Zum Inhalt der Seite

Absolute beginners

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Sind wir nicht ein tolles Team?

„Und, wie ist es so?“
 

„Was meinst du?“
 

„Na, das Zusammenleben mit Yukke natürlich.“
 

Tatsuro lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Beine überschlagen und spielte mit dem dünnen Stiel seines Rotweinglases. Die Writer's Lounge war auch heute wieder gut besucht und dennoch hatte er Satochis Frage ohne Probleme verstanden. Sein Freund saß ihm gegenüber an ihrem üblichen Tisch auf der Galerie und sah ihn mit erwartungsvoller Miene an. Tatsuro brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sortieren und eine Antwort zu finden, die der eigenartigen Symbiose gerecht wurde, die Yukke und er in den letzten beiden Wochen geformt hatten.
 

„Es ist … interessant.“
 

„Interessant? Soso.“ Satochis Grinsen war eindeutig nicht jugendfrei, als er sein Bier leerte und vielsagend nach unten zur Bar schaute. Tatsuro folgte seinem Blick und blieb prompt an Yukkes hellblondem Schopf hängen.
 

„Schließ nicht immer von dir auf andere. Ich habe nicht vor, etwas mit meinem Mitbewohner anzufangen. Außerdem stehe ich auf ältere Männer, wie du weißt.“
 

„Ach komm. Du kannst mir nicht weismachen, dass Yukke nicht einige Knöpfe bei dir drückt. Die hübschen großen Augen, sein Lächeln, der Körperbau …“ Satochi wackelte vielsagend mit den Brauen, doch Tatsuro für seinen Teil verdrehte nur die Augen. Er wollte nicht so genau über Yukke nachdenken und vor allem hatte er keinen Bedarf, die Vorzüge des anderen aufgezählt zu bekommen. Als wären ihm diese nicht längst aufgefallen. Genau wie dieses sinnliche Kribbeln, das ihn jedes Mal packte, wenn sie sich bewusst oder unbewusst berührten. Das wurde langsam aber sicher unheimlich. Im Versuch, von sich und seinen Gedanken an Yukke abzulenken, deutete er auf eben jenen Mann eine Etage unter ihnen. Wie kontraproduktiv diese Aktion war, wurde ihm erst mit Verspätung bewusst, aber da war es schon geschehen.
 

„Erklär mir lieber, warum die beiden überhaupt an die Bar gegangen sind, wenn hier mehr als eine Servicekraft herumläuft?“
 

„Na, weil Miya wie immer überaus aufmerksam ist und bemerkt hat, dass ich alleine mit dir reden will.“
 

„Ach, ist das so?“, murmelte Tatsuro etwas abgelenkt vom Treiben an der Bar.

„Für mich sieht es eher danach aus, als hätten die beiden auch etwas zu besprechen.“ Mit steigender Neugierde kniff er die Augen zusammen und versuchte, ein paar Details zu erkennen. Leider war er zu weit entfernt, um Miyas oder Yukkes Lippenbewegungen interpretieren zu können, aber zumindest ihre Körpersprache ließ vermuten, dass sie sich mehr als lebhaft unterhielten.

„Ich frage mich, worüber die zwei reden? Für mich sieht das fast wie ein Streit aus.“
 

„Es geht sicher nur wieder um den Job.“
 

„Denkst du? Passieren in der Buchhaltung derart interessante Dinge, dass man mit so viel Elan und Körpereinsatz darüber reden kann?“ Tatsuro schüttelte den Kopf, als sich Yukke wild gestikulierend einige Schritte von Miya entfernte, nur um sich schwungvoll umzudrehen und beinahe vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herumzufuchteln.

„Wüsste ich nicht, dass du Miya fest am Haken hast, würde ich behaupten, die fechten dort unten eine handfeste Beziehungskrise aus.“
 

„Nee. Miya ist nur immer sehr leidenschaftlich, wenn es um seine Arbeit geht. Aber nun wieder zurück zu dir. Du warst auch schon mal besser darin, vom Thema abzulenken.“ Satochi schenkte ihm ein süffisantes Lächeln, das ihn wie jedes Mal, wenn er es sah, daran erinnerte, dass sein Freund nicht so unschuldig war, wie er andere oft glauben lassen wollte.
 

„Ach? Wovon lenke ich denn deiner Meinung nach ab?“
 

„Davon, mir zu sagen, was du damit genau meintest, das das Zusammenleben mit Yukke interessant ist. Inwiefern interessant?“
 

„Er hat sich in den Kopf gesetzt, mir mit dem Schreiben helfen zu wollen.“
 

„Ehrlich? Und wie kann ich mir das vorstellen?“
 

„Na ja“, druckste Tatsuro herum und trank noch einmal von seinem Rotwein. „Er hat mir erzählt, dass er in Ishioka Trainer der örtlichen Fußballjugend war.“
 

„Ehm, und was hat das nun mit dir zu tun?“
 

„Das hatte ich mich anfangs auch gefragt, aber mittlerweile weiß ich es.“
 

„Ja?“
 

„Er trainiert mich, zumindest fühlt es sich so an.“
 

Satochi blinzelte, bevor ein herzhaftes Lachen aus ihm herausbrach.

„Er tut was?“
 

„Ja, ernsthaft. Er kocht fast jeden Tag für uns, sagt mir, dass ich Pausen machen soll, stellt mir ständig irgendeinen neuen Smoothie unter die Nase, der angeblich meine Hirnleistung steigert…“
 

„Okay, das klingt besser, als ich angenommen hätte. Um genau zu sein, hört sich das fabelhaft an, besonders das mit dem täglichen kochen. Ich glaube, ich muss mich in nächster Zeit öfter mal bei euch einladen.“ Satochi lachte und boxte ihm über den Tisch hinweg gegen die Schulter.

„Ich verstehe ehrlich nicht, warum du so eine Miene ziehst. Yukke scheint dein Leben endlich in geregelte Bahnen zu lenken, das kann nur gut für deine Produktivität sein.“
 

„Warte es ab.“
 

„Okay, jetzt bin ich gespannt.“
 

„Er wirft mich jeden Morgen um neun aus den Federn und scheucht mich abends um elf ins Bett. Aber das Schlimmste ist das morgendliche Joggen.“
 

„Joggen? Du?“ Satochi bekam sich gar nicht mehr ein, so sehr musste er lachen. Tatsuro hingegen schmunzelte nur, bis die nächsten Worte seines Freundes seine Mundwinkel schnurstracks nach unten sinken ließen.
 

„Warum lässt du dich darauf ein, wenn es dir so offensichtlich zuwider ist?“
 

„Das … ich …“ Tatsuros Mund stand für geschlagene fünf Sekunden offen, bevor er sich räusperte, und erneut nach seinem Glas griff.

„Du verstehst das nicht. Ich meine … Seit Yukke eingezogen ist, klappt es endlich wieder mit dem Schreiben. Ich bin zwar nicht der Meinung, dass es diesen ganzen Hokuspokus braucht, den er veranstaltet, aber … nun ja.“
 

„Kann es sein, dass du ihm nichts abschlagen kannst? Daran ist ja nichts Verwerfliches, diese großen Augen würden es mir auch schwer machen.“
 

„Halt die Klappe, Sato, das ist es nicht.“
 

„Ach nein?“ Satochis rechte Braue hob sich skeptisch und mit einem eben solchen Blick begann er ihn zu mustern. „Was ist es dann?“
 

„Ich weiß auch nicht so genau. Irgendwie hab ich Sorge, diese eigenartige Routine zu verändern und damit die Schreibblockade wieder auf den Plan zu rufen.“
 

„Seit wann bist du so abergläubisch?“
 

„Na hör mal. Ich will sehen, was du machen würdest, hättest du fast ein Jahr lang nicht mehr malen können. Glaub mir, ich bin bereit, alles zu tun, um nicht wieder in diese Unproduktivität zu verfallen.“
 

~* Ein paar Tage zuvor *~
 

Tatsuro nieste, schniefte und rupfte ein Taschentuch aus der Box, die schräg hinter seinem Bildschirm auf dem Schreibtisch stand. Lautstark putzte er sich die Nase, entsorgte das gebrauchte Papier im Mülleimer und rieb sich übers Gesicht. Diese Beinahe-Erkältung raubte ihm noch den letzten Nerv. Wenn sie sich wenigstens entscheiden könnte, ob sie vollends ausbrechen wollte oder nicht, wäre ihm schon geholfen. Aber dieses Stadium zwischen sich krank fühlen, aber nicht krank sein, war nervig. Leise seufzend zog er sich den schmalen, schwarzen Gummi vom Handgelenk und band seine langen Haare zu einem unordentlichen Dutt im Nacken zusammen. Ihm war warm. Vielleicht sollte er die Klimaanlage kälter stellen? Nein, dafür hatte er keine Zeit. Seine Knöchel knackten, als er die Finger ineinander verschränkte und mit Druck über den Kopf nach oben streckte. Oh ja, das fühlte sich gleich viel besser an. Noch besser wäre es jedoch, wenn er endlich Ordnung in seine Gedanken bringen könnte. Sein Schreibprogramm zeigte geschlagene zehn Dokumente an, an denen er gleichzeitig arbeitete. Ständig wechselte er von einem Kapitel in das nächste, schrieb hier den Anfang einer Szene oder formulierte an anderer Stelle einen Dialog neu aus, aber wirklich vorankommen tat er nicht. Zwischendurch hatte er eine Kurzgeschichte verfasst, zu der ihm die Ideen so lange auf die Nerven gegangen waren, bis er sie nicht mehr länger ignorieren konnte. In seinem Kopf herrschte ein wahres Gewitter aus Geistesblitzen, als müsste er in Tagen alles an Kreativität nachholen, zu dem ihm in den letzten Monaten der Zugang gefehlt hatte.
 

Tatsuro senkte die Arme wieder, öffnete ein anderes Dokument und begann wie besessen, auf seine Tastatur einzuhacken. Manchmal hatte er das Gefühl, seine Gedanken würden schneller rasen, als er sie mit der bloßen Bewegung seiner Finger bannen konnte. Es war wie ein Rausch, ein Wahn und er hatte noch nicht herausgefunden, ob er diesen Zustand mochte oder nicht.
 

„Hier.“ Yukke stellte ihm einen bräunlich grünen Drink neben die Tastatur. Tatsuros Finger stoppten ihr Tun, während sein Blick von dem Gebräu zu seinem Mitbewohner und wieder zurückglitt.
 

„Und was soll das nun wieder sein?“ Seine Stimme klang ebenso angewidert, wie er sich fühlte, als er den Inhalt des Glases näher musterte. „Du verlangst nicht allen Ernstes von mir, dass ich das trinke?“
 

„Schau nicht so. Da sind nur gute Sachen drin, die gegen deine laufende Nase helfen, vertrau mir.“
 

„Ich hab keine laufende Nase“, nuschelte er und schniefte, weil sich sein verräterisches Riechorgan genau in diesem Moment erneut zu Wort meldete. Okay, er hatte selbst gerade festgestellt, wie sehr ihm diese Pseudo-Erkältung auf den Geist ging, aber das rechtfertigte nicht, dass er sich dieses grüne Zeug zu Gemüte führte.
 

„Versuch einfach einen Schluck. Wenn es dir nicht schmeckt, trinke ich es eben.“

Yukkes große Augen sahen ihn bittend an und obwohl sich Tatsuro das selbst nie eingestehen würde, konnte er diesem Blick nichts entgegensetzen. Sein Mitbewohner schien dies auch schneller bemerkt zu haben, als er selbst, denn seit Tagen brachte er ihn dazu, Dinge zu tun, die er unter anderen Umständen vehement verweigert hätte.
 

Tatsuro seufzte schicksalsergeben und nippte an dem dicken Strohhalm. Im ersten Moment glaubte er, gar nichts zu schmecken und befürchtete schon, dass seine Erkältung doch heftiger ausfiel, als er angenommen hatte, aber dann breitete sich eine erstaunlich angenehme Süße in seinem Mund aus.
 

„Mmmh!“, entkam es ihm, während er Yukke aus erstaunt geweiteten Augen musterte und gleich einen weiteren Schluck trank. „Was ist da drin?“
 

„Eine Banane, Heidelbeeren, etwas Spinat, Ingwer und ein paar Pülverchen, die meine Oma immer verwendet hat, wenn einer von uns krank war. Ich sagte dir doch, dass es dir schmecken wird, und helfen wird es sicher auch.“
 

Auf das Gesicht seines Mitbewohners legte sich ein Lächeln, das Tatsuro nur mit einem Wort beschreiben konnte – glücklich. Ja, Yukke schien ehrlich glücklich darüber zu sein, dass ihm sein Gebräu schmeckte. Himmel, wenn das so weiterging, hatte ihn der andere schneller um den Finger gewickelt, als er stopp sagen konnte. Was sollte das? Das war unfair. Einen langen Moment musterte er sein Gegenüber, bevor er innerlich resignierte und sich äußerlich entspannt in seinem Stuhl zurücklehnte.
 

„Ein Gutes hat meine laufende Nase“, merkte er an, um von dem Wirrwarr in seinem Inneren abzulenken.
 

„Ja, was denn?“ Yukke hatte sich aufs Sofa gesetzt, die Arme über den Kopf gereckt und streckte sich herzhaft gähnend. Bei dieser Bewegung rutschte sein T-Shirt nach oben und gab einen kleinen Streifen gebräunter Haut preis. Tatsuro ertappte sich dabei, dass er die Stelle wie magisch angezogen betrachtete und der Wunsch, mehr sehen zu wollen, schob sich plötzlich in den Vordergrund seiner Gedanken.

„Tatsuro? Ich hab dich was gefragt.“
 

„Ehm, ja … Sag noch mal, bitte. Mir ist gerade eine Idee für den Roman gekommen, ich hab dir nicht zugehört.“
 

„Aha“, machte sein Mitbewohner lang gezogen und ein vieldeutiges Schmunzeln lauerte in seinem Mundwinkel, das Tatsuro geflissentlich ignorierte.

„Du wolltest mir sagen, was gut an deiner aufziehenden Erkältung ist.“
 

„Du hast mich heute nicht zum Joggen nach draußen geschleift.“
 

„Ach komm, verdreh nicht die Tatsachen. Du wolltest doch, dass ich dich mitnehme.“
 

„Ja~. Das war einmal, aber seither wirfst du mich in aller Frühe aus den Federn und jagst mich dann durch den Park.“
 

„Nur, weil ich gemerkt habe, dass es deiner Kreativität guttut, wenn du etwas Frühsport machst.“
 

„Pfff“, schnaubte Tatsuro, weil ihm gerade tatsächlich die Argumente ausgingen, und drehte sich von Yukke weg, um erneut auf sein geöffnetes Dokument zu starren. Tetochi nutzte den Moment, um auf seinen Schoß zu springen und es sich schnurrend dort bequem zu machen.

„Wenigstens du verstehst mich, mein Mädchen.“, säuselte er der Mieze entgegen und begann, sie hinter den Ohren zu kraulen.
 

„Ich versteh dich auch“, murmelte Yukke plötzlich nah hinter ihm und bevor Tatsuro reagieren konnte, spürte er warme Hände, die sich an seinen Nacken legten. Prompt rann ihm eine dicke Gänsehaut über den Rücken, die sich verstärkte, als sein Mitbewohner begann, seine verspannte Muskulatur zu lockern. Finger bohrten sich zielsicher in die Knoten seines Nackens und der Schultern und ließen ihn in einer Mischung aus Schmerz und Genuss aufkeuchen.

„Du musst nur manchmal zu deinem Glück gezwungen werden, das ist alles.“
 

Tatsuro konnte auf diese Worte nicht reagieren. Was weniger an dem Gesagten selbst und vielmehr daran lag, dass er das Gefühl hatte, sein Gehirn würde ihm vor Verzückung aus den Ohren laufen.

„Oh Gott“, entfuhr es ihm, bevor er den Kopf hängen ließ, um Yukke mehr Spielraum zu verschaffen.

„Warum kannst du das so gut?“
 

„Ich hatte dir doch von meinem Trainerposten in Ishioka erzählt. Physiotherapie gehört zu einem gewissen Maße zur Trainerausbildung.“
 

Yukkes Finger glitten über seinen Nacken, den Hals hinauf und hinter seine Ohren. Er hätte nie geglaubt, dass er dort Verspannungen hatte, aber Yukke fand wirklich jede Einzelne. Als er an seinen Ohren vorbei höher glitt und die Fingerkuppen sanft gegen seine Schläfen rieb, konnte er nicht anders, als lang gezogen auszuatmen, die Augen zu schließen und sich nach hinten zu lehnen. Das meiste seines Gewichts trug die Rückenlehne des Stuhls, aber sein Hinterkopf ruhte gegen Yukkes Brust. Er konnte jedes Einatmen des anderen spüren, fast so, als wäre er voll und ganz von ihm umgeben. Tatsuro konnte das Gefühl nicht beschreiben, das sich immer stärker in ihm auszubreiten begann. Da waren Ruhe und Gelassenheit, Struktur und Ordnung, aber auch ein unstetes Flattern irgendwo zwischen seinem Brustbein und seinem Magen. Seine Gedanken, die immer wie ein Wirbelwind durch seinen Geist jagten und sich nur mit größter Mühe einfingen ließen, waren plötzlich gar nicht mehr so wild. Sie glätteten sich, ordneten sich zu Handlungssträngen, die ihm bis eben noch gefehlt hatten. Mit einem Mal wusste er, wie er weiterschreiben konnte, sah die weiteren Abläufe voraus und konnte dabei zusehen, wie sich kleine Löcher in seinem Plot mit sinnvollen Ereignissen schlossen. Es war, als würde Yukkes Gegenwart nicht nur seine Kreativität in einem Maße anregen, die er vorher nicht gekannt hatte, sondern ihm auch dabei helfen, Struktur in das Chaos zu bringen. Tatsuro wusste, wie unsinnig dieser Gedanke war, aber wie sonst sollte er sich das alles hier erklären?
 

„Was hältst du von Curryhühnchen zum Mittagessen?“, drang Yukkes Stimme durch die wohlige Entspannung, die sich über ihn gelegt hatte. Die sanften Finger verschwanden und auch die Präsenz in seinem Rücken. Tatsuro verkniff sich ein sehnsüchtiges seufzen und öffnete mühsam die Augen, um Yukkes blick über seine Schulter hinweg einfangen zu können. Die Frage, warum der andere das alles tat, lag erneut auf seiner Zunge, aber er schluckte sie unausgesprochen herunter. Wenn er ehrlich war, wollte er Yukkes Motive gar nicht kennen, nicht wissen, weshalb ihm die Gegenwart des anderen so guttat und warum sich seine Kreativität so zu ihm hingezogen fühlte. Warum sollte er diese Dinge auch hinterfragen, wenn sie sich im Moment ausschließlich positiv auf sein Schreiben auswirkten?
 

„Bestellst du oder kochst du selbst?“
 

„Was für eine Frage.“ Yukke schenkte ihm ein breites Grinsen und verließ den Raum, ohne eine Antwort abgewartet zu haben. Und warum auch? Tatsuro hatte die letzten Male, als sein Mitbewohner gekocht hatte, keinen Hehl daraus gemacht, wie gut es ihm geschmeckt hatte. Leise schnaubend rieb er sich über die kribbelnde Nase, blickte für einen langen Moment nachdenklich an die Zimmerdecke, bevor er sich wieder seinem Roman widmete.
 

Seine Finger flogen nur so über die Tastatur, die Gedanken erneut fast zu schnell, um sie alle sofort festhalten zu können. Diesmal jedoch konnte er mit Sicherheit sagen, dass er dieses getriebene Gefühl in vollen Zügen genoss. Auf seinen Lippen lag ein kleines Lächeln und in seinem Herzen herrschte ein Friede, den er so von sich nicht kannte. Yukkes Gegenwart war eigenartig und gleichzeitig würde er sie nicht mehr missen wollen.
 

~* Wieder in der Gegenwart *~
 

„Weißt du“, begann Tatsuro und leerte sein Glas in nur einem Zug. Jeder Weinliebhaber hätte bei diesem Anblick empört die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber ihm war es gerade herzlich egal, dass er das teure Getränk eigentlich genießen sollte.
 

„Was denn?“, erkundigte sich sein Freund, als er nicht gleich mit der Sprache herausrückte.
 

„Ich würde Yukke gern etwas Gutes tun. Ohne ihn hätte ich die Fortsetzung meines Romans gemeinsam mit meiner Karriere beerdigen können.“
 

„Solche Worte aus deinem Mund? Ich bin erstaunt.“ Satochi riss übertrieben die Augen auf und blinzelte ihn an.

„Was ist aus deiner Einstellung geworden, dass du deinen Erfolg nur dir selbst zu verdanken hast?“
 

„Daran hat sich nichts geändert. Es ist nur … Ist es wirklich so eigenartig, dass ich glaube, Yukke hätte mich aus meiner Schreibblockade geholt? Ehrlich mal. Es ist besser geworden, als er eingezogen ist, das kann doch kein Zufall sein?“
 

„Vielleicht ist er ja wirklich deine Muse, genau wie Miya die meine ist?“
 

Tatsuros Stirn legte sich in Falten, als er näher über Satochis Behauptung nachzudenken begann. Er hatte das Gerede seines Freundes immer abgetan, schließlich gab es so etwas wie Musen nicht. Die meisten Künstler, die von diesen fleischgewordenen Quellen unerschöpflicher Kreativität sprachen, meinten in Wahrheit nur ihre Bettgefährten, die ihre Fantasie anzuregen vermochten. Genau wie Miya es wohl bei Satochi tat – ein Gedanke, den er sehr schnell wieder verdrängen würde, vielen Dank auch. Doch mit Yukke war das etwas ganz anderes. Er fühlte sich nicht körperlich zu dem anderen hingezogen. Wie er schon Satochi gegenüber angemerkt hatte, stand er auf ältere Männer und außerdem … Als ob ihn seine Gedanken Lügen strafen wollten, schob sich das Bild von Yukkes nach oben gerutschtem T-Shirt vor sein inneres Auge, lockte ihn der kleine Streifen nackte Haut, näher hinzusehen.
 

„…suro, Tatsuro? Hallo, erde an Tatsuro, ist da drin noch jemand anwesend?“ Satochi klopfte mit den Fingerknöcheln gegen seine Stirn, was ihn erschrocken zurückzucken ließ.
 

„He~, was soll das?“
 

„Sorry, aber du warst gedanklich gerade nicht mehr anwesend.“
 

„Ja, ich …“ Tatsuro zuckte abtuend mit den Schultern und hob die Hand, um der Servicekraft, die gerade an ihrem Tisch vorbeigehen wollte, ein Zeichen zu geben.

„Noch ein Glas Lugano, bitte.“
 

„Kommt sofort.“
 

„Also, wo waren wir.“ Satochi lehnte sich in seinem Stuhl zurück und taxierte ihn mit steigendem Interesse. „Du willst Yukke etwas Gutes tun, soso.“
 

„Sag das nicht so, als wäre dass das Ungewöhnlichste, was du je aus meinem Mund gehört hast.“
 

„Es ist auf jeden Fall ganz oben in den Top Ten.“
 

„Haha.“
 

„Was mag er denn so, dein Yukke.“
 

„Er ist nicht mein Yukke und ich hab keine Ahnung.“
 

„Gar keine? Ihr lebt seit vierzehn Tagen unter einem Dach, redet ihr nicht miteinander?“
 

„Doch schon, aber …“
 

„Lass mich raten, du hast mal wieder vergessen, dass es außer dir auch noch andere Menschen gibt?“
 

„Ihr Rotwein, bitte sehr.“
 

„Ah, vielen Dank.“

Tatsuro nahm das Glas Wein entgegen, welches ihm die Servicekraft soeben an den Tisch gebracht hatte, und wendete sich von Satochi ab, ohne näher auf das Gesagte einzugehen. Er wusste, dass sein Verhalten oftmals egozentrische Züge aufwies und er nicht der Fürsorglichste war, das musste ihm niemand sagen. Aber mit einem hatte sein Freund tatsächlich recht, wenn er genauer darüber nachdachte, wollte er mehr über seinen Mitbewohner in Erfahrung bringen. Wie automatisch glitt sein Blick zur Bar, aber er konnte nicht erkennen, wo Yukke und Miya abgeblieben waren. Vermutlich würden sie jeden Moment an ihren Tisch zurückkehren, was ihre private Unterhaltung ohnehin beenden würde.

„So offen wie Yukke im ersten Moment wirkt, ist er gar nicht. Er erzählt eher wenig über sich.“
 

„Hast du schon mal versucht, ihn ein bisschen auszufragen?“
 

„Kommt das nicht komisch rüber?“
 

„Wenn du ihn nicht wie ein Polizist verhörst, sollte ihm das gar nicht großartig auffallen. Schließlich verhältst du dich dann nur wie ein ganz normaler Mensch, der Interesse an seinen Mitmenschen zeigt.“
 

„Ich hab es verstanden, Satochi.“
 

„Ich meine ja nur. Manchmal bist du so sehr mit dir selbst beschäftigt, dass du nichts und niemanden um dich herum wahrnimmst.“
 

„Willst du mir jetzt nur Vorwürfe machen?“
 

„Nein.“ Sein Freund schüttelte den Kopf und sah ihn dann so mitfühlend an, dass Tatsuro sich für einen Moment fragte, ob er irgendetwas verpasst hatte.

„Ich will dir nur helfen. Yukke scheint dir wirklich gutzutun und es wäre eine Schande, wenn du dir selbst im Weg stehst. Lern ihn besser kennen, unternimm was mit ihm, mehr braucht es gar nicht.“

Tatsuro legte den Kopf schief und musterte seinen Freund für einen langen Moment.

„Was schaust du mich so an?“
 

„Ich versuche gerade herauszufinden, ob das konstruktive Vorschläge sind oder ob du mich verkuppeln willst.“
 

„Wer will hier wen verkuppeln?“, mischte sich Miya schmunzelnd in ihre Unterredung ein und hob fragend eine Augenbraue. Der kleinere Mann hatte sich hinter Satochi in sein Blickfeld geschoben und stellte nun ein Tablett mit kleinen Gläsern darauf in der Mitte des Tischs ab, deren Inhalt in einem verdächtigen Quietschblau leuchtete. Keinen Moment später gesellte sich auch Yukke zu ihnen, während Tatsuros Kopf ihn mit einem blitzartigen Stechen an das letzte Mal erinnerte, als er es Miya überlassen hatte, für seinen abendlichen Alkohol zu sorgen. Oje.
 

„Mmmh, ich für meinen Teil brauche nicht verkuppelt zu werden“, säuselte Satochi, hob die Arme und schlang sie Rücklinks um Miyas Nacken.
 

„Das will ich hoffen“, nuschelte dieser, beugte sich vor und küsste Sato ungeniert leidenschaftlich. Tatsuro grinste und schüttelte den Kopf, während Yukke herrlich beschämt wirkte.
 

„Daran wirst du dich gewöhnen müssen.“
 

„Das hab ich befürchtet.“

Sein Mitbewohner schenkte ihm ein schiefes Lächeln und setzte sich neben ihn, den Blick betont von dem Pärchen abgewandt. Zielstrebig nahm er zwei Gläser vom Tablett und hielt ihm eines von ihnen hin.

„Willst du?“
 

Tatsuro schnaubte amüsiert, nickte aber.

„Ja, warum nicht? Ich muss es schließlich ausnutzen, wenn mir mein Trainer Alkohol anbietet.“
 

„Uh, stimmt, dann gibt es natürlich nichts für dich.“
 

„Her damit.“ Lachend zog er das Gläschen aus Yukkes Fingern, stieß mit ihm an und trank den süßen Likör in einem Zug aus. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, aber der Geschmack nach fruchtiger Kokosnuss breitete sich auf angenehme Weise in seinem Mund aus.“
 

„He~, nur ein Schwein trinkt allein!“, meldete sich nicht unerwartet Satochi zu Wort und teilte gleich noch eine Runde aus.
 

„Beschwer dich nicht, du warst schließlich bis eben gut beschäftigt, oder etwa nicht.“
 

„Auch wieder wahr.“
 

Auf Miyas Lippen lag ein selbstzufriedenes Schmunzeln, während in Satos Augen ein verzückter Glanz lag. Hätte ihm jemand vor einem Jahr erzählt, dass der Mann, der zu Uni-Zeiten den Ruf eines Playboys innegehabt hatte, einem Buchhalter mit Haut und Haar verfallen würde, er hätte herzhaft gelacht. Tja, so änderten sich die Zeiten.
 

„Also, Yukke, dann erzähl doch mal …“ Schwungvoll drehte sich Tatsuro zu seinem Sitznachbarn und fing seinen etwas überrumpelten Blick ein. „Was magst du gerne.“
 

„Ehm … ich … wie meinst du das?“
 

„Na, Essen. Was isst du gerne? Hast du ein Lieblingsgericht? Erzähl mal etwas über dich.“
 

„Oh Mann“, flüsterte Satochi nah an Miyas Ohr und verdrehte die Augen. „Ich sagte ihm gerade noch, er soll Yukke nicht verhören. Der Kerl ist wirklich beratungsresistent.“
 

„Keine Sorge, Yukke macht das schon.“
 

„Glaubst du? Er sieht gerade nicht so aus, als würde er sich wohlfühlen, wenn Tatsuro ihn mit seiner ungeteilten Aufmerksamkeit überschüttet.“
 

„Tja, auch das muss er lernen.“
 

„Apropos lernen, war das der Grund, weshalb Yukke mit dir sprechen wollte?“

Miya nickte und trank einen Schluck seines Bieres.

„Von hier aus sah euer Gespräch recht energisch aus. Habt ihr euch in die Haare bekommen?“

Der kleinere Mann schüttelte den Kopf, seinen intensiven Blick auf Yukke und Tatsuro gerichtet, die jedoch so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie nichts um sich herum zu bemerken schienen. Sato folgte seinem Blick, schmunzelte, als sich Yukke mit geröteten Wangen durch die Haare fuhr, während Tatsuro triumphierend kicherte. Schade, dass er nicht mitbekommen hatte, worüber die zwei gerade gesprochen hatten.
 

„Ich bin der Meinung, dass sich Yukke sein aktuelles Projekt etwas zu einfach vorstellt.“
 

„Einfach? Oje, einfach ist daran wirklich nichts.“
 

„Meine Rede. Ich habe versucht, ihm ein paar Tipps zu geben, aber er stellt sich stur und will es auf seine Weise versuchen.“
 

„Ah, ich kann mir schon vorstellen, zu welchen Methoden du ihm geraten hast.“ Satochi grinste und zwinkerte seinem Liebhaber keck zu.
 

Auch auf Miyas Lippen legte sich ein schiefes Schmunzeln, das es jedes Mal aufs Neue schaffte, einen Schwarm Schmetterlinge durch Satochis Magen zu jagen.
 

„Er wird schon noch einsehen, dass er es sich nur unnötig schwer macht.“
 

„Ach, ich denke, er ist auf einem recht guten Weg.“
 

„Wer ist auf einem guten Weg?“, erkundigte sich Tatsuro, dem durchaus aufgefallen war, wie angeregt sich seine beiden Freunde unterhalten hatten. Etwas, das seine notorische Neugierde nicht unkommentiert lassen konnte.
 

„Na, ihr zwei.“ Satos grinsen war so breit, dass es einmal um seinen Kopf herumgereicht hätte, wären seine Ohren nicht im Weg.
 

„Sind wir?“ Tatsuro blickte von seinem Freund zu Yukke und wieder zurück. „Auf dem Weg wohin?“
 

„Euch besser kennenzulernen, oder etwa nicht?“ Sato wackelte mit den Augenbrauen und klatschte gleichzeitig in die Hände.

„Hab ich dir eigentlich schon von dem Tag erzählt, als Tatsuro dachte, es wäre eine gute Idee, unserem Philosophieprofessor einen Streich zu spielen?“
 

„Nein, hast du nicht, aber ich bin ganz Ohr.“ Yukke beugte sich interessiert etwas über den Tisch, während sich Tatsuro nur grinsend in seinem Stuhl zurücklehnte. Das konnte ja noch ein heiterer Abend werden.
 

„Also, das war so …“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück