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Absolute beginners

von

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Mein Name ist Yukke

Am nächsten Morgen erwachte Tatsuro mit rasenden Kopfschmerzen und einem flauen Magen. Oh Gott, er hätte nicht so viel trinken sollen, das stand fest, aber natürlich kam diese Erkenntnis wie immer viel zu spät. Ein gepeinigtes Stöhnen entkam ihm, als er sich mehr schlecht als recht aus dem Bett ins Bad schleppte. Waren es die paar Stunden des Vergessens wert gewesen, sich so abzuschießen? Im Lichte des Tages betrachtet eher nicht. Aber viel wichtiger war die Frage, wie er letzte Nacht überhaupt nach Hause gekommen war. Irgendetwas sagte ihm, dass Miya etwas bei ihm gut hatte, denn dass Satochi, sein getreuer Saufkumpane, für diese Aufgabe gestern ebenfalls zu tief ins Glas geschaut hatte, war so sicher wie ihm speiübel war. Nach einer halben Ewigkeit, die er vor der Toilettenschüssel kniend zugebracht hatte, waren sein Magen und der Kreislauf soweit wieder zufriedengestellt, dass er sich erheben und zum Waschbecken schlurfen konnte.

 

„Mann, siehst du scheiße aus“, nuschelte er seinem Spiegelbild entgegen und rückte dem abartigen Geschmack auf seiner Zunge mit einer Wagenladung Zahnpasta zu Leibe. Mit Schaum vor dem Mund und der Zahnbürste zwischen den Zähnen kam das Klingeln an der Tür zum merklich schlechtesten Zeitpunkt. Tatsuro stöhnte leidend, als der schrille Ton seine Kopfschmerzen, die gerade erst Anstalten gemacht hatten, nicht mehr unerträglich zu sein, von Neuem anfachte. Wer auch immer vor seiner Tür stand, sollte wieder verschwinden. Er hatte nichts bestellt und selbst wenn, konnte der Paketbote seine Lieferung auch einfach abstellen. Doch sein geistiges Memo erreichte den unbekannten Besucher nicht, denn binnen der nächsten fünf Minuten läutete es weitere acht Mal. Acht Mal! Unter normalen Umständen schätzte Tatsuro zielstrebige Menschen, aber nicht, wenn sein Kopf kurz vorm Platzen stand und er nichts weiter als seine Ruhe wollte.

 

Mit nicht mehr am Leib als einer schwarzen Shorts und einem ebenso schwarzen Morgenmantel, den er sich zwar übergezogen aber nicht zugebunden hatte, stapfte er halb blind zur Tür. Verflucht, er hätte gestern die Jalousien schließen sollen, dann würde ihm die verdammte Sonne nun nicht seine Netzhaut frittieren.

 

„Was?“, keifte er unfreundlich und ohne jeden Versuch, zu verbergen, wie genervt er von der morgendlichen Störung war.

 

„Hey!“, trällerte ihm eine viel zu gut gelaunte Stimme entgegen, die ganz offensichtlich nicht zu einem Paketboten gehörte. Außer Paketboten trugen seit Neuestem hellblond gebleichte Haare, die aussahen, als hätte der Friseur für den Schnitt einen Topf als Schablone benutzt. Und was waren das bitte für Klamotten? Hatte sein Gegenüber einen Flohmarkt für Neunziger-Jahre-Retromode überfallen? Tatsuro hätte schwören können, dass die blaue Baggy-Jeans und das hellgraue T-Shirt mit dem grünen New-York-Aufdruck, welche seinem Träger mindestens drei Nummern zu groß waren, genau dem Outfit eines virtuellen Skater glich, den er vor Ewigkeiten in einem der Tony Hawks Spiele für die Playstation eins gesehen hatte. Es fehlten nur noch das verkehrt herum aufgesetzte Cap auf dem Topfkopf und das Skateboard unter dem Arm und die Zeitreise wäre perfekt.

„Ehm … Hallo?“ Skater-Boy wedelte vor seinem Gesicht herum, was ihn daran erinnerte, dass er noch immer wie ein Idiot in seiner halb geöffneten Tür stand und den Fremden wie eine Erscheinung anstarrte.

 

„Falsche Wohnung“, brummte er und war im Begriff, die Tür wieder zuzumachen. Der Typ musste sich im Stockwerk geirrt haben.

 

„Moment mal.“ Eine Hand schoss vor und verhinderte mit erstaunlicher Kraft, dass Tatsuro sein Vorhaben auch in die Tat umsetzen konnte.

„Miya meinte, du würdest einen Mitbewohner suchen?“ Skater-Boy schien selbst nicht zu wissen, ob er diese Aussage als Frage formulieren wollte oder nicht, denn seine Stimme verlor sich irgendwo zwischen einem Quietschen und Brummen am Ende. Tatsuros Braue wanderte fragend ein Stück nach oben, eine Bewegung, die er sich und seinen Kopfschmerzen rückblickend lieber erspart hätte.

 

„Du bist Miyas Bekannter?“

 

„Mein Name ist Yukke, freut mich, dich kennenzulernen.“

 

Er hätte nicht sagen können, was ihn mehr irritierte. Die Tatsache, dass ein zugeknöpfter Kerl wie Miya mit so etwas befreundet war oder der Fakt, dass sich dieser Satz gerade wie aus einem Sprachlehrbuch angehört hatte.

 

„Yukke, hu? Versteh mich nicht falsch, ich meinte gestern zwar zu Miya, dass ich eventuell einen Studenten zur Untermiete suche, aber ich hatte nicht von einem Erstsemester gesprochen. Zum Babysitten habe ich weder Zeit noch Muse.“

 

Für eine Millisekunde huschte ein eigenartiger Ausdruck über das jungenhafte Gesicht seines Gegenübers, bevor sich die vollen Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen.

„Ah, diesen Eindruck vermittle ich oft, aber keine Sorge, ich bin wirklich nicht so jung, wie ich aussehe. Warte.“

 

Yukke zog einen Geldbeutel aus der hinteren Tasche seiner Jeans und hielt ihm im nächsten Moment seinen Führerschein unter die Nase. Fukuno Yusuke stand dort geschrieben und ein Geburtsdatum, das behauptete, dass Skater-Boy bereits vierundzwanzig sein sollte. Wenn der tatsächlich nur drei Jahre jünger, als er selbst war, würde er einen Besen fressen, aber gut.

 

 „Na schön, komm rein.“

Er machte eine halbherzig einladende Handbewegung und konnte so schnell gar nicht schauen, wie der andere seine Wohnung geentert hatte. Die riesige Reisetasche, die ihm bis eben nicht aufgefallen war, ließ Yukke unachtsam beinahe auf seine nackten Füße fallen und fuhr sogleich damit fort, sich die Schuhe auszuziehen. Fast als würde er befürchten, sonst wieder rausgeworfen zu werden. Mh, eine verlockende Vorstellung.

„Du kommst aus Ibaraki?“, erkundigte er sich, obwohl er diese Information gerade erst gelesen hatte. Tja, Small Talk war noch nie seine Stärke gewesen und verkatert, wie er war, konnte man nicht mehr von ihm erwarten.

 

„Ja, genauer gesagt aus Ishioka. Ibaraki ist eine sehr ländliche Präfektur, darum bin ich hier. Endlich mal Großstadtluftschnuppern, wenn du verstehst, was ich meine.“

 

„Ich bin in Mito geboren. Ich weiß genau, was du meinst.“

 

„Ehrlich? Dann haben wir ja schon etwas gemeinsam, was für ein Zufall!“

Yukke musterte ihn mit unverhohlener Begeisterung, bis ihm deutlich verspätet aufzufallen schien, wie unpassend Tatsuro für diese Art von Konversation gekleidet war. Die Geschwindigkeit, mit der das Blut in die Wangen seines Besuchers stieg, war besorgniserregend.

„Oh, ich, es … Habe ich dich geweckt oder so? Das tut mir leid. Ich dachte … weil es doch schon zwei Uhr ist und Miya meinte …“

 

„Atme.“

 

„Wie bitte?“

 

„Du sollst Luft holen, bevor du mir noch vor die Füße fällst.“

 

„Ach so, ja, ich …“

 

„Komm mit.“

 

Kopfschüttelnd drehte er sich um, gab der Eingangstür einen Stoß, der sie unsanft ins Schloss fallen ließ, und ging voraus ins Wohnzimmer. Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf die Ledercouch.

„Setz dich. Ich zieh mir etwas an, dann können wir reden.“

 

„Ich, ehm, danke.“

 

Einen Augenblick musterte er den komischen Kauz noch, der mittlerweile weniger aufgedreht und dafür leicht eingeschüchtert wirkte, dann ging er aus dem Raum. Ein selbstzufriedenes Grinsen schlich sich auf seine Züge, kaum hatte er die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen. Man konnte sagen, was man wollte, aber selbst verkatert hatte er augenscheinlich nichts von seiner Wirkung auf andere eingebüßt.

 

Aus dem Plan, sich gemütlich etwas anzuziehen und eine Schmerztablette zu nehmen, wurde nichts, denn kaum zwei Minuten später Durchschnitt ein Schrei die vorherrschende Stille.

 

„Was ist!“, rief Tatsuro und eilte ins Wohnzimmer. Sein Bekleidungszustand war noch immer mangelhaft, denn zu viel mehr, als sich eine Jogginghose überzuziehen, war er nicht gekommen. Sein T-Shirt hielt er unverrichteter Dinge in beiden Händen und seine nackten Zehen sanken im flauschigen Teppich ein.

„Warum schreist du hier herum, als würde dich jemand abstechen?“ Erst jetzt erkannte er, in welcher Position Yukke auf dem Sofa saß oder besser gesagt, wie ein Frosch auf der Sofalehne kauerte. Sein starrer Blick war auf Tetochi gerichtet, die ob des Tumults um sie herum etwas eingeschüchtert vor ihm auf dem Boden hockte.

 

„Es … ich … das da!“ Ein zitternder Finger deutete auf die Katze, die erst diesen eigenartigen Neuling musterte, bevor sich ihre gelben Augen beinahe fragend auf Tatsuro richteten. So Angestarrter seufzte und zog sich erst einmal das T-Shirt über den Kopf. Er wollte nichts weiter als seine Ruhe, war das wirklich zu viel verlangt?

 

„Komm her“, lockte er seine Süße mit ruhiger Stimme, ging in die Hocke und streckte die Rechte nach ihr aus. Tetochi tapste langsam auf ihn zu, beschnupperte erst seine Finger, bevor sie ihr Köpfchen schnurrend in seine Handfläche drückte und sich daran rieb.

„So ist es gut.“ Er nahm sie unter dem Bauch und stützte ihren Hintern, damit er sie hochheben konnte. Erst als die Katze sicher gegen seine Brust lehnte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Besucher.

„Du hast nicht allen Ernstes Angst vor Katzen, oder?“, fragte er mit skeptisch hochgezogener Augenbraue, ging zum Sessel hinüber und setzte sich, Tetochi auf seinem Schoß.

Yukke war derweilen von der Lehne geklettert und hatte sich an das Ende des Sofas gesetzt, das am weitesten von ihm und der Katze entfernt war.

„So, wie du reagierst, solltest du dich lieber nach einer anderen Wohnung umsehen.“

 

„Was? Ehm ich … Nein, nein, ich war nur überrascht. Die Katze ist kein Problem, ehrlich!“

 

„So so.“ Tatsuro war alles andere als sicher, dass ihm Skater-Boy gerade nicht doch einen Bären aufband, und die noch immer ängstlich geweiteten Augen trugen nicht gerade dazu bei, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

„Schlechte Erfahrungen mit Katzen gemacht?“

 

„So kann man das auch nennen. Unsere Nachbarskatze war ein wahres Monster, das mir mit Vorliebe nach der Schule aufgelauert hat, um mich aus dem Hinterhalt anzuspringen. Ich hab heute noch Narben von ihren Krallen“, nuschelte Yukke und schien kurz in seine eigene Gedankenwelt abzutauchen.

 

„Darüber brauchst du dir bei Tetochi keine Sorgen zu machen. Sie ist eine ganz Liebe und sogar zu faul, Fliegen zu fangen. Von ihr hast du nichts zu befürchten.“

 

Tatsuro verstand selbst nicht, weshalb er versuchte, Yukke einen Teil seiner Angst zu nehmen. Sollte es ihm nicht recht sein, wenn sein Besucher zum Schluss kam, hier nicht wohnen zu wollen? Immerhin war sein erster Eindruck von Yukke nicht gerade überzeugend gewesen. War er wirklich der Mitbewohner, den er sich vorstellte? Bedachte man sein derzeitiges Glück, würde er keine ruhige Minute mehr in seiner eigenen Wohnung haben, sobald der andere eingezogen war. Und auch, wenn es sich noch immer nicht so anfühlte, als hätte er diese zermürbende Schreibblockade endlich überwunden, musste er wenigstens versuchen, bis Ende der Woche etwas aufs Papier zu bringen. Dafür brauchte er ein gewisses Maß an Ungestörtheit.

 

Dennoch … irgendwie hatte der Kerl etwas an sich, das Tatsuro reizte und außerdem hatte er keine Lust, sich aktiv um einen anderen Mitbewohner zu bemühen. Bei Yukke konnte er sich wenigstens weitestgehend sicher sein, dass er kein zweifelhafter Charakter war, der ihm im nächsten Moment die Bude ausräumte. Soweit vertraute er Miya und seiner Menschenkenntnis. Aber apropos zweifelhafter Charakter, was arbeitete Yukke überhaupt? Selbige Frage stellte er sogleich und schien dem anderen damit eine Rettungsleine zugeworfen zu haben, mit der er sich endgültig aus seiner Angststarre ziehen konnte.

 

„Ich bin Buchhalter, Miya und ich arbeiten im selben Konzern.“

Tatsuro hatte seine liebe Mühe damit, sein Kinn davon abzuhalten, auf dem Boden aufzuschlagen. Buchhalter? Dieser … Bursche? Miya war der Job auf den Leib geschnitten, aber jemanden wie Yukke konnte er sich beim besten Willen nicht in einem Büro vorstellen. Wie aufs Stichwort hörte Tatsuro ein leises, erstaunlich angenehmes Lachen, das von keinem anderen als dem Enigma kam, das es sich nun richtig auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Seine Angst vor Tetochi schien er fürs Erste unter Kontrolle gebracht zu haben und die warmen, braunen Augen funkelten amüsiert in seine Richtung.

„Auch diese Reaktion ist typisch, wenn ich sage, was mein Beruf ist.“

 

„Tja, warum nur?“

 

„Ich kann die meiste Zeit im Homeoffice arbeiten“, entgegnete Yukke mit so viel Überzeugung in der Stimme, als würde diese Aussage alles, was für Tatsuro gerade nicht wirklich zusammenpassen wollte, erklären.

 

„Okay, dann sollte zumindest finanziell alles geregelt sein“, lenkte er ein, ohne sich seine Verwirrung weiter anmerken zu lassen. Miya verdiente gutes Geld, wenn er Satochi glauben konnte, und somit sollte auch Yukke finanziell gesehen gut dastehen.

„Tetochi braucht was zu futtern und ich einen Kaffee … und eine Schmerztablette“, setzte Tatsuro nuschelnd nach, als sich seine Kopfschmerzen mit ekelhaftem Stechen zurückmeldeten. Er setzte die Mieze auf den Boden und erhob sich, nicht ohne ein feines Schmunzeln unterdrücken zu können, als Yukke reflexartig die Beine anzog. Als würde Tetochi seine Zehen fressen wollen – eine Vorstellung, die ihn maßlos amüsierte.

„Danach zeige ich dir deine Zimmer, okay? Willst du auch einen Kaffee oder etwas anderes?“

 

„Einen Tee, wenn es dir keine Umstände macht?“

 

„Nee, schon gut, komm mit in die Küche.“

 

Die heißen Getränke waren schnell zubereitet und so standen sie sich gefangen in unangenehmem Schweigen gegenüber, ihre jeweiligen Tassen in den Händen. Tatsuro lehnte gegen die Küchenzeile, während Yukke seine Haltung an der Kochinsel spiegelte.

 

„Ehm, also, kochst du oft?“, bemühte sich sein Besucher irgendwann um eine Form der Kommunikation, während sich Tatsuro wünschte, wieder ins Bett gehen zu können. Große Augen sahen sich im Raum um und es hätte ihn nicht gewundert, würde Yukke plötzlich anfangen, sämtliche Schubladen und Schranktüren zu öffnen, um seine offenkundige Neugierde zu befriedigen.

 

„Wenn ein Fertiggericht warm zu machen, als kochen zählt, dann täglich.“

 

„Ist das dein Ernst? Die Küche ist der absolute Wahnsinn und so riesig, ich würde Stunden hier verbringen, wenn das meine wäre.“

 

„Tu was du nicht lassen kannst.“ Tatsuro winkte ab, stellte seinen Kaffee neben sich auf die Arbeitsplatte und rückte seinem dröhnenden Kopf endlich mit einer Schmerztablette zu Leibe. „Wenn du dich entscheidest, hier einzuziehen, versteht sich.“

 

„Was? Ehrlich?“

 

„Ja, warum nicht? Das ist die einzige Küche in der Wohnung, wenn du dich in deinen Räumen nicht irgendwie anders einrichten möchtest, wird dir nichts anderes übrig bleiben. Einmal die Woche lasse ich Lebensmittel liefern, wenn du dich daran beteiligen willst, musst du mir nur sagen, was ich für dich mitbestellen soll.“

 

„Ich kann mich doch um die Einkäufe kümmern. Immerhin wäre das günstiger und ich sagte ja schon, dass ich mich in der Großstadt umsehen will. Einkaufen ist dafür doch bestens geeignet, oder etwa nicht?“

 

Tatsuros Augenbraue machte sich wieder einmal selbstständig, als er den anderen fragend musterte. Yukkes und seine Auffassungen davon, wie man eine neue Stadt am besten kennenlernte, drifteten eindeutig sehr weit auseinander, aber wenn er das so wollte, sollte ihm das recht sein. Also zuckte er nur mit den Schultern und beließ es dabei.

 

„Na schön, dann folg mir, wenn du mehr sehen willst“, murmelte er, erneut mit seiner Kaffeetasse ausgerüstet und führte seinen wohl neuen Mitbewohner durch das weitläufige Appartement.

„Das hier ist mein Arbeitszimmer“, erklärte er und schob die nur angelehnte Tür auf. Dahinter befand sich ein gemütlich eingerichteter Raum, den die Nachmittagssonne in einladendes Licht tauchte.

„Miya hat dir sicher schon erzählt, dass ich Schriftsteller bin?“ Yukke nickte, den Hals gereckt und den Blick neugierig über die vielen Bücherregale, unzählige Topfpflanzen, den großen Schreibtisch und die Gemälde an den Wänden schweifen lassend. Die meisten Bilder stammten von Satochi, einige seiner frühesten Werke, die Tatsuro in Ehren hielt.

„Normalerweise schreibe ich im Wohnzimmer, aber ich werde versuchen, in Zukunft öfter hier zu arbeiten. Immer vorausgesetzt natürlich, ich bringe überhaupt etwas aufs Papier und stehe Ende der Woche nicht vor dem Scherbenhaufen meiner Karriere.“

 

Eine unerwartete Berührung an seinem nackten Unterarm ließ seinen Blick fragend zu Yukke schnellen, dessen Finger es waren, die kaum merklich dort ruhten. Sie waren warm, wie der Blick aus braunen Augen, der tiefer zu gehen schien, als das möglich sein sollte. Ein eigenartiges Gefühl bemächtigte sich ihm und reflexartig trat er einen kleinen Schritt zurück.

 

„Das musst du nicht“, stellte sein Gegenüber leise fest, beide Hände nun hinter dem Rücken verschränkt, als wäre er nicht minder erstaunt über den plötzlichen Körperkontakt. Die Stelle an Tatsuros Unterarm kribbelte leicht, als wollten sich seine Nervenenden unbedingt an die angenehme Wärme zurückerinnern. So ein Blödsinn. Und außerdem … was bitte war gerade in ihn gefahren, dass er einem Wildfremden von seinen Problemen erzählte?

 

„Was muss ich nicht?“

 

„Wegen mir ins Arbeitszimmer ausweichen, wenn du lieber im Wohnzimmer schreibst. Mich stört es nicht, leise zu sein.“

 

Das war erstaunlich rücksichtsvoll, stellte Tatsuro fest, verkniff es sich jedoch, das auch laut auszusprechen.

 

„Wir werden sehen, wie es sich entwickelt“, merkte er unverbindlich an und deutete den Flur weiter entlang, der einen Knick nach links machte, bevor er an seinem Schlaf- und Badezimmer vorbeiführte.

„Vor der Renovierung waren das hier drei kleine Wohnungen, darum ist der Grundriss etwas verwinkelt. Aber so hast du wenigstens deine Ruhe.“

‚Und ich hoffentlich auch.‘

Tatsuro blinzelte, als sich sein schlechtes Gewissen zu Wort meldete, obwohl er gerade nur in Gedanken unfreundlich zu Yukke gewesen war. Jetzt reichte es aber, was war heute nur los mit ihm?

 „Das wären die beiden Zimmer.“

 

Er drückte die Tür nach innen auf, die den Blick auf einen überschaubaren Raum freigab. Das Zimmer war nur spärlich möbliert, ein kleines Sofa stand einer Kommode gegenüber, auf der Platz für einen Fernseher oder Ähnliches war. In der hinteren Ecke war eine kleine Arbeitsnische mit Schreibtisch, Regalen und Stuhl eingerichtet, den Rest der Wand nahm ein Fenster für sich ein. Schräg von der Tür, in der Yukke und er standen, führte eine weitere ins angrenzende Schlafzimmer. Auch dort standen die Möbel noch so, wie Tatsuro sie bei seinem Einzug vorgefunden hatte. Ein schmales Bett und ein Kleiderschrank, beides in hellem Holz gehalten. Doch trotz der unspektakulären Inneneinrichtung schien Yukke hellauf begeistert von den Räumen zu sein.

 

„Wow, ich hätte nicht gedacht, dass hier noch so viel Platz ist. Miya hat von Zimmern gesprochen, die du nicht nutzt, aber das ist ja beinahe eine kleine Wohnung für sich.“

 

„Du kannst dir also vorstellen, hier einzuziehen?“

 

„Ist das ein Witz? Ich wäre schön blöd, das nicht zu tun.“ Yukke grinste ihn an und die ehrliche Begeisterung in seinem Gesicht war eigenartig ansteckend.“

 

„Gut. Du hast ein eigenes Bad mit Dusche, die Tür ist hier. Wenn du mal in die Wanne springen willst, kannst du aber auch jederzeit das Große benutzen.“

 

„Und die Möbel?“

 

„Damit kannst du machen, was du willst. Wenn du sie nicht brauchst, müssen wir nur sehen, wo wir sie in der Zwischenzeit lagern.“

 

„Nein, nein. Es wäre großartig, wenn ich sie nutzen könnte. Ich bin mit leichtem Gepäck aufgebrochen und hatte schon die Befürchtung, mir alles neu kaufen zu müssen.“

 

„Aha.“ Tatsuro sparte es sich, Yukkes eigenartige Anwandlungen zu hinterfragen. Wer bitte setzte sich das Ziel, in der Großstadt ein neues Leben zu beginnen, und nahm nicht mehr mit, als in eine Reisetasche passte? Dass er selbst genau das vor einigen Jahren getan hatte, als er Hals über Kopf von zu Hause ausgezogen war, weil er sich mit seinem Vater überworfen hatte, vergaß er dabei geflissentlich.

 

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke wie ein Blitz in den Kopf, dann noch einer und noch einer. Automatisch hielt er die Luft an. Halt mal, da bahnte sich etwas an! Ein Funke, eine Idee! Fast glaubte er, zu hören, wie sich die eingerosteten Zahnräder seines Denkapparates langsam in Bewegung setzten. Er blinzelte und sah, dass sich Yukkes Lippen bewegten, konnte jedoch nicht hören, was er sagte. Die Ideen riefen zu laut in seinem Kopf, formten sich zu Szenen, die vor seinen Augen wie eine Diashow aufflackerten.

 

Ein Zerwürfnis.

Seine Hauptprotagonistin, die trotz der unheimlichen Geschehnisse in Band eins noch immer ein viel zu großes Herz besitzt.

Übernatürliche Vorkommnisse, die eine Kleinstadt in Atem halten.

Eine Prise Horror.

Eine alte Bekannte, die nicht das ist, was sie zu sein scheint.

Und das Aufflammen einer unwiderstehlichen Anziehungskraft im denkbar ungünstigsten Moment.

 

Ja, ja, verdammt! Das war der Aufhänger für die Fortsetzung seines Romans, nach dem er die ganzen letzten Monate über gesucht hatte! Tatsuro spürte das Adrenalin durch seine Adern rauschen, fühlte das Kribbeln seiner Fingerspitzen, das perfekt mit dem elektrischen Knistern dutzender Gedanken in seinem Kopf harmonierte. Fahrig fuhr er sich durch die Haare. Er musste an seinen Computer, jetzt, bevor der Strom an Ideen ungenutzt versiegte.

 

Also …“, begann er gehetzt, „wenn du vorerst nichts weiter brauchst, lasse ich dich in Ruhe ankommen. Ich bin im Wohnzimmer, sollte etwas sein.“

 

In Wahrheit war es ihm egal, ob sein neuer Mitbewohner noch etwas zu sagen hatte oder tatsächlich etwas von ihm brauchte. Yukke hatte noch nicht einmal den Mund geöffnet, um ihm zu antworten, da hatte er sich bereits umgedreht und war davongeeilt.



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