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Record

Inu no Game
von

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Chaos Commencement

"Okay guys! Eine letzte Runde, dann haben wir das Ding im Kasten. Are you ready, Kazuha?" Etwas zu beherzt klopfte mir die Regisseurin auf die Schulter. Ganz mieses Timing, da ich noch mit meinem letzten Würgereiz zu kämpfen hatte und es keine Garantie gab, diesen Krieg gegen meinen Magen gewinnen zu können.

Die Lippen zusammengepresst, brachte ich ein gequältes Lächeln zustande. Fünf Jahre Showbusiness hatten ihre Spuren hinterlassen.

"Relax, honey", erwiderte sie und tätschelte mir den Rücken, der trotz meines vierten Shirtwechsels wieder mal komplett durchgeschwitzt war.
 

Mein erster Tag in L.A. und ich hasste die Stadt jetzt schon.
 

"Du machst das ganz toll, Kazuha", sagte die Regisseurin und zeigte mir ihre perfekten Zähne. Keine Ahnung, woran es lag, aber in Amerika war mir noch keiner begegnet, der nicht perfekte Zähne hatte - unheimlich diese Menschen.
 

"Der Werbespot ist fast im Kasten. Was ich jetzt noch von dir sehen will, ist dein greatest smile, okay?" Die Regisseurin machte es vor. Bei dem Lächeln hätte sie selbst in einer Zahnpastawerbung spielen können.

"Hmmm." Zu mehr war mein Mund nicht fähig, aber im Augenblick hatte ich andere Problem als über meine miserablen Kommunikationskünste nachzudenken.
 

"I count on you, Kazuha." Damit tänzelte mein Boss zurück hinter die Kamera, während mir der letzte Rest an grüner Farbe aus dem Gesicht geschminkt wurde. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Takes ich schon hinter mir hatte. Mein Kopf war leer. Und das war nicht das schlimmste an diesem Tag; die kalifornische Hitze machte mir zu schaffen, zuletzt geschlafen hatte ich vor zweiundzwanzig Stunden und meine einzige Mahlzeit hatte aus einem abgepackten Sandwich bestanden, das ich mir notdürftig aus dem Automaten hinterm Flughafen von Domino City gezogen hatte. Kurzum: ich hatte nicht das Gefühl, diesen Dreh in den nächsten Stunden reibungslos hinter die Bühne bringen zu können. Mir war schleierhaft, wie ich mir überhaupt den Text hatte merken können. Na gut, zwei Sätze waren jetzt nicht die Welt, aber wenn das Hirn von Jetlag und Hunger ganz weich geklopft worden war, grenzte es an ein Wunder, dass ich überhaupt noch ein vernünftiges Wort herausbringen konnte.
 

"Alles okay, Kazuha?" fragte mich Mizu. Seit gut drei Jahren arbeitete Mizuho Satoru für mich. Dabei war sie mehr als bloß meine Managerin. Sie war mir eine gute Freundin, eine ältere Schwester und manchmal auch die Mutter, die ich nie hatte. Nur ihretwegen hatte ich die weiße Fahne noch nicht gehisst. Stattdessen feuerte ich mir eine Kopfschmerztablette nach der anderen rein, während Mizuho die Rolle der tadelnden Gouvernante spielte, die ihren strengen Blick hinter zwei runden Brillengläsern richtig schön zur Geltung brachte.

"Hab' ich schon erwähnt, dass ich Achterbahnen hasse?!" Ich zeigte auf diese Höllenmaschine. Warum hatte ich mir auch vorher nicht das Skript durchgelesen?!

"So um die zehn- bis fünfzehnmal, ja", antwortete meine Managerin.

"Ich pack' das nicht, Mizu!", jammerte ich auch schon drauf los. Heute war eindeutig zu viel für mich.

"Jetzt reiß' dich mal zusammen, Kazuha! Du hast schon ganz andere Jobs durchgestanden. Also kneif' jetzt endlich Mal die Arschbacken zusammen, ist das klar?!"

"Warum bist du nur immer so gemein zu mir?!", entgegnete ich und setzte einen elenden Schmollmund auf.

"Irgendeiner muss dich doch in den Arsch treten", sie zwinkerte mir zu, bevor ihre Miene wieder diese typische Strenge bekam. Seufzend resignierte ich. Es brachte nichts, mit Mizu zu diskutieren. Was die Welt des Showbusiness betraf, war sie der Profi von uns beiden. Ich schwamm einfach nur mit. Also ließ ich mir zum hundertsten Mal die Sicherheitsgurte anlegen, stopfte mir das T-Shirt in die Shorts und schlurfte zur Achterbahn.
 

Einmal nach hinten gedreht, schlug mir Mizuhos geballter Ehrgeiz ins Gesicht. "Schon gut, schon gut", grummelte ich, "ich mach' ja schon." Lieber ergab ich mich dem Schicksal als Mizuho Satoru zur Weißglut zu bringen.
 

"Und nicht vergessen: keep smiling!", rief mir dann auch noch die Regisseurin zu. Ja, ja. >Keep smiling, keep shining< Ihr wildes Fuchteln mit den Armen hätte sie sich echt sparen können. Tief eingeatmet stellte ich mich auf den vordersten Wagen. "Lächeln?", murmelte ich, den Blick auf den zweifachen Looping gerichtet, "die können froh sein, dass ich ihnen noch nicht auf die Linse gekotzt habe."

Ein Assistent brachte mir die Flasche mit dem Eistee - das Werbeprodukt, das mir schon zum Halse raushing. Ein Kerl von der Sicherheit befestigte die Sicherheitsgurte mit dem Wagen. Bloß nicht hinsehen, flüsterte es in meinem Kopf.

"Ready, Kazuha?"

Nein, ich war verdammt noch mal nicht >ready<! Das dachte zumindest mein übermüdetes und angepisstes Ich, das mir am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte, nachdem ich nicht mehr als ein Daumenhoch hinbekommen hatte. Für Reue war es jedoch zu spät. Die Regisseurin gab das Signal, von irgendwo rief einer >Action< und ich kniff mir vorsichtshalber in die Wange, damit ich nicht wieder auf die Idee käme, meine Augen zu schließen. Blöder Fehler, den ich erst begriff als es zu spät gewesen war. Denn, erstens half es nicht gegen die Übelkeit und zweitens begann der ganze Mist dann wieder von vorne. Es hieß jetzt, sich am Riemen zu reißen und den Dreh glatt über die Bühne zu bringen.

Mann, manchmal fragte ich mich ernsthaft, ob das der Preis des Erwachsenseins war.
 

~

"Oh ja", stöhnte ich und ließ mich auf das frisch bezogene Federkissen fallen. "Ach, Matratze, wie habe ich dich vermisst." Sofort rollte ich mich zur Seite. Die Hände um die Decke geschlungen, drückte ich den Stoff an mein Gesicht und atmete den Duft von Waschmittel und Weichspüler ein. Ich hatte ganz vergessen, wie wunderbar so ein fünf Sterne Luxus-Apartment sein konnte. So viele teure Hotels, die ich bereits besucht hatte, aber dieses hier war doch eine ganz andere Liga.
 

"Bevor du mir wegpennst", Mizuho stellte sich neben mich, Zeigefinger und Daumen rückten das Brillengestell zurecht, "gehen wir noch einmal den Terminplan durch."

"Muss das jetzt sein?!", stöhnte ich und schloss die Augen.

"Ja, Fräulein, muss es! Schließlich haben wir in den nächsten fünf Tagen allerhand zu tun: Sonntag, neun Uhr das Fotoshooting. Danach Autogrammstunde mit anschließendem Interview. Dienstag Besuch im Kinderhospiz. Mittwoch Gastauftritt bei…hey, Kazuha!" Ohne Vorwarnung schmiss mir Mizuho das Notizbuch ins Gesicht.

"Ich bin da", nuschelte ich ins Kissen, während ich mir heimlich die Sabbere aus dem Mundwinkel wischte. Mizuhos Stimme war aber auch beruhigend-

"Kazuha Jonouchi, wenn du verpennst-"

"Das wird nicht passieren", entgegnete ich und schaute zu meiner Managerin hinauf, die beide Hände in die Hüften gestemmt hatte.

"Soll ich dich nicht doch lieber wecken?"

"Nicht nötig."

"Kazuha-"

"Ehrlich, Mizu", ich zog die Decke bis zu meiner Nasenspitze hoch, "mach' dir keine Gedanken. Diese Pressekonferenz…ich werde pünktlich sein. Ich verspreche es."

Eine Weile schauten wir uns nur an. Mizuho hatte berechtigte Zweifel. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich einen wichtigen Termin verpennt hätte. Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal…
 

"Also schön", sagte Mizuho, packte sich das Notizbuch und wandte sich zum Gehen. "Im Koffer ist ein Zettel mit Themen, die du heute Abend vermeiden solltest. Lies' ihn dir durch, okay? Ich will nicht, dass es wieder so endet wie damals in Peking."

"Ja, Ma'am."

"Das hab ich nicht gehört, Fräulein…Wenn weiter nichts ist-"

"Jetzt geh' schon", wedelte ich mit der linken Hand und kniff die Augen zusammen, "genießt euren gemeinsamen Tag."

"Machen wir. Wir sehen uns dann morgen früh in der Hotellobby."

Die Tür geschlossen, drehte ich mich auf den Bauch, streckte alle Viere von mich und drückte mein Gesicht in das flauschige Kissen. Endlich Zeit für mich! Nachdem ich mir zehn Stunden das Geschnarche meines Sitznachbarn anhören musste, war diese Ruhe gar nicht mal so schlecht. Zumindest konnte ich ein wenig vor mich hin dösen, bevor sich die Aufregung wie ein Glöckchen bei mir meldete. Die Hände hinter den Kopf verschränkt, starrte ich eine Weile auf die Trennwand, die den Schlafbereich von dem restlichen Apartment abschottete. Für einen Moment bereute ich es, Mizuho freigegeben zu haben. Dass ich ernsthaft geglaubt hatte, dass ich allein besser dran wäre…"Wer zur Hölle bist du?!"

Es wurde nicht gerade besser, dass ich auf weiß-grau gefärbten Bambus starrte, weshalb ich mich schließlich aufrappelte und mir eine eiskalte Dusche genehmigte. Kaltes Wasser half schließlich immer. Schnell Hose und Slip ausgezogen, huschte ich ins Bad, befreite mich von dem klebrigen Shirt und warf es mitsamt BH ins Waschbecken.

"Ganz ruhig, Kazuha", summte ich vor mich hin, während ich den Duschkopf auf meine Höhe einstellte. "Es ist nur eine Pressekonferenz, nichts weiter. Interpretier' da nichts hinein." Mit kräftig Druck prallten die Strahlen auf meine Haut. Kurz zuckte ich zusammen. Der Temperaturunterschied war gewaltiger als ich gedacht hatte. Wenigstens half er, meine Gedanken zu zerstreuen. Nachdem ich mich an die Kälte gewöhnt hatte, kümmerte ich mich um das Krähennest auf meinem Kopf. Sechs Stunden Achterbahnfahrt und sinnloses hin und her Wälzen waren nicht gerade hilfreich für meine widerspenstige Mähne. Es dauerte zig Beschimpfungen und tausend Tobsuchtstränen, bis ich die vielen Knoten aus meinen Haaren bekommen hatte und endlich aus der Dusche steigen konnte. Jetzt musste ich das Ganze noch zu einer anständigen Frisur kämmen und ich sah wieder halbwegs vorzeigbar aus. Ein Blick in den Spiegel und mein anfänglicher Optimismus verabschiedete sich. Ich sah beschissen aus. Nicht einfach nur fertig. Nein. Ich war im Eimer und mein Gesicht schien daran Freude gehabt zu haben, diesen Zustand auf die Leinwand zu bringen. Dass ich vor dem Duschen vergessen hatte, mir die Schminke aus dem Gesicht zu waschen, machte es natürlich nicht besser. Also nochmal auf Anfang. Schminke aus dem Gesicht, Haare trocken föhnen, nochmal drüber kämmen - fertig. Jetzt musste ich nur noch hoffen, dass die Stylistin, die für die Pressekonferenz engagiert wurde, eine Zauberin war.
 

Ich schnappte mir mein T-Shirt, warf es mir noch während ich das Bad verließ drüber und durchforschte den Inhalt meines Koffers. Weil meine Managerin für das Packen verantwortlich war, hatte ich keine Ahnung, was mir Mizuho eigentlich eingepackt hatte. Nicht, dass ich mir zu fein war, meine Klamotten selber zusammen zu suchen. Aber nachdem ich im Asian Worldcup meine DuelDisc Zuhause liegen gelassen hatte, war ich von sämtlichen Entscheidungen ausgeschlossen worden, die den Inhalt meines Reisekoffers betrafen.
 

Den Koffer aufgeschlagen, musste ich auch sofort lächeln. Wie immer hatte Mizuho an alles gedacht. Keine Ahnung, wie ich ohne sie zurechtkommen würde. Vermutlich wäre ich gar nicht hier, wenn sie nicht an meiner Seite wäre. Die sorgfältig zusammengelegten Kleider, dazu die vielen kleinen Extras, die Kopfhörer, meine Lieblingskaugummis, wenn ich mal wieder Lampenfieber hatte, ein Bild von mir und meinen Freunden - bei so viel Sorgfalt kamen mir glatt die Tränen. Kopfschüttelnd wischte ich mir übers Gesicht und suchte meine Sachen zusammen. Auch wenn ich nicht halb so organisiert wie Mizuho war, musste ich mich heute zusammenreißen. Sie hatte sich ihren freien Tag verdient; den wollte ich ihr nicht durch meine Unfähigkeit kaputt machen.

Entschlossen zog ich mir die dunkle Röhrenjeans an, dazu gab es eine passende blaue Sommerbluse, die Anzu mir letztes Weihnachten geschenkt hatte. Nicht zu schick, aber auch nicht mehr so lässig wie noch vor fünf Jahren. Nur die Sneakers - die mit dem bunten Graffiti und den kleinen Sternchen an den Fersen - die durften auch heute nicht fehlen. Den Blick Richtung Hüfte wandernd, zögerte ich. Das Outfit entsprach den Anforderungen der >Veranstalter<. Aber etwas fehlte. Ich fühlte mich nicht vollständig. Nicht selbstbewusst genug. Mit einem Auge linste ich zu meinem Rucksack herüber. Den hatte ich neben die leeren Burgertüten gelegt, die ich noch auf dem Hinweg alle verputzt hatte.

Den Rucksack hatte ich selbst gepackt. Darum war es kein Wunder, dass das Innere nach Chaos und Jelly Beans roch. Ganz oben auf lag mein Gürtel. Ich rollte ihn auseinander, berührte mit den Fingerspitzen das weiche Leder, die vielen kleinen Metallringe und das kleine Schloss neben der letzten Schlaufe.
 

Der Gürtel war mein kreatives Eigenprojekt. Es hatte mich viel Schweiß und Tränen (das meiste davon waren Tränen) gekostet, aus dem Hundehalsband einen tauglichen Gürtel zu zaubern.
 

Wieder einmal erwischte ich mich dabei, wie dieser Gürtel zum Fixpunkt meiner Gedanken wurde. Nein. Nicht der Gürtel. Nur das Halsband. Mein Halsband. Meine Vergangenheit. Die sich seit Langem wieder an die Oberfläche drängte.

Distruction

Fünf Jahre war es her, seit ich das letzte Spiel gegen Seto Kaiba verloren und mich zu dreißig Tagen Hörigkeit verschrieben hatte. Als sein Hündchen hatte es begonnen und als Fußabtreter hatte es geendet. Unsere rasante, intensive Fahrt war an der Klippe zu Ende gegangen und zurück blieben nicht mehr als ein Schrottwagen und sein verkrüppelter Beifahrer. Die Wunden waren nie ganz verheilt und ich wusste, es lag an mir.
 

Nachdem wir knapp sechs Monate ein mehr als verqueres Verhältnis hatten, war es Kaiba gewesen, der die Reißleine gezogen hatte. Bis heute war ich davon überzeugt, dass er kalte Füße bekommen hatte. Dass ihn unsere Beziehung Angst machte. Ja, Beziehung. Wir hatten es nie beim Namen genannt und ich war mir sicher, dass Kaiba dieses Wort nicht einmal unter Folter in den Mund genommen hätte. Aber ich beharrte weiterhin darauf, dass Kaiba und ich ein Paar gewesen waren. Ein schräges Paar, mit Neigung zur Selbstfolter und Selbstzerstörung. Das klare Grenzen hatte und andererseits ständig welche überschritt… und doch ein Paar.
 

Seto Kaiba war nicht nur der Erste gewesen, der mir multible Orgasmen beschert hatte. Er war auch der erste Kerl, auf den ich mich emotional hundertprozentig eingelassen hatte - und genau ab dem Zeitpunkt war unsere Beziehung zum Scheitern verurteilt gewesen. Weil es ernst wurde, zog er sich zurück. Weil ich mich öffnete, schlug er mir sämtliche Türen vor der Nase zu. Ein Riesenstreit in der Kaiba Villa hatte dazu geführt, dass er mich hochkant aus dem Haus geworfen hatte. Mitten in der Nacht, im Winter, ohne Handy und nur mit einem beschissenen Schlafshirt bekleidet. In jeder anderen Situation hätte ich diesem Mistkerl die Tür eingetreten. In diesem Fall war ich mit Hausschlappen durch halb Domino marschiert. Ein Wunder, dass ich mir keine Lungenentzündung eingefangen hatte. Das wäre mir aber auch egal gewesen. Meine Gefühlswelt, die seit Langem Kopf stand, wurde komplett dem Erdboden gleichgemacht.

Noch am nächsten Tag ließ ich mich in einer Disco vollaufen, hatte miesen Sex in der Kabine der dortigen Männertoilette, den ich noch während ich die Tür hinter mir zuzog, bereut hatte. Ich war so durch den Wind, ich konnte mit niemandem darüber reden. Yugi sah mich bloß mit diesem entschuldigenden Blick an, dass ich heulen und kotzen wollte. Es dauerte Wochen, bis ich mich halbwegs wieder im Griff hatte und das auch nur Dank des Überraschungsbesuchs, den wir für Anzu an Weihnachten organisiert hatten. Unsere Aktion hatte letztendlich dazu geführt, dass ich mit den Jungs nicht zurück nach Domino flog, sondern bei meiner Freundin blieb. Die nächsten drei Monate lebte ich in New York, auf dem Futon im Zimmer von Anzus Studentenwohnheim und dem Geld, das ich mir aus den Überstunden im Night Club zusammengespart hatte. Anzu war so lieb gewesen und hatte mir eine Stelle im Starbucks beschafft, die ich jedoch nach drei Wochen aufgeben musste, da ein Missverständnis mit einem Kunden für jede Menge Ärger gesorgt hatte. Neben weniger zielstrebigen Versuchen, Fuß in New York City zu fassen, hing ich die meiste Zeit irgendwo im Central Park herum, duellierte mich mit glatt geleckten Typen, die sich als Amerikas Spitzenspieler herausstellten und ergatterte durch einen dummen Zufall eine Einladung zu den nächsten US-Meisterschaften. Eines führte zum anderen und ehe ich mich versah, kehrte ich als ungeschlagener Champion nach Domino zurück.
 

>Quicktime Duels<, unter Spielern nur als QTD bekannt, war der Renner in der DuelMonsters Szene. Schnelle Duelle, eine Zeitbegrenzung von zwanzig Minuten, kein Limit bei Monsterbeschwörungen. Das Motto lautete >alles oder nichts< und ich schien ein glückliches Händchen für derart rasante Duelle zu haben.
 

Wie hieß die Floskel? >Pech im Spiel, Glück in der Liebe<? Auf mich schien das genaue Gegenteil zuzutreffen. Nachdem sämtlicher Kontakt zu Kaiba abgebrochen worden war, machte meine Karriere eine steile Kurve nach oben. Zwei Jahre nach dem Beziehungsaus hatte ich Satoru kennengelernt. Sie machte aus der verpeilten Duellantin Kazuha Jonouchi einen heiß begehrten DuelMonsters Star. Werbeverträge, Einladungen zu diversen Shows und Veranstaltungen - all das hatte ich Mizuho zu verdanken. Ich konnte also mein Leben so gestalten, wie ich es mir in meinen kühnsten Träumen nie hätte vorstellen können. Das Wort >glücklich< hätte in fetten Buchstaben auf meiner Brust stehen müssen. Die Wahrheit sah etwas anders aus. Nachdem ich mir mehrmals eingeredet hatte, dass die Trennung zwischen Kaiba und mir das beste war, das mir hätte passieren können, hatte ich mich eines Tages dann doch dazu hinreißen lassen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Es war an einem wirklich deprimierenden Tag gewesen, ich hatte eine halbe Flasche Whisky intus und das nagelneue Handy in meiner Hand. Kaibas Nummer hatte sich in mein Gehirn eingebrannt - die einzigen zehn Ziffern, die ich mir je gemerkt hatte. Als eine Frauenstimme >diese Nummer ist zurzeit nicht besetzt< in mein Ohr flüsterte, hatte das Telefon kurzzeitig Bekanntschaft mit der Balkontür gemacht. Das Handy war im Arsch und ich total am Ende. Danach hatte es keine weiteren Versuche gegeben. Für mich stand fest: Kaiba hatte mich aus seinem Leben verbannt. Dass wir uns während all der Jahre kein einziges Mal zu Gesicht bekamen, war kein Zufall gewesen. Schließlich war die Kaiba Corporation nie weit, wenn ein Turnier anstand oder die neueste DuelMonsters Technologie an den Start ging.
 

Nach über fünf Jahren - genau jetzt - war es dann doch soweit. Die USA trugen den Grand Championship der >Quicktime Duels< aus. Mit Pegasus J. Crawford als Erfinder und Lizenzträger sämtlicher DuelMonsters Spiele und Seto Kaiba, dessen Firma die neue, angepasste DuelDisc an den Start brachte, wurde ein neues Event auf die Beine gestellt - und mich wollten sie als Aushängeschild. Obwohl ich bezweifelte, dass Kaiba etwas mit dieser Entscheidung zu tun gehabt hatte. Die Einladung kam von Industrial Illusions und meine Wenigkeit war auch bloß erwünscht, weil ich nunmal die Nummer eins in QTD war und niemand für den Job besser geeignet gewesen wäre.
 

Den Blick von dem Gürtel abgewandt, zog ich ihn von Schlaufe zu Schlaufe. Verdammt, war ich aufgeregt. Diese Tatsache ließ sich nicht leugnen. Mein Herz raste, ich begann wieder zu schwitzen und meine Hände hatten dieses Zittern, das ich zuletzt nach meinem knappen Sieg im Halbfinale vor drei Jahren hatte.

Um mich ein wenig abzulenken, griff ich noch einmal in meinen Rucksack, fand eine handvoll Jelly Beans, die ich mir in einem Zug in den Mund stopfte und kramte mein Smartphone heraus. Mehrere Nachrichten blinkten auf. Hauptsächlich Erinnerungen von Mizuho. Die Frau konnte nicht einmal an ihrem freien Tag das Telefon weglegen. Ein paar offene Chats fanden sich von Yugi und Honda. Beide hatten mich noch bis zum Flughafen begleitet. Es hatte einen theatralischen Abschied gegeben. Hauptsächlich, weil die beiden Männer nicht mitfliegen konnten. Yugi war mitten in der Fertigstellung seines neuesten Gaming Projekts und Honda musste wegen Krankheitsausfall die Leitung in der Werkstatt übernehmen. Dafür war das Plakat, das die beiden extra für mich angefertigt hatten, unheimlich rührend gewesen. Die zwei waren einfach die Besten!

Schnell tippte ich ein paar Worte, verschickte ein Foto, auf dem das Apartment mitsamt zerknülltem Papier abgelichtet war und wünschte Yugi viel Glück bei der Präsentation am Montag. Ein weiteres Chatfenster ploppte auf. Ein keckes Lächeln auf dem Profilbild schlug mir direkt ins Gesicht. >Gut angekommen, honey? Bin ab morgen in L.A., also...<

"Jack…"
 

Jack >Crushing< Rainwright. Seit zwei Jahren war der Typ nicht mehr von DuelMonsters wegzudenken. Er war… ein Freund. Mit gewissen Vorzügen. Ein ungünstiges Foto während einer Benefizveranstaltung hatte jedoch dafür gesorgt, dass die Presse ein anderes Bild von uns hatte. Die Klatschmagazine witterten die Lovestory des Jahrhunderts, die von keinem von uns bisher richtig gestellt worden war. Dafür sahen Mizuho und Jack zu viel Potenzial, was unser Image betraf - im Übrigen der einzige Punkt, bei dem sich die beiden einig waren. Sonst standen er und meine Managerin auf Kriegsfuß.
 

Ich überflog den Text, entschied mich dann doch, die Antwort auf später zu verschieben. Zwar mochte ich Jack und wenn es nach ihm ginge, hätten wir diese Pärchennummer schon längst durchgezogen, aber gerade hatte ich nicht den Nerv, auf seine plumpen Zweideutigkeiten einzugehen. Für mich ging unsere Beziehung nie über >Freundschaft Plus< hinaus. Dafür ging mir seine sorglose Herangehensweise bei Duellen gehörig auf den Zeiger. Und, ich gab es nur ungern zu, war der Sex nie wirklich befriedigend gewesen. Also…befriedigend schon, aber eben nie darüber hinaus und das war mit der Zeit etwas frustrierend geworden. Zumindest für mich, die Dinge kennengelernt hatte, die ein Normalo wohl nie unter die Kategorie >erregend< einstufen würde. In dieser Beziehung schien mich Seto Kaiba für die restliche Männerwelt verdorben zu haben. Keiner hatte es bisher geschafft, mir jene Befriedigung von vor fünf Jahren zu verschaffen. Bei niemandem verspürte ich schon bei der kleinsten Berührung dieses ekstatische Kribbeln. Verflucht seist du, Seto Kaiba!

Clash

Das Smartphone in die Hosentasche gestopft, richtete ich mich auf. Allmählich drohten mich die weißen Wände mit ihren viel zu überteuerten Gemälden zu erdrücken. Ich brauchte Luft - und wenn ich bloß eine Runde über das Außengelände machen konnte. Bis zur Pressekonferenz musste ich einen klaren Kopf bekommen.

Mit zügigen Schritten durchquerte ich die vierte Etage, bestaunte die Hängepflanzen im Flur, machte einen Abstecher zum Restaurant und der angrenzenden Bar, die ich mir für später im Hinterkopf behielt - und dann war es auch schon soweit. Der Veranstalter hatte einen Wagen mitsamt Chauffeur vor dem Hotel geparkt. Auf der Mütze des Fahrers waren die Initialen von Industrial Illusions eingenäht. Ohne groß Worte zu wechseln, stieg ich in den Wagen, der Fahrer knallte die Tür zu und setzte sich hinters Steuer. Die Hände auf den Schoß gelegt, krallten sich meine Nägel in die Jeans. Ich konnte meinen eigenen Puls schlagen hören, während ich mir ständig einredete, dass es bloß die Bässe aus den Lautsprechern waren. Nach Ablenkung zu suchen, war sinnlos. Der Blick aus dem Fenster ließ mich nicht mal die Aussicht genießen. Die vielen bunten Lichter der City wurden fast vollständig von den verdunkelten Fensterscheiben aufgesogen. Ich berührte die Beifahrertür. War das etwas kugelsicheres Glas?! Kopfschüttelnd legte ich den Kopf in den Nacken. Das durfte doch nicht wahr sein! Kam ich mir schon wie ein vorpubertäres Schulmädchen vor, das zu ihrem ersten Date ging.

"So bist du doch gar nicht."

"Haben Sie etwas gesagt, Ms. Joey?"

"Äh, nein", lachte ich gespielt in Richtung Fahrer, der mit hochgezogener Augenbraue den Blick zurück auf den Straßenverkehr richtete.
 

Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Wenn es nach mir ginge, hätte der Chauffeur ruhig noch eine Runde drehen können. Ich war überhaupt nicht mehr scharf darauf, das Gebäude zu betreten - oder besser gesagt das Stadion. Die Übelkeit vom Vormittag kehrte wie ein Paukenschlag zu mir zurück.

Nicht weit vor uns erstreckte sich das SoFi Stadium und ließ die Burger in meinem Magen Purzelbaum schlagen. Die Arena war mächtig, geradezu gigantisch. Genau wie die beiden Firmenbosse, die dieses Gebäude zum Mittelpunkt der QTD auserwählt hatten. Superlativ war gerade gut genug für die mächtigsten Spielefirmen der Welt. Doch das SoFi toppte bisher alles dagewesene. Als Mizuho mir erzählt hatte, wie viele Leute dort hinein passten, hätte ich ihr beinahe meinen Milchshake ins Gesicht gespuckt. Siebzigtausend war selbst für DuelMonsters eine Hausnummer. Die Tatsache, dass dieses Stadion so gewaltig war, ließ mich für einen Moment glauben, mich vor dem CEO der Kaiba Corp. verstecken zu können. Im Moment schien mir diese Option die klügste. Der Pressesaal war natürlich nicht annähernd so groß wie die Arena selbst, dass mein Notfallplan für die Tonne war. Als Improvisation in den vorderen Eingangsbereich aufgebaut, gab es Platz für etwa zwanzig Personen. Nachdem mich die Stylistin irgendwie halbwegs vorzeigbar hinbekommen hatte, saß ich auch schon auf einem der drei Stühle, die um einen sichelförmigen Tisch aufgestellt worden waren - zusammen mit Pegasus Crawford, den ich zuletzt bei einer Spendengala für verwaiste Kinder in Kriegsgebieten gesehen hatte. Wenn er auch freundlich war, die Erinnerungen, wie er die Seelen mithilfe des Milleniumsauges gestohlen hatte, konnte ich nie so ganz abschütteln.
 

Neben uns standen mindestens ein Dutzend Männer in schwarzen Anzügen, die Arme hinter den Rücken verschränkt, mit eisiger Miene und Augenpaaren, die von dunklen Sonnenbrillen verdeckt wurden. Flachbacks aus dem Königreich der Duellanten sausten mir um die Ohren.

Vor ihnen hatten sich Vertreter der Zeitungs- und Boulevardpresse eingefunden; die großen Nachrichtensender durften natürlich auch nicht fehlen. Ließ nur noch einer auf sich warten. Der einzige, der mit Abwesenheit glänzte, war doch nicht ernsthaft Seto Kaiba?! Unruhig drehte ich meinen Kopf. Es gab nur zwei Eingänge, also blieb es dabei, dass mein Schädel wie ein Wackeldackel hin und her wippte.

Das durfte doch nicht wahr sein!Kaiba würde sich nie verspäten. Dafür legte er viel zu viel Wert auf Pünktlichkeit. Wer wusste das besser als ich. Nachdem ich einmal nicht rechtzeitig zum Dinner erschienen war, hatte es sofort eine Standpauke zum Thema Zuverlässigkeit gegeben. Die qualvollen Minuten auf der Liebesschaukel würde ich wohl nie vergessen. Argh…Hatte ich doch nicht tatsächlich in Erinnerungen geschwelgt, und dann gerade diese Erinnerung, die mir die härteste Lektion in Sachen >pünktlich kommen< erteilt hatte.

"Kyah…aufhören!", ich raufte mir durch die Haare, zerstörte eine halbe Stunde Arbeit, die meine Stylistin für den Pony gebraucht hatte.

"Alles in Ordnung, Jonouchi-girl?" Es war Pegasus. Sein teils verwunderter, teils amüsierter Blick ruhte auf mir. Sofort wedelte ich mit den Händen vor meinem Gesicht. Schlimm genug, dass ich nur Kaiba und seine Liebesschaukel im Kopf hatte. Aber dann auch noch Selbstgespräche zu führen…dieser Zustand musste auf der Stelle aufhören! Hatte ich etwa vergessen, was der arrogante Fatzke mir angetan hatte?! Mit aller Kraft schüttelte ich diese fehlgeleiteten Sentimentalitäten von mir. Aber nicht für lange. Mein Gesicht erstarrte zu einer monotonen Miene. Ich hörte auf zu atmen und glotzte nur wie eine Irre auf den Mann in schwarzer Anzughose und weißem Hemd, der eine Minute vor Pressetermin den Raum betrat. Kaiba. Er war also nicht zu spät gekommen - nur in letzter Sekunde, um dem Ganzen eine gewisse Theatralik zu verpassen. Diese Dramaqueen! Damit hatte er die Aufmerksamkeit aller im Saal, und ich war mir sicher, dass er es genau darauf abgezielt hatte - egal, wie angespannt und beschäftigt er aussah. In seiner Hand lag das Smartphone, das er erst von seinem Ohr nahm, als er seinen Sitzplatz erreichte, und selbst dann wirkte er nicht so, als hätte er jetzt Zeit, sich mit ein paar Pressehainis abzugeben.

Mein Mund wurde unsagbar trocken und ich war versucht, meine Lippen darüber fahren zu lassen, wenn er sich nicht ausgerechnet neben mich setzen müsste. Komm schon, Kazuha, sag' irgendwas!

"Ah-" Ganz toll! Ich hätte sterben können. Schnell schloss ich wieder den Mund, versuchte, weg von Kaiba und diesen eisigen Augen zu kommen, die mir alles an Ignoranz vor die Füße warfen, die sie zu bieten hatten. Seine blauen Augen starrten geradewegs ins Leere, irgendwo zwischen zwei Journalisten hindurch, die mit Kaibas Blicken noch weniger umgehen konnten. Wie ein zäher Brocken schluckte ich die Tatsache herunter, dass er mir nach fünf Jahren so überhaupt keine Beachtung schenkte. Nicht einmal ein einfaches >hi< oder ein stummes Nicken. Er schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust - was jeder im Saal als Startschuss der Pressekonferenz sah und mich wie einen bedröppelten Pudel dastehen ließ.  
 

Noch nie wünschte ich mir mehr, als mich irgendwo in ein Erdloch vergraben zu können, als in dieser Stunde. Die Medien bombardierten Kaiba und Pegasus mit Fragen, die wie ein Schnellzug durch meine Ohren rauschten. Pegasus Crawford warb für das Turnier. Kaiba wurde hauptsächlich über die neue DuelDisc ausgefragt. Was seine Technologie betraf, da musste ich passen. Der ganze Technikkram war mir zu hoch. Ich wusste, dass es eine Spezialanfertigung für QTD gab, dass die Disc nicht blau, sondern rot war und ein Timer neben der Lebenspunkteanzeige eingebaut werden sollte. Natürlich erzählte Kaiba ausführlich über die einzelnen Features - ganz in seinem üblichen harten Businesston, aus dem ein Hauch Überlegenheit herauszuhören war. Ich erwischte mich dabei, wie ich an seinen Lippen hing, obwohl ich nur Bahnhof verstand. Aber immer noch besser als ihn wie einen verknallten Teenie anzuhimmeln. Obwohl…wo lag da der Unterschied? Komm runter, Kazuha. Der Kerl hat dir das Herz gebrochen und jetzt sieht er dich nicht einmal mit dem Arsch an…

"...die nächste Frage geht an Ms. Joey." Meine Lauscher stellten sich auf. Brav beantwortete ich die Fragen der Presse. Die meisten davon beschränkten sich auf das Turnier und meine potentiellen Gegner. Wer, meiner Meinung nach, Chancen hatte, ins Finale einzuziehen, welche Erwartungen ich an das Turnier hatte - solche Fragen halt. Die Veranstaltung hatte vorgesehen, dass der Gewinner gegen den ungeschlagenen Champion, also gegen mich, antreten durfte. Das erinnerte mich an das Grand Championship, das Kaiba damals auf die Bühne gebracht hatte und ordentlich von Zigfried von Schroeder sabotiert worden war. Dieses Jahr war ich zuversichtlich, dass kein reicher, langhaariger Spinner versuchen würde, das Turnier für seine Zwecke zu missbrauchen. Aber der Abend war ja noch jung…
 

"Mr. Kaiba", meldete sich aus den hinteren Reihen der Vertreter eines bekannten Magazins, "Gerüchten zufolge, haben Sie sich letzten Monat verlobt…"

"Kein Kommentar", schoss Seto Kaiba auch schon zurück, noch bevor sich mein Magen zusammenziehen konnte.
 

Stimmt. Da war ja noch was. Yugi hatte es mir erzählt. Ein Artikel, der von der bevorstehenden Hochzeit zwischen Kaiba und irgendeiner reichen, wohl erzogenen Schauspielerin Schrägstrich Model und Influenzerin berichtete. Als ich das Bild dieser geradezu abnormal schönen Frau gesehen hatte, hatte ich eine Woche lang mein Internet ausgeschaltet.
 

Die Presse ging nicht weiter auf das Thema ein, und bis zum Ende der Pressekonferenz wurde keine weitere Frage gestellt, die Kaibas oder meine Privatsphäre betraf. Ein Glück, denn ich hatte wenig Lust, wegen Jack ins Stottern zu geraten. Vor allem nicht, wenn Kaiba neben mir saß. Ganz egal, wie gleichgültig ich ihm geworden war. Das beruhte schließlich nicht auf Gegenseitigkeit - wie ich schmerzlich feststellen musste.
 

"Okay, keine weiteren Fragen", ertönte endlich die Stimme eines dieser mies gelaunten Security-Typen. Kaiba erhob sich als erster. Er schien es eilig, verließ den Saal, während er bereits das Handy zurück an sein Ohr drückte. An seinen Fersen entdeckte ich Isono, der ein schwarzes Jackett wie einen königlichen Umhang hinter ihm vertrug. Als er an mir vorbeigelaufen war, konnte ich die dunklen Ringe trotz der fetten Schicht Concealer erkennen. Kaiba war schon immer ein schlechter Schläfer gewesen, und die letzten Wochen oder Monate musste es noch schlimmer geworden sein. Die vielen gemeinsamen Nächte waren damals auch für mich unruhig gewesen. Immer wieder hatte er sich im Bett gewälzt, war ohne Vorwarnung aufgesprungen, um seinen Rechner einzuschalten oder sonstigen Scheiß zu erledigen, der ihn vom Schlafen abhielt. Es war seine Eigenart. Eine von vielen. Diese zählte zu jener, mit denen er sich seit der Zeit im Heim herum zu schlagen hatte...

Die Lippen zusammengepresst, drehte ich mein Gesicht weg von ihm.

House of cards

"Sind Sie sicher, dass Sie nur einen Orangensaft wollen? Ich habe einen wunderbaren Bordeaux aus-"

"Schon gut", lächelte ich den Barkeeper an, nahm das volle Glas und schob es direkt an den Rand des Tresens.
 

Zurück im Hotel hatte ich es keine fünf Minuten alleine ausgehalten. Das Apartment drohte mich zu erschlagen, die Stille führte dazu, dass ich mit meinen Gedanken alleine war und selbst meine Playlist inklusive Kopfhörer, die ich auf Maximum aufdrehen konnte, hätten mir nicht helfen können.
 

Die Beine baumelnd, stützte ich mich am Tresen ab und legte den Kopf auf meine Hände. Der Barhocker drückte sich in meinen Hintern, der nach der ganzen Fliegerei keine Lust mehr aufs Sitzen hatte. Gekonnt ignorierte ich die Schmerzen, ebenso meinen grummelnden Magen, der sich scheinbar für die zwölf Burger, die ich auf Ex runter gewürgt hatte, rächen wollte. In diesem Augenblick war mir das völlig Schnuppe. Ich war alleine in einer Bar. Soweit war es gekommen! Wenigstens verzichtete ich auf den Alkohol - damit ich nicht ganz so bemitleidenswert aussah und kein dummes Gerede entstehen konnte. Zwar hatten sich in der Bar nicht viele Gäste eingefunden, aber wenn einer von ihnen Reporter war, könnte ich mir später was von Mizuho anhören.
 

Der Barkeeper schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und ich wollte mir am liebsten die Kugel geben. Der Tag war noch nicht vorbei und ich hatte meine Prinzipien bereits über Bord geworfen. >Verschwende keinen Gedanken mehr an Seto Kaiba< war in den letzten fünf Jahren zu meinem Mantra geworden. Dass eine einzige Begegnung ausreichte, um unsere gemeinsame Zeit wieder lebendig werden zu lassen, damit hätte ich nun wirklich nicht rechnen können. Schließlich ging es mir die letzten Jahre gut. Nicht mega, aber gut. Ich konnte mich wirklich nicht  beklagen. Meine Karriere hatte mich ständig auf Trapp halten können. In dieser Hinsicht war ich für all den Stress dankbar. Laut meinem Terminkalender war keine Zeit gewesen, sich wegen eines egozentrischen, reichen Pinkels die Seele aus dem Leib zu heulen, und ich würde jetzt ganz sicher nicht damit anfangen.
 

Zähneknirschend nahm ich ein kleines Päckchen, holte den Zahnstocher heraus und rührte damit im Glas herum. Desinteressiert starrte ich auf den Wirbel, den meine Bewegungen hervorbrachten. Wenn ich mich lange genug darauf konzentrierte, könnte ich vielleicht endlich dieses frustrierende Gefühl loswerden. Etwas zu fest umklammerte ich das kleine spitze Holzteil. Ich hasste es, dass ich mich so fühlte. Dieser Ärger in mir…weil er mich links liegen gelassen hatte. Wie Luft hatte er mich behandelt, dieser arrogante..

>Krack< und schon zerbrach der Zahnstocher. Okay, neuer Versuch! Das mit der Ablenkung hatte ich noch nicht raus. Ich nahm einen Schluck Orangensaft (in meinen Erinnerungen war er nicht so süß gewesen), knallte das Glas zurück auf den Tresen und zählte die Flaschen hinter der Bar, bis ich es nach zweimal Verzählen endgültig aufgab. Was hätten wir denn noch…In meiner Hosentasche waren vier Kartenpacks, die Industrial Illusions verteilt hatte. Für das anstehende Turnier hatte Pegasus exclusive, neue Karten anfertigen lassen. Vielleicht könnte ich mir damit ein wenig die Zeit vertreiben. Mit Yugi hatte es immer Spaß gemacht, neue Booster zu öffnen. Warum nicht auch jetzt? Gespannt riss ich die erste Packung auf. Neue Karten fühlten sich immer besonders an. Das glatte Papier, die unbeschadete Oberfläche und ein leicht chemischer Geruch, der nach wenigen Stunden auch schon verflogen wäre.

Das zweite Pack war schon nicht mehr so aufregend, die Karten wiederholten sich, scheinbar gab es nur eine geringe Anzahl neuer Monster, und bei dem dritten und vierten Booster blies ich auch schon wieder Trübsal. Die Karten aufeinander gestapelt, begann ich zwei von ihnen zwischen die Finger zu klemmen und sie zu kleinen spitzen Dächern zusammen zu schieben. Bei Yugi sah es immer so einfach aus. Einmal hatte er ein Kartenhaus gebaut, das fast bis zur Decke ging, und nur zusammengebrochen war, als seine Mutter mit voller Wucht die Zimmertür aufgerissen hatte. Das, was ich fabrizierte, kam nicht annähernd an den König der Spiele heran. Die Zunge herausgestreckt, dabei die Karten fixierend, versuchte ich ein weiteres Pärchen auf die erste Etage zu stellen.

"Für so etwas braucht es Fingerspitzengefühl", sagte eine Stimme in meinem Kopf, die sich verdammt nochmal nach Seto Kaiba anhörte. Ja, so etwas hätte zu dem reichen Pinkel gepasst. Es war, als würde seine Stimme leibhaftig vor mir stehen…Die Karten glitten mir aus der Hand, das Kartenhäuschen war im Eimer.

"Kaiba", blinzelte ich zu dem Braunhaarigen hinauf, der sich direkt vor meinen Platz gestellt hatte. Seine blauen Augen fixierten meine Finger, mit denen ich mir zwei weitere Karten schnappte.
 

Möglichst unauffällig versuchte ich ihn anzusehen. Nur leider war das Überraschungsmoment auf seiner Seite, dass ich ihn wie einen Außerirdischen begafft haben musste. Sofort fiel mir auf, dass er seine Klamotten gewechselt hatte. Das dunkelblaue Hemd stand ihm definitiv besser und allein für diesen Gedanken hätte ich mich auf den Mond schießen können.
 

"Ist das so eine Art Work Life Balance?", fragte er.

"Ich wüsste nicht, dass dich das was anginge." Wow, war ich gerade stolz auf mich. "Was machst du eigentlich hier?", fragte ich und versuchte weiterhin so gleichgültig zu klingen. Dass ich dabei seelenruhig an meinem Kartenhäuschen arbeitete, sollte ihm vorführen, wie egal mir seine Antwort war.

"Dasselbe wie du, Jonouchi."

Ich schaute auf. Mich beim Nachnamen zu nennen, löste etwas Komisches in mir aus. Ich war…enttäuscht? "Ausgerechnet hier?", rutschte es aus mir heraus.

"Es ist das beste Hotel in der Stadt", antwortete Kaiba und setzte sich neben mich, "oder dachtest du, ich bin wegen dir hier?" Diese Provokation in seiner Stimme. Wollte der Typ mich verarschen?!

"Nein", knirschte ich mit den Zähnen. Klasse! Keine fünf Minuten hatte es gedauert und meine Coolness war dahin. Noch dazu hatte Kaiba vom ignoranten Arsch zum selbstgefälligen Fatzke geschalten. Ich fühlte mich fünf Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Nicht gut. Ganz und gar nicht gut.
 

"Du hast dich überhaupt nicht verändert, Jonouchi." War das Spott oder…Erleichterung?

"Doch das habe ich", erwiderte ich und schnappte mir zwei Monsterkarten. Wenn ich doch nur meine Klappe halten könnte. Gerade klang ich wie ein bockiges Mädchen, das keine weitere Schokolade essen durfte.
 

"Achso?!" Mehr sagte er nicht, aber aus dem Augenwinkel sah ich seinen aufmüpfigen Blick, der mich fast die Selbstbeherrschung verlieren ließ. Nur die Tatsache, dass ich Kaiba nicht darin bestätigen wollte, wie recht er im Augenblick hatte, ließ mich die Zähne zusammenbeißen.
 

Bevor ich ein weiteres Mal zu Kaiba aufschauen konnte, hatte dieser auch schon den Barkeeper zu sich heran gewunken. Erstaunlich freundlich bestellte er zwei Bourbon. Zu spät schnallte ich, dass das zweite Glas für mich war. Kaiba hatte es mir direkt vor die Nase geschoben und am liebsten hätte ich einen dummen Spruch abgelassen…wenn ich nicht genau gewusst hätte, wie dieses Gespräch geendet hätte. Na wenigstens konnte ich im Ernstfall doch noch mein Maul halten.
 

"Lässt du mich mitspielen?"

Okay, Kaiba hatte es eindeutig geschafft, mich komplett rauszubringen. So viele Fragen schwirrten in meinem Kopf, so viel Unausgesprochenes, das endlich hinaus geschrien werden wollte - doch stattdessen schob ich ihm meine Hälfte der Karten hin und wir beide begannen, Stück für Stück ein neues Kartenhäuschen aufzubauen. Kaiba war wirklich geschickt darin - natürlich. Seine langen, schmalen Finger, die schon fast zierlich wirkten, drapierten die Karten sorgfältig aufeinander. Faszinierend, wie fest diese Finger sich in meine Haut krallen konnten, wie grob seine Hände waren, wenn er vollends die Kontrolle über sich verlor. Den ein oder anderen Kratzer hatte es immer mal gegeben, wenn er mir auch nie böswillig Schmerzen zufügen wollte. Mental, ja. Aber für rohe Gewalt hatte selbst Seto Kaiba nichts übrig gehabt, wenn er mich mal wieder in Grund und Boden gevögelt hatte.
 

Von selbst bewegte sich meine freie Hand in Richtung der braunen Flüssigkeit. Der Bourbon war geschmacklich der Hammer, aber jetzt sollte er bloß seinen Zweck erfüllen. Mit irgendwas musste ich mich ja ablenken, wenn ich nicht dauernd daran erinnert werden wollte, wie sehr mir Kaiba gefehlt hatte - über den Sex brauchten wir erst gar nicht zu reden.
 

Ich bemühte mich, die Finger ruhig zu halten. Ganz vorsichtig…schön langsam und nur nicht zu Kaiba rüber sehen. Der hatte sich ebenfalls einen Schluck Bourbon genehmigt, sah vom Glas direkt auf meine zitternden Finger. Eine Schweißperle rann meine Schläfe hinab, als ich die beiden Karten zu einem Spitzdach zusammengefügt hatte. Dann war Kaiba wieder an der Reihe. Der Kerl war mir ein Rätsel. Warum hatte er sich zu mir gesetzt? Um mit mir an meinem Kartenhäuschen zu bauen? Hatte er mich am Tresen entdeckt und dann dachte er sich: >ach ja, die gab's ja auch noch.<

Ich presste die Lippen zusammen. Dieses Schweigen zwischen uns, es raubte mir die Nerven. Zu viel ließ es mich an früher denken und daran, wie sehr mir unsere Trennung zu schaffen gemacht hatte. Vorsichtshalber nahm ich noch einen ordentlichen Schluck Alkohol. Das hier fühlte sich viel zu sehr nach Dejavu an. Na los, gab ich mir selbst einen Ruck, sag' irgendwas, frag' ihn, wie es ihm geht oder irgendeine andere belanglose Scheiße.

"Übrigens", ich griff nach dem Kartenstapel, "herzlichen Glückwunsch zu deiner Verlobung."
 

….
 

Du Idiot! Wo war die nächste Kloschüssel? Ich musste dringend meinen Kopf darin versenken.
 

"Meine Verlobung", wiederholte Kaiba und spielte mit einer Zauberkarte. Dabei ließ er das Papier wie einen Trickbetrüger vor und zurück schnippen. "Die Presse hat es ziemlich überzeugend dargestellt", sagte er und sah zu der Karte hinunter. Dabei klang er, als würde er mit sich selbst sprechen.

"Also stimmt es gar nicht?", ich wischte mir durchs Gesicht. Mist, warum war ich auf einmal so erleichtert.

"Die Sache ist geschäftlich, Jonouchi. Und meine Geschäfte gehen dich nichts an."

Da war er wieder. Seto Kaiba, der mir keine klare Antwort geben wollte.

"Oder", ein schiefes Lächeln huschte über seine strengen Züge, "bist du etwa eifersüchtig?"

"Was?!" Ich trank einen kräftigen Schluck und auf einmal war das Glas leer. "Ich bin nicht eifersüchtig!" Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, lief ich puterrot an. "Warum sollte ich? Schließlich waren wir nie wirklich zusammen, nicht wahr? Außerdem kannst du machen, was du willst. Ich wünsche dir auf jeden Fall alles Gute - für dich und Ms. Perfect."
 

"Regel Nummer neun: das Hündchen denkt erst, bevor es spricht."
 

Mit dem Finger zeigte Kaiba auf mein leeres Glas. Und tatsächlich - der Barkeeper beugte sich zu uns vor und schenkte mir und Kaiba ordentlich nach. Ich hatte bis dahin gar nicht bemerkt, dass der Braunhaarige ebenfalls sein Glas geleert hatte. Wie lange saßen wir eigentlich schon hier?
 

"Gut", sagte er und schwenkte sein Glas, dass die Eiswürfel zu tanzen begannen. "Immerhin hast du ja deinen Sunnyboy."

"Jack?!" Ich blinzelte. Hatte Kaiba etwa von den Gerüchten gehört? Kaum zu glauben, dass der Kerl in irgendwelchen Klatschmagazinen herum blätterte.

"Wir sind Freunde", murmelte ich und kümmerte mich endlich wieder um das Kartengerüst.

"Achso?!", sagte Kaiba. Er hatte wieder diesen besonderen Blick aufgesetzt, der mich nicht hinter seine Fassade blicken ließ. Pokerface - darauf schien er ein Patent zu haben. "Besser so. Der Typ ist ein Einfaltspinsel."

"Einfaltspinsel…?!" Noch bevor ich es verhindern konnte, prustete ich auch schon drauf los.

"Was ist daran so lustig?" fragte Kaiba ernst. Dieser Blick…ich hätte mich wegschmeißen können. "Weißt du etwa nicht, was das heißt?"

"Na klar. Ich hätte nur nicht gedacht, dass DU es kennst…oder in den Mund nehmen würdest."

"Du bist schon ganz schön schräg, Jonouchi, weißt du das?"

"Ich?!", ich riss die Augen auf, noch immer mit einem breiten Lächeln im Gesicht, "du bist es doch, der mich hier abfüllt und an meinem Kartenhäuschen herumpfuscht!"

"Ich habe nicht vor, dich >abzufüllen<, Jonouchi. Dafür braucht es schließlich etwas mehr als ein paar Gläser Bourbon." Langsam wanderten seine Augen zu meinen Lippen. "Oder möchtest du, dass ich dich betrunken mache?"

"Nein, nein", entgegnete ich etwas zu laut, "ich würde dir bloß auf dem Tresen einschlafen."

"Wirklich? In meinen Erinnerungen bist du sehr wach, wenn du betrunken bist."

"Ähm." Schnell schaute ich weg. Dabei konnte ich Kaibas selbstzufriedenen Blick an meinem Hals spüren. Ich musste mich dringend auf andere Gedanken bringen. Die nächsten zwei Karten zur Hand genommen, tat ich so, als würde ich mich ganz meinem Kartenhäuschen widmen.

"Jonouchi", Kaibas Stimme so nahe an meinem Ohr und mein ganzer Körper wurde sofort mit dieser Gänsehaut bedeckt. Elender Teufel!

"...dein Kartenhaus, Jonouchi", sagte er, "wenn du nicht aufpasst, wird es in sich zusammenbrechen."

"Was redest du denn da?!" Auf einmal war ich mir nicht so sicher, ob wir noch von demselben Kartenhaus redeten.

"Das ist dein Fehler, Jonouchi", er beugte sich gefährlich nahe zu mir herüber, "weil du es nicht einmal merkst-" Sein Duft streifte meine Nase. Alkohol und Jetlag taten ihr Übriges, dass sich alles um mich herum zu drehen begann. Es genügte ein tiefer Atemzug, eine winzige, falsche Bewegung und das Kartenhaus fiel in sich zusammen. Gespannt starrte ich auf den Haufen.
 

Aber nichts geschah.

Known territory

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Awakening

Ich war gerade zwischen Doggystyle und Chili Cheese Burgern gefangen, als mich mein Smartphone mit der Titelmelodie einer alten Kinderserie weckte. Völlig zerstört blinzelte ich in den Tag, griff blind in mein Bett, wo ich natürlich nicht fündig wurde und fluchte leise vor mich hin. Mein Schädel revanchierte sich für jede weitere Strophe und der Song hatte insgesamt sechs. Also rappelte ich mich hoch. Trottete orientierungslos durch das Apartment, bis ich irgendwo unter der Minibar fündig geworden war. Wie war das Ding denn dort gelandet? Ach ja, ich erinnerte mich. Das musste zu dem Zeitpunkt gewesen sein, als Kaiba meine Jeans durch den halben Raum geschleudert hatte…

"Oh, oh!"

Die Erinnerungen der letzten Nacht kehrten mit einem Schlag zurück. Keine Ahnung, wie lange mich Kaiba noch gequält hatte, bis er mir den alles befreienden Orgasmus beschert hatte. Danach war ich wie gerädert gewesen und musste kurz danach eingeschlafen sein. Und Kaiba? Der hatte sich wohl ohne einen Ton verkrümelt. Etwas anderes hatte ich nicht von ihm erwartet. Im Augenblick war ich sogar froh, dass er mich nicht breit grinsend auf irgendeiner Fensterbank begrüßte. Für sowas war ich gerade einfach zu müde und verkatert. Beides kein Zustand, der mir eine Hilfe war. Schließlich erwartete mich Mizuho in knapp zwei Stunden. Für meinen Absacker letzten Abend musste ich mir noch eine gute Ausrede einfallen lassen.
 

Bevor ich darüber nachdenken konnte, brauchte ich erst einmal eine kalte Dusche. Ich steuerte auf die Badtür zu und blieb direkt vor dem Spiegel stehen. Scheiße, war das ein Knutschfleck?! Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich auf die Stelle an meinem Hals.

"Argh…. dieser-", knurrte ich und zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. Das war doch nicht…?!

"Ist das dein ernst", schrie ich durchs Apartment und stampfte zurück ins Zimmer.

"Ich wüsste nicht, was dagegen spricht."

Ich blieb stehen. "Jack?!"

"Komme ich ungelegen?"

"Äh", ich riss die Augen auf. Wenn Jack den Knutschfleck entdeckte - nicht, dass wir zusammen gewesen wären oder irgendeiner von uns Verpflichtungen hatte. Aber es gäbe sicher Fragen und ich war keine gute Lügnerin.

"Warte kurz", rief ich, lief hektisch durch mein Zimmer, auf der Suche nach meinen Klamotten und etwas, das das Ding an meinem Hals verdecken konnte. "Bin gleich soweit. Ich brauche nur etwas zum Anziehen."

"Wegen mir-"

"Ja ja, ich weiß schon." Na wer sagt's denn. Mizuho hatte ein dünnes Sommertuch eingepackt. Geradeso bedeckte es die Stelle. Das Outfit war jetzt nicht typisch Ich, aber es erfüllte seinen Zweck. Noch schnell die Shorts hochgezogen und ich lief zur Tür. Ein zweites Mal erstarrte ich, als auf der Kommode - direkt neben der Tür - ein Halsband aufblitzte. Jetzt erinnerte ich mich auch wieder daran, was nach unserer wilden Vögelei passiert war.
 

"Willst du mich verarschen, Kaiba?!"

"Sehe ich so aus, als ob ich scherze?

"Naja...keine Ahnung, wie du dabei aussiehst. Du hast ja noch nie irgendwelche Witze gerissen."

"Na, da hast du's."

"Kaiba", knurrte ich, wickelte die Decke wie ein Handtuch um mich und stemmte die Hände in die Hüften. Gerade waren der berauschende Sex und der Alkoholpegel vergessen. "Hast du mich deshalb angequatscht?" Ich nickte ihm zu. Besser gesagt, nickte ich dieses Halsband an, das er an seiner hinteren Hosentasche baumeln hatte und nun ausgestreckt in seiner Hand lag.

"Was spielt das für eine Rolle", entgegnete er trocken. Für diese Antwort hätte ich ihm eine scheuern können.

"Ich werde es nicht anlegen!" Wie wütend ich gerade auf diesen arroganten Fatzke war! Und wie bescheuert ich mir vorkam. Weil ich mich wieder mal nicht unter Kontrolle gehabt hatte, weil ich wieder einmal schwach geworden war.
 

"Doch, das wirst du", entgegnete Kaiba. Hatte mir der Kerl überhaupt zugehört?!

"Wieso bist du dir da so sicher?" Langsam wurde ich echt wütend. Hatte Kaiba überhaupt nicht dazugelernt? "Ich muss gar nichts, klar?!", beharrte ich weiter, als Kaiba mir keine Antwort gab. "Ich bin nicht dein Sklave, Schoßhündchen oder sonst was! Und ich werde ganz sicher nicht dieses Halsband auf einer deiner beschissenen Partys tragen!" Ich machte eine Pause. Hauptsächlich weil ich kurz zusammengezuckt war, nachdem mich Kaiba wegen meines verbalen Ausbruchs angefunkelt hatte.
 

"Jonouchi", diesmal sprach er meinen Namen nicht mehr so freundlich aus, "du wirst nächsten Abend bei dieser Party erscheinen…und du wirst dieses Halsband dabei tragen." Er legte es auf die Kommode, dass die Worte genau in meine Richtung zeigten. >Seto Kaibas Eigentum< stand da in schnörkeligen Zeichen. Mein Gesicht war eine einzige Feuerkugel. Mit Geilheit hatte das nichts mehr zu tun.

"Warum ich das weiß, Jonouchi?" Er öffnete die Tür, "weil ich immer alles weiß."
 

"Was ziehst du dir gerade an, Kazuha? Ein Hochzeitskleid?"

"Nein, ich muss…ich meine, ich hab's gle-eich", entgegnete ich, schnappte mir das Hundehalsband und rannte zum Koffer, wo ich es zwischen meine Badetasche und der Ersatz-DuelDisc stopfte.

"Ich komme!" Und ich rannte zurück zur Tür, blieb keine zwei Meter vor meinem Ziel am Teppichläufer hängen, dass ich im Sturzflug auf die Tür zusteuerte. Die Hände ausgestreckt, packte ich die Klinke, zog sie herunter und landete auf den Knien vor Jack Wainwright.

"Kazuha Jonouchi", die Nummer drei der Weltrangliste schaute zu mir herunter, "so jemanden wie dich trifft man nur einmal im Leben."

"Na, das hoffe ich doch", grinste ich und nahm Jacks Hand entgegen. Seine dunkelroten Augen sahen mit belustigt an.
 

Als Mai Jack und mich miteinander bekannt gemacht hatte, kannte ich Jack Wainwright bloß vom Hörensagen. Ein reicher, gutaussehender Duellant, der vor Ewigkeiten unter Keith Howards Fittiche, alias Bandit Keith, alias schlechtester Verlierer aller Zeiten, genommen worden war. Das war zu der Zeit, als Keith noch nicht von Alkohol und Drogen zur Lachnummer der gesamten Vereinigten Staaten wurde. Ich musste zugeben, ich hatte meine Vorurteile. Immerhin war mir Bandit Keith sehr gut in Erinnerungen geblieben und wer so jemanden seinen Mentor nannte…was sagte das über den Typen aus?

Nach einem hitzigen Duell auf Mais Poolparty und zwei leere Pizzaschachteln später, war mein Bild von Jack ein ganz anderes. Klar, er war ein eingebildeter Kerl, der sich durch fragwürdige Methoden an die Spitze gekämpft hatte  - aber welcher Duellant hatte das nicht (mal abgesehen, von Yugi und mir und einer handvoll trauriger Dropse, von denen die meisten es nicht einmal in die Top Ten geschafft hatten). Wenn man das Oberflächliche außer Acht ließ, war Jack ein feiner Kerl. Extrem spontan und offen zu alles und jedem. Dass wir auch miteinander schliefen, hatte sich eher beiläufig ergeben. Manchmal war der Alkohol dran Schuld, und manchmal war uns einfach nur langweilig. Sex mit Jack war eines meiner lausigen Versuche, meine wahren Gefühle von mir zu schieben. Am Anfang hatte es auch ganz gut funktioniert. Jack war ausdauernd und schamlos. Beides in Kombination hatte seine Reize - wenn sich da nur nicht diese blöden Schuldgefühle eingeschlichen hätten. Schuldgefühle gegenüber Jack, der es vielleicht nicht zugab, aber mehr in mir sehen wollte als eine Nummer für Zwischendurch. Als sein Kumpel hätte ich klare Grenzen setzen müssen. Das Showbiz machte mich von Zeit zu Zeit zu einem selbstsüchtiges Miststück, das bloß seine eigenen Probleme ertränken wollte.

Und dann waren da noch die Schuldgefühle gegenüber…naja…diesem gewissen Kerl, der einfach nicht aus meinen Gedanken verschwinden wollte.
 

"Ich dachte, dein Flieger startet erst Nachmittag", sagte ich und richtete ganz vorsichtig mein Halstuch.

"Kleine Planänderung", verkündete er mit seinem perfekt einstudierten Lächeln. Ganz beiläufig drückte er mich an sich. "Die haben das Interview vorverlegt…naja, kann man nichts machen. Und da ich schon mal so früh in L.A. bin, dachte ich, wir könnten uns einen angenehmen Morgen machen." Er lächelte mich an. Diesen Blick kannte ich. Das war der >Jack-ist-geil-Blick<. Jede andere Frau wäre dahingeschmolzen. Jack war der Frauenmagnet schlechthin. Eigentlich brauchte er keine verplante Duellantin wie mich, um ordentlich durchgenommen zu werden. Reihenweise standen die Weiber an, wenn Jack >Crushing< Wainwright die Bühne betrat. Ein bisschen konnte ich es verstehen. Der Kerl sah aber auch verdammt scharf aus. Dunkelblonde, wilde Mähne, dazu die roten Augen, die an Rubine erinnerten und dann noch der lässige Dreitagebart, auf den die halbe Frauenwelt abfuhr. Für meinen Geschmack hätte es auch ohne getan, aber allein für den Kommentar hätten mir seine Fans bereits den Kopf abgerissen. Die Gerüchte über unsere >Beziehung< reichten schon aus, dass ein >wir hassen Kazuha Jonouchi Club< gegründet worden war. Obwohl ich deren Website schon echt witzig fand; da gab es sogar einen Fanshop mit selbstgenähten Voodoo-Puppen, auf denen sie mein Gesicht extrem gut getroffen hatten. Honda hatte mir mal eine zum Geburtstag geschenkt - wir hatten uns den ganzen Abend vor Lachen nicht mehr eingekriegt.
 

"Jack", murrte ich und verschränkte die Arme vor der Brust, "wenn du geil bist, such' dir jemand anderen zum Spielen. Ich hab' heut' echt keine Zeit."

"Du meinst, wegen des Fotoshootings für das QTD Turnier?"

"Woher-"

"Deine Managerin war so >freundlich< und hat mir deinen Terminkalender geschickt", sagte er und verdrehte die Augen, "sicher hat sie das nur getan, um mich loszuwerden."

"Bestimmt."

"Aber ich bin trotzdem hier. Also-"

"Nein, Jack-"

"Wer hat denn was von Ficken gesagt?", Jack lachte auf.

"Dein hungriger Blick", erwiderte ich.

"Dir kann ich nichts vormachen, oder? Aber ganz im Ernst, ich wollte dich zu einem ordentlichen Frühstück einladen. Ich habe gehört, die haben hier ein wunderbares Buffet. Aber wenn du doch lieber-"

"Essen!", Quatschte ich dazwischen und schob Jack weg von meinem Apartment, "ich hab' einen Bärenhunger. Also: los, los!"

Counterattack

Sechs Stunden später und mein Kopf war bereit, zu Mus verarbeitet zu werden. Selbst so etwas einfaches wie Autogramme geben fühlte sich wie eine dieser verdammten Matheprüfungen an.  Das Fotoshooting hatte sich schon extrem in die Länge gezogen. Sonst hatte ich ja nichts gegen ein paar Fotoaufnahmen, aber die Fotografin war heute echt mies drauf. Eine richtige Perfektionistin, der man es einfach nicht recht machen konnte. Das erinnerte mich stark an jemanden, an den ich nicht erinnert werden wollte. Aber wann hörten mein Kopf und ich schon mal aufeinander...
 

Meine Laune war jetzt mehr als nur im Keller. Die zwei Aspirin auf Ex, sowie das ausladende Frühstück mit Jack (es hatte phantastische Waffeln mit noch phantastischerer Sahne und Schokosauce gegeben) hatte nicht so wirklich Früchte getragen. Natürlich kannte ich den Grund für meinen Dauerkater, der in Wirklichkeit kein Kater wa, sondern…ja, was war das nun? Scham, Reue, Herzrasen, ein anstehender Herzinfarkt? So viel stand auf jeden Fall fest: Ich war frustriert, wütend und konnte nur an dieses blöde Hundehalsband denken. Schon allein, wenn ich mir Kaibas Gesicht vorstellte, wie er das Teil ganz selbstverständlich auf die Kommode abgelegt hatte. Und dann dieser Satz…
 

"Ich brauche dringend eine Pause", flüsterte ich Mizuho ins Ohr. Mit einem Nicken kümmerte sich meine Managerin um alles. Sprach mit der Security und besänftigte die Fans, die eine meterlange Schlange vor meinen Autogrammtisch gebildet hatten.

"Joey", hörte ich den ein oder anderen rufen. Daran hatte ich mich mehr oder weniger gewöhnt. Der Name entstand eher zufällig. Wegen Pegasus Crawfords grässlichen Akzents hatte man statt Jonouchi >Joey< verstanden, weshalb man mich in den Staaten fast ausschließlich so nannte, und solange dieses >Miss< nicht davor stand, war das auch vollkommen okay für mich.
 

Wir waren in einer dieser Malls, nicht weit vom Hotel entfernt. Viele Möglichkeiten, sich die Beine zu vertreten, gab es hier nicht und Mizuho hatte mich angehalten, mich nicht so weit von den Sicherheitsleuten zu entfernen. Dieses Versteckspiel war nicht so mein Ding. Die Leute wollten mich sehen und ich gab nicht gern die Unnahbare.

Widerwillig verkrümelte ich mich ins Zelt, in dem ich geschminkt und zurechtgemacht worden war. Ich nahm den Eistee, den mir meine Managerin hingehalten hatte und verzog das Gesicht. Wie lange musste ich das Zeug noch in der Öffentlichkeit trinken? Drei Monate? Gegen Eistee hatte ich ja nichts, aber mit dem Vanillegeschmack kam ich nicht klar.

Hastig kippte ich die süße Plörre hinunter. Ich hatte starken Brannt und der Eistee hatte es jetzt verdammt nochmal schlimmer gemacht. Mit mürrischem Blick knallte ich die Flasche auf den Tisch und huschte aus dem Zelt. Der nächste Automat war nicht weit, und in dieser Ecke verirrte sich eh kein Mensch. Gemütlich zog ich mir eine Wasserflasche und trottete zurück. Die kalte, klare Flüssigkeit tat gut. Ließ mich daran erinnern, was mir an diesem Morgen gefehlt hatte. Ohne meine morgendliche kalte Dusche kam ich einfach nicht in Fahrt. Der Spiegel auf dem Frisiertisch war der Beweis.

Ich stopfte mir das Wasser in die Shorts und holte dafür mein Handy heraus. Jetzt, wo ich schon mal ein paar Minuten hatte, gab es eine Person, die mit vielleicht das Chaos in meinem Kopf sortieren konnte und genau die rief ich an.
 

"Kazuha, Schätzchen", sang auch schon Mai Kujaku ins Telefon, "was für eine Überraschung von dir zu hören!  Bist du nicht gerade in L.A. wegen des nächsten großen QTD Events?"

"Äh, ja", antwortete ich und setzte mich auf den Tisch. "Ich hab gerade ein wenig Luft und…"

"Und da dachtest du, ein Pläuschen mit deiner liebsten Mai wäre jetzt genau das Richtige", half mir die rassige Blondine auf die Sprünge.

"So ungefähr."

"Kazuha-chan."

"Ja?"

"Spuck' schon aus, was los ist!"

"Was los ist…?", ich riss die Augen auf. Selbst übers Telefon konnte ich ihr nichts vormachen.

"Kazuha", seufzte Mai, "wie lange kennen wir uns? Sechs Jahre? Ich weiß halt, wenn meine kleine Trantüte Kummer hat."

"Kummer?", knurrte ich ins Telefon. Kaibas Gesicht war mir wie eine Fata Morgana vor dem Zelteingang erschienen. "Ich bin wütend, verdammte scheiße-!" Ich hielt mir den Mund zu. Das Gesicht löste sich auf. Zurück blieben Frust und Regel Nummer acht. "Sorry", murmelte ich hinterher, "gestern war einfach…"

"Gestern?", Mais Stimme wurde eine Spur höher. "War da nicht die Pressekonferenz mit Pegasus und…"

"Ja, genau", bestätigte ich und biss mir auf die Unterlippe.

"Euer erstes gemeinsames Wiedersehen…" Im Hintergrund polterte es. Verwirrt lauschte ich den Geräuschen aus dem Telefon. "War das gerade ein Sektkorken?!", fragte ich ungläubig.

"Ich habe mir nur ein Schirmchen ins Glas gesteckt."

"Das hier ist kein Grund zum feiern, Mai!"

"Ach ja?!", wie ich gerade ihr Lächeln vor mir sah, "du kannst mir doch nicht erzählen, dass da nichts zwischen euch gelaufen ist."

"Äh."

"Na, wer sagt's denn", quietschte Mai ins Telefon, "war der Sex immer noch so gut wie früher? Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Versöhnungssex ganz ausgezeichnet ist, wenn die Kulisse stimmt. Ihr habt's doch nicht in irgendeiner Besenkammer getrieben?!"

"Kaiba und ich sehen uns nach fünf Jahren wieder und du fragst mich als erstes darüber aus?!" Ich lief rot an. Egal wie oft ich mit Mai über dieses Thema redete, es war mir nach all den Jahren immer noch unangenehm. Vor allem, weil ich Mai ganz genau kannte. Die hörte nicht nach ein, zwei Fragen auf.
 

"Ach bitte, Kazu! Nach allem, was ich über eure versauten kleinen Spielchen weiß, werd' ich dich ganz sicher nicht nach der Farbe seines Anzuges fragen."

Wo sie recht hatte…
 

Nach einem theatralischen Seufzer, begann ich den gestrigen Abend nachzuerzählen - ohne die versauten Details. Ich wollte schließlich nicht meine Wut durch Geilheit ersetzen.
 

"Hm", machte Mai und es klang als hätte sie sich einen Schluck ihres >Was-auch-immers" genehmigt. "Fassen wir zusammen: ihr hattet Sex, den du nicht bereust."

"Da-"

"Ah, ah", redete mir Mai dazwischen, "red' dich nicht raus, Schätzchen. Du warst vielleicht etwas angeheitert, aber ganz bestimmt nicht betrunken. Also weiter im Text: nach dieser… vergnüglichen  Nacht lädt dich Kaiba auf eine Hausparty ein."

"Er hat mich nicht eingeladen, Mai", die freie Hand ballte ich zur Faust. >Und täglich grüßt das Murmeltier< "Wie kann er glauben, dass ich mich wieder auf dieses Spielchen einlassen würde?"

"Ich kenne keine Herausforderung, die du nicht angenommen hättest."

"Herausforderung", murmelte ich und lockerte die Faust.

"Genau", bestätigte Mai, "vielleicht will er dich auf die Probe stellen."

"Der arrogante Geldsack will sich wohl eher über mich lustig machen." Ich schüttelte den Kopf. "Als ob ich mich vor der gesamten High Society zum Affen machen will." Zumindest nicht freiwillig. Die ein oder andere peinliche Sache hatte ich bloß meiner Schusseligkeit zu verdanken gehabt.
 

"Wer sagt, dass du dich zum Affen machen sollst", entgegnete Mai. "So wie ich das sehe, könnte das eine spaßige Angelegenheit werden."

"Ich glaube, wir haben nicht dieselbe Vorstellung von Spaß."

"Ach, was. Vertrau mal deiner Tante Mai."

Tante. Diesen Satz würde sie bei passender Gelegenheit noch von mir zu hören bekommen.
 

"Oder bist du nicht mehr scharf drauf, gegen Seto Kaiba zu gewinnen?" Die Worte wiederholten sich wie ein Echo in meinem Kopf. Kaiba schlagen. Kein so übler Gedanke. "Und wie stell' ich das an?"

"In dem du ihn mit deinen eigenen Waffen schlägst."

"Und das Halsband?"

"Das wirst du natürlich tragen. Das ist schließlich die Bedingung."

"Ich weiß nicht, Mai," kopfschüttelnd wischte ich mir übers Gesicht. Wenn ich Kaiba nachgeben würde, wären wir wieder an demselben Punkt wie damals nach meinem verlorenen Spiel. Wenn ich mir bei vielem unklar war - aber was ich nicht wollte, wusste ich. Nämlich noch einmal zu seinem Hündchen werden. Dieselben Spielchen wie damals spielen, nur damit Kaiba in seiner Komfortzone bleiben konnte.
 

"Kazuha-chan", sagte Mai. Sanft war ihre Stimme. Und leise. "Ich habe keine Ahnung, was damals zwischen euch vorgefallen ist, aber wenn du noch Gefühle für ihn hast… dann solltest du nachher zu der Party gehen. Ich weiß, das klingt etwas schräg, aber…ihr seid ein schräges Paar und ich glaube, dass ihr nur so eure Probleme aus der Welt schaffen könnt."

Meine Antwort war Schweigen. Mir war nicht klar, was ich dazu hätte sagen sollen. Mai kannte die Hintergründe unserer Trennung nicht. Die kannte niemand. Vielleicht hätte sie anders reagiert, wenn sie gewusst hätte, was wirklich zwischen uns vorgefallen war.
 

Andererseits lag so viel ungeschönte Wahrheit in ihren Worten. Kaiba und ich - wir beide waren nicht normal. Zumindest nicht, wenn wir zusammen waren. Vielleicht hatte Mai doch recht. Vielleicht war dieser Abend die Chance, mal Tacheles zu reden. Oder zumindest Kaiba davon zu überzeugen, dass er nicht einfach so auftauchen  und glauben konnte, er könnte machen, was er wollte…
 

"Alles klar!", rief ich ins Telefon und sprang vom Tisch.

"Hab ich was verpasst?", Fragte mich Mai.

"Alles gut. Du hast mir wieder mal die Augen geöffnet. Danke."

"Immer wieder gern", entgegnete Mai und klang dabei noch immer etwas verwirrt.

Wir verabschiedeten uns voneinander und dann rannte ich aus dem Zelt, warf dabei fast meine Managerin um, die mich gerade abholen wollte.

"Mizu", ich umklammerte meine Managerin und setzte mein breitestes Lächeln auf.

Satoru fasste sich an die Brille und seufzte schwer. "Wenn du mich jetzt wieder fragst, ob ich dir eine Limo besorgen soll-"

"Nein, nein", beschwichtigte ich. Langsam setzte sich Mizuho in Bewegung. Meine Wenigkeit dackelte hinterher. "Deine Freundin ist doch Maskenbildnerin."

"Hmm."

Verschwörerisch blickte ich auf. "Könntest du mir ihre Nummer geben?"

Black Velvet

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Shuffle

"Mizu!" Es war irgendwas nach Mitternacht, ich hatte mich an den Hotelpagen vorbei gemogelt und war schnurstracks in die vierte Etage weiter gerannt. Mit geballter Faust hatte ich an die Zimmertür geklopft. Es war hollywoodreif - und leider auch mein Leben.

"Mizu", rief ich noch einmal, klopfte weiter, bis Licht durch die Ritzen drang, die Tür endlich aufging und Mizuhos Freundin zu mir hinauf schaute.

"Joey-girl?!" Die kleine Frau mit den dunkelgrünen Haaren und dem etwas wirren Irokesenschnitt hob eine Augenbraue. "Damn! Weißt du, wie spät es ist?!", grummelte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch ich ignorierte Mizuhos Freundin, hielt mich am Türrahmen fest und schob meinen Kopf ins Wohnzimmer. "Mizu!" Mein Herz raste, ich keuchte und schnappte nach Luft. Mein wilder Marathonlauf durch das Hilton hatte mich einiges an Reserven gekostet. Die High Heels hatte ich schon im Garten der Villa in das nächste Gebüsch geworfen.

Zumindest hatte ich in den letzten dreißig Minuten nicht denken und fühlen müssen. Mein inneres Chaos kam erst jetzt so langsam wieder in Fahrt.
 

"Kazuha?" Das war Mizuhos Stimme. Sie war gerade aus dem Schlafzimmer gekommen. Meine Managerin trug ein viel zu großes Hemd, das ihre nackten Beine bis zu den Knien bedeckte. Die Brille aufgesetzt, sah sie mich noch wie im Halbschlaf an. "Was ist los, Kazuha? Ich dachte, du bist-"

"Du musst es mir sagen, Mizu!", platzte es aus mir heraus. Um den heißen Brei zu reden, war nicht mein Stil und ich konnte keine Sekunde länger so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Ich riss die Haarverlängerungen von meinem Kopf und sah mit großen Augen zu Mizuho herüber. "Sag' mir bitte, dass es nicht wahr ist."

"Wovon sprichst du, Kazuha… Bist du etwa betrunken?"

Ich schüttelte den Kopf. "Kaiba", sagte ich, dass es mich überall schüttelte, "dass du für ihn arbeitest..."
 

"Phoebe", sagte Mizuho und legte eine Hand auf ihre Schulter. Mich ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen.  "Lass' uns mal kurz alleine, ja?" Mit einem unverständlichen Grummeln entfernte sich Mizuhos Freundin.
 

Da standen wir nun. Schweigend zwischen Tür und Angeln. Ich fürchtete, was als nächstes kommen sollte.

"Kazuha, ich-"

"Komm' mir bitte nicht so, Mizu", schüttelte ich den Kopf. Es war schwer, Mizuho ins Gesicht zu sehen. Dabei nicht wie ein kleines hilfloses Mädchen dazustehen, das von ihrer Mutter ausgeschimpft wurde. Fürs erste schluckte ich meinen Kummer hinunter. "Oder soll ich dich lieber Satoru nennen?"

"Es tut mir leid, Kazuha."

"Was tut dir leid? Dass du in Wahrheit für Kaiba arbeitest und mir nichts gesagt hast? Oder weil du meine Freundin spielen musstest?"

"So ist das nicht." Mizuho schaute auf den Boden. "Sag' mir einfach die Wahrheit, Mizuho. Bist du nur wegen Kaiba zu mir gekommen?"

"..."

"Mizuho!"

"...Ja."

Ich biss mir auf die Lippen. Das hier war die reine Selbstfolter. Aber ich musste da durch, es gab keinen Weg zurück. "Also… war das alles bloß Show.?"

"Nein…"

Taumelnd ging ich einen Schritt zurück. "Die Werbeverträge…meine Sponsoren…alles, was ich mir aufgebaut habe…was WIR uns aufgebaut haben", ich knickte ein, " das war dann also auch nicht echt?"

"So ist das nicht, Kazuha. Ich habe von Kaiba den Auftrag erhalten, für dich zu arbeiten, das stimmt. Aber-"

"Schon gut", ich lächelte gequält. "schwamm drüber."

"Kazu."

"Nein, Satoru, schon in Ordnung. Ich…ich muss…ich geh' jetzt besser. Sag' Phoebe, dass es mir leid tut, euch geweckt zu haben. Wir sehen uns dann morgen."

"Warte, Kazuha!" Zu spät. Die Feuertreppe genommen, stürmte ich auch schon davon. Alles drehte sich, als ich im Wagen saß, die Hände in das Lenkrad krallte und die Stille über mich wie ein plötzlicher Regenschauer einschlug. "Fuck", haute ich einmal kräftig auf das Lenkrad. "Fuck, fuck, fuck!", und schon drückten sich die ersten Tränen aus meinen Augen. Ich schniefte, wischte mir übers Gesicht und startete den Wagen. Zum Glück war das Hotel keine zehn Minuten Autofahrt entfernt. Jetzt noch durch die halbe Stadt zu fahren, hätte ich nicht gepackt.
 

Den Wagen irgendwo zwischen Mülltonnenbucht und Seitenstreifen geparkt, ging ich in mein Apartment zurück. Ich knallte die Tür hinter mir zu, stieß gequält die Luft aus. Fünf Jahre hatte ich an mir gearbeitet, hatte mich weiterentwickelt, war gewachsen. Und Kaiba hatte nur fünf Minuten gebraucht, um mir all das wegzunehmen. Meinen Stolz, meine Würde, mein Selbstbewusstsein - alles dahin. Wegen eines Mannes, der es nicht lassen konnte, sich meine Schwächen zu krallen und ordentlich darin herum zu stochern.
 

Durch das Apartment gestampft, riss ich die Badtür auf, stellte mich vor den Spiegel und drehte das Wasser volle Pulle auf. Bloß weg mit dieser Maske, diesem falschen Ich, zu dem ich mich hatte machen lassen. Viel zu heftig rubbelte ich an meinem Gesicht herum. Es brannte, aber ich konnte nicht aufhören. Nicht solange diese Farce an mir klebte. Wieder sammelten sich Tränen unter meinen Augen, wieder versuchte ich sie wegzuwischen. Keine Chance. Ich konnte mich nicht länger gegen meine Gefühle wehren. Wut und verletzter Stolz waren da das geringste Problem. Langsam sackte ich zusammen, stützte mich am Waschbecken ab, bevor ich auf dem Boden plumpste und mir die Seele aus dem Leib heulte. Dabei hatte ich mir geschworen, nie wieder wegen Seto Kaiba zu weinen. Aber was nützte es, mir einzureden, dass der Kerl mir egal war, dass es mir nichts ausmachte, dass er mich immer wieder anstachelte, mich pisackte und erniedrigte - und ich die ganze Scheiße auch noch mitmachte. Es zuließ, dass er mich verletzte, mich quälte und mir das Herz brach. Ich schniefte, starrte durch meine verheulten Augen auf das Smartphone, das direkt neben mir lag und nahm es in die Hand. Vielleicht war es ein Fehler, aber ich konnte nicht länger mit mir und meinen Gedanken alleine sein. Also suchte ich die Nummer meines besten Freundes heraus.

"Kazuha?!", murmelte Yugi ins Telefon. Wie gut es gerade tat, den kleinen Bunthaarigen zu hören. Schwer zu beschreiben, aber mein Puls verlangsamte sich, kaum dass Yugi abgenommen hatte.

"Yugi", schniefte ich zurück. Eine neue Flut an Tränen drängte sich an die Oberfläche.

"Was ist passiert?!", rief Yugi etwas lauter. Seine Stimme zitterte. Wie dann wohl meine eigene Stimme klang, wenn ein Wort ausreichte, um bei meinem Freund sämtliche Alarmglocken läuten zu lassen.

"Einen Moment, Kazuha", sagte Yugi, murmelte etwas, das nach >Notfall< und >fangt schon mal ohne mich an< anhörte. Mist! Ich riss die Augen auf. Yugis Präsentation! Wie viele Stunden lagen nochmal zwischen L.A. und Domino?

"Yugi", sagte ich, "wenn du arbeiten musst-"

"Schon okay", redete mir der Bunthaarige rein, "mach' dir keinen Kopf. Die Präsentation ist bereits gelaufen, wir klären nur noch ein paar Details. Für diesen ganzen Geschäftskram brauchen die mich nicht unbedingt."

"Ach Yugi", ich heulte Rotz und Wasser. Jetzt versaute ich meinem Kumpel auch noch den vermutlich besten Tag seines Lebens!

"Bitte, Kazuha", Yugi klang, als würde er gleich selbst mit Weinen anfangen, "sag' mir endlich, was los ist."

"Wenn ich wüsste, wie ich anfangen soll, Yugi."

"Verletzt bist du aber nicht, oder?"

"Ich hatte keinen Unfall, aber verletzt…es tut mir leid, ich bin so ein Egoist. Dich einfach mitten in der Nacht zu behelligen-"

"Hör' auf, Kazuha", erwiderte Yugi, "erstens: ist es in Domino weit nach siebzehn Uhr. Und selbst wenn: du kannst jederzeit anrufen, das weißt du. Egal, was es ist, ich bin für dich da."

"Danke, mein Freund."

"Also?"

"Also", entgegnete ich, sortierte mich und meine Gefühle, damit ich halbwegs wieder zu verstehen war. "Du weißt doch, dass ich gestern die Pressekonferenz hatte."

"Ja. Mit Pegasus und Kaiba." Funkstille "…Kazuha? Geht es um Kaiba?"

"Ja."

"Habt ihr euch etwa ausgesprochen?"

"Hmmm", ich knabberte an meinem Daumen herum. Wenn wir uns doch ausgesprochen hätten. Aber dazu schienen weder er, noch ich fähig zu sein.
 

Auf der anderen Leitung stieß Yugi einen lauten Seufzer aus, was eher untypisch für meinen Kumpel war. "Er kann es einfach nicht, oder? Ich hab ihm schon letztes Mal gesagt, dass…" Wieder seufzte der Bunthaarige. Irgendwie raffte ich gerade nichts, aber es klang eh, als würde er gerade zu sich selbst sprechen. "Weißt du, Kazuha", sagte Yugi, machte eine Pause und erzählte dann weiter, "Kaiba…er war damals bei mir, nachdem ihr...naja. Er hat sich erkundigt, wohin du auf einmal verschwunden bist."

"Yugi", hauchte ich.

"Tut mir leid, Kazuha. Ich hatte überlegt, ob ich es dir sagen soll. Aber…du warst in New York mit Anzu und hattest dich langsam wieder im Griff. Ich hatte Angst, dass ich damit alte Wunden aufreißen würde und dass du-"

"Verstehe. Ich weiß, dass ich euch große Sorgen bereitet habe. Vermutlich hast du recht. Ich hätte da nur wieder zu viel hineininterpretiert und am Ende…tja, wir wissen, wie es gelaufen wäre."

"Das habe ich Kaiba auch so gesagt."

"Warte!", ich blinzelte mir die Tränen weg, "du hast was…?!"

"Ich habe ihm gesagt, wie schlecht es dir ging, nachdem ihr beide Schluss gemacht habt und ich habe ihm auch gesagt, dass er dich gefälligst selbst fragen soll, wenn er wissen will, wo du steckst."

"Und", ich traute mich kaum, zu fragen, "was hat er gesagt?"

"Nichts."

Natürlich.

"Er ist einfach rausgestürmt, ohne was zu sagen. Nur sein Blick war irgendwie… seltsam. Kurz dachte ich, es hätte ihn getroffen, was ich gesagt habe. Kazuha", Yugi atmete hörbar aus, "ihr müsst miteinander reden. Ich weiß, ich habe keine Ahnung, warum ihr damals Schluss gemacht habt und vielleicht ist es das Beste, wenn ihr euch einfach nicht mehr seht. Aber ich glaube nicht, dass es das ist, was du willst…oder was ihr wollt."

"Yugi, ich-"

"Du musst es mir nicht sagen, Kazuha. Sag' es, Kaiba!"

"Aber-"

"Keine Sorge", Yugis Stimme klang fest und entschlossen, "ich kümmere mich darum." Und dann legte er einfach auf.

Destiny

Etwas entsetzt starrte ich auf das Display meines Smartphones. Tatsache. Yugi hatte aufgelegt. Was hatte er bloß vor?

Ich wischte mir den letzten Rest an Tränen weg, bevor ich mich aufrappelte und aus dem Bad schlurfte. Es ging mir jetzt nicht gerade berauschend, ich war noch immer durch den Wind und so schnell würde sich das auch nicht ändern. Meine Augen brannten wie die Hölle, immer wieder schob sich eine einzelne Träne hinaus, die ich trotzig wegwischte. Zumindest hatte ich nicht mehr das Gefühl, der erbärmlichste Nichtsnutz aller Zeiten zu sein. Allmählich sah ich klarer - trotz der verschwommenen Sicht. Die letzte Begegnung mit Kaiba erschien mir nicht mehr ganz so schmerzhaft und ich glaubte, den Grund dafür zu kennen.
 

Es war doch immer wieder das gleiche mit uns. Mal fielen wir wie zwei Raubtiere übereinander her, und in der nächsten Sekunde rissen wir uns die Köpfe ab. Ein ständiges Auf und Ab. Als könnten wir nicht anders miteinander umgehen. Als würde es nur eine Art der Kommunikation für uns geben…

Falsch! ER konnte nicht anders damit umgehen. Ich hatte es versucht. Mehrere Male. Nur mein sozial verkrüppelter, egozentrischer und uneinsichtiger Gegenpart konnte einfach nicht aus seiner Haut. Abrupt blieb ich stehen. Natürlich! Sein Verhalten - vielleicht…Ich zuckte zusammen. Das Klopfen kam so heftig, dass es die Kommode neben der Tür zum Wackeln brachte, ich kurzerhand mein Gleichgewicht verlor und auf meinen vier Buchstaben landete.
 

"Jonouchi, mach verdammt nochmal die Tür auf!", rief Kaiba von der anderen Seite der Tür.

Yugi, schoss es mir durch den Kopf. Er hatte doch nicht etwa mit Kaiba geredet…?!

"Ich weiß, dass du da bist", wiederholte er, schnaubte und ließ von der Tür. Es kostete mich alles an Kraft, loszulaufen und die Tür zu öffnen. Aber ich tat es.

Vor mir stand ein wütender Kaiba. Ein unberechenbarer Kaiba. "Ruft mich doch nicht ernsthaft Yugi Muto an! Seid ihr etwa immer noch auf diesen Kindergartentripp?! Jonouchi, ich-" Er hielt inne. Starrte mich wie ein angeschossenes Reh an. Sein eiskalter Blick wechselte von vollkommen aufgebracht zu absolut verwirrt. Ein seltener Anblick - nicht einmalig, aber selten.

"Was ist?", ich begegnete seinen blauen Augen, presste die Lippen zusammen, obwohl ich mir lieber über die Nase wischen wollte. "Wolltest du mich nicht gerade zusammenscheißen?"

"Das kann ich nicht", antwortete er ausgesprochen ruhig; ja, er flüsterte sogar. Kaiba kam einen Schritt auf mich zu. "Nicht, wenn du geweint hast."

"Hm", ich drehte mich weg, verschränkte die Arme vor der Brust. Aber vor Kaibas Blicken konnte ich nicht davonlaufen. Genauso wenig wie Kaiba selbst.

"Jonouchi", sagte er und seine Stimme klang niemals weicher als in diesem Augenblick. Mist! Wie bei mir sofort ein Schalter umgelegt wurde - nur weil er mich so ansah. Mit dieser Stimme, diesen Worten. In meiner Brust zog es sich zusammen. Wie jedes Mal, wenn Kaiba zärtlich zu mir war. Dabei wollte ich das gar nicht. Nicht jetzt, nach allem, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war.

"Jonouchi", wiederholte er meinen Namen, machte einen weiteren Schritt, dass ich nur noch meinen Hals recken musste, um in sein unschuldiges Gesicht (ja, auch Kaiba war dazu in der Lage!) zu blicken.

Als ich immer noch nicht reagierte, hob er seinen Arm, ließ Zeige- und Mittelfinger auf die Stelle unter meinem linken Augen gleiten. "Kazuha."

"Seto", seufzte ich resignierend. "Wieso?"

"Ich sagte doch, Muto-"

"Nein", ich schüttelte den Kopf, "ich mein doch nicht, warum du hier bist. Sondern wieso du das machst."

"Was meinst du?"

Dieser unwissende, unempathische Kerl!

"Das alles", sagte ich und breitete die Arme aus. "Wieso du immer wieder mit diesem Scheiß anfängst! Macht es dir etwa so viel Spaß, mich am Boden liegen zu sehen?"

"Nein", antwortete Seto knapp. Er verschränkte die Arme vor der Brust. "Und was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen?"

"Na, zum Beispiel hättest du niemanden auf mich ansetzen müssen! Ich bin doch nicht dein nächstes Ziel, ich bin…" Ich riss die Augen auf. Mir war klar, dass ich hier gegen Windmühlen kämpfte, aber bei Kaiba konnte ich nicht anders als kräftig gegen zu halten. "Wenn du wissen willst, wie es mir geht oder was ich so treibe, hättest du mich einfach fragen können. Aber nein, Seto Kaiba muss ja gleich die harten Geschütze auffahren! Weißt du eigentlich, wie ich mich dabei fühle?" Natürlich wusste er es nicht. Sonst wären wir nicht wieder an diesen Punkt gelangt.

"Seto, ich…ich kann das nicht." Es kostete mich Mühen, meine Tränen zu unterdrücken. "Einfach bei Null anfangen…so zu tun, als wäre nichts zwischen uns gewesen - das geht nicht. Nicht für mich."

"Du meinst, ich sehe das Ganze bloß als Spiel!?"

"Nein", antwortete ich, denn das glaubte ich tatsächlich nicht. Dass Kaiba es auch wusste, überraschte mich. "Aber du hast keine Ahnung, was du eigentlich von mir willst, Seto…ich meine, abgesehen von der Hündchensache."

"Das denkst du?" Kaibas Augenbrauen zogen sich zusammen. War er jetzt wütend oder enttäuscht? Bei seiner Mimik schwer einzuschätzen.

"Na, dann sag' mir doch, was du wirklich willst!", rief ich.

"Dasselbe wie vor fünf Jahren."

"Vor fünf Jahren", ich zog scharf die Luft ein, "meinst du, bevor oder nachdem du mich mitten in der Nacht bei beschissenen Minus zehn Grad vor die Tür geworfen hast?!"

"Ich hab dich nicht rausgeworfen, Kazuha."

"Oh doch", fauchte ich zurück. Gerade wollte der ganze Ärger der letzten Jahre ausbrechen. Nun gut, sollte er nur! Was hielt ihn denn davon ab? "Du hast mich wortwörtlich hinausgeworfen, Seto! Und warum?! Weil du Angst hattest! Angst, dass du vielleicht jemanden an dich ranlässt und du plötzlich nicht mehr als eiskalter Mistkerl Seto Kaiba betitelt werden könntest! Mann, ich hab dir doch nur gesagt, dass ich dich liebe…aber du…du hast mich angesehen, als würde ich dir gerade sagen, dass ich eine Bombe in deinem Zimmer platziert habe."

"Ich habe dich nicht rausgeworfen", beharrte Kaiba weiter, als hätte er die letzten Sätze überhaupt nicht mitgekriegt. Stattdessen funkelten seine Augen wie nach seiner letzten großen Niederlage gegen Atemu - was schon echt unheimlich aussah. "Denkst du, ich hätte dich bei dieser Kälte irgendwo alleine rumlaufen lassen!?" Er fuhr sich schroff durch die Haare, zerstörte damit seine perfekt gestylte Frisur. "Als ich rausgekommen bin, warst du schon nicht mehr aufzufinden. Ich habe die ganze Stadt nach dir abgesucht! Schon mal nachgedacht, wie ICH mich dabei gefühlt habe?!"

"Du", jetzt war ich doch etwas verwirrt, "du hast nach mir gesucht?" Diese Infos musste ich erstmal verdauen. Wenn mich Kaiba gelassen hätte…

"Natürlich", blaffte er mich an und schüttelte selbst den Kopf, "nach dieser Sache im Hotel hab ich dir doch versprochen, dass ich dich nicht noch einmal aussetzen würde."

"Äh", mir blieb die Spucke weg, "dann sag doch nicht, dass ich verschwinden soll!" Gerade waren da so viele Gefühle in mir und keines davon passte zusammen. Ich wollte schreien, weinen, Kaiba um den Hals fallen, mich übergeben und vielleicht noch eine Pizza essen. "Ich.. ich meine, ich hatte doch nicht verlangt, dass du vor mir auf die Knie gehst und mir auch deine Liebe gestehst. So dumm bin ich nicht. Du hättest doch einfach nichts sagen können."

">Nichts sagen<? Kazuha, was hast du denn gedacht, was passiert?"

"Keine Ahnung, gar nichts hab ich mir gedacht."

"Wieder einmal."

"Hey", ich lief rot an "das ist auch mir nicht leicht gefallen, okay? Schließlich…schließlich war es das erste Mal, dass ich so etwas zu jemandem gesagt habe!" Ich biss mir auf die Unterlippe und murmelte ein >und dann sag' ich es ausgerechnet dir< hinterher. Entgeistert sah er mich an. Ihm blieb förmlich die Spucke weg - eine Premiere.

"Echt jetzt?" sagte ich. Keine Ahnung, ob mein Gesicht noch röter als eine Tomate werden konnte. "Dachtest du, ich werf' das jedem x-beliebigen Typen hinterher?"

"Ich…ich weiß nicht", gestand Kaiba. Wer hätte gedacht, dass ich ihn jemals zum Stammeln bringen könnte. Ich auf alle Fälle nicht!

"Das muss aufhören, Seto", sagte ich und gab mir dabei richtig Mühe, ruhig zu sprechen. "Wir können nicht so weitermachen."

"Und was schlägst du vor?"

Seine Frage überrumpelte mich. Klar, wusste ich, was ich wollte. Aber ob Kaiba bereit dazu wäre? Eine Stimme in mir sagte, ich sollte alles auf eine Karte setzen.

"Können wir nicht einfach zusammen sein? Wie zwei normale Menschen? Wenn", ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. Das war gerade echt hart für mich. Fast genauso, wie Kaiba meine Liebe zu gestehen. "Wenn ich dein sein soll, dann brauchst du mir nicht extra ein Hundehalsband kaufen, damit das alle Welt kapiert. Oder bin ich dir so peinlich, dass du mich deshalb zu deinem Haustier machen musst?"

"Nein", antwortete Kaiba. Er sah nie ernster aus als jetzt. Keine Antwort hätte mich in dem Moment glücklicher machen können. "Na dann sei mit mir zusammen! Ich will nämlich - nur Gott weiß wieso - auch mit dir zusammen sein!"

"Jonouchi", sprach er meinen Nachnamen und packte mich am Nacken, "mit mir zusammen zu sein wird kein Morgenspaziergang werden. Nicht nur, dass ich eine Firma zu repräsentieren habe oder alle Welt auf mich schaut." Er zog mich zu sich heran, tätschelte mir den Kopf, während seine andere Hand über meinen Rücken strich. "Du weißt, dass dieses Pärchengehabe nicht mein Ding ist. Ich habe… gewisse Ansprüche. Hohe Ansprüche - auch in einer Beziehung. Das wird kein Zuckerschlecken, Kazuha."

"Muss ich dann wieder irgendwelche Regeln auswendig lernen?"

Ich hörte es über mir Lachen. "Das war nur ein Vorgeschmack, Kazuha. Und das ist auch kein Scherz, ich meine das bitterernst."

"Ich weiß", hauchte ich zurück, "solange du dich nicht wieder wie ein Arsch verhältst, werde ich alles geben."

"Das mag ich so an dir."

"H-hast du...Du hast gerade gesagt, dass du mich magst, Seto!"

"Nein", entgegnete er trocken, "ich habe dir gesagt, was ich an dir mag - das ist ein Unterschied."

"Ja, ja, okay."

"Jonouchi?"

"Hmmm."

"Ich mag dich…

Kazuha!? Warum weinst du denn jetzt schon wieder?", fragte mich Kaiba mit dieser aggressiv panischen Stimme.

"Weil ich mich freue, du Idiot."

"Kann man da nicht lachen?! Oder sich einfach wie ein normaler Mensch freuen? Wer soll denn sowas verstehen?"

Jetzt musste ich wirklich lachen. Glucksend wischte ich mir die Tränen aus meinem Gesicht. "Wird wohl mal Zeit, dass du von MIR unterrichtet wirst, Seto Kaiba."

Angesprochener hob eine Augenbraue hoch. "Was könntest DU mir denn beibringen?" Wenn er nicht eben so süß gewesen wäre, hätte ich ihm wohl eine verpasst. So atmete ich tief durch und antwortete. "Das wirst du noch früh genug verstehen. Wir haben ja schließlich Zeit."

"Aber vorerst…Kazuha?"

"Ja, Seto?"

"Mein Hündchen muss wieder zurück nach Hause kommen."

"Das wird es, Seto."



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