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Der Untergang der Isekai

von

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Scherbenmeer

Am späten Nachmittag lief ich durch die Straßen der Stadt zum Trainingsgelände. Jesse sagte Haou hätte heute noch viel zu tun und ich könne jetzt nicht mit ihm sprechen, also musste ich mich damit abfinden. Außerdem wollte ich Mai vor der Prüfung morgen unbedingt ihr Schwert wiedergeben, aber ich hatte keine Ahnung wo sie wohnte. Hoffentlich ist sie dort, sonst kann ich mein Versprechen ihr gegenüber nicht halten. Dort angekommen überblickte ich das weitläufige Gelände und entdeckte sie bei den lebensgroßen Holzpuppen, die wir zur Verbesserung unserer Techniken nutzten. Mit einem Übungsschwert schlug sie immer wieder auf den leblosen Gegner ein. Doch etwas wunderte mich. „Sehr präzise sind deine Schläge heute nicht“ stellte ich fest, als ich bei ihr angekommen war. Überrascht drehte sie sich zu mir. „Normalerweise ist dein Kampfstil eleganter. Ist alles Okay?“ fragte ich.

„Elegant, ja?“ sagte sie schmunzelnd. „Danke für das Kompliment.“

Auch ich musste für einen Augenblick lächeln. „Du weichst meiner Frage aus.“

Sie winkte ab. „Nicht so wichtig. War ein langer Tag und ich wollte noch etwas trainieren. Diese Holzköpfe sind allerdings miserable Trainingspartner. Was willst du hier?“

Ich reichte ihr die dünne Klinge. „Ich will mein Versprechen halten. Danke nochmal.“

Sie steckte das Übungsschwert weg und kam auf mich zu. Nahm ihre Klinge aus meinen Händen. „Keine Ursache. Hattest du wenigstens Erfolg?“

Zögerlich nickte ich, stockte aber. Wie sollte ich ihr am besten sagen, dass ausgerechnet mich ein Drache ausgewählt hat? Ich konnte es selbst noch nicht ganz fassen. Ein aufrichtiges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Alles andere hätte mich auch schwer enttäuscht. Also, welchen Schutzgeist hast du jetzt?“
 

Plötzlich bohrte sich ein Pfeil direkt zwischen uns in den Boden und ich sprang aus Reflex einen Schritt zurück. Sah mich hektisch um. In einiger Entfernung stand eine Person. Seine braunen Augen funkelten mich böse an. In seiner Hand hielt er einen Bogen, seine andere hatte er neben sich gehoben. Ehe ich reagieren konnte, hörte ich Mais aufgebrachte Stimme. „Hast du den Verstand verloren?! Was soll der Mist, Joey?“

Sie kennen sich? „Reg dich nicht so auf“ antwortete unser Gegenüber. „Hätte ich ihn treffen wollen, läge er jetzt am Boden.“ Er zog einen neuen Pfeil aus seinem Köcher und spannte seinen Bogen. Zielte direkt auf mich. „Mal ehrlich, du hattest schon immer einen schlechten Geschmack bei Typen, aber ein Mensch? Ernsthaft?“

„Was ist dein Problem? Wir unterhalten uns nur. Deinen verdammten Beschützerdrang kannst du dir sonst wo hinstecken!“

„Und das soll ich dir glauben? Warum hatte er dann das Schwert deiner Familie? Du gibst das Ding doch nicht mal raus, wenn der Zeugwart die Waffen polieren will. Und dann kommst du vom Nebelberg zurück und sagst, du hättest es jemandem geliehen?! Nur ein Mitschüler, dass ich nicht lache!“

„Jetzt lass den Blödsinn!“

Wo bin ich hier reingeraten? „Sie hat es mir geliehen, weil meines zerbrochen war“ schaltete ich mich ein. „Ohne ihr Schwert hätte ich mich nicht mehr verteidigen können.“

„Und wenn du krepiert wärst, mir egal. Das Schwert ist Mais größter Schatz. Ich hätte dir den Arsch aufgerissen, wenn du es nicht zurückgebracht hättest.“

„Jetzt hat sie es doch wieder“ sagte ich verständnislos. „Warum zielst du dann immer noch auf mich?“

„Ich trau dir nicht. Mach dich vom Acker, ich will dich nie wieder in ihrer Nähe sehen.“

„Bist du jetzt völlig bescheuert?!“ tobte Mai neben mir. „Das geht dich ja wohl nichts an!“

„Und ob es mich was angeht! Als deine Eltern im Krieg gefallen sind, hab ich dir gesagt, dass ich dich immer beschützen werde!“ Mai schnappte nach Luft, Joey ließ sich davon nicht beirren und redete weiter. „Und diesem Typen traue ich nicht über den Weg. Irgendwas ist seltsam an ihm. Der riecht nach Gefahr, sieh es doch endlich ein!“

Unschlüssig sah ich zu Mai. Sie stand da wie vom Donner gerührt. „Ich bin keine Gefahr für sie“ versuchte ich ihn zu beschwichtigen. Machte allerdings keine Anstalten mich von ihr wegzubewegen. Sein Kiefer verspannte sich, sein Blick wurde zunehmend dunkler.
 

„Ich hab dich gewarnt.“
 

Mit diesen Worten ließ er seinen Pfeil von der Sehne schnellen. Plötzlich hörte ich ein vertrautes Brüllen, zwei Klauen schoben sich schützend vor mich, silberne Schwingen umschlossen mein Blickfeld. Immer enger legte er sie an, seine Klauen drängten mich einen Schritt zurück. Ich spürte Sternenstaubdrache in meinem Rücken, sein Knurren ließ seinen Körper vibrieren. Mein Blick wanderte nach oben. Sein Kopf war nicht zu sehen, er ragte über seine Flügel und knurrte weiter unheilvoll. Er hatte mich beschützt. Ohne ihn hätte mich der Pfeil getroffen. Ich hörte keinen der beiden, lediglich das dunkle Knurren meines Drachen drang an mein Ohr. „Es ist okay“ murmelte ich, legte meine Hand auf eine seiner Klauen. „Du hast den Angriff abgehalten. Danke. Aber ich bin jetzt nicht mehr in Gefahr.“ Sternenstaubdrache machte keine Anstalten sich wieder zurückzuziehen. Irgendwie spürte ich, dass er diesen Joey angreifen würde, wenn er seinen Bogen nicht wegsteckt. Er war schon kurz davor. Bitte nicht! „Steck deinen Bogen weg!“ rief ich ohne ihn zu sehen. „Er ist nur angespannt! Zeig ihm einfach, dass du keine Gefahr bist!“
 

Ich wusste nicht was da vor sich ging, aber Sternenstaubdrache entspannte sich nicht. Hat Joey mich überhaupt gehört? Plötzlich hörte ich das Brüllen meines Drachen, einen Knall, Mais Schrei. Was geht hier vor sich?! „Hör auf!“ rief ich meinem Drachen zu und versuchte mich aus seinem schützenden Griff zu befreien, aber ich fand keine Lücke, durch die ich hätte hindurchschlüpfen können. Er darf sie nicht verletzen! Langsam entspannte er sich. Löste sich in einem Meer aus Sternen auf und gab meinen Blick auf das Feld wieder frei. Joey lag halb auf dem Rücken, hatte seine Hände hinter sich abgestützt und sah entgeistert zu der Stelle, an der eben noch der Kopf meines Drachen war. Sein Gesicht war aschfahl. Er zitterte. Neben ihm war ein riesiger, schwarzer Fleck, der aussah, als wäre dort etwas explodiert. Verkohlte Holzsplitter lagen überall verteilt. Mein Blick wanderte zu Mai. Auch sie war leichenblass, kniete am Boden und starrte über mich drüber. Atmete stoßweise. Natürlich war sie verschreckt. Ich wäre es sicher auch, wenn urplötzlich ein Drache auftauchen und angreifen würde. Langsam ging ich auf sie zu und reichte ihr meine Hand, um ihr aufzuhelfen. Ängstlich sah sie mich an, wich zurück. Ich stoppte in meiner Bewegung und ließ meine Hand wieder sinken. Hat sie jetzt Angst vor mir? Die Panik in ihren Augen versetzte mir einen tiefen Stich. „Es tut mir leid“ sagte ich leise. Einen letzten Blick warf ich auf ihren Freund, der noch immer regungslos am Boden saß, dann machte ich mich auf den Rückweg.
 

Rastlos schlenderte ich durch die Straßen und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Bis zum Abendessen war noch Zeit und auf meinem Zimmer vor mich hin grübeln wollte ich nicht, also wanderte ich ziellos umher. Meine Beine trugen mich bis zum Tempel. Ich sah auf. Dort hätte ich zumindest etwas Ruhe, ohne mich in meinem Zimmer wie eingesperrt zu fühlen. Ich seufzte und umrundete das Gebäude um in die Gartenanlage zu gelangen. Auf der niedrigen Mauer um den Brunnen ließ ich mich nieder und bettete mein Gesicht in meine Hände. Stützte meine Ellbogen auf den Knien ab. Was ist gerade passiert? Warum hat er angegriffen? Tief in mir spürte ich das Bedauern meines Drachen, aber er wollte mich nur beschützen. Er hatte Joey als Gefahr für mich angesehen und wollte mich beschützen, ihn entwaffnen, damit er mir keinen Schaden zufügen konnte. Ich war dankbar, dass er den Pfeil abgehalten hatte, aber deswegen hätte er nicht angreifen dürfen. „Drachen sind eigensinnige Geschöpfe“ hörte ich plötzlich eine Stimme und schreckte hoch. Yubel stand vor mir, die Arme verschränkt, sah mich mit einem undefinierbaren Blick an. Hat sie das von eben etwa mitbekommen? Sie senkte den Blick, nahm neben mir Platz und überkreuzte ihre Beine. Auch ich senkte den Blick und starrte auf meine Hände in meinem Schoß.
 

„Wie viel hast du gesehen?“ fragte ich.

„Alles ab dem Zeitpunkt, als der Kerl seinen Pfeil abgeschossen hat.“

Ich seufzte. „Ich wollte nicht, dass Sternenstaubdrache angreift.“

„Ich weiß“ sagte sie schlicht. „Du hast ihn noch gewarnt. Aber keine Angst, den beiden geht es gut.“ Sie schnaufte belustigt. „Sie hätten sich vor Angst nur fast in ihre Rüstungen gemacht.“ Ich ließ die Schultern hängen und knetete meine Hand. Ich wollte nicht, dass irgendjemand Angst vor mir hat. Schon gar nicht Mai. Wir hatten gerade erst angefangen uns zu verstehen. Normalerweise hören Schutzgeister doch auf die Anweisungen ihrer Dämonen. Warum klappt das bei uns nicht? „Drachen verhalten sich anders als andere Schutzgeister“ fuhr sie ernster fort, als hätte sie gewusst was ich dachte. „Am Anfang ist es schwierig, aber je enger euer Band wird, desto besser spielt ihr euch aufeinander ein.“

Zögerlich sah ich zu ihr. Yubel war vermutlich die einzige, die mein Problem verstehen konnte. „Ging es euch anfangs genauso?“

Sie nickte, schmunzelte sogar ein wenig. „Regenbogendrache hat dem damaligen König ganz schön eingeheizt. Eigentlich dachte ich, er würde mich dafür einsperren, aber er hatte Verständnis für die Situation. Mein Drache wollte ihm nie etwas Böses, aber sobald er sich oder mich bedroht sah, schritt er ein und versuchte mich zu beschützen. Im Laufe der Zeit hat er aber gelernt in solchen Situationen, wie du heute warst, auf mich zu hören.“

„Wie lange hat das gedauert?“

„Ein paar graue Haare musste der König schon lassen“ sagte sie und zuckte mit den Schultern. Dann sah sie mich ernst an. „Aber egal wie viel Zeit vergeht, dein Drache wird in solchen Situationen immer auftauchen um dich zu schützen. Du musst ihm nur beweisen, dass du die Sache auch allein regeln kannst. Er muss dir blind vertrauen können, aber das braucht Zeit.“

„Hm.“ Wieder senkte ich meinen Blick. Irgendwie tat es gut zu wissen, dass ich mit dieser Situation nicht allein war. Da fiel mir etwas ein und ich sah neugierig zu ihr. „Was wolltest du eigentlich am Trainingsplatz?“

„Ich habe dich gesucht.“

„Mich?“ vergewisserte ich mich irritiert. Wenn ich nicht in Haous Nähe war, bekam ich sie eigentlich nie zu Gesicht. Und noch seltener wechselten wir ein Wort miteinander. Warum sollte sie ausgerechnet mich suchen? Sie nickte und griff neben sich, doch ich konnte nicht erkennen was sie da machte. Schließlich drückte sie mir, ohne mich anzusehen, etwas in die Hand. Überrascht betrachtete ich es genauer. Ein Schwert. Der mit Leder umwickelte Griff war das einzige, was man davon sah. Die Klinge steckte in seiner Halterung. Irgendwie kam es mir bekannt vor. Mein Blick wanderte zu Yubel. „Was ist das?“ fragte ich irritiert.

Sie sah stur geradeaus, die Arme verschränkt. „Was schon? Ein Schwert. Dein anderes ist nur noch Altmetall und morgen ist deine Prüfung. Ich brauche es ohnehin nicht mehr.“

Meine Augen wurden bei jedem ihrer Worte größer. „Ist das wirklich für mich?“ fragte ich ungläubig.

Sie hob skeptisch eine Augenbraue. „Hast du mich jemals damit kämpfen sehen? Seit meiner Transmutation brauche ich es nicht mehr. Es verstaubt nur in einer Ecke meiner Gemächer. Also nimm es oder lass es.“
 

Ich konnte nicht anders als sie ungläubig anzustarren. Langsam wanderte mein Blick zu dem Schwert in meinem Schoß und ich zog es aus der Halterung. Zum Vorschein kam eine pechschwarze Klinge, in die einige Insignien eingearbeitet wurden. Ich neigte die Schneide im Sonnenlicht und beobachtete wie die Strahlen in unterschiedlichsten Farben reflektiert wurden. So ein Material hatte ich noch nie gesehen. Es war faszinierend. Langsam strichen meine Finger über das kalte Metall. Es war ohne die kleinste Unebenheit. Als wäre es im Kampf nie zum Einsatz gekommen. „Was ist das für ein Material?“ fragte ich, ohne meinen Blick von dem Schwert zu lösen.

„Der König nannte es Sternenstahl. Es war ein Produkt seiner Experimente mit verschiedenen Materialien. Es ist eine Zwillingsklinge.“

„Zwillingsklinge?“ fragte ich und sah auf.

Sie nickte. „Zwei Schwerter gleicher Schmiedekunst. Das Gegenstück gehörte dem König. Mir hat er es damals als Zeichen seines Vertrauens überreicht, als ich seine rechte Hand wurde. Seit seinem Tod wird die Klinge von Haou geführt.“

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich hatte damit gerechnet morgen einfach mit einem der Übungsschwerter antreten zu müssen. Ich wog es in den Händen, stand auf und schlug einige Male durch die Luft. Es war weitaus leichter als mein altes Schwert, aber nicht so leicht wie das von Mai. Besser ausbalanciert war es auch. Ich setzte ein breites Lächeln auf und sah zu Yubel. „Danke!“

Sie wich meinem Blick aus. „Bilde dir nichts darauf ein. Ich will nur nicht, dass das Ding einfach irgendwo verstaubt, weil es nicht mehr zum Einsatz kommt. Und du brauchst eines, das ist alles.“

Mein Lächeln intensivierte sich. So wie das Schwert aussah, wurde es über die Jahre gut gepflegt. Ganz so egal wie sie tat, konnte es ihr also nicht sein. „Schon klar. Trotzdem Danke. Für alles.“

Sie nickte lediglich und stand auf. Ohne ein weiteres Wort breitete sie ihre Schwingen aus und war gen Himmel verschwunden. Einen Augenblick sah ich ihr nach, dann machte ich mich ebenfalls auf den Weg in den Palast.
 

Dort angekommen lief ich zielsicher zum Speisesaal, in der Annahme, dort auf Haou zu treffen. Mein Blick schweifte über die gedeckte Tafel, doch von meinem König fehlte jede Spur. Ob er heute auf seinen Gemächern isst? Oder kommt er nur etwas später? Vielleicht will er mich immer noch nicht sehen. Dabei wollte ich unbedingt mit ihm sprechen. „Was machst du hier?“ Die bekannte Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich drehte mich zu ihr. Jesse hatte die Arme verschränkt und sah mich ernst an.

„Abendessen“ brachte ich irritiert heraus. Was sollte ich um diese Zeit sonst hier wollen?

Er schüttelte den Kopf kaum merklich. „Ab heute nimmst du deine Mahlzeiten woanders ein“ sagte er und drehte mir den Rücken zu. Was meint er? Jesse ging einige Schritte voraus und blickte ungeduldig zurück. „Jetzt komm schon!“

Schnell löste ich mich aus meiner Starre und folgte ihm. Schweigend wandelten wir durch die Gänge, nur unsere Schritte hallten an den Wänden wieder. Warum will Haou, dass ich ab sofort woanders esse? Hat ihn diese Geheimniskrämerei wirklich so sehr verletzt? Klar war er enttäuscht, aber dafür schien mir seine Reaktion doch etwas übertrieben. Jesse führte mich aus dem Hauptgebäude, über den Platz zum Nebenkomplex. Ich warf ihm einen irritierten Blick zu. Hier sollte ich mich doch erst nach dem Essen mit ihm treffen. „Wohin gehen wir?“ fragte ich, doch die Antwort blieb er mir schuldig. Ich folgte ihm weiter durch den Aufenthaltsraum der Wachen, die uns ebenso unschlüssige Blicke zuwarfen. Lediglich der Hauptmann nickte Jesse zu, als wir an ihm vorbeigingen, und reichte ihm einen Schlüssel. Wofür der wohl ist? Wir folgten den Treppen hinunter in die Kerker. Das Echo unserer Schritte wurde von den meterhohen Decken um ein vielfaches zurückgeworfen. Je weiter wir gingen, umso kälter lief es mir den Rücken hinunter. Was wollen wir hier? Schließlich blieben wir vor einer massiven Eisentür stehen.
 

Ein Schlüssel kratzte im Schloss und Jesse öffnete die Tür. Das Quietschen des sich bewegenden Metalls ließ mein Herz schneller schlagen. Dieses ungute Gefühl in mir wurde immer stärker. Zögerlich folgte ich ihm in die weitläufige Zelle und sah mich um. An einer Wand, knapp unter der gut fünf Meter hohen Decke waren kleine, mit Metallstäben gesicherte Fenster die spärliches Licht in den Raum warfen. Darunter entdeckte ich überraschenderweise einige Regale, die bis oben voll mit Büchern waren, daneben einen Schreibtisch. Auf diesem stand ein Teller mit etwas Brot, Fleisch und Gemüse. Bei genauerer Betrachtung sah der Tisch so aus, wie der in meinen Gemächern. Auch die Regale kamen mir plötzlich vertraut vor, nur das Bett in der Ecke des Raumes war mir unbekannt. Ich sah Jesse verständnislos an. Doch ehe ich ihm eine Frage stellen konnte, wurde sein Blick wieder ernst. „Das hier ist ab heute dein Zimmer. Wenn du nicht mit deiner Ausbildung beschäftigt bist, wirst du deine Zeit hier verbringen, und lernen, deinen Schutzgeist unter Kontrolle zu bekommen!“

Meine Augen weiteten sich bei jedem seiner Worte. „Aber-“

„Ich weiß, was heute auf dem Trainingsplatz passiert ist!“ fiel er mir ins Wort und ließ mich erstarren. „Hier hast du Platz, um mit deinem Drachen zu trainieren. Sollte er noch einmal jemanden angreifen, wird deine Strafe weitaus schlimmer werden!“

Ich schüttelte den Kopf. „Aber Sternenstaubdrache wollte mich nur-“

„Sei still!“ Sein wütendes Gesicht ließ mich einen Schritt zurückweichen. Ich versuchte Sternenstaubdrache zu beruhigen, damit er nicht unvermittelt auftaucht. Es lag sicher auch in seinem Interesse, dass Jesse nicht noch wütender wird. So hatte ich Haous Freund noch nie erlebt. „Ich habe dem König noch nichts von dem Angriff erzählt. Er ist so schon enttäuscht genug von dir, wegen der Sache mit deiner Magie.“ Mein Blick senkte sich, ich ballte meine Hände zu Fäusten. Darum geht es also? Deswegen redet er nicht mehr mit mir? „Von jetzt an bin ich für deine Ausbildung zuständig.“ Mein Blick hob sich wieder, doch bei Jesses Blick verkniff ich mir jede Gegenwehr. „Ab jetzt wird sich einiges ändern. Ich habe deine Lehre bei Meister Damian und Meister Eris abgebrochen. Und egal wie die Prüfung morgen ausfallen wird, auch bei Meister Zero bist du dann nicht mehr in der Lehre. Dafür wirst du dein Training bei Madame Tredwell intensivieren und bei Meister Ares in die Lehre gehen.“

Jesses Onkel? „Aber warum eine Ausbildung in der Spionage?“ fragte ich verständnislos.

Er hob eine Augenbraue. „Hat dir der König nie etwas davon erzählt?“

Langsam schüttelte ich den Kopf.

Ein leises Seufzen war zu hören. „Weißt du wirklich nicht, warum dich König Haou damals aufgenommen hat?“

„Ich… war allein.“

„Glaubst du allen Ernstes er hätte dich aus Nächstenliebe in den Palast geholt? Einen Menschen? Eine der Kreaturen, die seinen Vater und viele andere Dämonen getötet haben?“ Mein Puls erhöhte sich schlagartig. Haou sagte mal, dass er mich aufgenommen hatte, weil ich nur ein kleines Kind war. „Du hast eine Aufgabe zu erfüllen“ sprach er weiter. „Der König glaubt, dass die Menschen die Portale wieder aufbauen könnten und beenden wollen, womit sie vor 15 Jahren begonnen haben. Da aber keiner unserer Spione je aus der Menschenwelt zurückgekehrt ist, will er dich dort hinschicken, um Informationen zu beschaffen und sie zu infiltrieren. Deswegen solltest du so schnell wie möglich mit Schwert und Magie umgehen können. Nur aus diesem Grund bist du hier. König Haou sah in dir nie mehr als ein Mittel zum Zweck.“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Das kann nicht sein! Haou sieht in mir nicht nur ein Werkzeug! Jesses Blick verfinsterte sich. „Ob du es willst oder nicht: Die Isekai ist seit dem Tag an dem du in den Palast gekommen bist deine Heimat. Und ein Soldat beschützt seine Heimat mit allen Kräften. Das hast du ihm damals geschworen. Oder hast du es dir anders überlegt?“

„N-Nein“ erwiderte ich konfus. Ich will nichts mehr, als meine Freunde und die Isekai zu beschützen.

Er nickte. „Und um uns vor den Menschen zu schützen, müssen wir mehr über sie in Erfahrung bringen. Doch dafür musst du dich fokussieren! Bis zum Abschluss deiner Ausbildung will Haou dich nicht mehr sehen. Das lenkt euch beide nur von euren Pflichten ab. Ab heute wird es für dich nur noch um dein Training gehen, verstanden?“

Ich nickte zerknirscht und senkte den Blick. „Was ist mit meinen Freunden?“ murmelte ich.

„Was habe ich gerade gesagt?“ antwortete er ruhig, aber in einem dunklen Tonfall.

Meine Haltung fiel weiter in sich zusammen. Also kann ich ihnen nicht einmal erklären warum wir uns nicht mehr sehen können? Sie werden sich sicher Sorgen machen! Und Haou? Ich hätte das alles lieber von ihm gehört…
 

Schritte entfernten sich, doch ich traute mich nicht aufzusehen. Schließlich hörte ich, wie die massive Tür zu fiel. Ein Schlüssel kratzte im Schloss, dann umgab mich nichts als Stille. Meine Nägel gruben sich förmlich in die Haut meiner Handflächen, ich zitterte am ganzen Körper. Wenn es Haou wirklich nur um seinen Plan ging, hat er mich mein ganzes Leben lang belogen. Aber war wirklich alles gelogen? Seine Führsorge, seine aufmunternden Worte, sein seltenes Lächeln. Mein Blick verschwamm. Warme Tränen liefen stumm über meine Wangen und benetzten den kalten Steinboden. Ich war ihm immer dankbar, dass er mich in sein Schloss aufgenommen und sich um mich gekümmert hatte. Ich hatte das nie als selbstverständlich gesehen, doch der einzige Grund seiner Fürsorge war Rache. Rache an der Menschheit. Ob er mich all die Zeit ebenfalls gehasst hat? Für das was ich bin? Ein Geräusch hallte von den Wänden meiner Zelle wieder. Es dauerte einen Moment, ehe ich begriffen hatte, dass es mein Schluchzen war. Ich sackte in die Knie, schlang meine Arme um meinen Körper. Wie sollte ich ihm jemals wieder vertrauen, wenn er mich mein Leben lang belogen hatte? Wie viele seiner Worte entsprachen wirklich der Wahrheit? Kälte fraß sich durch meinen gesamten Körper, jagte mir immer wieder Schauer über den Rücken. Ich schrie meine Wut, meinen Frust, meine Trauer hinaus. In der Hoffnung diese Gefühle loszuwerden, die mich zu erdrücken drohten. Sternenstaubdrache schmiegte seinen Kopf an mich. Ich hatte nicht mitbekommen, dass er sich materialisiert hatte, doch ich war dankbar dafür. Ich hatte das Gefühl in ein riesiges Loch zu fallen, aber er gab mir Halt.
 

Doch das beruhigte kaum den tobenden Sturm in mir.

Mein ganzes Leben war eine verdammte Lüge.



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