eingangsbereichs kam. Wenn nicht gerade der tollpatschigste Einbrecher ganz Tokyos versuchte, ihn auszurauben, war Yukke gerade wieder nach Hause gekommen. Ein Schmunzeln schlich sich auf seine Züge, während er nach dem Duschgel griff und plötzlich gar keine Lust mehr hatte, lange unter der Dusche zu stehen. Viel lieber wollte er wissen, was den anderen dazu veranlasst hatte, so einen Trubel zu veranstalten.

 

~*~

 

Eine viertel Stunde später verließ Tatsuro das Bad. Seine Haare hatte er noch in einem Handtuchturban zusammengefasst, denn die Neugierde, was Yukke angeschleppt haben mochte, war größer als der Drang, sich für ein Treffen mit Hazuki herzurichten. Immerhin war er schon angezogen, das musste für den Moment genügen. Mittlerweile war er fest davon überzeugt, dass sein Mitbewohner irgendein dubioses neues Sportgerät gekauft haben musste, dessen Transport ihn nicht nur völlig verausgabt hatte, sondern zukünftig dafür sorgen würde, dass er Tatsuro noch effektiver quälen konnte. Oh, Entschuldigung, natürlich quälte ihn sein selbst ernannter Trainer nicht, er sorgte nur dafür, dass seine Kreativität sprudelte. Denn wie sagte schon Konfuzius … oder irgendein anderer Philosoph, nur in einem gesunden Körper lebt auch ein gesunder Geist. Tatsuro rollte über seinen Mitbewohner die Augen, genau in dem Moment, als besagter Mitbewohner ihm gegenübertrat.

 

„Ehm, hab ich dich gestört oder so?“ Yukke legte den Kopf schräg und musterte ihn ausgiebig.

 

„Nein, ich war nur duschen.“

 

„Aha und womit habe ich dann dein Augenrollen verdient?“

 

„Das hast du gesehen?“

 

„Jepp.“

 

Tatsuro grinste und hätte sich über den Hinterkopf gerieben, würde das Handtuch nicht noch immer dort thronen.

„Glaubst du mir, wenn ich sage, dass das nicht für dich bestimmt war?“

 

„Nein.“

 

„Dachte ich mir.“ Lachend schüttelte er den Kopf und schielte über Yukkes Schulter hinweg ins Wohnzimmer.

„Genau das hier ist der Grund für mein Augenrollen.“ Er deutete auf eine etwas unhandlich wirkende Kiste, die mitten im Wohnzimmer stand, und aus der Plastikverpackungen, Kabel und Papiere quollen, die stark nach einer Gebrauchsanleitung aussahen.

„Ich hab geahnt, dass du wieder irgendeine dubiose Foltergerätschaft angeschleppt hast, als es vorhin im Flur gepoltert hat.“

 

„Eine Foltergerätschaft, soso.“

Yukke stemmte beide Hände in die Hüften und erwiderte seinen Blick mit hochgezogener Augenbraue.

„Will ich wissen, woran du denkst, während du unter der Dusche stehst, dass dich Geräusche im Flur auf ein Foltergerät schließen lassen?“

 

„Na hör mal, bei dir kann man nie wissen.“ Mittlerweile hatte er sich an Yukke vorbeigeschoben und war ins Wohnzimmer gegangen, um das Mitbringsel näher begutachten zu können.

„Letztes Mal, als du eine große Kiste angeschleppt hast, waren diese komischen Metallschüsseln drin, wegen derer ich mir fast einen Bruch gehoben habe.“

 

„Du übertreibst maßlos. Das sind Klangschalen, die wiegen gar nicht so viel.“

 

„Sagt derjenige, der mich die Schachtel nach oben hat schleppen lassen.“

 

„Weichei.“

 

„Bitte, was?“

 

„Nichts, nichts.“ Yukke schenkte ihm ein schelmisches Grinsen und deutete auf Tatsuros Fernseher, auf dem die Meldung aufleuchtete, dass soeben ein Update durchlief.

„Ich bin mir sicher, dass dir das hier gefallen wird.“

 

Tatsuro betrachtete die Gerätschaften genauer, die wie Geschenke unter einem Weihnachtsbaum um seine Playstation fünf drapiert waren. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, dass es sich um eine vollständige Virtual-Reality-Ausrüstung handelte, mit der sich seine Geräte gerade synchronisierten.

„Wa…?“, entkam es ihm mit leicht offen stehendem Mund und geweiteten Augen.

 

„Na, du sagtest doch letztens erst, dass du überlegst, dir eine VR-Brille zuzulegen und da dachte ich, warum das Ganze nicht erst mal testen?“

 

„Hast du das alles gekauft?“ Tatsuro war gelinde gesagt fassungslos und fragte sich, wo sein Mitbewohner plötzlich all das Geld herhatte.

 

„Du bist witzig. Ich bin nicht derjenige, der regelmäßig dicke Schecks seines Verlegers im Briefkasten hat.“

 

„Das war bisher nur einer.“

 

„Siehst du, einer mehr, als ich je erhalten habe.“

 

„Aber wie kommst du dann zu all dem hier?“

 

„Ein Bekannter von mir ist hauptberuflicher Gamer. Frag nicht, ich weiß auch nicht, wie man damit Geld verdienen kann, aber praktischerweise hat er all diese Schätzchen bei sich zu Hause herumliegen und hat mir angeboten, sie mir mal auszuleihen.“

 

„Das ist …“ Tatsuro schüttelte erneut den Kopf, diesmal jedoch nicht vor Unglauben, sondern um endlich seine Erstarrung abzuschütteln.

„Das ist genial!“ Ein breites Grinsen schlich sich auf seine Lippen und begeistert wie ein Kind hockte er sich auf den Boden vor seinen Fernseher und nahm eine der Brillen in die Hand, um sie näher zu begutachten.

 

„Wir haben nur ein Problem.“

 

„Ach ja? Welches?“ Das einzige Problem, das Tatsuro gerade sah, war sein Turban auf dem Kopf, mit dem ein komfortables Tragen der VR-Brille eher unwahrscheinlich war. Aber dem wäre schnell Abhilfe geleistet, ein kurzer Abstecher ins Bad und er wäre bereit für alle Schandtaten. Sein Grinsen weitete sich.

 

„Hast du eine Ahnung, wie wir das alles zum Laufen bringen? Ich kenne mich damit nicht aus.“

 

Tatsuro rappelte sich wieder hoch, ging zu der offenen Schachtel hinüber und nahm die Papiere heraus, die er eben schon als Gebrauchsanleitung identifiziert hatte.

„Hier.“ Noch breiter grinsend als zuvor drückte er Yukke die Papiere in die Hand und zwinkerte ihm frech zu.

„Du kannst schon mal zu lesen anfangen, ich bin noch mal kurz im Bad, meine Haare trockenlegen.“

 

Bevor der andere etwas sagen oder gar protestieren konnte, spurtete er aus dem Wohnzimmer und rückte, noch immer debil vor sich hin grinsend, im Bad angekommen seinen Haaren zu Leibe. Das würde ein Spaß werden. Er hatte das VR-System vor Jahren bei einem Bekannten testen können, aber ein Zockerabend mit Yukke hatte das Potenzial, episch zu werden. Hatten sie noch genügend Knabbereien und Süßes vorrätig? Und wie sah es mit Alkohol aus? So ein bisschen die Sinne trüben, schadete schließlich nicht.

 

Plötzlich hielt er inne, die Bürste halb durch seine langen Haare gezogen und erwiderte den Blick seines Spiegelbildes. Er sah, wie das euphorische Grinsen langsam von den Lippen verschwand, das vorfreudige Glitzern in den dunklen Augen zu erlöschen begann.

Er konnte nicht mit Yukke hierbleiben und Videospiele zocken, nicht heute. Nicht nachdem Hazuki …

 

Tatsuro kniff die Augen zusammen, fuhr mechanisch damit fort, sich die Haare zu trocknen und versuchte krampfhaft, nicht zu denken. Als er wenig später das Bad verließ, war von seiner Freude nichts mehr übrig und seine Beine fühlten sich schwer und müde an, während sie ihn zurück ins Wohnzimmer trugen.

 

„Ah, gut dass du kommst. Das Update ist durchgelaufen, aber du müsstest dich bei deinem Playstation-Account anmelden, damit wir weitermachen können.“

 

„Du, Yukke, hör mal.“

 

„Es ist gar nicht so kompliziert, wie ich gedacht habe.“

 

„Yukke.“

 

„Das meiste synchronisiert sich von selbst, wir müssen nur …“

 

„Yukke!“

 

„Ja?“

 

„Können wir das auf morgen verschieben? Ich …“ Tatsuro deutete vage an sich herab, um auszudrücken, dass er für einen Zockerabend etwas zu gut angezogen war. Gleichzeitig versuchte er zu begreifen, woher plötzlich diese Übelkeit kam, die seinen Magen zum Krampfen brachte. Mit einem Mal war er sich noch weniger sicher als zuvor, ob es eine gute Idee war, Hazuki zu treffen. Yukke erwiderte seinen Blick stumm, ausdruckslos. Wie ein Tropfen Tinte auf Löschpapier breiteten sich Schatten in den großen Augen aus und verdunkelten das Strahlen, das bis eben in ihnen gelegen hatte.

„Hazuki hat mich gestern ins Eden Blue eingeladen, ich … du weißt ja mittlerweile, was zwischen uns passiert ist … Nun ja, ich bin der Meinung, wir sollten uns aussprechen, also werde ich da heute hingehen.“

 

„Mach das nicht.“

 

Tatsuro war gerade im Begriff, sich umzudrehen und zurück in den Flur zu gehen, hielt bei Yukkes Worten jedoch in jeder Bewegung inne. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass der andere tatsächlich versuchen würde, ihn zurückzuhalten. Enttäuschung hätte er verstanden, ja, weil sich Yukke große Mühe gegeben hatte, für eine coole Abendunterhaltung zu sorgen. Auch Zweifel wären angebracht gewesen, nach alldem, was Satochi und Miya ihm erzählt hatten und was sein Mitbewohner gestern live mitansehen hatte können, aber das?

 

„Warum?“, flüsterte er und drückte damit mehrere Fragen auf einmal aus.

Warum soll ich nicht gehen?

Warum interessiert es dich?

Warum ist es mir so wichtig, was du denkst?

Er sah dabei zu, wie Yukke langsam auf ihn zuging, bis er so nah vor ihm stand, dass er die kleinen, goldenen Sprenkel in seiner Iris hätte zählen können.

 

„Weil dir dieser Mann nicht guttut“, stellte Yukke ebenso leise fest und als sich eine warme Hand auf seine Brust legte, konnte Tatsuro nicht anders, als die schmalen Finger zu umfassen.

„Ich hatte den Eindruck, als würde seine bloße Anwesenheit dich kleiner machen, körperlich und mental, so hab ich dich bislang noch nie gesehen. Das warst doch nicht du.“

 

„Ich …“ Tatsuro wusste nicht, was er erwidern sollte. Yukke hatte recht mit allem, was er sagte und gleichzeitig verstand er nicht, warum diese Sache dem anderen so nahezugehen schien. Sie kannten sich erst seit ein paar Wochen, Yukke wusste gar nicht, wer er wirklich war und dennoch schien er ehrlich besorgt um ihn zu sein.

„Ich muss endlich mit Hazuki sprechen, ich schiebe das schon viel zu lange vor mir her.“

 

„Aber nicht jetzt.“ Yukke schüttelte sacht den Kopf. „Sei ehrlich zu dir selbst. Wenn du heute zu ihm gehst, wirst du nichts erreichen, oder liege ich da falsch?“

 

„Gestern hat er mich überrumpelt. Ich habe nicht damit gerechnet, ihm über den Weg zu laufen, aber das passiert mir nicht noch einmal.“

 

„Nein? Bist du dir da sicher?“

Tatsuro öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne dass ihm ein Wort über die Lippen kam. Yukkes Augen waren wie ein Spiegel, in dem er sich so sah und annehmen konnte, wie der andere ihn gestern im Umgang mit Hazuki wahrgenommen hatte. Verletzt, zweifelnd und noch immer ungesund beeindruckt von der überlebensgroßen Vision, zu der er Hazuki in seiner Vorstellung stilisiert hatte.

„Wenn du es nicht deinetwillen tun kannst, dann tu es für mich. Bitte, Tatsuro, geh heute nicht zu ihm.“

 

„Warum ist dir das so wichtig?“, wisperte er und senkte, ohne es bewusst beeinflussen zu können, ein wenig den Kopf, um dem anderen näher zu sein.

 

„Weil ich nicht will, dass er dich verletzt.“ Yukke leckte sich über die Lippen. Eine flüchtige Bewegung, die Tatsuro wie magnetisch anzuziehen begann.

„Weil ich mir Sorgen um dich mache.“

 

„Aber warum?“

Ihre Gesichter waren sich so nahe, dass er den Atem des anderen auf seiner Haut fühlen konnte und sich sein sachtes Zittern auf ihn übertrug, als er seine freie Hand hob, um die Finger sanft an Yukkes Wange zu legen.

 

„Weil du mir wichtig bist.“

 

Ein Herzschlag verstrich … ein Zweiter.

 

„Du bist mir auch wichtig“, wisperte er gegen Yukkes warme Lippen. Eine so zarte Berührung; noch zu wenig für einen Kuss und doch zu viel, um leugnen zu können, dass er sich genau das wünschte. Die Finger auf seiner Brust zuckten, überlegend, abwägend, bevor sich Yukke auf die Zehenspitzen stellte und den letzten Abstand zwischen ihnen überbrückte.

 

Die warmen Lippen auf den seinen zu spüren, war wie eine elektrische Entladung, die sich ihren Weg seine Wirbelsäule hinab bahnte und ein wahres Feuerwerk in seinem Körper entfachte. Tatsuro hörte einen leisen Laut, den er weder hätte beschreiben können noch mit Sicherheit sagen, ob er von ihm selbst oder Yukke gekommen war. Seine Augen waren ihm zugefallen, seine Finger hatten sich in Yukkes Haar verirrt, kämmten durch die kurzen Strähnen. Erstaunlich, wie weich es war – so herrlich weich, genau wie seine Lippen. Tatsuro glitt mit der Zunge über sie, neckend, bittend, bis sie sich für ihn teilten. Eine wohlige Gänsehaut rann ihm über den Rücken, als Yukke ihm entgegenkam, ihren Kuss sogleich vertiefte.

 

Tatsuro war überrascht von der Nachdrücklichkeit, die der jüngere Mann plötzlich an den Tag legte, aber ihm würde im Traum nicht einfallen, sich darüber zu beschweren. Seine Hände glitten unstet über Yukkes Rücken, während sich die langen Finger des anderen in sein Haar verirrt hatten, gedankenverloren hindurchfuhren. Sie waren sich so nah, dass sich die Hitze ihrer Körper mischte, dass ihm selbst sein dünnes T-Shirt zu warm wurde. Sogar die Luft im Raum schien sich mit jeder verstreichenden Sekunde mehr aufzuheizen, während sein Herz wild und aufgeregt pochte, das Blut immer schneller durch seine Adern schickte. Erst jetzt, da er es tat, begriff er, wie sehr er Yukke hatte nahe sein, ihn küssen und halten wollen. Jeder Gedanke an Hazuki war aus seinem Kopf verschwunden, verdrängt von diesem Mann, der mit einer bislang ungekannten Hingabe nach ihm verlangte.

 

Er drängte Yukke nach hinten, bis seine Oberschenkel gegen die halbhohe Kommode stießen, welche ihren Platz neben der Wohnzimmertür hatte. Sein Mitbewohner begriff schnell, löste eine Hand aus seinem Schopf, um sich nach hinten abzustützen, und auf das Möbel zu ziehen. Kaum saß er, schlang Yukke nicht nur seine Arme, sondern auch die Beine um ihn, wie ein kleiner Oktopus, der seine Beute nicht loslassen wollte. Tatsuro schmunzelte, nur kurz, dann waren seine Lippen wieder mit deutlich Wichtigerem beschäftigt.

 

Vollkommen unerwartet begann plötzlich sein Handy zu vibrieren, das er vorhin auf dem Wohnzimmertisch hatte liegen lassen. Ein unwilliger Laut entkam ihm. Warum wurden sie immer gestört? Gestern das Klingeln seiner Türglocke, heute sein dummes Telefon. Reflexartig glitt seine Rechte in Yukkes Nacken, hielt ihn fest, als er bemerkte, wie er wegzucken wollte.

„Ignorier es“, wisperte er, leckte über die mittlerweile leicht geschwollenen Lippen, bevor er sich über Kinn und Kiefer seinen Weg bis zum Hals suchte. Er ahnte, wer ihn gerade zu erreichen versuchte, aber sowohl die Person als auch ihr Anliegen waren irrelevant geworden. Lächelnd begann er, Yukkes weiche Haut zu liebkosen, verlor sich im Duft des anderen und den leisen Lauten, die er ihm entlockte. Sein Handy war verstummt und machte auch nicht noch einmal auf sich aufmerksam. Natürlich nicht. Hazuki war zu stolz, um mehr als einmal anzurufen. Sein Lächeln weitete sich.

 

„Tatsue“, keuchte Yukke in diesem Augenblick und ließ ihn für einen kurzen Moment innehalten. Den Blick nach oben gerichtet, haschte er erneut nach den geröteten Lippen, zog die untere zwischen seine Zähne und schabte vorsichtig über sie.

 

„Ist das mein neuer Spitzname?“

 

„Was? Ich …“ Eine herrliche Röte breitete sich auf Yukkes Wangen aus, ließ ihn gleichzeitig unglaublich jung und endlos attraktiv wirken. Oh, wenn er Tatsuros Gedanken lesen könnte, er würde in Flammen stehen.

 

„Ich mag ihn“, entgegnete er mit einem Schmunzeln im Mundwinkel und küsste Yukkes Nasenspitze.

 

„Tatsue … ich darf dich also so nennen?“

 

„Ich bitte darum.“

 

Yukke erwiderte sein Lächeln, aber anders als bei ihm hielt es sich nicht lange, bis es einem zerknirschten Ausdruck Platz machte.

 

„Wir sollten das nicht tun.“

 

„Was meinst du?“, fragte er, obwohl ein unangenehmer Druck in seiner Magengrube deutlich machte, dass er bereits wusste, was der andere ihm sagen wollte.

 

„Das hier zwischen uns.“

 

„Und warum nicht?“ Tatsuro schluckte, versuchte jedoch, sich nicht entmutigen zu lassen. Sanft streichelte er über Yukkes Wange, fuhr mit dem Zeigefinger hinter sein Ohr und beobachtete fasziniert, wie sich eine leichte Gänsehaut über seinen Hals auszubreiten begann. Er senkte den Kopf, küsste die Stelle, bevor er Yukke wieder in die Augen sah.

„Falls ich die Zeichen falsch gedeutet habe, tut es mir …“

 

„Nicht.“ Ein Zeigefinger schob sich über seine Lippen und ließ ihn verstummen.

„Du hast sicher nichts falsch gedeutet.“

 

„Was ist es dann?“

 

Yukke seufzte, schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen seine.

„Du musst dich auf deinen Roman konzentrieren. Die Frist endet in ein paar Tagen. Du kannst es dir nicht leisten, dich ablenken zu lassen.“

 

„Wenn das eine neue Taktik ist, mich zum Schreiben zu bringen, dann Hut ab. Ich bin hoch motiviert.“

 

Yukke hob den Kopf wieder und sah ihm direkt in die Augen. Ein Schmunzeln zupfte an seinen Lippen, das er eindeutig zu unterdrücken suchte, es jedoch mit einem belustigten Schnauben aufgab.

 

„Du bist unmöglich.“

 

„Das sagt man mir öfter nach.“

 

„Auch wenn ich gerne höre, dass du so motiviert bist, war das gerade sicher nicht geplant.“

 

„Wem sagst du das“, murmelte Tatsuro und hatte damit begonnen, mit dem Saum von Yukkes Kragen zu spielen.

 

„Mein Projekt ist in einer sehr kritischen Phase, da darf ich mir keine Fehler erlauben. Ich muss mich auf die Arbeit konzentrieren …“

 

„Und nicht auf mich, mh?“

Trotz der unerwarteten Wendung, die die Situation gerade nahm, konnte Tatsuro nicht anders, als amüsiert zu schnauben. Wenn man Yukke so reden hörte, klang sein Projekt mehr nach einem hochwissenschaftlichen Experiment, von dem das Schicksal der Menschheit abhing, und nicht nach einem Buchhalterjob.

„Ich bin also eine Ablenkung für dich?“, hakte er neckend nach und kassierte sogleich einen Stoß gegen die Schulter.

 

„Du weißt, wie ich das meine.“

 

„Nicht so ganz, aber trotzdem hast du recht.“

 

„Hab ich das?“

 

„Ja, das alles hier …“, er hielt kurz inne und horchte in sich hinein, ob er das, was er im Begriff war zu sagen, auch ehrlich so empfand. Yukkes Blick ruhte unverwandt auf ihm und noch immer waren sie sich so nah, dass er jedes Heben und Senken seines Brustkorbes fühlen konnte. Sie atmeten im Gleichklang und dieser Umstand war es, der ihn in seiner Entscheidung bekräftigte. Er wollte Yukke mit Haut und Haar und mehr, als er jemals einen anderen vor ihm gewollt hatte. Doch gleichzeitig hatte er Angst, etwas zu überstürzen, weil sich diese intime Nähe gerade eigenartig wertvoll und wie nichts anfühlte, das er je zuvor empfunden hatte.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen werde, aber vielleicht geht das alles gerade wirklich etwas schnell.“

Sein Zeigefinger zeichnete die Form von Yukkes Schlüsselbein nach, brachte ihn damit zum Erschauern.

 

„Das ist unfair.“

 

„Ich weiß.“ Tatsuro grinste, bevor er wieder ernst wurde.

„Wir könnten es doch einfach langsamer angehen lassen, oder? Dann laufen wir auch nicht Gefahr, zu sehr abgelenkt zu sein.“

 

„Das …“ Yukke leckte sich über die Lippen. Verdammt, machte er das mit Absicht?

„Ja, das klingt nach einem Plan.“

 

„Schön, dass du das auch so siehst“, krächzte er mit rauer Stimme, weil sein Hals sich mit einem Mal wie ein ausgetrocknetes Flussbett anfühlte.

 

„Wieso?“

 

„Weil ich dann trotzdem noch immer das hier tun kann.“

Keine Sekunde wollte er mehr warten, als er erneut nach Yukkes Lippen haschte, das verschmitzte Lächeln von ihnen küsste.

 

„Tatsue, so war das aber nicht gemeint.“ Himmel, dieser Spitzname machte ihn fertig. Yukke versuchte, ihn auf Abstand zu schieben, aber Tatsuro wollte davon nichts wissen.

 

„Tja, das hättest du dir früher überlegen sollen“, raunte er vielsagend und attackierte Yukkes Hals, als er sich wegdrehte, um ihm keine Chance für einen erneuten Kuss zu bieten.

 

„Nnnh, das ist gemein. Wie soll ich da standhaft bleiben, wenn sich das so gut anfühlt?“

 

„Gar nicht.“

 

„Aber …“

 

„Nur noch ein Kuss, danach zocken wir, einverstanden?“

 

„Und Hazuki?“

 

„Wer?“

 

„Ach, niemand.“

Yukke kicherte leise, bevor er beide Hände an Tatsuros Wangen legte und seinen Blick einfing.

„Ein Kuss.“

 

„Ja, nur einer.“

 

Tatsuro seufzte zufrieden, als Yukke sich vorbeugte und sich ihre Lippen erneut trafen. Es fühlte sich so gut, so richtig an, den anderen zu küssen, wenn da nicht ein klitzekleiner Haken an der Sache wäre. Er fragte sich allen Ernstes, wie er es schaffen sollte, sich zurückzuhalten, wenn dieser Kuss jetzt schon einen Flächenbrand in seinem Körper entfachte. Aber diese Überlegung würde er, wie einige andere auch, auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Viel später, wenn es nach ihm ging. Im Moment war sein Herz zu leicht und er zu glücklich für derart schwerwiegende Gedanken.



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