Zum Inhalt der Seite

Absolute beginners

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Noch mal Glück gehabt

Drei Uhr morgens. Tatsuro lehnte sich in seinem Stuhl zurück und presste Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel. Der Druck half ein wenig gegen seine Kopfschmerzen, aber seine Augen fühlten sich nach wie vor an, als würde mit jedem Blinzeln Sandpapier über seine Bindehaut kratzen. Ihm blieben noch ungefähr sechs Stunden, bis er im Verlag sein musste, denn irgendetwas sagte ihm, dass es nicht genügen würde, Gara den Prolog und das erste Kapitel nur per Mail zu schicken. Aber das war nicht einmal das Problem und auch nicht der Grund, weshalb er seit gestern früh vor dem Computer saß, kaum etwas gegessen und nur Kaffee getrunken hatte, um sich wach zu halten. Gäbe es Tetochi nicht, die versorgt werden musste, hätte er sich vermutlich kein Stück weit von seinem offenen Dokument wegbewegt.

 

Er war in den letzten paar Tagen produktiver gewesen, als in all den Monaten zuvor. Unter normalen Umständen wäre dies ein Grund zu feiern und nicht, in wilde Panik auszubrechen. Dumm nur, dass er seinem Verleger versprochen hatte, ihm den Einstieg in die Story zu liefern, sein Gehirn sich aber nicht davon überzeugen ließ, linear zu arbeiten. Das Ende war ausformuliert, eine seiner Angewohnheiten, um von Anfang an den richtigen Tonfall für seine Geschichten zu finden. Sogar ein paar Kapitel hatte er fast fertig geschrieben, ob er sie am Ende alle für den Roman verwenden würde, für einen weiteren Teil aufbereiten oder komplett verwerfen, wusste er noch nicht. Aber die Szenen hatten geschrieben werden wollen und dagegen konnte und wollte er sich nicht wehren. Verdammt, er war heilfroh, überhaupt wieder schreiben zu können. Er hatte den kompletten Plot für den Roman skizziert und wusste endlich genau, wohin er damit wollte. Er hatte so viel geschafft, aber helfen tat es ihm nicht wirklich.

 

Das erste Kapitel hatte er zwar fertig bekommen und er war sogar recht zufrieden damit, aber den tatsächlichen Einstieg in seine Geschichte fand er nicht. Seit einer geschlagenen Stunde versuchte er, sich dazu zu zwingen, nun auch den Prolog zu schreiben, aber sein Kopf blockierte. Für Szenen, die viel später relevant waren, flogen zahlreiche Ideen in seinen Gedanken herum, aber unter ihnen war nichts, was er gerade gebrauchen konnte.

 

Mit einem erschöpften Ächzen erhob er sich und streckte seinen krummen Rücken durch. Sein Nacken fühlte sich bretthart an und zu allem Überfluss meldete sich sein rechtes Handgelenk mit unangenehmem Ziehen zu Wort. Als wüsste er nicht selbst, dass er es in den letzten Tagen mit dem ständigen Sitzen und In-den-Computer-starren übertrieben hatte, auch ohne, dass ihm sein Körper jede Schmerzstelle einzeln aufzählte. Wie ein alter Mann schlurfte er ins Bad, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht, das hoffentlich seine Lebensgeister und seine grauen Zellen aufwecken würde, und begann, im Medizinschrank nach dem Tape zu suchen. Wo hatte er das letztens noch gleich hin geräumt?

 

Er hatte gerade mal eine Packung Magentabletten und die Verbandsschere beiseitegeschoben, als der gesamte Inhalt des untersten Fachs beschloss, mit lautem Scheppern aus dem Schränkchen zu fallen. Tatsuro seufzte abgrundtief und starrte die Misere am Boden unbewegt an. Er war zu müde, um das vorherrschende Chaos verarbeiten oder begreifen zu können, dass er sich nur bücken musste, um die Sachen wieder aufzuheben. Er fühlte sich, als liefe sein Gehirn nur noch mit halber Leistung. So war es auch nicht verwunderlich, dass er nicht hörte, wie die Tür am Ende des Flures aufgemacht wurde. Yukkes Tür. Erst ein leises Klopfen riss ihn aus seiner Erstarrung.

 

„Ist alles in Ordnung? Darf ich reinkommen?“

Sein Mitbewohner stand in der offenen Tür, die Knöchel der rechten Hand berührten noch den Türrahmen, gegen den er geklopft haben musste.

 

„Geh wieder ins Bett, es ist erst kurz nach drei. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“

 

„Das kann passieren, lass mich dir helfen, okay?“

Tatsuro atmete lang gezogen aus, nickte aber schließlich und hockte sich auf den Wannenrand, um nicht wie ein unnützes Hindernis im Raum herumzustehen.

„Wonach hast du gesucht?“

 

„Nach dem Tape.“

 

„Dieses hier?“ Yukke hielt eine Rolle mit genau der blauen Haftbandage hoch, die er gesucht hatte. Wieder nickte er und streckte seine nicht schmerzende Hand auffordernd danach aus. Statt seiner stummen Bitte jedoch nachzukommen, räumte Yukke erst die letzten Dinge zurück in den Arzneischrank, bevor er sich vor ihn auf den Boden kniete.

 

„Was wird das?“

 

„Es ist dein Handgelenk, oder? Wofür du das Tape brauchst, meine ich. Welches ist es?“

 

„Das Rechte, aber ich kann …“

 

„Pscht“, zischte Yukke und schüttelte abwiegelnd den Kopf, bevor er ihn aus erstaunlich wachen und überraschend strengen Augen musterte.

„Lass mich einfach machen, ja?“

 

„O… okay.“

 

Vermutlich war seine Müdigkeit schuld daran, dass er sich nicht dagegen sträubte, als Yukke umsichtig seine Hand umfasste und damit begann, das Gelenk mit dem Tape zu umwickeln. Er mochte es nicht, von anderen abhängig zu sein, das hatte selbst Satochi schon zu spüren bekommen und den kannte er immerhin seit über acht Jahren. Wenn er es genau betrachtete, war Yukke noch immer ein Fremder, mit dem er erst seit einer Handvoll Tagen unter einem Dach lebte. Trotzdem verspürte er gerade keinerlei Wunsch, dieser Situation zu entfliehen. Im Gegenteil, der stärker werdende Druck um sein Handgelenk schwächte das schmerzhafte Ziehen auf ein erträgliches Maß ab und seine Lider begannen immer schwerer zu werden. Er würde hier gleich einschlafen, das spürte er.

 

„Fertig. Komm, ich mach dir einen Tee.“

 

„Ich brauch Koffein, muss wachbleiben“, nuschelte er und ließ sich von Yukke aus dem Bad schieben, als wäre er betrunken. Um ehrlich zu sein, fühlte er sich gerade auch ein bisschen so.

 

„Dann bekommst du eine Tasse grünen Tee, aber keinen Kaffee, der ätzt dir noch die Magenwände durch.“

 

„Ich dachte, du bist Buchhalter und keine Krankenschwester.“

 

„Nenn es mein verborgenes Talent oder einfach gesunden Menschenverstand, wie du möchtest.“

 

Gähnend ließ Tatsuro sich auf einen der drei Barhocker sinken, die immer vor der Kücheninsel standen, jedoch so gut wie nie genutzt wurden. Jetzt kamen sie ihm ganz gelegen, denn auf einem normalhohen Stuhl wäre er mit Sicherheit direkt eingeschlafen. Aber auch so fiel es ihm schwer, sich aufrechtzuhalten und so stützte er sein Gesicht in die linke Handfläche und den Ellenbogen auf der Holzplatte ab. Yukke indes tat, was er angekündigt hatte und kaum fünf Minuten später stand eine dampfende Tasse unter Tatsuros Nase.

 

„Warum gehst du eigentlich nicht endlich ins Bett? Du schreibst schon seit gestern früh durch. Langsam müsstest du doch fertig sein.“

 

„Hätte ich das schreiben können, was ich brauche und nicht das, was mein Hirn für richtig hält, wäre dem auch so. Aber ich habe erst das erste Kapitel fertig, der Prolog fehlt noch komplett.“

 

„Und jetzt?“

 

„Jetzt gehe ich rüber, setze mich wieder vor den Computer und hoffe auf ein Wunder.“

 

„Aha. Und du glaubst, damit Erfolg zu haben?“

 

Tatsuro lachte, ein kleiner, leicht irre angehauchter Laut, der in seiner Kehle brannte. Gierig trank er einen großen Schluck, verbrannte sich die Zunge dabei, aber das war nun auch egal.

 

„Nein, das sind nur noch die letzten Zuckungen eines Todgeweihten. Editieren muss ich das Ganze nämlich auch noch, das schaffe ich nie bis in …“ Er hob den Kopf und starrte die Küchenuhr an, die ihm schräg gegenüber an der Wand hing. Zwanzig Minuten nach drei stand dort und machte ihm schlagartig begreiflich, dass ihm die Zeit sprichwörtlich durch die Finger rann. „Ich hab nicht einmal mehr fünf Stunden, bis ich mich auf den Weg in den Verlag machen muss.“

 

„Okay.“ Yukke klatschte in die Hände, was Tatsuro erschrocken zusammenfahren ließ.

 

„Spinnst du?“

 

„Nein, aber ich sorge dafür, dass du ein kleines Wunder vollbringst.“

 

„Doch, du spinnst, eindeutig“, beantwortete Tatsuro seine eigene Frage und rieb sich über die Stirn.

 

„Genug gequatscht, park deinen Hintern vor den Computer und druck mir das erste Kapitel aus.“

 

„Und warum?“

 

„Damit ich es lesen kann.“ Die Fragen mussten Tatsuro quer übers Gesicht geschrieben stehen, denn Yukke schnaubte nur und schob ihn auffordernd vom Hocker.

„Ich hab ein gutes Auge für Rechtschreibfehler und sollte irgendwas unlogisch sein, kann ich das anmerken. Oder besser noch, schick mir die Datei. Ich hole nur schnell meinen Laptop. Magst du Schokolade oder Gummibärchen?“

 

„Eh, was?“

 

„Du brauchst Zucker für deine grauen Zellen, also was jetzt? Schokolade oder Gummibärchen.“

 

„Schokolade.“

 

„Kommt sofort.“

 

Tatsuro fühlte sich wie in einem Comic. Es fehlte nur noch, dass Yukke einen Kondensstreifen hinter sich herzog, so schnell war er aus der Küche verschwunden. Deutlich langsamer verließ er den Raum und setzte sich vor den Computer. Er hatte Yukkes E-Mail-Adresse noch gespeichert, weil er ihm den Vertrag zur Untermiete erst vor zwei Tagen geschickt hatte. Warum er sich auf diese Schnapsidee einließ, verstand er, um ehrlich zu sein, nicht wirklich, aber die Mail sendete er trotzdem. Vermutlich hatte er den Punkt erreicht, an dem er nach jedem Strohhalm griff, sei er auch noch so dünn.

 

„So, da bin ich wieder“, trällerte sein Mitbewohner, wenn man ihn fragte, viel zu wach und gut gelaunt. „Hier.“

 

Eine große Tafel Schokolade wurde ihm neben die Tastatur gelegt. Sie war bereits geöffnet und ein Stück fehlte, dafür kaute Yukke munter vor sich hin. Aha, so war das also. Ein kleines Schmunzeln zupfte an Tatsuros Mundwinkel, bevor er die Frage stellte, die ihm unter den Nägeln brannte.

 

„Warum machst du das?“

 

„Na hör mal, ich hab mich gerade erst häuslich eingerichtet, ich riskiere doch nicht, das jetzt zu verlieren. So tolle Zimmer zu dem Preis finde ich nie wieder.“

 

Tatsuro verkniff es sich, Yukke darauf hinzuweisen, dass er überhaupt erst hier hatte einziehen können, weil er befürchtete, seinen Job zu verlieren und sich die Wohnung nicht mehr leisten zu können. Die Gefahr war zu hoch, dass es sich sein Mitbewohner in dem Fall noch einmal genau überlegte, ob er ihm wirklich helfen wollte. Denn, ob es ihm nun gefiel oder nicht, er brauchte wirklich jede Hilfe, die er kriegen konnte.

 

„In Ordnung, du solltest das Kapitel schon in deinem Postfach haben.“

 

„Sehr gut.“

Yukkes Finger legten sich für einen Moment auf seinen Handrücken, der nicht mit Tape umwickelt war.

„Du schaffst das. Der Plot ist in deinem Kopf und die Story will geschrieben werden.“

 

Ihre Blicke verhakten sich ineinander und für einen irrwitzigen Moment überkam ihn das Gefühl, haltlos in die braunen Tiefen zu stürzen. Der andere trat einen Schritt zurück, löste den Kontakt ihrer Hände und wandte den Blick ab. Tatsuro blinzelte und schüttelte sacht den Kopf. Was war das gerade gewesen?

 

Diese und andere Fragen schwirrten in seinen Gedanken herum, doch keine schaffte es auf seine Zunge. So brach er ein Stück Schokolade ab, zerkaute es und schluckte es gemeinsam mit allem, was er gerade nicht verstand, herunter. Die Süße weckte einen Teil seiner Lebensgeister und als er sich seinem Dokument zuwandte, hatte er tatsächlich eine erste, vage Idee, wie er den Einstieg in den Roman formulieren wollte.

 

~*~

 

Yukke hatte darauf bestanden, ihn zu fahren. Um die Öffentlichen zu nehmen oder ein Taxi zu rufen, war Tatsuro viel zu spät dran und um selbst das Auto sicher durch den Straßenverkehr zu lotsen, war er zu übermüdet. Es missfiel ihm zwar, jemand anderen hinter das Steuer seines Flitzers zu lassen, aber schlussendlich war ihm nichts anderes übrig geblieben. Er hatte bis zur letzten Minute an dem Prolog gefeilt und die wenigen Anmerkungen eingearbeitet, die Yukke nach dem Durchlesen für ihn gehabt hatte. Er hatte es tatsächlich geschafft! In seinem Schoß lag ein brauner Umschlag, darin der ausgedruckte Prolog und das erste Kapitel sowie ein USB-Stick mit den Dateien.

 

Es war fünf nach neun, teilte ihm seine Armbanduhr nach einem schnellen Blick auf das Ziffernblatt mit, als Yukke in die Tiefgarage unter dem Verlagsgebäude einbog.

 

„Ich warte hier.“

 

„Musst du nicht zur Arbeit?“

 

„Nein, ich hab meinen Laptop mitgenommen.“ Yukke drehte sich im Sitz um und beugte sich nach hinten, um seine Laptoptasche vom Rücksitz zu nehmen.

„Ich hab einige Fälle offline gespeichert, an denen ich arbeiten kann, bis du zurück bist.“

 

„In Ordnung.“

 

„Setz am besten die hier auf.“ Yukke nahm die Sonnenbrille, die Tatsuro in weiser Voraussicht immer am Rückspiegel hängen hatte, und drückte sie ihm in die Hand.

„Du willst sicher nicht, dass dein Verleger deine knallroten Augen oder die Augenringe sieht, oder?“

 

„Gute Idee.“ Tatsuro grinste wie ein Mann, der wusste, dass seine Chancen, seinen Ausflug in die Höhle des Löwen unverletzt zu überstehen, recht überschaubar waren.

„Okay dann …“

 

Bevor er sich die Sonnenbrille aufsetzen und aus dem Wagen steigen konnte, wie es sein eben gefasster Plan gewesen war, spürte er plötzlich Yukkes Hände an seinen Wangen. Der andere tätschelte seine Haut leicht und grinste ihn dabei so spitzbübisch an, dass er spüren konnte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.

 

„Ah, schon viel besser“, stellte sein lebensmüder Mitbewohner fest, nachdem er wieder von ihm abgelassen hatte. „Jetzt hast du wenigstens etwas Farbe im Gesicht.“

 

„Du spielst mit deiner Gesundheit“, knurrte Tatsuro, die Sonnenbrille auf der Nase und einen Fuß bereits aus der Beifahrertür gestreckt.

 

„Na, dann sind wir ja schon zu zweit. Bis später und viel Glück.“

 

„Danke, das kann ich brauchen“, nuschelte er und verkniff sich ein Seufzen, bis er die Wagentür hinter sich geschlossen hatte. Ein eigenartiges Summen vibrierte durch seine Gliedmaßen und irgendetwas sagte ihm, dass das nichts mit seinem Koffeinkonsum der letzten Stunden zu tun hatte. Was hatte sich Yukke dabei gedacht, ihn so zu überfallen? Er versuchte, empört zu sein, aber das einzige Gefühl, das sich einstellen wollte, war ehrliche Dankbarkeit für seine selbstlose Hilfe. Nicht, dass er Yukke das ins Gesicht sagen würde, dafür kannte er den anderen beim besten Willen weder lange noch gut genug, aber in der Stille seiner Gedanken konnte er sich das eingestehen.

 

Was er sich noch eingestehen konnte, war die Dankbarkeit für den Aufzug, der ihn hoch ins Verlagshaus brachte. Allein bei dem Gedanken daran, die sieben Stockwerke zu Fuß zurücklegen zu müssen, wurden ihm seine Knie noch weicher als ohnehin. Als die Türen sich öffneten, straffte Tatsuro die Schultern und rückte die Sonnenbrille zurecht. Er versuchte, die Aura eines exzentrischen Schriftstellers um sich zu legen und nicht auszusehen, wie der ausgebrannte Möchtegernschreiber, als der er sich fühlte.

 

„Guten Morgen Midori-san“, grüßte er die Mittfünfzigerin hinter dem Empfangstresen. „Ist Gara in seinem Büro?“

 

„Ah, guten Morgen, Tatsuro-san. Schön, dass Sie da sind. Gara-san wartet schon seit einer halben Stunde auf Sie. Gehen Sie doch bitte gleich rein zu ihm.“ Sie schenkte ihm ein mütterliches Lächeln und in ihren Augen glaubte er, so etwas wie Mitleid zu erkennen. Oje, sein Verleger schien schlechte Laune zu haben, wenn er die Vorzeichen richtig deutete.

 

„Der Verkehr, Sie wissen ja, wie das ist.“ Nonchalant zuckte er mit den Schultern, als könnte er überhaupt nichts dafür, zu spät eingetroffen zu sein. Und ganz ehrlich? Gara und er hatten keine Uhrzeit vereinbart, woher sollte er also wissen, dass der Verleger ausgerechnet heute mit seiner Routine brach, und schon vor neun im Büro aufschlug?

 

„Tatsuro!“, schallte es ihm entgegen, kaum hatte er die Bürotür geöffnet. „Komm schon rein, die Sitzung beginnt in zwanzig Minuten.“

 

Ah, das erklärte wenigstens, weshalb Gara so früh hier war und vermutlich auch einen Teil seiner miesen Laune.

 

„Dir auch einen schönen guten Morgen“, trällerte er mit süßlicher Freundlichkeit in der Stimme und energiegeladener, als er sich fühlte. Wenn er ehrlich war, hätte er an Ort und Stelle umfallen und einschlafen können, Gara hin oder her. Stattdessen ging er auf den Schreibtisch aus modernen Glas- und Stahlelementen zu und warf den Umschlag schwungvoll auf die Papierstapel, die die Tischoberfläche bedeckten. Die schmale Braue des Verlegers hob sich kaum merklich und für zwei Herzschläge lang taxierte er ihn, als könnte er direkt durch seine Fassade blicken. Dann jedoch griff er nach dem Umschlag, öffnete ihn und zog die Ausdrucke heraus.

 

Tatsuro biss sich auf die Innenseite seiner Unterlippe, um das erleichterte Aufseufzen zu unterdrücken, und ließ sich nonchalant in den Besucherstuhl fallen. Mit überschlagenen Beinen und seine zittrigen Finger im Schoß gefaltet, begann er sich mit gespieltem Interesse im Raum umzusehen. Garas Büro war ein unpersönlicher Ort, hauptsächlich in Weiß gehalten. Nur der dunkelblaue Teppichboden und der Benjamin, der hinter dem Schreibtisch stand und ein Drittel der Fensterfront mit seinen kleinen grünen Blättern verdeckte, sorgten für etwas Farbe. Seit seinem letzten Besuch schienen sich die Papierstapel noch höher zu türmen und die zahllosen Mappen und Ordner noch unordentlicher herumzuliegen. Dass der Verleger in diesem Chaos überhaupt noch irgendetwas fand, musste reiner Zufall sein. Tatsuro setzte alles daran, ruhig und gelassen zu wirken, aber mit jeder verstreichenden Minute, die Gara durch seinen Ausdruck blätterte, schwoll die nervöse Unruhe in seinem Inneren zu einem kaum noch zu ertragenden Maß an.

 

„Na, was hältst du davon?“, fragte er schlussendlich, als er das Warten nicht mehr aushielt.

 

„Warte, ich bin noch nicht fertig.“

Meine Güte. Tatsuro rollte verborgen hinter den dunklen Gläsern seiner Sonnenbrille mit den Augen. Dafür, dass es Gara eben noch so eilig hatte, ließ er sich nun verdammt viel Zeit. Reichte es nicht, das Geschriebene zu überfliegen, um einen ersten Eindruck davon zu bekommen?

„Mh.“ Gara brummte, raffte die Blätter zusammen und legte den Stapel zu seinen Brüdern und Schwestern auf die Seite.

„Damit sollten wir was anfangen können.“ Plötzlich schlich sich ein breites Lächeln auf das magere Gesicht und ein kurzes Auflachen erhellte die bis eben grimmigen Züge.

„Ich muss zugeben, Tatsuro, zwischenzeitlich habe ich mich ernsthaft gefragt, ob ich einen Fehler gemacht habe, als ich dich unter Vertrag genommen habe. Du machst es einem wirklich nicht leicht.“ Gara fuhr sich durch seine schulterlangen, brünetten Haare und erhob sich. Langsam kam er um den Schreibtisch herum und legte seine schmale Hand auf Tatsuros Schulter. Die intelligenten Augen ruhten auf ihm, bis der Verleger sich selbst zunickte, als wäre er zu einer Entscheidung gekommen. Tatsuro wagte es kaum, zu atmen, zu groß war seine Sorge, der andere würde doch noch hinter seine selbstsichere Fassade blicken. Doch nichts geschah und einen Herzschlag später ließ der kleinere Mann wieder von ihm ab und deutete mit einer knappen Handbewegung an, dass Tatsuro nun aufzustehen und zu gehen hatte.

„Wenn du mir bis in sechs Wochen das Manuskript lieferst, ist aber alles Vergeben und Vergessen, mein junge.“

 

 

„Sechs Wochen?“ Überrumpelt holte er Luft, stand auf und ließ sich von Gara zur Tür schieben. „Das ist ziemlich sportlich, findest du nicht auch? Ich habe gerade erst meine Schreibblockade überwunden …“

 

„Du machst das schon. Und nun zurück an die Arbeit, ich habe einen Vorstand von dir zu überzeugen.“ Sein Verleger schenkte ihm ein wahrliches Haifischlächeln und bugsierte ihn aus der Tür. „Lass dir von Midori die Termine für die Promos geben, ja? Ich erwarte, dich auf jeder einzelnen Veranstaltung zu sehen.“

 

„Aber, Gara …“

Mit einem dumpfen Knall fiel die Tür direkt vor seiner Nase ins Schloss, sodass er nichts weiter tun konnte, als das dunkle Holz besiegt anzustarren. Gerade so unterdrückte er den Drang, seinen Kopf dagegen zu schlagen, drehte sich stattdessen zum Empfang um und schenkte Midori das schönste Lächeln, zu dem er fähig war.

„Gara sagte, Sie hätten Termine für mich?“

 

~*~

 

Tatsuro öffnete die Wagentür, sank mit einem abgrundtiefen Seufzen in den weichen Ledersitz und schloss die Augen.

 

„Oje, ist es so schlecht gelaufen?“

 

„Ja und nein.“

 

Er hörte, wie Yukke seinen Laptop schloss, ihn verstaute und wieder auf den Rücksitz legte. Keinen Moment später erwachte der Motor zum Leben und die leise Musik aus dem Autoradio begann augenblicklich, ihn einzulullen.

 

„Und was genau soll das nun heißen?“, hakte sein Mitbewohner nach, als Tatsuro auch nach einigen Minuten nicht mit der Sprache herausgerückt war. Er spürte die Kurven, die Yukke fahren musste, um aus der verwinkelten Tiefgarage nach oben zu kommen, registrierte den Halt an der Schranke und die Beschleunigung, als sie sich in den fließenden Verkehr einordneten. Auf eine eigenartige Art und Weise war es beruhigend, dass er gerade nicht beeinflussen konnte, wohin Yukke ihn brachte oder wie er das Auto durch die Straßen der Stadt lenkte. Denn genauso wenig konnte er jetzt noch kontrollieren, wie die nächsten sechs Wochen seines Lebens aussehen würden.

„Tatsuro? Bist du eingeschlafen?“

 

„Noch nicht ganz, aber fast.“ Er zog sich die Sonnenbrille von der Nase, blinzelte gegen die Helligkeit an und hängte sie zurück an den Rückspiegel.

„Gara war zufrieden und trotzdem verlangt er, dass ich ihm den ersten Entwurf in sechs Wochen vorlege.“

Yukke pfiff durch die Zähne, sagte aber vorerst nichts auf diese Information.

„Das eigentliche Problem sind aber die Promos, auf die er mich schicken will. Bei so vielen Terminen frage ich mich, wie ich die Zeit zum Schreiben finden soll.“

 

Yukke riskierte einen schnellen Seitenblick in seine Richtung und schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln.

„Du schaffst das. Schlaf dich erst einmal richtig aus, dann sieht das alles sicher nicht mehr so überwältigend aus.“

 

„Du redest dir echt leicht.“

 

„Stimmt, ich habe keine Ahnung, welchen Druck die Termine und die Deadline in dir aufbauen, aber eines weiß ich ganz sicher.“

 

„Und das wäre?“

 

„Dass ich dir helfen werde. Wir sind doch ein prima Team!“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück