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Between evil voices and innocent hearts

Weltenträume
von

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Evil Voices

Überall war Blut, eine zähflüssige Substanz. Sie bedeckte beinahe vollständig den Boden und klebte auch an mir, dadurch nahm ich den modrigen Geruch noch deutlicher wahr. In zahlreichen Farben fluoreszierte das Blut in der Dunkelheit magisch, wie ein kunstvolles Werk auf einer schwarzen Leinwand.

Einzig mein schwerer Atem verhallte in der Nacht, ich fühlte mich ausgelaugt und wurde müde. Die Stille um mich herum verstärkte das Gefühl der Erschöpfung in mir. Vielleicht klangen meine Atemzüge deswegen seltsam wohltuend, weil sie mir sagten, dass ich noch lebte.

Obwohl mein Herz wie verrückt raste und jeder einzelne Schlag mir noch mehr Luft zu rauben schien, spürte ich eine unbeschreibliche Leichtigkeit in meiner Brust. Mein Kopf war wie leergefegt, keinerlei Gedanken beschäftigten mich in diesem Moment. So frei habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Keuchend beugte ich meinen Oberkörper ein Stück nach vorne, hockte mich hin und stützte mich mit einer Hand auf meinem Knie ab, in der anderen hielt ich das Schwert fest umklammert.

Mit dieser Waffe hatte ich diesem Wesen den Garaus gemacht und immer wieder die Klinge in es hineingebohrt, bis irgendwann nur noch eine große Lache unter mir war, die aus den kläglichen Überresten meines Opfers bestand. Ich und mein Schwert waren der Richter gewesen, zum ersten Mal in meinem Leben. An diese Rolle könnte ich mich durchaus gewöhnen, ganz wie er es mir vorhergesagt hatte.

„Das fühlt sich gut an, hm?“, hauchte seine Stimme mir verführerisch ins Ohr. „Du hättest das schon viel früher haben können.“

Mir lief ein Schauer über den Rücken und ich bekam Gänsehaut. Zwischen meinen Atemzügen schluckte ich schwer und schüttelte den Kopf, ohne zu wissen, was ich mit dieser Geste ausdrücken wollte. Immerhin waren sämtliche Gedanken fort und mein Körper musste sich erst mal von dem Adrenalinschub erholen, dabei hätte der ruhig länger anhalten können.

Sacht tätschelte er mir den Kopf, als wollte er ein kleines Kind loben. „Jedenfalls warst du großartig. Selbst als Zuschauer war das richtig anregend, mein Körper hat sich an deiner Energie gelabt.“

Schweigend legte ich den Kopf in den Nacken und sah ihn mit gerunzelter Stirn an, meine Lungen verlangten nach wie vor nach mehr Luft. Er schmunzelte aber nur leicht und erwiderte meinen Blick, mit einer unerschütterlichen Stärke und Überzeugung. Woher nahm er dieses Selbstvertrauen nur, das er ausstrahlte? Seine Stimme, seine Blicke und sogar seine Haltung, jedes Detail an ihm strotzte geradezu vor Selbstsicherheit. Bei ihm erlebte man niemals einen einzigen schwachen Moment.

„Ich will damit sagen, dass du und ich in Kombination unschlagbar wären, unsere Energien würden hervorragend miteinander harmonieren.“

Seufzend sackte mein Kopf wieder nach vorne. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie das Blut sich zu verändern begann. Die wirre Mischung aus Farben kam in Bewegung. Winzige Würfel bildeten sich aus der klebrigen Flüssigkeit und hoben sich nach und nach ab, versuchten, sich voneinander zu lösen und federleicht in die Luft aufzusteigen. Jedes einzelne Teil bestand nur aus einer Farbe, womit sich das Wirrwarr auflöste und sie wieder klarer zu erkennen waren.

Bald flogen haufenweise dieser bunten Würfel herum und glühten schwach, doch kurze Zeit später lösten sie sich in Asche auf und verschmolzen mit der Dunkelheit. Nur einer blieb übrig, er war etwas größer als die anderen und strahlte stärker, in einem hellen Rot. Gebannt starrte ich auf den Würfel vor mir und kam plötzlich schnell zur Ruhe.

Flink schnappte sich mein Begleiter den Gegenstand aus der Luft, blieb jedoch dabei hinter mir stehen und rückte dichter an mich heran. Spielerisch drehte er den Würfel zwischen seinen Fingern und hielt ihn genau vor meine Augen, die sich davon gefangennehmen ließen.

„Ich werde dich nicht nochmal fragen, sondern gehe davon aus, dass du dich entschieden hast“, flüsterte er eindringlich. „Du wirst deine Entscheidung nicht bereuen. Lass uns zusammen das Leid in uns einfach auslöschen und gleich alles andere mit dazu, das uns wieder verletzen könnte. Wir können zusammen unseren Frieden finden.“

Kein Widerspruch kam über meine Lippen, nicht mehr. Im Moment fühlte ich mich zu gut, als etwas gegen diese Pläne einwenden zu können. Ich war sorglos, und wenn ich mich mit ihm zusammenschloss, wäre es möglich, das auch in Zukunft erleben zu können. Egal, ob er nur wegen meiner Energie so besessen davon war, mich für sich zu gewinnen, oder es einen anderen Grund gab, er hatte mich überzeugt.

Gegen seine Worte kam ich nicht an, seine Stimme haftete sich in meiner Seele fest, und schlich um mein Herz herum, das sich wirklich nur nach einem friedlichen Leben sehnte.

Fordernd drückte er den Würfel gegen meine Lippen, die sich wie von selbst öffneten. Plötzlich brannte es schmerzhaft auf meiner Zunge. Stöhnend kniff ich die Augen zusammen und wollte den Würfel wieder ausspucken, aber er hielt mir den Mund mit einer Hand zu und drückte die andere gegen meine Brust.

„Komm, du musst dich nur noch einmal zusammenreißen, dann wirst du keine Probleme mehr haben. Schluck es runter.“

Da ich keine Kraft mehr dazu hatte, mich aus seinem Griff zu befreien und den Würfel nicht mehr loswerden konnte, tat ich einfach, was er sagte, und schluckte. Es brannte so sehr, wie richtiges Feuer. Vor Schmerz liefen mir Tränen über die Wangen, dabei war ich viel schlimmere Dinge gewohnt. Eigentlich war das hier im Vergleich dazu ziemlich angenehm.

„Tut mir leid, gleich wird es besser“, beruhigte er mich und küsste meinen Nacken. „Alles wird besser sein, von jetzt an.“

Durch den Würfel, der sich durch meine Speiseröhre drängte, konnte ich darauf nichts sagen. Mit geschlossenen Augen ließ ich mich einfach auf dieses Spiel ein, aber ich konnte nichts dagegen tun, dass das Gesicht desjenigen vor mir erschien, in den ich immer noch verliebt war. Die Tatsache, ihn an jemand anderen verloren zu haben, schmerzte wesentlich mehr als dieses höllische Brennen in meinem Hals, mit dem sich der Wunsch nach noch mehr Zerstörung einschlich.

Zerstörung, flüsterte etwas in mir erwartungsvoll und löste dabei einen Zustand der Euphorie aus. Zerstören! Lass uns alles zerstören, das uns Schmerzen zufügt. Zerstören wir einfach alles!

Etwas nistete sich in mir ein und schlug seine ersten Wurzeln.

Liebeskummer ist scheiße

Ich liebte Kieran.

Seit ich ihn kannte, hatte ich das Gefühl, nicht mutterseelenallein mit meinen Problemen zu sein. Er war mir sehr ähnlich, und das gab mir in seiner Nähe eine Ruhe, dank der ich ein bisschen daran glauben konnte, dass es doch wirklich für jeden Menschen Hoffnung gab, auch für jemanden wie mich, einen durch und durch verkorksten Teenager.

Mich hinderte die Tatsache, dass Kieran, wie ich, ein Mann war, nicht daran, ihn zu lieben. Egal, wie meine Umwelt darauf reagieren würde, ich wollte ihm so nahe sein wie kein anderer. Verurteilt wurde ich für meine Existenz sowieso schon gefühlt mein Leben lang, also hielt ich ein paar anklagende Blicke und Sprüche mehr auch noch aus. Ich wäre dazu bereit gewesen, alles Negative auf mich zu nehmen und von Kieran abzuschirmen, solange er meine Liebe erwiderte.

Diese Hoffnung auf eine Zukunft, am besten mit ihm zusammen, hatte mir ungeahnte Kraft gegeben. Leider jagte mir das Leben dann aber wieder mal gnadenlos ein Messer in den Rücken. Diesmal war es eher ein ganzes Schwert, das ein Loch in meine Brust riss. Jedes Mal, wenn ich die beiden zusammen sah, ohne mich.

Ja, Kieran war inzwischen vergeben. Obwohl es dafür schon eine Weile deutliche Anzeichen gegeben hatte, konnte ich das nicht verhindern. Erst recht weil der andere, Kierans jetziger Partner, mein bester und einziger Freund war: Faren.

Ironischerweise stand Faren eigentlich nur auf Frauen, aber bei Kieran fühlte er anders, wie er mir erklärt hatte. Ausgerechnet bei der Person, für die auch ich mich interessierte. Statt ihm das zu sagen, schwieg ich über meine Gefühle und gab Faren auch noch Ratschläge, wie er vorgehen sollte. Schließlich konnte ich mich gut in Kieran hineinversetzen und dadurch als hervorragender Berater fungieren.

Dumm von mir, nicht wahr?

Nein, es ging einfach nicht anders.

Faren war ein großartiger Kerl, wirklich. An ihm gab es nichts auszusetzen.

Obwohl wir uns ziemlich ähnlich sahen, abgesehen von der Frisur und der Haarfarbe sowie dem Körperbau, war er ganz anders als ich. Optisch könnte Faren mein Zwilling sein, doch wir unterschieden uns. Alles an ihm strahlte stets vor Optimismus und Tatendrang, er war kontaktfreudig und hilfsbereit, voller Lebensfreude. Außerdem sah er umwerfend gut aus und kleidete sich, im Gegensatz zu mir, wie ein Model.

Was sollte Kieran denn mit mir anfangen? Sicher, genau wie ich zweifelte er an sich selbst, kam sich wertlos und überflüssig vor, und wünschte sich nichts sehnlicher, als nützlich zu sein, und Anerkennung zu gewinnen. Seine verzweifelten Gedanken deckten sich gut mit meinen, was vielleicht schlecht war. Schlecht für sein Wohl.

Ich besaß keinerlei Lebensfreude, wie Faren sie in sich trug. Mehrmals am Tag kämpfte ich gegen den Drang an, einfach vor ein Auto zu springen oder mich von einer Brücke zu stürzen. Bei jeder einzelnen Handlung oder Aussage von mir, befürchtete ich, etwas Falsches getan zu haben. An meiner Seite würde Kieran nur noch tiefer nach unten gezogen werden, ganz bestimmt.

Jemand wie Faren könnte ihn aufbauen und ihm Selbstvertrauen schenken. Tatsächlich zeigte sich das bereits nach wenigen Wochen, seit sie offiziell ein Paar waren. Oft wirkte Kieran genervt von Farens freizügigen Witzen und seiner aufdringlichen Art, lächelte dafür aber auch immer mehr, was ich vorher noch nie bei ihm gesehen hatte. So blass wie am Anfang war Kieran auch nicht mehr, mit jedem Tag schien es ihm besser zu gehen.

Auch heute.

Alleine saß ich heimlich draußen am Tisch eines Cafés herum, während die beiden auf der anderen Straßenseite gerade eine Imbissbude unsicher machten, wobei ich sie unbemerkt im Auge behielt. Genau genommen war Faren derjenige gewesen, der unbedingt dort essen gehen wollte, soweit ich wusste, um Kieran etwas Neues zu zeigen. Sie bestellten sich einen Haufen ungesundes Zeug, aber Fast Food schmeckte eben zu sehr, niemand konnte das leugnen.

Zuerst war Kieran alles andere als begeistert, doch nach den ersten Bissen eines Hamburgers und wenigen Wortwechseln, geschah es wieder: Er lächelte. Ganz dezent, man bemerkte es kaum, aber ich konnte es gar nicht übersehen. Verlegen hoben sich seine Mundwinkel minimal, seine Haltung war entspannt. Ihm ging es gut.

Das tiefschwarze, kurze Haar sah seidig weich aus und verdeckte noch immer sein linkes Auge komplett, weil es vorne auf einer Seite länger über die Stirn hinaus verlief, als auf der anderen. Sacht spielte der warme Sommerwind mit einigen Strähnen und brachte sie in Bewegung. Durch das Sonnenlicht wirkte das Dunkelbraun seiner Augen wesentlich heller als gewöhnlich, dabei mochte ich es, wenn man sich bei ihrem Anblick in die Tiefen seiner Seele verlor.

Trotz seines feminin erscheinenden Gesichts und der etwas geringen Größe, mangelte es Kieran nicht an Männlichkeit. Wie jeder harte Kerl konnte er offen seine Meinung sagen, zumindest bei Faren und einigen bestimmten Personen, sobald ihm etwas nicht in den Kram passte. Und doch lag in seinen ernsten Blicken stets eine gewisser Ausdruck verborgen, der mein Herz schwach werden ließ.

Ich wünschte, ich könnte einfach zu ihm gehen und meine Gefühle gestehen, aber damit würde ich alles kaputt machen. Mein gutes Verhältnis zu Faren und das Glück, von dem Kieran jede Sekunde verdient hatte. Ganz zu schweigen davon, dass ich so ein gutes Leben nicht verdiente. Mit mir verschwendete man nur seine Zeit, ich war nicht mehr zu verbessern.

Seufzend nahm ich einen langen Schluck von dem Wasser, das ich mir bestellt hatte – mein nächster Geburtstag würde mich endlich volljährig machen, dann durfte ich legal Alkohol trinken. Schweiß lief mir von der Stirn, ich verglühte in dieser Sommerhitze. Wäre ich an Farens Stelle, hätte ich mit Kieran eine Eisdiele aufgesucht, um für Abkühlung zu sorgen. Der Tag besaß noch einige Stunden, also kam das vielleicht noch.

„Boah, hoffentlich wird es gegen Abend etwas weniger heiß“, murmelte ich genervt vor mich hin.

Plötzlich vibrierte etwas in meiner Hosentasche, was bei einem jungen Mann wie mir nur eines bedeuten konnte: Mein Handy wollte mir etwas mitteilen – wäre Faren hier, hätten wir darüber jetzt eine schmutzige Bemerkung gemacht und gelacht.

Momentan war mir aber nicht zum Lachen zumute, doch ich konnte erschreckend gut schauspielern, wenn ich wollte. So gut, dass Faren nicht mal meine Gefühle für Kieran mitbekommen hatte. In letzter Zeit fiel es mir schwer, den gut gelaunten und sorglosen Ferris zu spielen. Von Jahr zu Jahr legte ich diese Fassade ab und blieb so, wie ich war. Unsicher, in mich gekehrt und freudlos.

Etwas zu fest stellte ich das Glas zurück auf den Tisch, das laute Klirren hallte unheilvoll in meinen Ohren nach, und ich holte das Handy hervor. Viele Kontakte besaß ich nicht, weil ich kein sozial eingestellter Typ war. Freunde strengten mich meistens nur an, Faren bildete eine Ausnahme. Er hatte mich letztes Jahr von einem Selbstmord abgehalten und mir seitdem die Freundschaft geschworen.

Viele Möglichkeiten, wer sich bei mir melden könnte, gab es also nicht, und meine größte Befürchtung wurde direkt bestätigt, kaum dass ich meinen Nachrichtenordner öffnete.

Wo bist du, ist alles in Ordnung? Ich hoffe, du hast einfach nur deinen Termin vergessen. Ruf mich bitte an oder komm in der nächsten halben Stunde vorbei, ich warte auf dich.

So lautete die Textnachricht – wann lernte diese Person wohl endlich, einen kostenlosen Messenger zu benutzen? Ich hatte es schon oft genug erklärt und tat das nicht noch einmal.

Statt weiter meine Gedanken für solche Kleinigkeiten zu verschwenden, warf ich rasch einen Blick auf die Uhrzeit. Anscheinend war ich eine Stunde zu spät dran. Da brachte mir auch die Erinnerung an diesen Termin nichts mehr, die auf dem Display aufleuchtete und ich bisher gekonnt ignoriert haben musste, weil ich mich nur auf Kieran konzentriert hatte.

„Ich hab echt keinen Bock auf diese dämliche Sitzung“, meckerte ich das Handy an, als könnte ich dadurch direkt mit der Person sprechen, von der die Nachricht stammte. „Das bringt doch eh nichts. Wann checkst du das mal? Du solltest es aufgeben, und deine Nachrichten nicht wie ein verliebtes Schulmädchen beenden.“

Dummerweise arbeitete mein schlechtes Gewissen ziemlich gründlich, weshalb ich von meinem Platz aufstand und dabei das Handy wieder einsteckte. Im Augenwinkel nahm ich wahr, wie eine Bedienung aus dem Café eilte, um mich daran zu erinnern, dass ich noch zahlen musste. Geld hatte ich aber nicht dabei, keinen einzigen Cent.

Zu gern hätte ich noch einen letzten Blick auf Kieran erhascht, musste jedoch die Beine in die Hand nehmen und mich aus dem Staub machen, bevor die Bedienung in meine Reichweite kam. Fassungslos rief sie mir hinterher, doch ich beachtete sie nicht, sondern rannte geschwind davon. Bald lag das Café weit hinter mir und niemand schien mich zu verfolgen.

Natürlich meldete sich auch jetzt mein schlechtes Gewissen zu Wort, das ich grob zurückwies. Mit mir hatte man nichts als Ärger, so war das eben. Sollte man mich ruhig Mimimi-Ferris nennen, aber wenigstens dieser Rolle wollte ich gerecht werden, sonst blieb mir überhaupt nichts mehr. Davon abgesehen zahlte ich für ein lächerliches Glas Wasser sicher keinen überteuerten Preis.

Erschöpft hielt ich nach einer Weile an und schnappte nach Luft. Mir war furchtbar heiß, ich konnte den Sommer nicht ausstehen. Mein Körper verglühte, wogegen mein Schweiß nicht half. Tropfen für Tropfen fiel vor meinen Füßen zu Boden und bildete eine eigene, kleine Pfütze. Wäre die Sonne so gnädig, mich einfach anständig in Brand zu stecken, hätte das Café heute wegen mir kein Minus machen müssen.

„Ich bin so armselig“, lachte ich heiser. „Das hätte ich Kieran nicht zumuten können.“

Zwischen die Schweißtropfen mischten sich plötzlich noch einige Tränen. Schnell riss ich mich wieder zusammen und ging weiter, in einem normalen Schritttempo. Bei dieser Hitze war jeder mit sich selbst beschäftigt, also konnte ich mich einfach zwischen der Menge bewegen, ohne angesprochen zu werden. Wie immer war die Stadt an einem Werktag überaus lebhaft und aktiv, was ich etwas nervig fand.

Ohne andere Menschen wäre die Welt viel ruhiger und friedlicher. Frei von irgendwelchen Erwartungen und gesellschaftlichen Regeln, an die sich gehalten werden sollte, wollte man nicht ausgeschlossen werden.

Ich hasste das alles so sehr.

Ich wollte nicht mehr.

Um nicht auf dumme Gedanken zu kommen, dachte ich unterwegs lieber an Kieran und nahm dabei den Schmerz in der Brust in Kauf. Dass ich an diesem Tag bereits ebenfalls von jemanden gestalkt wurde, so wie ich Kieran und Faren verfolgte, davon ahnte ich noch nichts.
 

***
 

Jedes Mal, wenn ich zwischen diesen Häuserreihen stand, wollte ich sofort zurückweichen und weglaufen. Ich passte nicht hierher, ganz und gar nicht. Ein Beweis dafür waren die misstrauischen Blicke der Bewohner in dieser Gegend, sobald sie mich sahen.

Kein Wunder, es handelte sich um eine ruhige und gepflegte Lage, wo nur Leute wohnten, die sich etwas leisten konnten. Nicht die Super-Reichen, arm war hier dennoch niemand. Es war wie eine eigene Welt, dabei konnte ich mich schon in die normale Gesellschaft nicht anständig eingliedern.

Kleine Häuser, gemütliche Vorgärten mit schneeweißen Zäunen, eigene Garagen und Gehwege, von denen man locker hätte essen können, so sauber wurden sie gehalten. Quasi das Spießerhausen der Stadt, wie aus zahlreichen Filmen entsprungen. Mein Weg führte mich zum Ende der leeren Straße, wo ein Gebäude lag, das etwas älter wirkte als die anderen in dieser Wohngegend.

Zwei Stockwerke, ein Keller und Dachboden, mit Garage. Der Garten befand sich hinter dem Haus, geschützt vor neugierigen Blicken der Nachbarn, daher sah der Eingangsbereich recht unspektakulär aus. Nicht mal Blumen dekorierten den vorderen Teil, worüber sich erstaunlich viele beschwerten – hatten die etwa sonst keine anderen Probleme? Einfach lächerlich.

Neben der Türklingel war ein Schild befestigt, das auf den Eigentümer des Hauses hinwies:

Vincent Valentine

Gesprächs- und Verhaltenstherapie

Termine nach telefonischer Absprache

Hier wohnte ich aktuell, seit ein paar Wochen. Habe nicht mitgezählt. Im Grunde war es wahrscheinlich nur eine von vielen vorläufigen Unterbringungen, bei denen ich bald an einem endlosen Hin-und-her-Spielchen mitmachen müsste, bis ich volljährig war und auf die Straße gesetzt werden konnte. Niemand nahm einfach so aus Nettigkeit jemanden bei sich auf, auch kein Therapeut. Für Vincent war ich nur ein Job von vielen.

Trotzdem behauptete er andauernd das Gegenteil, dass er mir aus freien Stücken helfen wollte. Er gehörte nicht zur naiven Sorte, so dachte ich, darum konnte ich ihm nicht glauben. Zu seinem Glück lebte niemand ewig, irgendwann erwischte es mich auch mal. Spätestens dann, wenn ich mich mit Alkohol abschoss.

Statt zu klingeln, schloss ich die Tür mit meinem Schlüssel auf und betrat das Haus. Drinnen war es nicht mehr so heiß wie draußen, es herrschte sogar eine angenehm kühle Temperatur. Auch die Einrichtung hatte den Charme der Vergangenheit, gemischt mit einigen modernen Elementen. Als Familienmensch hätte ich gerne auch in so einem Haus gelebt, es vermittelte Gemütlichkeit.

Zügig schritt ich geradeaus, durch die zweite Tür im Gang, und fing an zu sprechen, noch bevor ich richtig im Raum war. „Hey, Vince. Sorry, hab total die Zeit vergessen.“

Ähnlich wie Faren hätte auch Vincent locker als Model arbeiten können, nur dass er in dem Bereich mehr mit seiner Größe und der schlanken Statur punkten würde. Sein schwarzes Haar blieb stets kurz geschnitten, sah aber immer ungekämmt und etwas wellig aus. Alltagskleidung schien Vincent nicht zu kennen, denn ich habe ihn bislang nur in seinen schwarzen Anzügen und dem weißen Hemd herumlaufen sehen. Seit einer Anmerkung meinerseits verzichtete er wenigstens auf eine Krawatte.

Mit übereinander geschlagenen Beinen saß Vincent in einem Sessel vor einem übergroßen Aquarium – der Blickfang in diesem Behandlungszimmer – und war in eine Akte vertieft, die auf seinem Schoß lag, samt Füller. Natürlich musste das die Bibel zu meiner Wenigkeit sein, durch die Vincent Stück für Stück versuchte, den Kern meiner Probleme zu finden und zu beseitigen.

Als er den Kopf hob und mich ansah, verschmolz das helle Blau seiner Augen kurzzeitig mit dem Licht des Aquariums hinter ihm. Immerzu blieb Vincents Blick ausdruckslos, egal wie sehr ich ihn auch provozierte oder aus der Reserve zwingen wollte. Irgendwie vereinbarte sich das nicht so recht mit der Klarheit, die seine Augenfarbe besaß, und der Aufmerksamkeit, mit der Vincent jedes kleinste Detail bemerkte.

„Schön, dass du dich dazu entschlossen hast, doch noch zur Sitzung zu erscheinen, Ferris“, begrüßte Vincent mich, so geduldig und ruhig wie ich es von ihm kannte. Der melodische Klang seiner Stimme erinnerte mich ein wenig an Kieran. „Setz dich.“

Abwehrend hob ich die Hände. „Nee, lass mal. Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass ich kündige.“

„Bei einer Therapie kann man nicht kündigen“, wies Vincent mich darauf hin. Könnte er diese verdammte Nüchternheit nicht mal ablegen und zeigen, was er dachte und fühlte? Bei ihm wusste ich nie, woran ich war. „Du kannst die heutige Sitzung höchstens verschieben.“

„Toll, dann schiebe ich es nur etwas auf, aber muss den Mist so oder so mitmachen.“

„So sieht es aus.“ Ohne eine Miene zu verziehen, deutete Vincent mit dem Füller zu der Couch, die ihm gegenüber stand. „Also, setz dich.“

„Hartnäckige Nervensäge“, murrte ich leise.

„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Ferris.“

Widerwillig überwand ich die Distanz zwischen uns und ließ mich wie ein schwerer Sack auf die Couch fallen. Zwischen uns stand nur noch ein Glastisch, auf dem gerade nichts lag. Demonstrativ beugte ich mich etwas zur Seite, um nur das Aquarium hinter Vincent im Blick zu haben. Verschiedene Arten von Fischen lebten darin, manche schimmerten in bunten Farben, andere stachen mit ihrer außergewöhnlichen Gestalt hervor. Manchmal beneidete ich sie darum, dass sie Tag für Tag herumschwimmen konnten. Auf mich wirkte das ungemein beruhigend.

„Wie fühlst du dich?“, eröffnete Vincent die Sitzung – seine Standardfrage.

Aus Erfahrung wusste ich, dass es nichts brachte, ihn zu ignorieren und zu schweigen, also antwortete ich ihm sofort: „Die Frage nervt. Was soll ich darauf denn sagen? Liebeskummer ist scheiße.“

Ein leises Kratzen ertönte, er notierte sich etwas in der Akte. Ich musste den Blick nicht vom Aquarium lösen, um das zu wissen.

„Bist du heute Kieran und Faren gefolgt?“

Typisch, er sprach offen die wunden Punkte an. Ihm konnte man nichts vormachen, Vincent durchschaute alles, wie ein Gedankenleser.

„Ja, na und?“

„Warum hast du das getan?“

„Weiß ich nicht“, blockte ich ab. „Mir war danach.“

„Wie hast du dich dabei gefühlt?“

„Du immer mit deinen Gefühlen“, klagte ich stöhnend. „Scheiße habe ich mich gefühlt. Hört du mir denn nicht zu?“

Wieder begann er zu schreiben. Zögerlich lenkte ich den Blick zurück zu ihm und beobachtete ihn dabei. Jede seiner Bewegungen floss wie Wasser, seine Augen nahmen die geschriebenen Worte in sich auf. Mir war nicht danach, mit ihm zu reden. Gleich endete es sowieso wie gewohnt, weil er die Fragen stellte, die ich nicht hören wollte.

„Bist du ihnen deswegen gefolgt?“, wollte Vincent wissen und sah mich dabei abwartend an.

Kein Vorurteil, keine Erwartungen oder Forderungen. Nichts von alldem spiegelte sich in seinen Augen wider, nur eine Geduld, mit der ich nicht umgehen konnte. Automatisch wurde mein Tonfall patziger. „Worauf willst du damit hinaus?“

„Du neigst dazu, dich selbst zu verletzen, in dem Glauben, es verdient zu haben“, erklärte Vincent, womit er mir offenbarte, dass er mich durchschaut hatte. „So, dass es niemand sieht. Als du Kieran und Faren gefolgt bist, wolltest du dich schlecht fühlen.“

Also war heute einer dieser Tage, in denen Vincent in die Offensive ging. Mit dieser Taktik konnte ich noch weniger umgehen, das müsste er wissen. Automatisch fuhr ich von meinem Platz hoch und schrie ihn an.

„Tu nicht so, als wüsstest du, wie ich ticke! Niemand weiß das!“

Kieran war der einzige, der mich verstand, weil er ähnlich fühlte wie ich. Jetzt konnte ich mich ihm nicht mehr zuwenden, ohne seine Beziehung zu Faren zu stören. Ich war wieder alleine.

„Das hier bringt gar nichts! Wenn mir danach ist, haue ich einfach wieder ab!“

„So wie aus dem Waisenhaus?“, hakte Vincent nach.

Schnaubend wandte ich mich ab und stampfte Richtung Tür. „Du wirst froh sein, sobald du mich los bist, so wie jeder andere!“

Ein Knall hallte durch das Haus und ließ es leicht erzittern, zumindest in meiner Vorstellung. Aufgewühlt stieg ich die Treppe in den ersten Stock hinauf und zog mich in mein Zimmer zurück, wo ich mich vorerst einschloss. Schnell dröhnte mir über ein Paar Kopfhörer laute Musik in die Ohren, doch das reichte nicht aus, damit meine Gedanken sich in Luft auflösten.

Ich rollte mich auf dem Bett zusammen und fluchte innerlich. „Tut mir leid, Vincent ... aber mir ist echt nicht mehr zu helfen.“

Ich will nicht wieder jemanden verletzen

Ich hörte seltsame Geräusche.

Anfangs klang es nach einem verzerrten Knistern und Knacken, wie aus einem defekten Radio, das keinen anständigen Empfang mehr bekam und deshalb irgendwo in einem Keller gedämpft seine letzten Töne von sich gab. Noch waren diese Klagelaute weit entfernt, aber sie schienen langsam an Lautstärke zu gewinnen und bedrängten mich immer mehr.

Die Töne wurden schriller und hallten ewig in den Ohren nach. Bald waren es keine simplen Störgeräusche mehr, es entstanden Stimmen. Hohe, klare Stimmen, ein regelrechter Chor. Richtige Worte sprachen sie nicht, sie summten und stöhnten nur, manche schrien sogar leise, und erschufen dadurch im Zusammenspiel eine eigene obskure Melodie.

Wie ein Echo blieb sie in meinem Kopf, wiederholte sich die ganze Zeit. Schnell spielte sich die Tonfolge in mehrfacher Form ab und wurde unerträglich, ich konnte nicht mehr klar denken. Meine Ohren fingen an zu schmerzen und mein Körper verkrampfte sich. Unruhig wälzte ich mich hin und her.

Als dann plötzlich etwas in meinen Ohren zersplitterte, zumindest fühlte es sich vom Schmerz her so an, schreckte ich sofort aus meinem Halbschlaf hoch, und fasste mir panisch an den Kopf.

Schlagartig herrschte Stille, ich konnte nichts mehr hören. Zuerst dachte ich, taub geworden zu sein, jedoch hatten sich auch die Schmerzen in Luft aufgelöst. Vorsichtshalber tastete ich trotzdem meine Ohren ab, aber ich konnte kein Blut oder etwas in der Art finden, also musste alles in Ordnung sein.

„Himmel“, keuchte ich angespannt und fuhr mir durch die verschwitzten Haare. „Wie spät ist es?“

Blind griff ich nach meinem Handy und musste feststellen, dass der Akku inzwischen den Geist aufgegeben hatte, darum hörte ich auch keine Musik mehr. Vielleicht zahlte meine Gesundheit es mir jetzt zurück, weil ich meine Ohren oft zu laut beschallte – Vincent hatte das auch schon negativ angemerkt. Damit aufhören wollte ich aber nicht, das war mein Körper. Also konnte ich mit dem machen, was ich wollte.

Im Ernstfall stand mir deswegen auch das Recht zu, mein Leben selbst zu beenden, wenn ich keinen Ausweg mehr sah. Darüber wollte ich entscheiden dürfen.

Kopfschüttelnd rutschte ich zur Bettkante und stand auf, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Draußen war es dunkel. Anscheinend hatte ich einige Stunden geschlafen. Der Himmel war pechschwarz, aber die Straßenlaternen und der Mond kämpften gegen die Finsternis an. Ein ziemlich einsamer und trostloser Job, erst recht weil nicht mal mehr Menschen unterwegs waren, für die sich dieser Aufwand lohnte. Sogar die Sterne ließen sich nicht blicken.

Gähnend öffnete ich das Fenster und ließ mich von der angenehm kühlen Nachtluft richtig aufwecken. Wenigstens um diese Uhrzeit blieb ich von der Hitze verschont.

Abwesend schweifte mein Blick über die Umgebung, aber die nervigen Gedanken drängten sich schnell wieder erfolgreich in den Vordergrund. Ob Vincent wütend auf mich war? Oder enttäuscht? Schon mehrere Male hatte ich eine Sitzung einfach durch eine Flucht mittendrin abgebrochen und Vincent respektlos angeschrien. Dabei stellte er mir nur Fragen, niemals Anforderungen.

Es machte mich wahnsinnig, dass ich nicht wusste, was er über mich dachte. Andauernd hielt er sein Pokerface aufrecht. In meinen Augen musste ich für ihn der nervigste und schwierigste Fall von allen sein, doch er konnte mich aufgrund seiner Ehre als Therapeut nicht so leicht aufgeben, so dachte ich. Er konnte mich unmöglich in irgendeiner Form mögen.

„Ich falle auf diese Taktik nicht rein“, beschloss ich ernst.

Das laute Knurren meines Magens meldete sich daraufhin zu Wort und erinnerte mich daran, dass ich schon länger nicht mehr richtig gegessen hatte. Mein Appetit ließ seit einiger Zeit zu wünschen übrig, ich bekam kaum etwas runter. Leider forderte der Körper das, was er brauchte, auf seine Weise ein, das musste ich schon erleben.

„Hm?“

Blinzelnd beugte ich mich ein wenig aus dem Fenster, meine Augen verengten sich zu Schlitzen. Mir war, als hätte ich gerade eben etwas gesehen. Jemanden, der wie Kieran aussah, aber ich entdeckte niemanden. Jeder in diesem Spießerhausen blieb um diese Uhrzeit brav in seinen sicheren vier Wänden und schlief, davon war ich überzeugt.

„Erst höre ich komische Geräusche und jetzt bekomme ich auch noch Hallus. Was sollte Kieran hier wollen? Er wird mich sicher nicht mit Faren verwechseln.“

Vielleicht könnte es mich ein bisschen von meinen düsteren Gedanken ablenken, wenn ich etwas essen würde, also wandte ich mich vom Fenster ab und verließ mein Zimmer, das ursprünglich nur als Übernachtungsmöglichkeit für Gäste gedacht gewesen war. Leise schlich ich über den Holzflur zur Treppe, die, zu meiner Erleichterung, keine Stellen besaß, wo die Stufen klischeehaft knarzten.

So erreichte ich geräuschlos das Erdgeschoss und lauschte dort erst mal aufmerksam.

Im Behandlungszimmer war undeutlich Vincents Stimme zu hören, der sich mit jemandem unterhielt. Da in den Sprechpausen keine weitere Person das Wort erhob, vermutete ich, dass er ein Telefonat führte. Mitten in der Nacht. Ungewöhnlich war das nicht, denn Vincent war mit Leib und Seele eine Nachteule. Schlaf schien er gar nicht zu kennen, jedenfalls kannte ich ihn nur im wachen Zustand. Nicht mal Mittagsschläfchen hielt er.

Solange Vincent abgelenkt war, nutzte ich die Gelegenheit und schlich unbemerkt im Dunkeln weiter in die Küche, wo mein Magen sich etwas Essbares erhoffte. Zielsicher ging ich auf den Kühlschrank zu und öffnete diesen, wodurch der Raum ein wenig beleuchtet wurde. Unförmige Schatten entstanden durch das klägliche Licht.

Wieder mal hatte Vincent – oder eher dessen Schwester – jeden freien Platz im Inneren gefüllt, so dass es an Essen nicht mangelte. Mir sprang aber sofort eine Frischhaltebox ins Auge, auf der gut sichtbar ein Zettel klebte, beschrieben mit einer auffälligen Farbe:

Für Ferris. Mach dir das in der Mikrowelle warm. Eis ist auch wieder da. Vincent.

Eine Weile konnte ich nur dastehen und las diese Nachricht mindestens zehn Mal durch, bis ich das wirklich realisieren konnte. Vincent hatte mir etwas vom Mittagessen aufbewahrt und sogar neues Eis besorgt. Das bekam ich in meiner appetitlosen Phase am besten runter, aber eigentlich betitelte Vincent das andauernd als zu ungesund. Und doch hatte er es besorgt, damit ich notfalls zumindest davon aß.

„Fuck ... warum bist du so nett zu mir?“ Auf einmal klang meine Stimme furchtbar heiser. „Hör auf damit.“

Sonst fing ich noch an, Vincent richtig ins Herz zu schließen, aber das wollte ich nicht. Letztendlich lief es nur darauf hinaus, dass er irgendwann doch noch erkannte, was für ein hoffnungsloser Fall ich war, und mich abschob. Das könnte ich nicht mehr ertragen, nicht nachdem ich schon Kieran aufgeben musste, weil ich ihn an Faren verloren hatte.

Ohne etwas aus dem Kühlschrank zu nehmen, schloss ich diesen wieder und lehnte mich mit der Stirn dagegen. Erneut begannen meine Gedanken zu kreisen und alles aufzuwühlen. Ich malte mir unzählige Möglichkeiten aus, wie mein Leben in Zukunft aussehen könnte, sollte ich bei Vincent bleiben. Mir kamen nur die schlimmsten Aussichten in den Sinn, keine einzige gute.

Als mir das bewusst wurde, brach in mir etwas zusammen. Hier konnte ich nicht bleiben. Je länger ich blieb, desto mehr litt das Verhältnis zu Vincent darunter. Mir wäre es lieber, es an einem halbwegs friedlichen Punkt zu beenden, bevor auch das ein schlechtes Ende nahm. Das sollte für uns beide die beste Lösung sein.

Mit diesen Entschluss löste ich mich vom Kühlschrank und huschte zurück in den Gang, direkt Richtung Haustür. Noch immer war Vincent in ein Gespräch vertieft, von dem ich nichts mitbekam. Umso besser, dann konnte ich gehen, ohne nochmal mit ihm reden zu müssen. Von dem Zeug, das noch in meinem Zimmer herumlag, hatte ich das meiste ohnehin von Vincent geschenkt bekommen, also ließ ich es ihm hier. Hauptsache ich hatte mein Handy dabei, der Rest war mir herzlich egal.

An der Haustür ließ ich auch meinen Schlüssel auf der Ablage neben dem Garderobenständer liegen und legte meine Hand auf die Klinke. Aus dem Waisenhaus abzuhauen war mir wesentlich leichter gefallen, wie ich gerade merkte. Bedrückt warf ich einen letzten Blick über die Schulter, meine Brust wurde schwer. Nur dieses eine Mal noch musste ich Vincent Probleme und Sorgen bereiten, aber danach käme sein Leben wieder in Ordnung. Mit Patienten, bei denen eine Therapie mehr Erfolg versprach, als bei mir.

„Danke für alles, Vincent“, flüsterte ich für mich, dann drückte ich die Klinke nach unten.
 

***
 

Ziellos schlurfte ich durch die Straßen der Stadt, keine Menschenseele weit und breit. In Vincents Wohnviertel war das nachvollziehbar gewesen, aber mitten in der Einkaufspassage oder im Park lungerten sonst normalerweise Jugendliche herum, manchmal auch ein Obdachloser. Nicht mal Autos waren unterwegs, dabei mussten einige Leute bestimmt noch zur Spätschicht – wann auch immer die in der Arbeitswelt genau anfing.

„Wo soll ich jetzt überhaupt hingehen?“, fragte ich mich selbst ratlos.

Auf jeden Fall nicht zurück zu Vincent. Faren wollte ich auch nicht zur Last fallen, zumal er sich voll und ganz auf Kieran konzentrieren und ihn glücklich machen sollte. Ins Waisenhaus ließ ich mich ebenfalls nicht nochmal stecken, dafür war ich sowieso bald zu alt. Wohin sollte ich also gehen?

Kurzzeitig blitzte vor meinem geistigen Auge das Bild eines Hauses auf, das in Flammen stand. Zornig schlugen sie bis in den Himmel hinauf. Sirenen lärmten über die Straßen. Alles begann zu flimmern und die Hitze in der Luft brannte in meinen Lungen.

„Nein!“, schrie ich laut, um diese Erinnerung wieder zu verscheuchen. Müde legte ich eine Hand auf meine Stirn, die sich nicht heiß, sondern eiskalt anfühlte. „Ich kann nirgendwo hingehen. Ich will nicht wieder jemanden verletzen.“

Demnach gab es nur eine Lösung: Sterben.

Faren hätte mir auf der Stelle eine Predigt gehalten, wüsste er, was ich gerade dachte. Auch er musste mit mir schon einiges durchmachen. Jetzt gab es aber Kieran in seinem Leben. Wahrscheinlich bemerkte er es gar nicht, wenn ich spurlos verschwand.

Niemand wird dich vermissen, hauchte eine Flüsterstimme mir boshaft ins Ohr. Niemand. Du solltest besser sterben.

Pures Eis schien das Blut in meinen Adern zu gefrieren. Erschrocken fuhr ich herum und stolperte einige Schritte nach hinten, meine Beine fühlten sich weich an. Niemand zu sehen. Nach wie vor war ich die einzige Person in Sichtweite, aber woher war dann diese Stimme gekommen? Irgendwie hatte es sich angefühlt, als hätte mir der Tod persönlich ins Ohr geflüstert.

„Alter, ich bin echt im Arsch. Jetzt fange ich auch noch an, Stimmen zu hören.“

Dagegen hätte Vincent mir garantiert irgendwelche Tabletten empfehlen können, so als Therapeut. Von Faren dagegen hätte ich eher eine Flasche Bier angeboten bekommen, um mich zu entspannen. Was würde Kieran tun? Obwohl wir uns ähnlich waren, konnte ich mir diese Frage nicht beantworten. Traurig, ich kannte ihn nicht so gut, wie ich es mir wünschte.

Komm, meldete sich die Stimme erneut zu Wort. Sie fegte wie ein eisiger Windhauch über meinen Körper. Komm, ich helfe dir dabei zu sterben.

Zähneknirschend drehte ich mich von einer Seite zur anderen, suchte mit den Augen die Schatten ab. Irgendwie wirkte die ruhige Einkaufspassage plötzlich größer als vorhin, und verschwommen, wie ein Bild, das man zu stark vergrößert hatte und unscharf geworden war. Etwas stimmte nicht. Drehte ich komplett durch?

„Ich habe keine Angst vor dem Tod!“, stellte ich klar, wenn auch etwas nervös. „Aber ich bestimme meinen ganz allein! Wer du auch bist, hör auf mit diesem scheiß Spiel und zeig dich!“

Ich zuckte zusammen, denn als Antwort ertönte im Chor das Geräusch von Schritten. Wildes Klacken und Stampfen, von überall her, wie eine Menschenmenge, die in Panik verfallen vor etwas wegrannte. Diesem Fluchtverhalten schloss ich mich nicht an, egal wie schnell mein Herz schon raste, mit den Schritten im Einklang. Nicht weglaufen. Nicht weglaufen. Nicht weglaufen.

„Es reicht!“, kreischte ich wütend, die Kraft in meiner Stimme schien direkt aus meiner Brust zu kommen. „Zeig dich! Zeig dich, verdammt!“

Schmerzvolles Splittern in den Ohren, schon wieder. Keuchend verzog ich das Gesicht und kniff die Augen zusammen, schüttelte meinen ganzen Körper. Holte tief Luft. Meine Augen öffneten sich und dann sah ich endlich etwas. Genau vor mir. Etwas, das keinesfalls real sein konnte, aber es starrte mich gierig an, mit zwei golden glühenden Augenhöhlen.

Es war ein dürres, menschenähnliches Wesen, locker doppelt so groß wie ich, dessen Körper vollständig mit schwarzem Teer oder etwas in der Art bedeckt war, das zu Boden tropfte. Dort ätzte es in Sekunden Löcher in den Boden. Heißer Dampf stieg von der zähflüssigen Masse auf, aus der diese unheimliche Gestalt bestand. Sämtliche Gliedmaßen waren viel zu lang gewachsen und hingen schlaff nach unten.

Ich war nicht dazu fähig, mich zu bewegen. Verstört konnte ich nur dastehen und dieses Etwas anstarren. Das sah ich nicht zum ersten Mal. So ein Ding hatte ich schon mal gesehen, in Verbindung mit Feuer. Nur dunkel erinnerte ich mich daran. Kaum hörbar flüsterte die Stimme noch einmal auf mich ein, wobei die Augenhöhlen des Wesen stärker aufleuchteten. Mein Verstand drohte in diese brennenden Abgründe gerissen zu werden.

„Sterben“, wiederholte ich, wie in Trance. „Ja, lass mich-“

Schweig!“, unterbrach mich jemand bestimmt, eine Männerstimme.

Aus dem Nichts ertrank meine Umgebung plötzlich in einem Meer aus gleißendem Licht, ich konnte nichts mehr sehen. Mit tränenden Augen versuchte ich dennoch, etwas zu erkennen, drehte mich im Kreis, wie zuvor. Verwirrung wandelte sich allmählich zu Panik, weil ich keine Ahnung hatte, was hier los war. Mir wurde furchtbar schlecht.

Ganz kurz wünschte ich mir, ich hätte einfach dankbar das Essen zu mir genommen, das Vincent für mich in den Kühlschrank gestellt hatte, und mich anschließend bei ihm für mein Verhalten entschuldigt, ihm Besserung geschworen, egal wie unwahrscheinlich das bei mir war.

„Ich glaube kaum, dass du wirklich auf solch eine Weise hättest sterben wollen. Du solltest dich etwas mehr zusammenreißen“, tadelte mich der Mann halbherzig, dessen Stimme sich in das Geschehen eingemischt hatte – eigentlich klang er sogar noch recht jung. „Erst das Echo provozieren und ihm dann noch Gestalt verleihen, obwohl du keinen Schimmer davon hast, wie du dagegen kämpfen musst. Du bist echt eine Nummer.“

„Was?“, brachte ich irritiert hervor.

Zwischen dem Licht erschien eine Gestalt vor mir, jedoch nicht dieses abstrakte Wesen aus Teer. Diesmal sah es wie ein normaler Mensch aus, aber wie sicher konnte ich mir da sein? Meine Augen waren noch geblendet und brannten wegen der Helligkeit. Sie strahlte so sehr, es war kaum auszuhalten.

Die Person näherte sich mir gezielt, mit einem rot glühenden Würfel zwischen den Lippen. Dieser verschwand allerdings einfach im Mund des Mannes und er schluckte den Gegenstand ohne Mühe hinunter. Als hätte jemand Öl ins Feuer geschüttet, brannte das Licht gleichzeitig noch heller.

„Du verschwendest dein Talent“, meinte der andere seufzend. Etwas berührte mich sacht am Kinn. „Aber schonen wir zunächst deinen zerbrechlichen Verstand und sprechen ein anderes Mal darüber.“

So nahe, wie die Person mir inzwischen war, konnte ich endlich einige wenige Details seines Gesichts erkennen. Meine Überraschung über diesen Anblick ließ sich nicht verbergen. Nicht, weil seine Augen genauso unheimlich rötlich glühten, wie der Würfel eben, sondern weil auch dieser Typ mir seltsam vertraut vorkam. Jedenfalls auf den ersten Blick.

„Bist du ...“, begann ich unsicher.

Schlaf ein, Ferris.

Es war ein Befehl, der in meinem Geist widerhallte und die Kontrolle über mich gewann. Solch eine tiefe, klare Stimme, frei von jeglichen Zweifeln oder Unsicherheit. Mir war, als könnte man so jemandem nur Folge leisten. Ich wollte nicht, aber es geschah einfach.

Meine Augenlider wurden schwer, ich schlief ein. Versunken in diesem grellen Licht.

Ich will dir nur helfen

Ich sah noch dieses grelle, penetrante Licht vor mir und spürte das Brennen in meinen Augen, als ich diese langsam öffnete.

Plötzlich hatte sich meine gesamte Umgebung verändert. Auf dem Rücken liegend, starrte ich die Deckenpaneelen aus hellem Holz über mir an, und war völlig ratlos. Wo war ich? Das alles konnte kaum ein Traum gewesen sein, so etwas passierte den Protagonisten nur in schlechten Fiktionen – wo ich wahrscheinlich eher der Antagonist wäre, statt ein Held.

Wenigstens war die Helligkeit wieder normal und blendete nicht mehr wie eine Supernova. Es schien schwaches Tageslicht zu sein, das den Ort erfüllte, kein künstliches. Mein Kopf sackte von einer Seite zur anderen, damit ich mir einen ersten Überblick verschaffen konnte. Hierbei handelte es sich nicht um einen Raum aus dem trostlosen Waisenhaus oder von Vincents Bleibe in Spießerhausen, wie ich sofort erkannte.

Meine Wenigkeit lag auf einem großen, protzigen Ledersofa in Türkis, mitten in einem geräumig wirkenden Wohnzimmer. Ein Deckenventilator sorgte für einen angenehmen Luftstrom, ohne Lärm zu verursachen. Vor mir stand ein Glastisch, der noch mehr Platz einnahm, als der von Vincent, und sogar über eine weitere Platte unter der oberen verfügte, wo man etwas ablegen konnte. Nur wenige Schritte weiter lächelte mir verführerisch ein Flachbildfernseher entgegen, im Kinoformat.

Schon diese ersten Eindrücke genügten mir, um sagen zu können: Ich musste irgendwie in Ober-Spießerhausen gelandet sein, bestimmt nur eine Verwechslung. Vielleicht hatte ich doch nur geträumt und war dabei schlafgewandelt. Obendrein musste ich auch noch Einbruch und Hausfriedensbruch begangen haben – oder war beides das gleiche?

Vorsichtig richtete ich mich auf und konnte direkt auf meiner linken Seite durch eine Fensterfront nach draußen schauen. Dort ging gerade die Sonne auf, was erklärte, warum das Tageslicht noch so kläglich ausfiel. Vom Wohnzimmer aus konnte man durch eine Tür in den Garten hinausgehen, den ich ebenfalls durch das blitzblanke Glas bestaunen durfte. Peinlich genau geschnittenes Gras und eine Menge gepflegte Pflanzenpracht, zwischen der man es sich auf weißen Liegestühlen gemütlich machen konnte.

„Alter, ich bin erledigt“, flüsterte ich angespannt. „Jetzt lande ich garantiert im Knast.“

Alles nur, weil ich zu unfähig für das Leben war und auch noch das Schlafwandeln angefangen habe. Würde mich nicht wundern, wenn ich hier in der Villa des Bürgermeisters oder so gelandet war. Hoffentlich war ich nicht im Schlaf über jemanden hergefallen oder hatte einen umgebracht, dann konnte ich mich wirklich endgültig erschießen.

Ein kurzes Klacken ließ mich erschrocken zusammenzucken und schlucken. Da das Geräusch hinter mir ertönt war, blieb mir keine andere Wahl, als einen Blick über die Schulter zu werfen. Theoretisch könnte ich auch einfach aufspringen und wegrennen, so wie ich es in letzter Zeit öfter tat, aber diesmal könnte der Besitzer dieses Anwesens mich mit einer Schrotflinte abknallen. Nicht, dass es schlimm wäre oder schade um mich, nur wollte ich nicht unbedingt auf diese Weise sterben.

„Deine Anspannung nervt“, seufzte jemand. „Du solltest weniger nachdenken.“

Mir lief es sofort eiskalt den Rücken herunter, denn die Stimme kannte ich. Sie war das letzte gewesen, was ich gehörte hatte, kurz bevor ich das Bewusstsein verlor. Also handelte es sich hierbei um eine Entführung? Hastig drehte ich mich auf dem Sofa um und machte mich auf alles gefasst, nur nicht darauf, was ich zu Gesicht bekam, obwohl es kein furchtbarer Anblick war.

„Du bist das“, stellte ich verwirrt fest.

Das dunkelbraune Augenpaar des anderen fixierte mich fest, es versuchte mich geradezu zu verschlingen. Tatsächlich wirkte es wie ein schwarzer Abgrund, je länger ich den Blick erwiderte, ganz anders als bei Kieran. Trotzdem hatte dieser Mann Ähnlichkeit mit ihm, wirkte jedoch wesentlich reifer, weshalb ich ihn auch als Erwachsenen einstufen konnte.

Er saß auf einem gepolsterten Holzstuhl an einem zweiten Tisch, der hinter dem Sofa stand. Wegen der Rückenlehne hatte ich diese Seite vorhin nicht einsehen können. Vermutlich handelte es sich um den Essbereich, ich zählte noch fünf weitere Stühle. Auf dem Tisch ruhte ein Laptop, den er eben geschlossen haben und somit das klackende Geräusch verursacht haben musste.

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Du bist nicht Kieran, oder?“

Sie sahen sich ähnlich, aber gleichzeitig auch nicht. Die etwas feminine Gesichtsform war die gleiche, genau wie das tiefschwarze, kurz geschnittene Haar, nur war die Frisur bei dieser Person etwas anders als bei Kieran. Beide Augen lagen frei, keine langen Strähnen verdeckten eines davon, sie fielen ihm dennoch weit über die Stirn. Seine Haare standen an manchen Stellen etwas ab, bei Kieran lagen sie überwiegend glatt und ordentlich.

Von der Größe her glichen sie sich dann wieder, auch der Körperbau war ähnlich. Nur die Haltung dieses Jungen war erschreckend selbstbewusst, nahezu furchtlos. Diese Ausstrahlung unterstrich sein stechender, ernster Blick zusätzlich. Selbst sein Kleidungsstil verriet, dass er sich nicht zu verstecken versuchte, anders als Kieran. Fast kam er an den von Faren heran, nur eine Spur wilder.

„Mitnichten“, betonte er, scheinbar abgeneigt von dieser Vorstellung. „Aber du bist nicht der Erste, der mich das fragt. Umgekehrt ist das seltsamerweise niemals der Fall.“

Aus irgendeinem Grund ließ mich seine Stimme schaudern. Etwas in ihr war derart eindringlich, dass es mich gefangen nahm. Richtig unheimlich.

Sollte ich mich entschuldigen? Unsicher schwieg ich, ohne den Blick abzuwenden. Ich befürchtete, es bitter zu bereuen, wenn ich ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen ließe. Was sollte ich sagen? Gerade kam ich mir wirklich hilflos vor, wie ein Kleinkind. Nicht mal soziale Interaktionen lagen mir.

„Da du anscheinend deine Zunge verschluckt hast, liegt es wohl an mir, das Ganze aufzuklären“, fuhr der andere fort, diesmal ohne irgendeine emotionale Regung. „Mein Name ist Ciar.“

„Ciar?“, wiederholte ich mühevoll.

„Das hast du richtig verstanden, Ciar Belfond.“

Belfond?! So lautete der Familienname von Kieran, aber das konnte nicht sein. Gab es etwa noch andere Leute in der Stadt, die so hießen? Eigentlich hatte mir Kieran nie sonderlich viel über seine Familie erzählt, fiel mir ein. Dieses Thema behagte ihm nicht, darum sprachen wir nicht darüber.

„Verstehe, Kieran hat dir nichts von mir erzählt, hm?“ Ciar rollte leicht mit den Augen. „Typisch, dabei sollte man zu seinem älteren Zwillingsbruder stehen, meiner Meinung nach.“

Jetzt setzte mein Gehirn aus. Zwillinge? Kieran hatte ernsthaft einen solchen Bruder? Dann wirkte dieser auch noch ganz anders als er, wie das genaue Gegenteil von ihm. Davon hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung gehabt. Ob Faren es wusste?

Schlagartig begann meine Brust wieder zu schmerzen. Ich war nicht Kierans Partner, also sollte ich es mir nicht so sehr zu Herzen nehmen, doch es machte mich traurig. Es war verletzend, nur so wenig über Kieran zu wissen, obwohl ich mich ihm so nahe fühlte.

„Ah, okay“, stammelte ich erst, räusperte mich aber dann, um endlich etwas mehr Haltung anzunehmen und durch seinen festen Blick nicht gänzlich unterzugehen. „Nett, dich kennenzulernen.“

Nett.“ Etwas daran ließ Ciar schmunzeln. „Schon klar.“

Ich ließ mich davon nicht beirren und stellte eine wichtige Frage: „Wo bin ich hier?“

„Oh, das dürfte dir gefallen.“ Theatralisch breitete Ciar die Arme aus. „Willkommen im Hause der Belfonds, wo auch der werte Kieran sein Leben fristet, in seinem Zimmerchen.“

„Kieran wohnt hier?“

Sollte Ciar wirklich dessen Zwillingsbruder sein, wäre das nicht verwunderlich. Bis zu einem gewissen Alter lebte man in der Regel mit der Familie zusammen, auch noch einige Jahre über die Volljährigkeit hinaus – ja, Kieran war bereits erwachsen, ebenso wie Faren.

Was mich so sehr schockte, war die Tatsache, dass jemand wie Kieran in solch einem prunkvollen Schloss hauste. Sicher mochte ich übertreiben, doch wer lange Zeit im Waisenhaus leben musste, der konnte das hier nur als edel betrachten. Schon das Wohnzimmer bot eine Menge Lebensraum. Wie viele Zimmer gab es noch? Wie viele Stockwerke? Wie viele Personen genau lebten hier? Das wollte ich alles zu gern wissen.

„Er hält das geheim, weil ihm das unangenehm ist“, erklärte Ciar und winkte dabei über die Schulter. „Kieran will nicht für einen reichen, eingebildeten Schnösel gehalten werden, der sich deswegen von anderen distanziert, weil er sich für etwas Besseres hält. Ziemlich albern, oder?“

„Finde ich nicht“, rutschte es mir heraus, wie von selbst.

Das klang ganz nach Kieran. Jemand wie er würde niemals mit dem angeben, was er hatte, weil ihm solche Werte nicht wichtig waren. Faren würde vor Begeisterung ausflippen, könnte er diese Bude sehen. So weit waren sie in ihrer Beziehung bestimmt noch nicht gekommen, Kieran blieb bei solch persönlichen Enthüllungen verschlossen und konnte dabei erstaunlich stur bleiben.

„Ciar, musst du Ferris diese Dinge über mich unbedingt erzählen?“, beklagte sich auf einmal das Gesprächsthema persönlich.

Aus einem der anderen Räume kam in diesem Augenblick Kieran zu uns ins Wohnzimmer, mit einem Tablett in der Hand, das mit einem ordentlichen Frühstück gedeckt war. Zum ersten Mal sah ich ihn in Alltagskleidung, die man nur zu Hause trug. Zwar handelte es sich dabei nur um ein einfaches Shirt und eine lockere Hose, aber es brachte mich sofort in Verlegenheit, die ich mühevoll zu unterdrücken versuchte.

„Sorry, Kieran“, warf ich rasch ein.

„Du musst dich nicht entschuldigen“, beruhigte er mich und lenkte den Blick vielsagend zu Ciar.

Dieser zuckte unschuldig mit den Schultern und wandte sich wieder dem Laptop zu, den er öffnete. „Ich hab doch nur die Wahrheit gesagt. Anders als du sehe ich keinen Grund darin, krampfhaft alles geheimzuhalten, Bruderherz.“

Kierans Brustkorb hob und senkte sich sichtbar, was mir seinen stummen Seufzer enthüllte, den er daraufhin ausstieß, statt etwas zu sagen. Er brachte das Tablett zu mir an den Tisch und stellte es dort ab, mit der Erklärung, dass ich mich stärken sollte. Darauf waren mehrere Brötchen und Belag angerichtet, so dass ich mir selbst etwas zusammenstellen konnte. Als Alternative stand auch noch Müsli mit Milch dabei und Wasser.

Der Gedanke daran, dass Kieran dieses Frühstück vielleicht sogar selbst für mich gemacht hatte, weckte einen gigantischen Kohldampf in mir, wie ich ihn ewig nicht mehr hatte. Oder es gab hier einen Butler, der solche Arbeiten erledigte, aber mir gefiel die andere Option besser. Dieses warme Gefühl milderte vorerst den Schmerz in meiner Brust.

Ich wandte mich lächelnd an Kieran. „Vielen Dank, das wäre nicht nötig gewesen.“

„Das Frühstück ist eine wichtige Mahlzeit, deshalb ist das selbstverständlich.“

„Sagt der, der von uns allen hier am wenigsten isst und immer dazu angetrieben werden muss“, mischte Ciar sich aus dem Hintergrund ein.

Gekonnt ignorierte Kieran ihn. „Wie geht es dir, Ferris?“

„Ganz gut“, log ich. „Ich bin nur etwas verwirrt. Wie bin ich hierher gekommen?“

Mir war noch nicht ganz klar, ob ich diesem skurrilen Wesen letzte Nacht wirklich begegnet war oder nicht. Am liebsten wäre es mir, es gäbe eine andere Erklärung dafür. Sonst würde Ciar mir nur sofort noch unheimlicher werden. Kein normaler Mensch könnte gegen so ein seltsames Geschöpf gewinnen, falls überhaupt ein Kampf stattgefunden hatte. Erinnern konnte ich mich an keinen, aber mit meinem Kopf stimmte sowieso einiges nicht.

„Ich habe dich gefunden“, antwortete Ciar mir, der aufgestanden war und sich neben mir mit den Armen auf der Rückenlehne des Sofas abstützte. „Nach meinem Feierabend habe ich dich auf dem Weg nach Hause zufällig im Park entdeckt, wo du auf einer Bank geschlafen hast.“

Ich starrte ihn verblüfft an. „Bitte?“

„Und da ich nicht so schwach bin wie Kieran“, stichelte Ciar, während er weitersprach, „habe ich dich kurzerhand über meine Schulter geworfen und mitgenommen. Mein Auto parkte ganz in der Nähe.“

Im Vergleich zu der Version mit diesem grässlichen – mir gehen die Adjektive dafür nicht aus – Monster aus Teer, klang diese erschreckend lahm. Nahezu so peinlich, dass ich im Erdboden versinken wollte. Erst recht als Kieran auch noch einen naheliegenden Verdacht äußerte, in Form einer weiteren Frage: „Hast du Alkohol getrunken?“

Hätte nur noch der elterliche, vorwurfsvolle Tonfall gefehlt, doch Kieran klang zum Glück nur besorgt. Allerdings war das auch schon schlimm genug, denn ich wollte ihm keine Last sein. Wenn ich nicht mit ihm zusammen sein konnte, wollte ich zumindest eine sorglose Freundschaft mit ihm führen, in der er sich keine Gedanken um mein Wohl machen musste. Wir sollten beide einfach Spaß zusammen haben.

„Ja, mir war mal danach, mich endlich abzuschießen“, scherzte ich, gespielt heiter, winkte jedoch sofort ab. „Nein, habe ich natürlich nicht. Echt.“

Skeptisch musterte Kieran mich genauer. „Was hast du dann nachts draußen auf einer Parkbank gemacht?“

Spontan wollte mir keine logisch nachvollziehbare Lüge einfallen und lange warten durfte ich mit der Antwort auch nicht, sonst weckte ich Kierans Misstrauen nur noch mehr. Blieb mir also nur die Wahrheit, um mich davor zu bewahren, mich in irgendwelche wirren Geschichten zu verzetteln.

„Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Vincent“, gestand ich. „Darum bin ich später dann einfach abgehauen. Das ist so im Affekt passiert.“

Den Teil mit dem außerirdischen Wesen ließ ich bewusst aus, schon weil ich von Kieran nicht für verrückt erklärt werden wollte. Sonst ging er nur auf Abstand. Im Moment wusste ich nicht mal selbst, ob das überhaupt ein reales Geschehen war. Außerdem hatte ich Kieran schon gebeichtet, dass ich aktuell bei einem Therapeuten wohnte, was Überwindung genug gewesen war. Zu meiner Erleichterung verurteilte er mich deswegen nicht, wahrscheinlich weil Kieran selbst regelmäßig bei Vincent in Behandlung war – dort hatten wir uns kennengelernt.

„Zum Glück ist dir nichts passiert“, kommentierte Kieran das Ganze, sprach aber etwas strenger weiter. „Nachts draußen auf einer Parkbank zu schlafen ist gefährlich. Es gibt genug Leute, die dich als leichtes Opfer gesehen hätten, um dich zu überfallen oder einfach nur Frust an dir auszulassen.“

Lachend versuchte ich, die Stimmung zu entspannen und vor allem Kieran zu beruhigen. „Überfallen? Ich hab doch gar nichts, bin ein armer Schlucker. Und hey, mir ist ja nichts passiert. Im Notfall hätte ich mich schon wehren können.“

Zweifelnd hob Kieran eine Augenbraue. „Nicht, wenn du betrunken warst.“

„Ey, jetzt sei mal nicht so misstrauisch. Das war ich nicht“, versicherte ich ihm und legte bedeutungsvoll eine Hand auf die Brust. „Ich schwöre es dir, hoch und heilig! Bestimmt war ich nur kaputt von Vincents Sitzung. Du kennst das doch.“

Das hätte ich vor Ciar besser nicht sagen sollen, denn Kieran warf unauffällig einen Blick zu diesem. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, wie unangenehm ihm das war und dass er unter diesen Umstand litt. Da ich Ciar bislang nicht bei Vincent gesehen hatte, ahnte ich, dass Kieran sich dafür schämen musste, als einziger von ihnen psychische Probleme zu haben. Niemand war stolz darauf, zu einem Therapeuten gehen zu müssen. Ich verstand das nur zu gut.

Ciar schien das Thema aber überraschend kalt zu lassen, er verzog keine Miene. Etwas an ihm strahlte sogar Langeweile aus. Warum ging er dann nicht zurück an den Laptop? Ob er Dank erwartete? Eigentlich wäre das in der Tat angebracht, nur wollte ich das nicht gerade jetzt erledigen. Mir war dieser Typ nicht ganz geheuer. Seine Anwesenheit beunruhigte mich, doch dank Kierans Nähe wurde dieses Gefühl ein wenig abgeschwächt.

„Am besten isst du erst mal“, bat Kieran mich und deutete in eine Richtung, aber da ich mich hier nicht auskannte, wusste ich nicht, wohin genau. „Ich werde Vincent anrufen und ihm Bescheid sagen, dass du bei uns bist. Er wird sich Sorgen um dich machen.“

Ich biss die Zähne zusammen und musste mich bemühen, ihn nicht lauthals davon abzuhalten. Durch diesen Anruf ging das alles nur wieder von vorne los und endete irgendwann erneut genau wie gestern, das hatte keinen Sinn. Schlimmstenfalls schloss Vincent ab heute stets gründlich sämtliche Türen und Fenster ab, damit ich nicht mehr so leicht weglaufen konnte. Wir alle würden uns nur ewig im Kreis drehen und keinen Ausweg aus diesem Elend finden.

Leider konnte ich das vor Kieran nicht zeigen. Ihm war es wichtig, dass ich zurück zu Vincent ging und nicht auf der Straße lebte. Er glaubte mehr an meine Heilung als ich selbst, gerade ihn wollte ich nicht enttäuschen. Vincent käme damit zurecht, aber Kieran wollte ich keine Sorgen bereiten. Also musste ich diese Spirale offenbar vorerst weiter in Kauf nehmen und aushalten.

„Gute Idee~“, sagte ich widerwillig. „Danke, Kieran.“

Nickend wandte er sich von uns ab und ging wieder davon, verschwand durch eine der Türen. Sofort kehrte der Schmerz in meiner Brust zurück und das Loch in meinem Herzen riss noch weiter auf. Wie verlassen und einsam ich mir vorkam. Andere würden es bestreiten und behaupten, ich sei noch jung, aber ich wusste bereits, dass ich diesen Schmerz niemals mehr in meinem Leben loswerden könnte. Ebenso wenig wie meine Unfähigkeit, mit der ich keinen Anschluss in der Gesellschaft fand.

Ich bin nicht perfekt.

Ich bin nicht mal halbwegs annehmbar.

Ich bin ein absolutes Wrack – seht das doch endlich mal ein!

„Willst du deinen Schmerz loswerden?“, riss mich Ciars Stimme aus meiner Trance.

Erschrocken fuhr ich zur Seite. „Was?“

Den hatte ich schon vollkommen verdrängt, er war auch noch da. Ausgerechnet dieser Kerl, den man glatt als bösen Zwilling von Kieran bezeichnen könnte. Ehrlich, etwas an ihm machte mir Angst, ich konnte es nur nicht benennen. Woher kannte er überhaupt meinen Namen und wusste, wie ich aussehe? Kieran plauderte mit ihm sicherlich nicht über seine wenigen Freunde, dafür war er nicht der Typ.

„Ich weiß, wie du deine Schmerzen spielend einfach loswerden könntest“, fuhr Ciar verheißungsvoll fort. „Oder leidest du so gerne?“

Wie auf Stichwort fuhr ich vom Sofa hoch. „Nein, tue ich nicht!“

„Dachte ich mir.“ Seltsam zufrieden kehrte Ciar zu seinem Laptop zurück und nahm diesen vom Tisch. „Ich melde mich bei dir, wenn es so weit ist.“

„Wovon redest du da? Was willst du eigentlich von mir?“

„Ich will dir nur helfen“, erwiderte Ciar, derart ernst, dass es wie eine Drohung klang, sollte ich ihn weiter nerven. „Wir können uns gegenseitig helfen. Lass dich überraschen.“

Ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, ging er daraufhin ebenfalls auf eine der Türen zu und verließ das Wohnzimmer. Nun stand ich alleine da, perplex und überfordert.

Kein Wunder, dass Kieran nie von ihm erzählt hat, dachte ich für mich. Der spinnt doch total!

Seltsam, so etwas zu denken, wenn man selbst nicht ganz normal war. Egal, ich sollte Ciar so schnell wie möglich vergessen. Bald musste ich mich doch wieder mit Vincent auseinander setzen, was um einiges anstrengender werden dürfte. Darum nahm ich Platz, um mich dem Frühstück widmen zu können und mich dafür entsprechend zu stärken.

Vielleicht konnte ich Vincent ein wenig beschwichtigen, wenn er wusste, dass ich anständig gegessen hatte. Es wäre schön, den restlichen Tag über möglichst friedlich verbringen zu können. Besonders nach dieser Nacht wollte ich die letzten Stunden nur noch vergessen und versuchen, weiterhin zu überleben. Wenigstens noch eine Weile, für Kieran.

Vincent wartet doch auf uns

Hier saß ich nun, in einem protzigen Luxuswagen, einer großen Familienkutsche. Obwohl ich ein Kerl bin, verstehe ich nicht viel von Autos. Wer im Waisenhaus aufwuchs, der konnte froh genug sein, wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren durfte, denn war die Schule in der Nähe, mussten die Kinder laufen, um Geld zu sparen. Deshalb kam ich in der Vergangenheit selten in den Genuss, von vier Rädern durch die Gegend kutschiert zu werden.

Trotzdem ahnte sogar ich als Laie, dass dieser geräumige Wagen gewiss nicht billig gewesen sein konnte. Ein Blick auf die zahlreichen Funktionen und Extras, die das Armaturenbrett zu bieten hatte, bestätigte diese Vermutung. Besonders das eingebaute Navigationssystem und der kleine Bildschirm, dank dem es sich leichter rückwärts einparken ließ, brachten mich zum Staunen. So etwas hatte ich noch nie gesehen, für mich war das die reinste Science-Fiction.

„Anschnallen“, forderte der Fahrer neben mir.

Der war ein regelrechter Zwei-Meter-Mann, mit den körperlichen Eigenschaften einer Ziehharmonika. Im Ernst, es war mir ein Rätsel, wie jemand von solcher Größe sich in ein Auto zwängen konnte, erst recht auf der Fahrerseite, wo es durch das Lenkrad und allen anderen Steuerelementen noch beengter sein musste. Vielleicht besaß der Typ keine Knochen und bestand nur aus Gummi, aber seine Haltung sah überraschend normal aus.

Zwar mochte dieser Wagen angenehm groß sein und mehr Platz bieten als manch anderer, doch es sollte normalerweise dennoch nicht einfach für ihn sein, hier drin zu sitzen. Wie auch immer, eigentlich konnte mir das egal sein, nur sah ich einen derart hoch gewachsenen Mann heute ebenfalls zum ersten Mal in meinem Leben. Zu viele neue Eindrücke an einem Tag.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte er plötzlich.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihn die ganze Zeit schweigend anstarrte. Nicht gerade höflich, wie ich wusste, auch wenn ich gute Gründe dafür aufzählen könnte, warum ich ihn so genau musterte. Hoffentlich fühlte er sich nicht in irgendeiner Form beleidigt von meinem Starren.

Hastig schüttelte ich den Kopf. „Nein, nein. Alles okay.“

„Gut.“ Der Klang seiner tiefen Stimme war ebenso melodisch wie bei Kieran, das musste bei denen in der Familie liegen. „Wenn du dich dann anschnallen würdest, könnten wir endlich losfahren.“

„Oh, ja klar. Sorry.“

Zügig kam ich seiner Forderung nach, er selbst war schon längst bereit und wartete nur noch auf mich. Anscheinend hatte ihn also nicht mein Starren gestört, sondern mein tatenloses Herumsitzen. Immerhin wollte er mich nach Hause fahren, zu Vincent, obwohl er garantiert bessere Dinge zu tun hätte, als sich um einen Ausreißer zu kümmern. Dabei hatte ich versichert, alleine zurechtzukommen, aber weder er noch Kieran waren davon begeistert gewesen. Sie mussten glauben, ich würde die Chance dazu nutzen, nochmal abzuhauen.

Also hatte ich nachgeben müssen, zumal ich es mir ausgerechnet mit dieser Person nicht verscherzen wollte. Bei meinem Fahrer handelte es sich nämlich um Hiwa Belfond, den Vater von Kieran und diesem unheimlichen Ciar. Muskulös war er nicht, eher etwas schmächtig, was sein ellenlanges, dunkelbraunes Haar gut kaschierte. Das pflegte er bestimmt nicht selbst, so ordentlich wie es aussah. Diese Haarpracht machte wahrlich jeder Frau ernsthafte Konkurrenz.

Hiwa wäre schon wieder jemand in meinem Umfeld, der locker als Model arbeiten könnte – ich kam mir langsam wie das schwarze Schaf in der Herde vor. Sein Gesicht wirkte aber eher wie das eines Totengräbers oder Politikers, der seine Seele an den Teufel verkauft hatte. Die Augenbrauen blieben dauerhaft zusammengezogen und seine Mundwinkel hingen weit unten. Alles an Hiwas Mimik war verhärtet und strahlte einen Ernst aus, der den Tod persönlich einschüchtern könnte.

Einzig seine braunen Augen besaßen etwas Weiches, sogar Warmes, das beruhigend wirkte. Sie erinnerten mich stark an die von Kieran, weshalb ich seinen Vater nur mögen konnte. Dabei kannten wir uns erst seit etwa zehn Minuten. Hiwa redete nicht viel, habe ich schon festgestellt.

Eine Brille würde ihm voll stehen, dachte ich für mich. Passend zu seinem Business-Anzug.

Mich würde brennend interessieren, was für einen Beruf Hiwa ausübte, dass er sich und seiner Familie solch ein luxuriöses Leben bieten konnte, aber ich wollte ihn nicht noch mehr nerven. Gut möglich, dass er deswegen so ein ernstes Gesicht machte, weil ich in seinen Augen ein Störenfried war. Traurigerweise wäre Hiwa somit die erste Person, die vernünftig war und schlechte Menschen auf den ersten Blick erkannte, statt all ihre Energie und Zeit vergeblich in jemanden hineinzustecken.

Wäre ich mit Kieran zusammengekommen, anstelle von Faren, hätte ich Hiwa irgendwann unter anderen Umständen kennengelernt. Spätestens ab dem Zeitpunkt wäre unsere Beziehung bestimmt auseinander gebrochen. Wie sollte jemand wie ich Hiwa von sich überzeugen? Ich hatte die Schule abgebrochen, keine Ausbildung in Sicht und stammte aus dem Waisenhaus, aus dem ich einfach geflohen war. So sah nicht gerade der Partner aus, den man sich für sein Kind wünschte.

Meine Liebe zu Kieran hätte so oder so keine Chance gehabt.

Reiß dich zusammen!, ermahnte ich mich selbst, bevor diese Gedanken ausarten konnten. Es ist vorbei, damit habe ich mich abgefunden.

Das Gefühl der Liebe ließ sich aber leider nicht so leicht abstellen. Ich wollte das nicht aufgeben. Seit den letzten Jahren war es nach langem etwas Gutes gewesen, das ich erlebte. Jetzt endete es zwar in Kummer, doch ich wollte nicht endgültig loslassen. Sonst käme ich nur wieder zu dem Schluss, dass mich niemand mehr bräuchte.

Abwesend warf ich einen Blick aus dem Fenster. Inzwischen fuhren wir bereits durch die Stadt, nach Spießerhausen. Wann hatte Hiwa den Motor gestartet? Der Wagen bewegte sich derart geschmeidig, beinahe schwebend, dass ich keinerlei Bewegungen wahrnahm, als würden wir immer noch stehen. Draußen rauschte aber die Außenwelt an uns vorbei, wie ein schneller Fluss, der neben uns ins Unendliche führte.

„Ich hasse ihn. Warum tue ich mir das überhaupt an?“

Sofort huschte mein Blick zu Hiwa, doch er konzentrierte sich auf den Verkehr. Er hatte nichts gesagt. Es sei denn, er konnte seine Stimme verstellen und auf einmal wie eine Frau klingen.

Irritiert sah ich nochmal nach draußen und überlegte, was ich eben gehört haben könnte. Das Radio lief nicht und die Fenster waren allesamt geschlossen, am Morgen blieb man noch von der Hitze verschont.

Instinktiv holte ich mein Handy hervor, doch es war noch nicht wieder aufgeladen worden und somit stumm.

Bildete ich mir etwas ein? Ich hatte vorhin klar und deutlich eine Frau sprechen hören, als stünde sie direkt neben mir und würde mit mir sprechen. Mir kam das Monster von letzter Nacht in den Sinn. Falls das wirklich passiert war, könnte so etwas dann auch am Tag auftauchen? Nein, sonst wäre das schon längst aufgefallen und die Medien wären voll davon.

„Kotzt mich das an, ey! Ich könnte die Alte echt abstechen!“

„Wenn ich eh nur Abschaum bin, kann ich auch einfach klauen.“

„Soll das Mistvieh doch an der nächsten Straßenecke verrotten.“

Nervös sah ich suchend aus dem Fenster. Noch mehr Stimmen, jede klang nach einer anderen Person. Ein Mann. Ein Kind. Noch ein Mann. Mein Griff um das Handy wurde schwächer und es fiel mir auf den Schoß, was ich nicht bemerkte. Wie versteinert saß ich da und wollte meinen Augen nicht trauen.

Zwischen den Menschen, die schon in der Stadt unterwegs waren und Einkäufe erledigten oder anderen Pflichten nachgingen, gab es einige Leute, deren Anblick mich zutiefst verstörte. Wie selbstverständlich bewegten sie sich zwischen ihren Artgenossen und taten so, als seien sie ganz normal. Womöglich wussten sie nicht mal, wie ihre wahre Gestalt aussah.

Statt normalen Gesichtern sah ich bei einigen nur verschwommene Fratzen, mit tiefen Augenhöhlen, aus denen eine schwarze Flüssigkeit wie Tränen nach draußen floss. Sie blieb an ihren Körpern haften und breiteten sich wie Wurzeln aus, je mehr von dieser Substanz hervorkam. Ich sah eine Gestalt, die fast vollständig von der flüssigen Masse in einen klebrigen Kokon eingehüllt worden war, doch sie lief weiter, als würde sie das nicht einschränken.

„Der Arsch wird schon sehen, was er davon hat, mich zu betrügen!“

„Ich will nicht nach Hause, wenn Papa da ist ...“

„Scheiß auf alles, ich halte das ohne Alkohol und Drogen nicht aus.“

Aus den verzogenen Mündern dieser Gestalten kamen diese Stimmen, sie sagten diese beängstigenden Dinge. Mal war es ein bestialisches Maul, ein breites Grinsen mit scharfen Zähnen oder nur ein tiefer Schlund aus Trauer und Verzweiflung.

„Fuck, was ist das?!“, sprach ich ungewollt laut aus, wobei ich versuchte so weit wie möglich von dem Fenster wegzurücken.

Hiwas Stimme ertönte neben mir, der dunkle Klang und der geduldige Tonfall war wie ein Segen zwischen den kranken Aussagen der Gestalten. „Was ist los? Fühlst du dich nicht gut?“

Hilfesuchend wandte ich den Blick zu ihm und deutete zitternd nach draußen. „Diese komischen Dinger, ich meine ... keine Ahnung, was das ist, aber irgendetwas stimmt da nicht.“

Ich sah in seinen Augen keine Skepsis oder gar Abscheu, stattdessen schien ein Funken Sorge aufzuflackern, doch seine Mimik blieb vollkommen ernst. Prüfend warf er einen Blick in sämtliche Richtungen, ohne sich vom Verkehr ablenken zu lassen.

„Tut mir leid, ich sehe nichts Ungewöhnliches.“

„Nicht?“, brachte ich heiser hervor.

„Soll ich anhalten?“

„Nein!“ Mir war bewusst, wie panisch ich wirken musste, deswegen versuchte ich, etwas gefasster weiterzusprechen. „Nein, das passt schon. Fahr einfach weiter, Vincent wartet doch auf uns.“

„Bist du sicher?“ Einen Moment lang hielt Hiwa inne. „Wie du meinst, aber sag Bescheid, falls ich doch anhalten soll.“

Murmelnd versicherte ich ihm, dass ich das tun würde, und rutschte tiefer in meinen Sitz. Angespannt starrte ich nur noch in den Fußraum und vermied es, nochmal nach draußen zu schauen. Dummerweise half das nicht gegen die Stimmen, die weiterhin mein Gehör erreichten.

„Wie mich diese Bettler und dreckigen Schmarotzer anwidern, die sollte man alle wegsperren.“

„Ich möchte wissen, wie sich das anfühlt, lebendes Fleisch zu zerschneiden.“

„Wenn ich diese scheiß Einrichtung in Brand stecke, hab ich endlich meine Ruhe.“

Meine Hände vergruben sich in dem Stoff meiner Hose und ich wagte kaum zu atmen, um nicht bemerkt zu werden. Keine Ahnung, ob diese Gestalten mich überhaupt wahrnehmen könnten, aber ich wollte es nicht riskieren. In ihren Worten lag so viel Hass, Trauer, Wut und Verzweiflung, dass es schon beim Zuhören erdrückend war. Hatten die etwas mit dem Wesen aus Teer zu tun? Woher kamen die plötzlich?

Bin ich denn wirklich schon so im Arsch, dass mein Verstand sich schon in der Zwischenhölle verirrt hatte?

„Vincent“, flüsterte ich verängstigt. „Hilf mir.“

Ich nahm freiwillig jede Pille zu mir, die er mir geben würde, wenn ich dafür diese Stimmen nicht mehr hören musste. Wie froh ich auf einmal war, dass wir gerade zu Vincent fuhren. Aus irgendeinem Grund kam es mir bei ihm sicher vor. Mit meinen eigenen Problemen und düsteren Gedanken konnte ich mich noch arrangieren, weil ich sie kannte und gewohnt war, diese fremden Einwirkungen jedoch machten mich wahnsinnig. Damit konnte ich nicht umgehen.

Als aus heiterem Himmel mein Handy auf meinem Schoß vibrierte, zuckte ich so heftig zusammen, dass es geradewegs in den Fußraum fiel. Fluchend wollte ich mich danach bücken, zumindest so weit der Sicherheitsgurt es zulassen würde, doch ich kam nicht dazu.

In meinem Augenwinkel blitzte kurzzeitig ein Teil der Vorderscheibe des Wagens auf, wodurch etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mir wurde schlagartig schlecht, als ich das Wesen aus Teer erblickte, direkt vor dem Auto. Mit ausgebreiteten Armen stand es da und riss das Maul so weit auf, dass ein pechschwarzer Tunnel entstand, auf den wir zusteuerten.

Ich vergaß jegliche Logik, meine Angst nahm Überhand.

„Halt an!“, schrie ich.

Tatsächlich reagierte Hiwa darauf mit einer scharfen Vollbremsung, durch die ich nach vorne geschleudert wurde, aber mein Gurt hielt mich im Sitz. Aufgrund dieser ruckartigen Bewegung wurde mir schwindelig und für den Bruchteil einer Sekunde schwarz vor Augen. Ich hatte das Gefühl, jeden Augenblick setzte mein Herz aus, so schnell schlug es.

„Ferris, was ist mit dir?“, hörte ich Hiwa fragen.

Blinzelnd erwiderte ich seinen Blick, etwas orientierungslos. „Da ... da war ...“

Mühevoll suchte ich nach Worten, aber meine Fähigkeit zu sprechen schien mir abhanden gekommen zu sein. Keinen anständigen Satz brachte ich zustande und konnte nur mit offenem Mund dasitzen, während Hiwa mich wartend ansah.

Zögerlich schielte ich nach vorne, um zu überprüfen, ob vor uns immer noch eine Gefahr drohte. Natürlich geschah das, was kommen musste: Es war nichts mehr zu sehen.

Ungläubig richtete ich mich etwas im Sitz auf und hielt nach diesem Wesen Ausschau, das hier in der Nähe sein musste. Ich hatte es doch gesehen!

Aber nichts.

Nur die friedliche, menschenleere Gegend von Spießerhausen. Wenige Meter weiter endete die Straße bei Vincents Haus, wir waren so gut wie da.

„Schon gut“, beruhigte Hiwa mich und legte sachte eine Hand auf meine Schulter. „Wir können das letzte Stück zu Fuß gehen.“

Er musste mich für verrückt halten, so viel war sicher. In Hiwas Augen war ich völlig durchgeknallt, er wollte mich bestimmt nur noch so schnell wie möglich loswerden. Ehrlich gesagt verstand ich das sogar, denn ich wusste selbst nicht mehr, ob hier etwas Übernatürliches vor sich ging oder ich dringend in eine Klinik eingewiesen werden sollte.

Ich stand komplett neben mir, nichts in meinem Kopf ergab mehr einen Sinn. Darum musste Hiwa mir beim Aussteigen helfen und mich die nächsten Schritte zu Vincents Haus führen, was er ohne Beschwerde auf sich nahm. Bevor wir unser Ziel erreichen konnten, kam uns bereits Vincent entgegen. Beim Bremsen musste ein lautes Quietschen entstanden sein, durch das er auf uns aufmerksam gemacht worden war.

„Da bist du ja“, sagte er beruhigt, als er zu uns stieß. Dankend nahm er Hiwa die Aufgabe ab, mich zu führen, und legte einen Arm um meine Schultern. „Komm, wir gehen besser erst mal rein.“

Vincent stellte keine Fragen, sondern leitete mich zur Haustür. Unterwegs wechselte er einige Worte mit Hiwa, die beiden schienen sich zu kennen. Worüber genau sie sich austauschten, bekam ich nicht mit, so abwesend war ich. Im Moment wollte ich nur ins Haus und niemals wieder nach draußen gehen. Solange ich drinnen blieb, bei Vincent, der einen klaren Verstand besaß, kamen diese Stimmen und Erscheinungen hoffentlich nicht so bald zurück.

Du hast jede Strafe verdient

„Sie wird ihre Wirkung niemals entfalten, solange du sie nur weiterhin so ausgiebig unter die Lupe nimmst“, wies Vincent mich auf eine wesentliche Tatsache hin.

„Hm“, kommentierte ich darauf knapp, halb abwesend.

Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt ich eine kleine, blau-weiße Kapsel in der Hand, die ich schon seit einer Weile schweigend betrachtete. Es handelte sich um ein Arzneimittel, das Vincent mir gegeben hatte, um mir zu helfen, mich wieder zu stabilisieren. Wann war ich das überhaupt jemals gewesen? Egal, jedenfalls erreichte ich hiermit also endgültig den Status als verzweifelter Irrer.

Da ich Vincents bedrängenden Blick auf mir spürte, brachte ich es endlich hinter mich und ließ die Kapsel in meinen Mund wandern, bevor ich mit etwas Wasser nachspülte. Nur ein Schluck, schon war das Ding weg. Selbst wenn es nichts weiter als ein Beruhigungsmittel war, musste ich zugeben, dass ich es begrüßen würde, sollte ich dadurch nicht mehr von irgendwelchen Halluzinationen heimgesucht werden. Schon im Auto, während der Fahrt hierher, hatte ich das bereits gedacht.

„Zufrieden?“

„Du weißt, dass ich dir nur helfen will, oder?“, konterte Vincent mit einer Gegenfrage.

Falls er sich gerade gekränkt fühlte, weil ich so klang, als würde er mich nur mit Medikamenten ruhigstellen wollen, hielt er seine emotionslose Maske wahrlich erfolgreich aufrecht.

Seine Worte ließen mich erschöpft seufzen. „Das hab ich heute schon mal gehört.“

An diesen Ciar wollte ich nicht mehr denken, also sprach ich sofort weiter, ehe Vincent darauf eingehen konnte. „Ist dieser Hiwa etwa schon wieder weg?“

„Mr. Belfond“, korrigierte Vincent mich und antwortete mit einem Nicken. „Er hatte nicht viel Zeit, weil er noch dringend etwas erledigen muss.“

„Aha“, gab ich verstehend von mir. „Kann es sein, dass ihr euch kennt?“

„In der Tat, wir sind alte Freunde.“

Wie erstaunlich, er verriet mir endlich mal etwas über sich, statt darauf hinzuweisen, dass es nicht um ihn ging. Wirklich ins Detail schien Vincent aber nicht gehen zu wollen, denn er beließ es nur bei diesem einen Satz. Typisch, selber sprach er nur das Nötigste. Ob viele Therapeuten so waren?

Meine Hand fuhr langsam über meinen Nacken, bis ich mich wagte, zögerlich weiter nachzuhaken. „Hat er etwas gesagt?“

„Wozu?“, wollte Vincent genauer wissen.

„Über mich.“

Irgendetwas musste Hiwa bezüglich meiner Person geäußert haben, dessen war ich mir absolut sicher. Vielleicht hatte er es nicht deutlich ausgesprochen, aber Vincent war intelligent genug, auch solche Aussagen zu erkennen, die ihm durch die Blume mitgeteilt wurden. Andernfalls müsste ich seinen Titel als Therapeut anzweifeln.

Aufmerksam ruhte Vincents Blick immer noch auf mir. „Ist es dir wichtig, was er über dich denkt?“

„Oh, komm, Vincent“, reagierte ich zutiefst genervt und warf dabei den Kopf zurück. „Er ist Kierans Vater! Natürlich interessiert es mich, was er von mir hält.“

Interesse ist normal, jedem Menschen geht es so.“

Als ob ich das nicht schon vorher gewusst hätte. Worauf wollte er jetzt wieder hinaus?

„Wie wichtig einem die Meinung eines anderen über sich ist, geht dagegen in eine ganz andere Richtung“, sprach Vincent weiter, seine Tonlage blieb dabei die ganze Zeit konstant. „Für dich wäre es wichtiger, zu ergründen, was du selbst von dir denkst. Davon hängt deine Wirkung auf andere ab.“

In einem Comic wäre mein Kopf in dieser Sekunde von etlichen hervorstehenden Äderchen übersät, die darstellen sollten, wie verärgert oder genervt eine Figur sich fühlte. Anscheinend durfte man von einem Therapeuten keine simple Antwort auf eine Frage erwarten, nicht von Vincent. Manchmal wünschte ich mir nur ein normales Gespräch mit ihm, bei dem ich nicht dauernd befürchten musste, von ihm analysiert oder beraten zu werden. Darauf wartete ich vermutlich vergeblich ...

Deswegen würde unser Verhältnis zueinander stets eine gewisse Distanz beibehalten. Aus uns konnten keine Freunde werden, doch darüber sollte ich vielleicht froh sein. So blieb ihm einiges an Kummer wegen mir erspart.

„Ich komm auf so ein Gerede jetzt echt nicht klar“, sagte ich offen heraus. „Und kannst du dich nicht mal mit an den Tisch setzen, statt da rumzustehen und mich zu beobachten? Das macht mich nervös.“

Wir befanden uns in der Küche, wo ein hölzerner Esstisch stand, an dem ich seit meiner Ankunft herumsaß. Anfangs war ich noch zu durcheinander und neben mir gewesen, wegen diesen Stimmen und der Erscheinung, darum hatte Vincent mich zuerst hierher gebracht. Nach einigen Gläsern Wasser und Ruhe konnte ich wieder etwas klarer denken, unterdessen hatte er nach einem geeigneten Medikament für mich recherchiert.

Irgendwann dazwischen musste Hiwa gegangen sein. Mir fiel ein, dass ich ihn in meiner Panik auch noch ungefragt geduzt hatte. Sollte er sich über mich bei Kieran beschweren, könnte ich mir das niemals verzeihen. Besonders ihn wollte ich nicht in Verlegenheit bringen, aber dabei hatte ich nach dieser Autofahrt höchstwahrscheinlich ebenfalls versagt.

Nächstes Mal, sollte es erneut so weit kommen, tat ich besser alles, um zu Fuß gehen zu können. Meinetwegen alleine, wenn Kieran einen anderen Termin hatte, wie es heute der Fall gewesen war. Was mochte das für einer sein? Natürlich hatte er mir das nicht verraten und ich wusste aus eigener Erfahrung wie lästig es sein konnte zu etwas gedrängt zu werden, also war diesbezüglich kein einziges Wort über meine Lippen gekommen.

„Du solltest ins Bett gehen“, schlug Vincent unvermittelt vor, obwohl er gerade erst eine Minute mit mir am Tisch saß. „Das Medikament wird dich gut schlafen lassen.“

Träge erhob ich mich von meinem Platz und hob schlaff die Arme nach oben. „Yay, also eine richtig harte Droge.“

„Ferris ...“

„Ja, ja, schon gut. Ich krieg heute eh nix mehr zustande.“

Nicht, dass es ohne Halluzinationen anders gewesen wäre. Jeder Tag endete bei mir ohne Erfolge, ich schöpfte das volle Potenzial der Verschwendung meisterhaft aus.

Vincent blieb sitzen und ich glaubte, mir einzubilden, wie er kurzzeitig ein wenig die Stirn runzelte, doch das musste abermals nichts als Einbildung sein. „Du kannst mich jederzeit rufen, falls du etwas brauchst.“

Mir schwirrte ein Spruch durch den Kopf, der das Thema Butler beinhaltete, behielt das jedoch für mich. Unnötig reizen wollte ich Vincent nicht, zumindest nicht außerhalb der Sitzungen. Außerdem hatte er mich bislang noch nicht vorwurfsvoll mit einer Predigt bestraft, weil ich nachts ohne ein Wort verschwunden war.

Einerseits erleichterte mich das, andererseits ...

„Was ist los?“, hörte ich Vincent fragen.

Auf einmal war ich derjenige, der dastand und ihn schweigend anstarrte. Beinahe hätte ich ihn gefragt, ob er wütend auf mich war, doch ich winkte nur rasch ab.

„Nichts, ich brauch wohl nur echt etwas Schlaf.“

Ich wandte mich von ihm ab und ging zur Tür, nachdem ich ihm verfrüht eine gute Nacht gewünscht hatte – Vincent würde sowieso nicht schlafen. Auf dem Weg in mein Zimmer gähnte ich mehrmals vor mich hin, mit jedem Schritt stieg die Müdigkeit. Entweder lag das an der Kapsel oder an den letzten Ereignissen, möglicherweise auch an beidem.

Schlimmer war aber die Ungewissheit darüber, was Vincent dachte. Noch mehr als bei Hiwa, bei dem ich mich tierisch blamiert hatte. Nicht sagen zu können, ob der Mann, der einem ein Dach über dem Kopf bot und versuchte, aus einem Wrack noch etwas herauszuholen, wegen meiner Flucht wütend war oder gar enttäuscht, machte mich am meisten unruhig.
 

***
 

Es vergingen drei Tage, an denen ich überwiegend schlief und in meinen Wachphasen so benebelt war wie ein Zombie. Angeblich sei das normal, laut Vincent. So oft wie in letzter Zeit hatte ich diese Bezeichnung noch niemals in meinem Leben gehört, erst recht nicht in Kombination mit mir. Von Normalität war ich endlos weit entfernt.

In den nächsten Wochen mussten mein Körper und das Medikament sich zunächst richtig aufeinander einspielen, danach würde ich dann nicht mehr mit dieser furchtbaren Trägheit und Benommenheit zu kämpfen haben. Ehrlich gesagt glaubte ich nicht daran, weshalb ich die Kapsel am vierten Tag bereits nicht mehr herunterschluckte, sondern heimlich unter meiner Zunge versteckte und später aus dem Fenster warf.

Wieder mal konnte ich etwas nicht durchziehen, aber: Wer wollte sich freiwillig rund um die Uhr derart abgeschossen fühlen, dass einem wirklich nur noch herumliegen und pennen im Leben blieb? Dann könnte ich mich genauso gut direkt vor den nächsten Zug stürzen, diese Option versprach mehr Erfolg gegen all meine Probleme.

Nur auf diese Stimmen und das Wesen beschränkt konnte ich glücklicherweise nicht mehr klagen. Seit dem letzten Mal hatte ich nichts mehr gehört oder gesehen, nichts das verstörend und übernatürlich wäre.

An diesem Tag – Sonntag – lungerte ich wie üblich auf meinem Bett herum, in mein Handy vertieft. Kieran hatte sich inzwischen nochmal aufrichtig dafür entschuldigt, dass er nicht mitfahren konnte, um mich nach Hause zu bringen. Natürlich versicherte ich ihm, er müsse sich deswegen keine Gedanken machen und bekam es über eine Textnachricht endlich doch noch hin, ihn zu fragen, zu was für einen Termin er gegangen war. Auf eine Antwort darauf wartete ich noch.

Auch Faren hatte mir mehrmals geschrieben, ziemlich besorgt um mich. Er bestand darauf, unbedingt etwas mit mir zu unternehmen, sobald ich mich dafür fit genug fühlte, und erinnerte mich daran, dass ich nächstes Mal zu ihm kommen sollte, statt mich auf einer Parkbank zu räkeln – seine unbeschwerte Art war immer überraschend erheiternd.

Faren sollte aber die Zeit besser mit Kieran verbringen, nicht mit mir. Genau das wollte ich ihm gerade schreiben, doch mittendrin verließ mich jeglicher Antrieb dazu. Auf dem Profilbild von Faren im Messenger, über den wir uns gegenseitig texteten, war er zusammen mit Kieran zu sehen. Beide wirkten so harmonisch und glücklich, obwohl Kieran nicht lächelte. Dafür sah ich es deutlich in seinen Augen.

Irgendwann vibrierte das Handy stark und riss mich dadurch zurück in die Realität. Mir liefen Tränen über die Augen, wie ich nebenbei bemerkte, als ich überprüfte, ob ich von Kieran eine Antwort bekommen hatte. Grob wischte ich mit einer Hand mein Gesicht halbwegs trocken und ging meine Kontakte durch. Keiner von ihnen hatte mir geschrieben.

Dafür wartete eine Nachricht von einer unbekannten Nummer darauf, von mir geöffnet und gelesen zu werden. Misstrauisch war ich deswegen nicht, sicher war es nur irgendeine Werbung. Entsprechend genervt tippte ich die Sprechblase an und ein neues Chatfenster erschien auf dem Display. Grummelnd setzte ich mich aufrecht hin und las mir flüchtig den Text durch, der als erstes zu sehen war:

Na, vegetierst du vor dich hin? Mach lieber etwas Sinnvolles und treffe dich mit mir, dann zeige ich dir, wie man Schmerzen und Probleme ganz leicht verschwinden lassen kann. Komm heute Abend gegen 20 Uhr zu diesem Haus, den Weg dorthin dürftest du nur zu gut kennen. Ich warte dort auf dich, aber nicht ewig, also komm nicht zu spät.

Ciar? Vom Inhalt her klang es nach ihm. Immerhin hatte er angedroht, sich zu melden. Ich konnte noch nicht so recht glauben, dass er das ernst meinte. Woher hatte er meine Nummer? Von Kieran? Freiwillig würde er niemandem so etwas Persönliches ohne Erlaubnis weitergeben, also musste Ciar sie sich bei ihm abgelesen und somit geklaut haben.

Unter der Textnachricht folgte ein Foto. Eigentlich wollte ich es mir nicht ansehen, aber diese verdammte Neugier war stärker. Leider. Kaum erfassten meine Augen das Gebäude, zu dem ich kommen sollte, wünschte ich, dass ich diese Einladung einfach ignoriert hätte.

„Nein, das kann nicht sein.“ Meine Stimme zitterte. „Woher hat er das?“

Dieses Foto. Das Haus. Ewig hatte ich es nicht mehr gesehen, nicht in diesem unbeschädigten Zustand. Beinahe wie eine unschuldige Erinnerung, die zum Leben erwachte, bevor alles ins Chaos gestürzt war. Seitdem hielt ich diese Geschichte bewusst in meinem Inneren verschlossen und erzählte niemandem davon. Was in der Vergangenheit passiert war, wollte ich vergessen, doch es ließ sich nur bis zu einem gewissen Grad verdrängen.

Ich atmete viel zu schnell, während ich ungläubig das Foto ansah. Ein böser Fluch, der mich gefangennehmen und quälen wollte. Verkrampft hielt ich das Handy fest und hörte es leise durch den Druck, den ich ausübte, knacken.

Keine Ahnung, wie lange dieser Zustand anhielt, doch es gelang mir schließlich, eine Antwort an Ciar zu verfassen. Eine Sprachnachricht, weil mir zum Tippen die Geduld fehlte. Zudem wollte ich ihn deutlich spüren lassen, was ich von seinem Spielchen hielt.

„Was bist du für ein kranker Psycho?!“, schrie ich aufgebracht, während die Aufnahme lief. „Woher hast du dieses Foto?! Du willst mir doch nicht helfen, sondern mich fertig machen! Denkst du echt, das lasse ich so leicht mit mir machen?! Glaub ja nicht, dass ich nicht zurückschlagen könnte! Lass mich in Ruhe, kapiert?! Das geht dich nichts an!“

Gegen Ende verließ mich meine Stimme und erstickte nahezu, darum musste das vorerst genügen. Während die Sprachnachricht gesendet wurde, bemühte ich mich, meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Schwindel wollte mich zurück ans Bett fesseln, alles drehte sich.

Gab es den Hauch einer Chance, dass ich mir diese Nachricht nur einbildete? Möglich wäre es. Vielleicht weil ich heute diese Kapsel nicht genommen hatte, womöglich wirkte sie doch besser als erwartet. Sollte ich in den Garten hinausgehen und sie suchen? Oder Vincent meinen Fehler gestehen und mir von ihm eine neue geben lassen?

Das Handy vibrierte erneut und zog sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Offenbar hatte Ciar mir diesmal ebenfalls eine Sprachnachricht geschickt, die ich angespannt abspielte.

„Wir können gern heute Abend diskutieren, wenn du so wild darauf bist. Komm einfach um 20 Uhr zum Treffpunkt, mehr gibt es nicht zu sagen.“

Unterkühlt und ohne Mitgefühl. Sogar durch das Gerät hindurch spürte ich, wie seine Stimme mich zum Frösteln brachte. Er zeigte keinerlei Reaktion auf meinen emotionalen Ausbruch, sondern wollte nur, dass ich seiner Einladung folgte. Alles, was er wollte, war Gehorsamkeit.

„Ferris?“, drang Vincents Stimme durch die geschlossene Tür, an die er klopfte. „Ist etwas passiert? Ich habe dich schreien hören.“

Auch das noch. Hastig warf ich das Handy achtlos zur Seite und schüttelte meinen gesamten Körper, in einem Versuch, meine Anspannung ein bisschen zu lösen. Davon, was damals geschehen war, durfte Vincent nichts erfahren. Niemand. Schon deswegen hatte ich keine andere Wahl, als mich mit Ciar zu treffen und ihn zur Rede zu stellen.

„Alles gut, komm rein.“

Mit dieser Erlaubnis öffnete Vincent die Tür und betrat das Zimmer. „Hast du nach mir gerufen?“

„Ach, nein“, lachte ich halbherzig und tischte ihm eine Lüge auf. „Ich habe nur gerade eine Stelle von einem Song laut mitgesungen, den ich gehört habe. Sag mal, Vincent? Darf ich dich um was bitten.“

Sein Gesicht zeigte es nicht, doch er musste überrascht sein. Solch eine Initiative kannte er nicht von mir. Einzig an seiner Stimme bemerkte ich, wie sehr ich ihn überrumpelt haben musste, denn sie klang auf einmal etwas unsicher.

„Sicher, was kann ich für dich tun?“
 

***
 

Erfolgreich war es mir gelungen, Vincent davon zu überzeugen, mir einen abendlichen Spaziergang zu gewähren. Etwas frische Luft konnte niemals schaden, besonders nachdem man das Haus die letzten Tage nicht mehr verlassen hatte. Mit dem Versprechen, jederzeit über mein Handy erreichbar zu sein und zurück nach Hause zu kommen, sobald mir unterwegs schlecht werden sollte, durfte ich gehen.

Klar, ich hätte einfach nochmal abhauen können, ohne ihm etwas zu sagen. So oft, wie Vincent seit meiner ersten Flucht nach mir sah, wäre das aber nicht lange unbemerkt geblieben. Ihm fiel es sogar auf, wenn ich zwischendurch nur kurz in die Küche oder ins Bad ging. Er wachte wie ein Luchs, dabei war er mein Therapeut, nicht mein Vater.

Dank seiner Erlaubnis konnte ich gegen Abend ohne schlechtes Gewissen und professionelle Stealth-Einlagen das Haus verlassen. Durch die Einnahme des Medikaments gestern fühlte ich mich etwas schwach auf den Beinen, aber da ich auf die letzte Kapsel verzichtet hatte, war es recht erträglich. Seltsamer Zufall, dass Ciar mit dieser Einladung genau zum richtigen Zeitpunkt um die Ecke kam.

Beim Gedanken an ihn begann Wut in mir aufzukochen, mein Blick verfinsterte sich. Was auch immer der Kerl plante, ich ließ mich nicht als Spielzeug missbrauchen.

„Du hast es verdient“, hauchte eine Stimme anklagend. „Du hast jede Strafe verdient.“

Auf der Stelle erstarrte ich zu Eis. Nein. Nein, bitte nicht. Nicht schon wieder.

Mein Kopf war schwer wie Blei, als ich ihn anhob und meinen Blick vom Boden löste, um geradeaus zu schauen. Einige Meter vor mir kam eine Person auf mich zu, eine Frau, umschlungen von den pechschwarzen Strängen aus Tränen, von denen sie allmählich in einen Kokon eingewickelt wurde. Ihr Mund besaß noch eine halbwegs gewöhnliche Form und war nur etwas langgezogen, die leeren Augenhöhlen schienen mich einsaugen zu wollen.

Unfähig, mich zu bewegen, stand ich da, und ertrank innerlich in Schuldgefühlen. Schritt für Schritt kam sie näher, ihr langes Haar wehte wie ein Schleier hinter ihr her. Unentwegt wiederholte sie ihre Sätze, von denen ich mich angesprochen und verurteilt fühlte. Sie konnte nur mich damit meinen, weil es der Wahrheit entsprach. In der Tat hätte ich das alles verdient, daran hatte ich bis jetzt noch gar nicht gedacht.

Bedeutete das, ich wurde bestraft? Für das, was ich damals getan hatte? In dem Fall wäre Ciar eher ein gerechter Richter, als ein Psycho.

Kurz bevor die Frau, dieses Wesen, nur noch einen Meter von mir entfernt war, kniff ich die Augen zusammen und murmelte reumütig eine Entschuldigung. Jede Sekunde erwartete ich Schmerzen oder etwas anderes, mit dem das Leid, verursacht durch meine damalige Tat, ausgeglichen werden sollte. Ich wartete, aber nichts geschah. Gar nichts. Nach einer Weile wurde die Stimme leiser, bis sie gänzlich verstummte.

Verwirrt öffnete ich die Augen wieder und warf einen Blick über die Schulter. Unbeirrt lief die Frau weiter, folgte ihrem Weg. War sie soeben nur an mir vorbeigegangen, ohne etwas zu tun? Hatte sie am Ende gar nicht mich gemeint?

Ich stolperte zur Seite und sackte zusammen, weil meine Knie weich wurden. Weit war ich noch nicht gekommen, nur eine kleine Strecke durch Spießerhausen hatte ich bisher zurückgelegt. Demnach hielt ich mich noch in dieser Umgebung auf, wo Ruhe und Frieden herrschte. Gegen diese Uhrzeit spazierten nicht mehr viele Leute herum, im Moment war ich der einzige Mensch in Sichtweite und hockte wie ein Penner am Rande des Gehweges.

Mir blieb aber nichts anderes übrig, als bald wieder aufzustehen und weiterzugehen, sonst käme ich zu spät zum Treffpunkt. Solange mich diese Wesen ignorierten, gelang mir das sicher auch. Trotzdem ließ mich dieser Gedanke nicht mehr los. Die Befürchtung, dass ich von einer höheren Macht bestraft wurde und das wehrlos über mich ergehen lassen sollte, wenn in mir noch etwas Menschlichkeit steckte.

Mein restlicher Weg verlief nicht sonderlich ruhiger, denn hier und da nahm ich noch mehr Stimmen wahr oder sah halb eingewobene Menschen, denen ihr Unheil gar nicht auffiel. Anscheinend musste ich von nun an mit dieser Fähigkeit leben – mir wurde ständig geraten, alles etwas positiver zu sehen. Für mich traf es aber mehr, dass es sich um eine Strafe in Form eines Fluches handelte.

Seltsamerweise schien dieser Fluch mich nicht direkt angehen zu wollen, jeder lief an mir vorbei und diese klebrige Masse aus Tränen blieb ebenfalls an der jeweiligen Person haften. Also genügte es vorerst, zu versuchen, sich nicht von den düsteren Aussagen dieser Stimmen erdrücken zu lassen und wegzuhören. Kein leichtes Unterfangen, dagegen kam mir eine Abschlussprüfung an einer elitären Universität wie ein Kinderspiel vor.

Ich legte einen Teil der Strecke zu Fuß zurück und den anderen mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Lag dieses Haus wirklich so weit entfernt? Mir war stets so, als müsste ich nur kurz um die nächste Straßenecke biegen, um wieder dort anzukommen. In Wirklichkeit musste ich sogar die Stadt verlassen, weil es ein Stück außerhalb davon lag. Abgelegen in einer landwirtschaftlichen Gegend, wo es auch einige wenige Bauernhöfe gab.

Der Bus, in dem ich inzwischen saß, ruckelte ein wenig. Wir fuhren gerade an dem Ortsschild der Stadt vorbei, das Besucher herzlich in Cherrygrove willkommen hieß, die immerzu blühende Stadt. Damit waren die vielen Kirschblütenbäume gemeint, dank denen der Ort einen gewissen Bekanntheitsgrad genoss. Sie blühten wesentlich länger als gewöhnlich, aber niemand konnte sich so recht erklären warum. Mir war das ziemlich egal.

Aufgrund der Sommerzeit hatte ich das Gefühl, es wäre noch Mittag, doch das täuschte. Nach einigen Minuten Busfahrt stieg ich an der einzigen Haltestelle von Limbten aus, ein winziges Dorf, das neben Cherrygrove existierte und noch zu dieser Ortschaft gehörte. Hier gab es nicht viel zu sehen, nur einige Wohnhäuser, die sich an zwei Händen abzählen ließen, einen Supermarkt und ein Gebäude, in dem Kindergarten und Grundschule vereint wurden.

Das größte Highlight dürfte der Friedhof sein, der einiges an Fläche einnahm und zur Hälfte Limbten ausmachte. Dazu gehörte eine Kirche, natürlich übertraf sie jedes andere Gebäude im Dorf. Mehr gab es aber schon nicht zu erzählen, außer, dass ich hier einst lebte. Genauer gesagt bis zu meinem siebten Lebensjahr, dann geschah etwas Schlimmes, mit dem ich mich jetzt wieder konfrontiert sah.

„Es ist immer noch ein Trümmerhaufen“, stellte ich betrübt fest.

Ich war da, genau dort, wo Ciar mich haben wollte. Bei dem Haus auf dem Foto, doch lagen vor mir nur noch traurige Ruinen. Seit zehn Jahren unberührt und vergessen, auch von mir. Niemand schien sich dafür verantwortlich gefühlt oder es aufgekauft zu haben, um hier etwas Neues aufzubauen.

Vor mir sah ich noch die dichten Rauchschwaden, von denen der Himmel zum Zeitpunkt des Brandes verdunkelt worden war. Ein Feuer hatte das Bauwerk beinahe gänzlich zerstört, bevor es endlich gelöscht werden konnte. Wie sich diese unerträgliche Hitze angefühlt hatte, wusste ich auch heute noch zu gut. Schon der Gedanke daran machte mir das Atmen schwer. Hier wollte ich nicht sein, es schmerzte zu sehr.

Laut der Uhrzeit, die mir mein Handy zeigte, war ich zehn Minuten zu spät dran. Das ließ mich freudlos lachen. Zu ironisch. Jetzt, als ich wieder davor stand, kamen mir die letzten zehn Jahre meiner Abwesenheit wirklich nur wie Minuten vor. Lange wollte ich nicht bleiben, nur mit Ciar sprechen und danach das Ganze erneut vergessen.

„Mal sehen, ob der Kerl sich fein genug dafür war, auf mich zu warten“, flüsterte ich und steckte das Handy zurück in die Hosentasche, ehe ich mich mit einem tiefen Atemzug dem verbrannten Haus näherte. „Wehe, du bist nicht da.“

Haben wir einen Deal?

Mir entglitt ein erschrockener Laut, weil nur nach wenigen Schritten der Boden unter mir nachgab und ich mit einem Bein absackte. Der Großteil des Hauses hatte aus Holz bestanden, aber auch ein Bauwerk aus Stein wäre jetzt nicht mehr sonderlich stabil, nach einem großen Brand.

Das hätte mir eigentlich vor dem Betreten klar sein sollen. Hier befand ich mich in Lebensgefahr. Ehrlich gesagt bereitete mir das kaum Sorgen.

Ich wollte sowieso schon oft sterben und hatte bereits mehrmals versucht mich umzubringen. Deswegen nahm ich diese riskante Aktion vermutlich gar nicht so schlimm wahr. Tatsächlich setzten mir die düsteren Erinnerungen an damals und die damit verbundenen Stimmung mehr zu, Gefahr störte mich nicht so sehr – es sei denn, ein surreales Monster wie jenes in dieser einen Nacht versuchte mich zu töten.

Zum Glück hatte mein Gewicht nur ein kleines Loch in den Boden gerissen, also konnte ich mein Bein mit etwas Feingefühl – in meinem Fall blieb es trotzdem grob – wieder herausziehen, doch einige Splitter und scharfe Kanten rissen meine Hose etwas auf. Ein leicht brennender Schmerz verriet mir, dass ich mir dabei obendrauf auch noch die Haut leicht aufschnitt. So viel zum Feingefühl meinerseits.

Fluchend schlich ich vorsichtig an dem Loch vorbei und hielt diesmal gründlich nach morschen Stellen Ausschau, damit ich sie umgehen könnte, statt nächstes Mal eventuell richtig durch den Boden zu stürzen. Schon als Kind war mir jeder Keller immer unheimlich gewesen, wie ein Ort des Bösen. Meine Fantasie war gerne mit mir durchgegangen.

Suchend schweifte mein Blick über die traurigen Überreste der Ruine, mein altes Zuhause. Noch sorgte das Tageslicht dafür, dass ich etwas sehen konnte, was nicht viel war. Durch die mit Dreck und Ruß verschmierten Fenster wandelten sich die letzten Sonnenstrahlen zu einem matten Schein, der kurz davor war zu ersticken. Irgendwann musste eben auch im Sommer Platz für die dunkle Tageszeit gemacht werden.

„Oh Mann, sieht das krass aus ...“

Alles war durch das Feuer stark in Mitleidenschaft gezogen worden und die schwarzen Rückstände gaben mir den Eindruck, kein gewöhnliches Haus betreten zu haben, sondern eher eine Höhle oder die verdorbene Dunkelheit persönlich. Leider erkannte ich nichts wirklich wieder, mir kam der Ort fremd vor.

Vom oberen Stockwerk sollte ich mich besser fernhalten, denn es war zum Teil eingestürzt und nur noch ein sensibles Konstrukt aus verkommenen Rückständen, die verzweifelt versuchten, das restliche Gesamtbild irgendwie zusammenzuhalten.

Jeder meiner Schritte verursachte ein unheilvolles Knirschen und Knacken, wodurch meine Schuldgefühle lebendiger wurden. Angestrengt versuchte ich, in meinem Kopf den ursprünglichen Zustand des Hauses wieder herzustellen, aber es gelang mir nicht. Nur das zerstörerische Flackern der unzähligen Flammen kam mir in den Sinn, dort fingen meine Erinnerungen an. Davor schien es nichts mehr zu geben. Nicht viel.

Dabei sollte ich mich an meine Familie erinnern. An meinen Vater, meine Mutter und meine kleine Schwester. Mir wollte nicht mal ihr Name einfallen, geschweige denn der unserer Familie. Seit ich im Waisenhaus gelebt hatte, hieß ich nur noch Ferris Livio, so wie der Erbauer und Leiter dieser Einrichtung. Bei Kindern ohne jegliche Hinterbliebenen und fehlende Hintergrundgeschichte war dieses Vorgehen üblich.

Für mich war das normal, Livio gehörte nun zu mir. Nur vage konnte ich mich daran entsinnen, lautstark gebettelt und gefleht zu haben, meinen alten Namen ablegen zu dürfen. Ihn weiterhin zu tragen war mir falsch vorgekommen. Livio betrachtete ich als eine Art Stempel, um anderen direkt klarzumachen, mit wem sie es zu tun hatten.

Ferris, spielst du mit mir?

Sofort fuhr ich herum und hielt den Atem an, während ich nach einer anderen Person Ausschau hielt. Weit und breit niemand zu entdecken. Eigentlich könnte mich hier nur Ciar erwarten, es sei denn, er plante, mich zusammen mit einer Sekte an ihren Gott zu opfern oder so. Vielleicht wurde aus mir dann auch ein Wesen aus Teer – aus Hass. Wenigstens wäre das eine Erklärung dafür, woher diese Kreaturen kommen könnten, auch wenn es ein altbekanntes Klischee bedienen würde.

Komm schon, spiel mit mir!“, bat die Stimme mich erneut.

Sie gehörte einem kleinen Mädchen, wie ich heraushörte, das konnte nicht Ciar sein. Ob sich ein Kind aus diesem Dorf hierher verirrt hatte? Auch ich würde solche Orte aus Neugier erkunden wollen, um vor meinen Freunden damit anzugeben, wie mutig ich sei. Ängstlich klang das Mädchen jedenfalls nicht, was mich etwas verwunderte. Sogar ich fühlte mich unwohl.

„Moment“, murmelte ich angespannt. „Du kennst meinen Namen?“

Unmöglich. Selbst wenn dieses Kind älter als zehn Jahre war, konnte sie mich nicht kennen, oder sich zumindest nicht an mich erinnern, weil sie noch zu klein gewesen war. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Obwohl es nichts brachte, wich ich nervös zurück.

Du bist so gemein!“, jammerte das Mädchen traurig. „Warum spielst du nie mit mir? Magst du mich etwa nicht?

„Nur wieder eine von diesen Stimmen“, sagte ich mir selbst, um mich zu beruhigen. „Einfach ignorieren.“

Möglicherweise war jemand gerade draußen in der Nähe, der ebenfalls von seinen eigenen Tränen in einen Kokon eingeschlossen wurde. Mir gefiel es nicht, dass ich die Stimmen so deutlich hören konnte. Jetzt auch noch ohne jeglichen Sichtkontakt. Können die nicht einfach still sein und schweigend klagen? Ich bat auch nicht ständig andere darum, mich endlich umzubringen, weil ich nicht mehr leben wollte.

Also ich mag dich! Ich hab dich total lieb.

Das Handy in meiner Hosentasche vibrierte plötzlich so stark, dass ich zusammenzuckte. Vincent wurde bestimmt schon ungeduldig. Rasch holte ich es heraus und tat so, als gäbe es diese Mädchenstimme gar nicht, was als Zeichen genügen sollte. Ich wollte weder etwas spielen noch mich rechtfertigen. Wo steckte Ciar?!

Schlagartig wurde mir schlecht, als ich auf das Display sah. Die Anzeige spielte komplett verrückt. Ein Störbild wechselte sich regelmäßig mit kurzen Videoaufnahmen von Feuer in den verschiedensten Formen und Situationen ab. Eine Herdplatte, Waldbrände, ein Grill, Wunderkerzen, Zigaretten, Einäscherung ... das ständige Flackern schmerzte in den Augen.

Warum magst du mich nicht?“, drang die Stimme nun deutlich aus dem Handy hervor, unmenschlich verzerrt. „Warum?

Aus Reflex schrie ich das Display einfach an: „Hör auf! Halt die Klappe!“

Meine Hand verkrampfte sich. Unaufhörlich wurden mir diese Szenen mit Feuer vorgespielt, es nahm kein Ende. Zähneknirschend versuchte ich, das Gerät wieder unter Kontrolle zu bringen oder auszuschalten, aber natürlich ohne Erfolg. Der Spuk ließ sich nicht so leicht beenden.

Warum?“, wiederholte die Stimme sich vorwurfsvoll. „Warum? Warum? Warum?

„Schnauze hab ich gesagt!“

Kraftvoll schmiss ich das Handy auf den Boden, es drehte sich einmal um sich selbst und blieb nur einen Schritt entfernt von mir liegen. Instinktiv trat ich mit dem Fuß darauf, in einem hilflosen Versuch, es zum Schweigen zu bringen. Drehte die gesamte Welt durch? Jahrelang hatte ich weder Stimmen gehört noch irgendwelche Halluzinationen gehabt, warum passierte mir so etwas plötzlich immer öfter? Wenn das wirklich eine Strafe sein sollte, kam sie reichlich spät.

„Ich hab genug von dem Scheiß!“, fluchte ich aufgebracht und trat weiter wie besessen auf mein Handy ein. „Nerv mich nicht!“

Nerv mich nicht, das ist nichts für Babys. Geh weg, ich spiele alleine damit.

Abrupt hielt ich inne und starrte keuchend auf den Boden. War das gerade meine eigene Stimme gewesen? In meinem Kopf? Ein Funken der Erinnerung flackerte in mir auf und ließ mich schwer schlucken. Richtig, ich wollte unbedingt mit Feuer spielen, aber meine kleine Schwester hatte mich die ganze Zeit genervt, weil ich sie nicht mitmachen ließ.

„Ich hab nur kurz nicht hingesehen“, erinnerte ich mich. „Plötzlich war das Feuer viel zu groß geworden ...“

„Beeindruckend“, kommentierte jemand das Ganze ungerührt. „Du erinnerst dich also noch.“

Diesmal wusste ich sofort, wer es war. Obwohl ich diese Stimme noch nicht oft gehört hatte, konnte sie sich in meinem Gedächtnis verankern. Sie hinterließ einen gewissen Eindruck, der mich nicht mehr losließ. Ciars Selbstbewusstsein durchflutete auch in diesem Moment den Ort und nahm ihn allein mit seiner Anwesenheit in Beschlag.

Noch hatte ich ihn nicht entdeckt, weshalb ich mich wieder suchend im Kreis drehte. „Lass diese Spielchen. Wo bist du?“

„Hier“, antwortete Ciar, seine Stimme erklang direkt neben mir. „Du bist ziemlich blind, was?“

Ich schreckte zurück, als ich feststellte, dass er wirklich an meiner Seite stand. Sein Blick folgte mir aufmerksam, doch er selbst rührte sich nicht. Woher war er gekommen? Falls er schon lange in meiner Nähe gewesen war, hätte ich ihn schon früher bemerken müssen. Machte er einen auf Ninja oder was?

„Ich finde das gar nicht lustig“, grummelte ich. „Soll das hier versteckte Kamera sein? Langsam kommt mir das alles zu verrückt vor, so etwas könnte nicht mal ich mir einbilden. Verarschst du mich einfach nur?“

Genervt verdrehte Ciar die Augen. „Uh-uh, das wäre nicht mein Niveau. Ich hab doch gesagt, dass ich dir helfen will.“

„Helfen? Im Moment fühle ich mich ziemlich terrorisiert.“

„Dafür kann ich nichts“, reagierte Ciar gelassen und bückte sich nach meinem Handy, das er vom Boden aufhob. Es gab keinen Ton mehr von sich, wie ich erst jetzt bemerkte. „Es sind die Echos, die versuchen, dich wahnsinnig zu machen.“

Mit dieser Ansage reichte er mir mein Eigentum. Perplex nahm ich es zögerlich entgegen und betrachtete es misstrauisch. Durch meine Tritte war das Display zum Teil zersplittert und nur noch pechschwarz. Ob mich das beruhigen oder frustrieren sollte, konnte ich gerade nicht einschätzen. Etwas anderes beschäftigte mich jetzt viel mehr.

„Echos? So was hast du doch schon mal gesagt.“ Bei unserer ersten Begegnung, als er mich gerettet hatte. „Damit will ich nichts zu tun haben.“

Ciar schmunzelte über meine Worte. „Ich fürchte, du hast keine Wahl. Anscheinend ziehst du Echos magisch an, weil deine Fähigkeiten langsam erwachen.“

„Das interessiert mich trotzdem nicht!“, fauchte ich gereizt. „Sag mir lieber, wieso du mich ausgerechnet hierher bestellt hast! Was weißt du?!“

Wütend wollte ich ihn am Kragen packen, doch bevor ich ihn berühren konnte, drehte sich vor meinen Augen alles und ich prallte mit den Rücken so heftig auf dem Boden auf, dass mir kurz die Luft wegblieb. Einen Moment lang lag ich nur da und blinzelte leicht benebelt. Über mir beugte sich Ciar in mein Sichtfeld und schüttelte den Kopf.

„Mich anzugreifen solltest du dir abgewöhnen. Du magst Talent haben, aber ich bin um Welten besser als du.“

Hatte er mich abgewehrt? Wow, davon habe ich gar nichts mitbekommen. Als der Schwindel nachließ, richtete ich mich wieder auf und kam schwankend auf die Beine. Vorsichtshalber lehnte ich mich an die nächstgelegene Wand an, die hoffentlich noch stabil genug war. Ich pustete mir ungehalten einige Haarsträhnen aus der Stirn und steckte mein demoliertes Handy erst mal ein – vielleicht ließ es sich retten.

„Na schön“, gab ich nach. „Dann sag, was du loswerden willst.“

„Das hätte ich sowieso getan“, versicherte Ciar mir. Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein, ehe er weitersprach. „Glaubst du an übernatürliche Dinge?“

„Du meinst so etwas wie Gott, Geister oder Dämonen?“ Müde atmete ich durch. „Nicht wirklich. Warum? Willst du mich für eine geheime Spezialeinheit anwerben? Darf ich dann einen schwarzen Anzug tragen und das Gedächtnis anderer Leute löschen?“

Anscheinend missfiel Ciar mein Gerede, denn sein Blick verfinsterte sich und seine Augen schienen rötlich zu schimmern. „Nimm das gefälligst ernst, sonst kann ich auch ganz anders werden.“

Diese Drohung jagte mir einen Schauer über den Rücken, seine Stimme legte sich wie Frost über meine Haut. Hastig hob ich die Hände, um zu signalisieren, dass ich verstanden hatte und er fortfahren sollte. Wie schlimm konnte dieses Drama schon noch werden?

„Du kennst bestimmt das Sprichwort, dass die Augen die Fenster zur Seele seien“, begann Ciar und lief ein paar Schritte zur Seite. So leichtfüßig, als würde er über den Boden schweben. „Mit unserer Stimme verhält es sich ähnlich. Worte können, richtig eingesetzt, unsere Seele widerspiegeln und die Energie freigeben, aus der sie besteht. Du hast das unbewusst auch schon getan.“

Kopfschüttelnd runzelte ich die Stirn. Was Ciar da sagte, klang verdächtig nach einem Science-Fiction Streifen, der bald in die Kinos kam. Allerdings konnte ich nicht bestreiten, wie seltsam real sich die letzten Ereignisse angefühlt hatten, in denen ich verrückte Sachen sah und vor allem hörte. Konnte das nicht einfach nur Einbildung sein?

„Wir beide, Leute wie wir, kann man als so etwas wie Begabte bezeichnen“, erklärte Ciar, derart überzeugend, dass man es nur glauben konnte. „Wir handeln kontrolliert, Echos dagegen werden von Gefühlen wie Verzweiflung, Hass und ähnlichem geleitet. Sie sind wie primitive Tiere, die wahllos einem einzigen Instinkt folgen.“

An der Stelle verkniff ich mir einen Witz über Zombies, so gut er auch gepasst hätte. Allmählich gewann Ciar mein Interesse. Immerhin könnte er mir vielleicht tatsächlich helfen, diese schrägen Gestalten und Stimmen wieder loszuwerden.

„Und was sind diese Echos jetzt genau?“, hakte ich ungeduldig nach.

Schweigend starrte Ciar mich an. Es folgte ein intensiver Augenkontakt, der sich alles andere als gut anfühlte. Dachte er gerade über etwas nach oder erwartete er etwas von mir? Seine Gesichtszüge waren verhärtet. Genau wie Vincent war er schwer zu lesen, aber wenigstens zeigte er Emotionen, wenn auch welche, die einem Furcht einflößten.

„Echos sind Seelenrückstände des Bösen“, antwortete Ciar schließlich, ohne den Blick abzuwenden oder gar zu blinzeln. „Werden sie nicht aufgespürt und vernichtet, können sie sich zu Flüchen weiterentwickeln oder sogar zu Dämonen. Beides stellt eine große Gefahr für die Menschheit und die Welt dar.“

„... Was?“

Es klang verrückt, wie ein Märchen. Dennoch packte mich etwas daran. Eine winzige Ahnung, tief in meinem Inneren, dass Ciar die Wahrheit sagte. Sprachlos senkte ich den Kopf und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Irgendwie wurde mir furchtbar schlecht.

Das Wesen aus Teer war also ein Echo? Waren die Menschen, die schwarze Tränen weinten, von denen befallen oder so ähnlich?

„Ferris?“

Ciars Stimme besaß in dieser Sekunde etwas Klares, das mich verwundert aufschauen ließ. „Ja?“

„Als du diesem einen Echo kürzlich begegnest bist, hast du es sicher gewusst, nicht wahr?“ Eindringlich suchten seine Augen etwas in mir, beinahe erwartungsvoll, jedoch auch seltsam unruhig. „Du hast gewusst, dass du so ein Wesen schon einmal getroffen hast, richtig?“

„Ah ...“ Meine Stimme versagte, sie wurde heiser. „Ich ... richtig.“

In Verbindung mit Feuer. Zu dem Zeitpunkt war die Erinnerung verschleiert gewesen – hatte ich das alles so erfolgreich verdrängt und vergessen? Ich wusste, dass ich diese Echos kannte, von irgendwoher. Mein allererstes Treffen lag zehn Jahre zurück und fand einst hier statt, in diesem Haus. Bedeutete das ...

„Ich will dir wirklich helfen“, betonte Ciar nachdrücklich und kam etwas näher auf mich zu. „Ich möchte dir die Chance geben, Rache zu üben und das Herz des Echos zu verschlingen, das dir so viel Leid zugefügt hat.“

„Warte-“, warf ich nervös ein.

Unbeirrt sprach Ciar weiter. „Jedes Echo hinterlässt ein Herz in Form eines Würfels. Seelen lösen sich niemals vollständig auf, sondern nehmen nur andere Formen an. Mit diesen Herzen kann man seine Fähigkeiten immens steigern und lockt so die Echos wie ein Magnet zu sich. Das macht es einfach, sie zu erledigen und weitere Herzen zu ergattern.“

„Jetzt warte doch mal!“, versuchte ich erneut, meine Worte loszuwerden. „Rache üben? Was meinst du damit? Wie soll das gehen?“

Entweder beachtete Ciar meine Fragen nicht oder wollte unbedingt zu Ende erklären, denn er machte weiter und weiter. Während er sprach, schob er eine Hand in die Innentasche seiner Weste, die er über einem Top trug, um etwas herauszuholen.

„Du musst wissen, dass die Herzen eine Art Speicherfunktion besitzen. Unter gewissen Umständen und Einwirkungen, können die Echos wieder neu entstehen und weiter Unheil anrichten.“

Etwas rot Glühendes ruhte in Ciars Hand, als er sie mir entgegen streckte. Ein kleiner Würfel. Aus dem Nichts dröhnte ein Herzschlag durch das leblose Haus, pochte laut in meinen Ohren. Wie hypnotisiert starrte ich auf den Würfel, dessen Licht einen ungeahnten Hass in mir entfachte. In mir entstand etwas, das ich nicht benennen konnte.

Leise knackten meine Hände, die ich zu Fäusten geballt hatte. Vor Anspannung zitterte mein gesamter Körper. Zum ersten Mal seit langem empfand ich keine Trauer, Reue oder den Wunsch danach, endlich von dieser Welt zu verschwinden, denn das alles wurde von diesem Hass übertroffen. Reine Wut und der Drang danach, zu zerstören.

„Ist er das?“, hauchte ich, ungewohnt tief.

„Ja, das ist er“, bestätigte Ciar, vollkommen souverän. „Das Echo, das den Brand verursacht und deine Familie getötet hat.“

Mein Verstand setzte aus. Schreiend schnappte ich mit der Hand nach dem Würfel, doch Ciar war schneller als ich und wich mir mühelos aus. Unzufrieden schnalzte er mit der Zunge und drehte das Herz spielerisch zwischen seinen Fingern.

„Nicht so schnell. Ich handle niemals ohne Eigennutz, merk dir das.“

„Was verdammt nochmal willst du?!“, keifte ich wütend. „Ich dachte, du willst mir die Chance zur Rache geben?!“

Belehrend hob Ciar den Zeigefinger, mit der Hand, in der er auch den Würfel trug. „Die bekommst du auch, unter einer Bedingung: Wenn du das Echo eigenhändig auslöschen kannst, musst du sein Herz verschlingen und dich mit mir zusammentun. Ich verfolge nämlich ein Ziel, das uns beiden für immer jedes Leid ersparen wird. Also? Haben wir einen Deal?“

„Fick dich!“, platzte es aus mir heraus. Aufgewühlt schüttelte ich den Kopf und stampfte mit den Füßen auf den Boden. „Ich hab die Schnauze voll davon, mich von anderen manipulieren zu lassen! Wenn du mir nicht wirklich helfen willst, verpiss dich und lass mich in Ruhe!“

Von meinem Gefühlsausbruch ließ Ciar sich nicht aus der Ruhe bringen, er blieb unerschütterlich. Flüsternd steckte er den Würfel wieder ein und winkte anschließend ab. „Fein, ich gebe dir Bedenkzeit. Du weißt ja, wo ich wohne, falls du dich entscheiden solltest. So lange bewahre ich den Würfel für dich auf. Lass mich aber nicht zu lange warten.“

Einfach so wandte er sich nach dieser Ansage von mir ab und machte Anstalten zu gehen, was in mir noch mehr unkontrollierbare Gefühle zum Explodieren brachte. Zielstrebig wollte ich ihm folgen, kam aber nicht weit. Erneut brach mir der Boden unter den Füßen weg, diesmal sackte ich noch tiefer als letztes Mal.

Anscheinend hing ich irgendwo fest, ich kam nicht so leicht heraus wie zuvor. Je mehr ich an meinem Bein zog und zerrte, desto tiefer sank ich und verlor meine Kraft. Erschöpft sackte ich auch mit meinem restlichen Körper auf den Boden und schluchzte, während ich gleichzeitig einen Fluch nach dem anderen von mir gab.

„Es muss nicht sein, dass du so sehr leidest“, hörte ich Ciar sagen, doch seine Stimme schien schon weiter entfernt zu sein. „Denk über mein Angebot nach, sonst kann ich nicht mehr viel für dich tun.“

„Warte!“, rief ich ihm heiser hinterher. „Komm zurück! Bitte ... lass mich nicht allein.“

Nicht hier. Nicht an diesem Ort, wo ich nicht sein wollte. Wo mich alles schmerzte.

Ciar war längst fort, als ich verzweifelt vor mich hin weinte. Noch immer steckte mein Bein fest und mir fehlte der Antrieb, überhaupt einen weiteren Befreiungsversuch zu unternehmen. Vor meinen Augen strahlte noch das unheilverkündende Glühen des Würfels und die Stimme des Mädchen hallte in meinem Kopf nach. Meine kleine Schwester.

„Ich kann das nicht“, schluckte ich hilflos. „Selbst wenn ich Rache übe, was dann? Ich will einfach nicht mehr.“

Eine vertraute Melodie ertönte, wie aus heiterem Himmel. Der Klingelton meines Handys.

Ich benötigte eine halbe Ewigkeit, bis ich realisierte, was genau das bedeutete. Es verstrich eine weitere endlose Zeitspanne, bis ich das Gerät irgendwie aus der Hosentasche gefischt bekam, ohne es dabei herunterfallen zu lassen.

Ungläubig musste ich feststellen, dass die Risse im Display verschwunden waren. Wie durch Zauberhand sah mein Handy aus wie vorher, unbeschädigt und funktionsfähig. Bei dem Anrufer, der gerade versuchte mich zu erreichen, handelte es sich um Faren. Erleichtert nahm ich ihn entgegen und hielt mir kraftlos das Gerät ans Ohr.

Ich wollte hier einfach nur weg. Faren käme mich bestimmt abholen.

Vergiss mich!

„Alter, im Ernst: Wenn du das nächste Mal vorhast, einen Lost Place zu erkunden, weihe mich doch bitte ein, damit ich dich begleiten kann.“ Ein gespielt dramatisches Seufzen folgte. „Ich wollte so etwas eh schon immer mal machen. Zu schade, dass Urban Explorer kein richtiger Beruf ist, oder? Nur eine Berufung. Das wäre eine verdammt coole Arbeit.“

Es war typisch für Faren. Er versuchte mühevoll, mich mit seiner lockeren und positiven Art aufzuheitern. Gewöhnlich gelang ihm das sogar ganz leicht, weil wir beide den gleichen Humor und ähnliche Interessen besaßen. Außerdem konnte man seinem Charme nur verfallen, auch auf freundschaftliche Weise. Im Moment konnte ich mich von seiner guten Laune trotzdem nicht begeistern lassen.

„Hey, geht das wirklich mit deinem Bein?“, hakte Faren nochmal nach, hörbar besorgt.

Ich wollte nicken, aber ich krächzte doch nur ein knappes „Ja“ heraus, während ich abwesend aus dem Fenster starrte.

„Okay, wenn du meinst. Aber sag Bescheid, falls ich dich doch ins Krankenhaus fahren soll oder so.“

Diesmal nickte ich nur schweigend.

Faren sagte darauf erst mal nichts mehr.

Noch während des Telefonats hatte er sich ins Auto gesetzt und war losgefahren, um mich abzuholen, anscheinend ziemlich überstürzt. Sein Haar sah etwas zerwühlt aus und er trug nur einfache Hausschlappen zu seiner grauen Jogginghose. Wenigstens hatte er sich in seiner Eile noch eine Jacke über sein Shirt angezogen, abends konnte es doch etwas kühl werden.

Flüchtig warf ich einen Blick in den Seitenspiegel. Meine Haare sahen katastrophal aus, so wie eh und je. Im Nacken hatte ich sie mir zusammengebunden, jedoch gab es noch genug Strähnen, die mir ins Gesicht hingen und völlig wirr verliefen. Sie waren lang geworden, schon über meine Schultern hinweg. Eigentlich sollte ich sie mir dringend abschneiden und färben. Dieses knallige Blau war kaum auszuhalten, wie ein Leuchtsignal.

„Och, so knapp“, hörte ich Faren murmeln, als er an einer Ampel halten musste, weil sie von Grün auf Rot wechselte.

Wartend strich Faren mit einer Hand über seinen Kinnbart. Ob er heute einen freien Tag gehabt hatte und deswegen danach aussah, als hätte er bis zum Abend gepennt? Immerhin befanden wir uns noch im Wochenende. Sonntags schlief Faren gern lange aus und faulenzte zu Hause herum, es sei denn, er traf Freunde oder musste mir, wie heute, aus der Patsche helfen.

Als er gehört hatte, dass ich in Limbten in einem Haus feststeckte, war seine Verwirrung groß gewesen. Warum ich dort war, wusste er bis jetzt noch nicht und er fragte auch nicht nach. Jedenfalls nicht direkt. Vermutlich wollte er mich nicht bedrängen, weil mir anzusehen war, dass es mir nicht gut ging. Kaum zu glauben, wie meisterhaft ich damals eine fröhliche Stimmung vorspielen konnte. Dafür hätte ich gar keine Nerven mehr übrig.

Draußen war es richtig dunkel geworden. Vincent hatte mich inzwischen längst angerufen, weil er sich Sorgen um mich machte, aber Faren war derjenige gewesen, der ihm erklärte, was los war. Sonst wäre ich gar nicht dran gegangen, sondern hätte es klingeln lassen. Da Faren aber meinte, ich könnte das Vincent nicht antun, hatte ich ihm erlaubt, an meiner Stelle den Anruf anzunehmen.

Nach einer Weile konnte Faren weiterfahren, wir hatten grünes Licht. Stimmen hörte ich gerade keine, was wohl daran lag, dass zu dieser Zeit kaum noch Menschen unterwegs waren. Der Wagen schnurrte leise und ruckelte nur selten. Keine Ahnung, was für ein Auto das genau war. Wie schon erwähnt kannte ich mich in der Richtung nicht aus. Seit Faren mich einmal kurz ans Steuer gelassen hatte, weil er mir das Fahren beibringen wollte, wussten wir, dass ich nicht mit Talent gesegnet war. Die Reparatur, das Resultat für dieses Experiment, war nicht billig gewesen.

„Sag mal, hast du nicht Lust, einfach mit zu mir zu kommen?“, brach Faren die Stille wieder, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. „Ich mag dich so nicht bei Vince abliefern. Wir können uns bei mir eine schöne Zeit machen. Du weißt schon, zocken, Fast-Food verschlingen, Musik laut aufdrehen und so. Wär doch was.“

„Muss nicht sein“, lehnte ich dankend ab, ohne wirklich darüber nachzudenken.

„Doch“, widersprach Faren entschlossen. Sicher legte er sich in Gedanken schon eine ausführliche Planung für einen grandiosen Abend voller Bromance zusammen. „In letzter Zeit hängen wir gar nicht mehr zusammen ab, was meine Schuld ist. Du bist mir genauso wichtig wie Kieran, darum bestehe ich darauf, dass wir endlich wieder was zusammen machen.“

Kieran. Großartig, warum rammte mir das Schicksal nicht noch mehr Messer in die Brust? War dieser Tag bislang nicht schon aufreibend genug gewesen? Natürlich nicht, ich musste auch noch an meine unglückliche Liebe zu Kieran erinnert werden.

Faren kann nichts dafür, ermahnte ich mich selbst. Er weiß ja nichts davon.

Darum bemühte ich mich, nicht noch aufgewühlter zu klingen. „Muss trotzdem nicht heute sein, ich will nur noch pennen.“

„Kein Problem, das kannst du auch bei mir machen“, blieb Faren hartnäckig und grinste dabei verspielt. „Versuch gar nicht erst, vor mir zu flüchten. Du kennst mich. Ich bin nicht leicht abzuschütteln.“

Wie wahr. Sobald Faren etwas wollte, tat er alles, um es zu bekommen. Manchmal konnte er dabei schrecklich aufdringlich werden, aber er meinte es nur gut. Er würde niemals jemanden zu etwas zwingen, das der Person schaden könnte, selbst wenn diese es anders sah. Bei mir waren seine Bemühungen verschenkte Lebenszeit. Merkte er das nicht?

„Faren, ich hab echt keinen Bock“, entschuldigte ich mich, weiter aus dem Fenster starrend. „Ein anderes Mal, okay?“

Er reagierte nicht sofort auf meine Worte, sondern schien innerlich mit sich zu hadern, wie er weitermachen sollte, um mich doch noch zu überzeugen. „Schade, wir hätten sicher Spaß gehabt.“

„Kann sein.“ Eigentlich hatte man mit Faren immer Spaß, Langeweile kannte man mit ihm nicht. „Aber du solltest dich sowieso lieber um Kieran kümmern.“

Bevor mir klar wurde, was ich gerade gesagt hatte, war es bereits zu spät. Faren griff diese Aussage auf, voller Verwunderung, und weitete das Thema aus, zu meinem Leidwesen.

„Das tue ich doch. Laut Kieran kümmere ich mich viel zu intensiv um ihn, er hat kaum Luft zum Atmen und beklagt sich darüber, dass ich zu anhänglich sei.“

Ich biss mir auf die Lippen, konnte es mir jedoch nicht verkneifen, etwas darauf zu sagen: „Das behauptet er doch nur so, weil er sich insgeheim über deine Aufmerksamkeit freut.“

„Ja, ich weiß“, entgegnete Faren, mit einem verliebten Tonfall in der Stimme. „Er ist richtig süß~.“

Innerlich flehte ich darum, dass wir nicht mehr weiter über Kieran redeten. Auch ohne Farens Schwärmereien wusste ich, wie toll Kieran war. Ich liebte ihn immerhin auch. Ich war schon lange vor Faren in ihn verliebt gewesen.

„Mach dir keine Gedanken wegen Kieran“, fuhr Faren fort. Ahnungslos darüber, was er mir damit antat. „Er wird es verstehen, wenn ich auch mal wieder was mit dir mache. Du bist doch auch sein Freund. Falls es dir so große Sorgen macht, kann ich ihn einfach auch einladen und wir machen was zu dritt. Das lässt sich alles einrichten.“

„Ich will aber nicht, verdammt!“, wandte ich schreiend ein. Meine Stimme war noch angeschlagen und daher etwas kraftlos, doch an meinen Emotionen änderte das nichts. „Mach dir meinetwegen einen schönen Abend mit Kieran, ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt! Seid glücklich, lebt! Lasst mich nur mit alldem in Ruhe! Ich bleib halt lieber alleine!“

Plötzlich stoppte der Wagen, was mich sofort aus meinem Gefühlsausbruch herausriss und verwirrt zu Faren schauen ließ. Dieser war gerade dabei, den Motor auszuschalten. Wir waren weder bei Vincent, noch in der Nähe von Farens Wohnung. Etwas stimmte nicht. Warum hatte Faren auf einmal am Straßenrand geparkt, irgendwo in der Stadt? Ich ahnte etwas, das mir die Kehle zuschnürte.

„Sorry“, brachte ich dennoch leise hervor. „Ich wollte nicht-“

„Nein“, unterbrach Faren mich ruhig und schüttelte den Kopf. „Kann es sein, dass ich ein totaler Idiot bin?“

„Hä? Quatsch, bist du nicht. Ich bin nur nicht gut drauf, das ist alles.“

„Du redest dich ständig heraus.“ Zaghaft schlug Faren mit der Hand gegen das Lenkrad. „Das hätte mir viel früher auffallen müssen.“

Sein Blick schwenkte zu mir. In seinen Augen flackerte etwas auf, das wie der Funke einer Erkenntnis aussah. Unbewusst sackte ich im Sitz zusammen. Der Ausdruck in Farens Gesicht gefiel mir nicht. Sobald jemand wie er derart ernst wirkte, wie in diesem Moment, bedeutete das nichts Gutes. Hinzu kam dieser Hauch von Schmerz und aufkeimender Reue, die ihm anzusehen war. Es war unerträglich, solche Emotionen bei jemand anderem zu erleben, weil ich sie zu gut nachempfinden konnte.

„Du machst das immer“, sagte Faren unruhig. „Immer weichst du aus. Sobald es um Kieran geht, schließt du das Thema schnellstmöglich ab. Du betonst immer, dass ich mich gut um Kieran kümmern soll und er es verdient hat. Du ziehst dich zurück, wenn Kieran auftaucht oder verhältst dich in letzter Zeit so, als wäre bei dir alles in bester Ordnung in seinem Beisein. Nicht mal mit mir willst du etwas unternehmen, weil ich Zeit mit Kieran verbringen soll.“

Hastig warf ich etwas ein, um die Richtung zu ändern, in die das Gespräch zu verlaufen drohte: „Mann, Faren, ich sagte doch, ich bin heute nur nicht gut drauf. Mach daraus keine große Sache, ja? Fahr mich zu Vincent. Da schlafe ich mich aus und morgen können wir dann nochmal reden.“

Ich wusste, dass es nur Wunschdenken meinerseits war. Aus der Nummer kam ich nicht mehr heraus. An Farens Stelle hätte jeder genauer Bescheid wissen wollen – außer Typen wie ich, die so etwas eher verdrängen, um dann still und heimlich alleine deswegen herumzujammern.

„Ich will nur eines wissen.“ Bittend hielt Faren Augenkontakt und sprach geduldig weiter. „Kann es sein, dass du auch etwas für Kieran empfindest? Mehr als nur Freundschaft?“

Nein. Das sollte ich schnell abstreiten, bevor es zu spät war. Zwar öffnete sich mein Mund, aber es kam kein Ton heraus. Egal, was ich sagen würde, ich könnte nicht überzeugend genug sein. Nicht nach allem, was passiert war. Im Grunde war Faren sich schon sicher und suchte nur noch die letzte Bestätigung dafür. Am Ende war er doch darauf gekommen. So lange hatte ich es geheim halten können, aber ich versagte schon wieder.

Ich brach den Blickkontakt ab. Fluchtartig öffnete ich geschwind meinen Gurt und wollte die Beifahrertür aufreißen, doch Faren reagierte ebenso schnell und hielt mich am Arm fest. Natürlich ließ er mich nicht einfach abhauen.

„Warte, lass uns darüber reden!“, forderte er, unerwartet gefasst. „Weglaufen nützt doch jetzt nichts.“

„Reden auch nicht!“ Ich traute mich nicht mehr, ihm nochmal in die Augen zu schauen, und starrte stur nach draußen. „Es ist gut so, wie es ist.“

„Überhaupt nicht, du leidest doch darunter.“

„Sag mir nicht, was ich zu fühlen habe!“

„Ferris“, redete er mitfühlend auf mich ein. „Beruhige dich. Wir können bestimmt eine Lösung finden. Ich werde eine finden.“

Sollte das ein Witz sein? Hierbei gab es keine Lösung, außer, dass ich mich damit abfand, und dass versuchte ich schon die ganze Zeit. Jetzt war Faren meinetwegen garantiert voller höllischer Schuldgefühle und kam sich wie ein Arschloch vor, der seinem besten Freund die Liebe seines Lebens gestohlen hatte. Genau das wollte ich von Anfang an vermeiden.

Ich kriege es nie hin, dachte ich verzweifelt. Immer verletze ich andere, selbst wenn ich mit aller Macht versuche, das zu verhindern.

Es wäre so viel besser, könnte Faren mich vergessen. Eigentlich hätte er mich gar nicht erst treffen, geschweige denn retten sollen. Vincent, Kieran, Ciar, Faren … was stimmte mit denen nicht? Hört endlich auf, mir helfen zu wollen! Ihr macht es nur schlimmer.

In meiner Brust wuchs ein unbeschreibliches Brennen heran, das zusammen mit meiner Stimme explodierte, als ich meinen Willen laut herausschrie: „Lass mich los! Kümmere dich nicht um mich, vergiss mich!

Tatsächlich lockerte sich Farens Griff um meinen Arm sofort, begleitet von einem schmerzvollen Keuchen. Kaum huschte mein Blick ungläubig zu ihm, verlor er scheinbar das Bewusstsein und stieß mit dem Kopf gegen das Fenster. Sein gesamter Körper wurde schlaff und rutschte tiefer.

Genau wie er atmete ich schwer. Mein Hals war seltsam trocken und mir war heiß, das brennende Gefühl in meiner Brust hatte sich ausgebreitet. Etwas war vorhin mit meinen Worten aus meinem Inneren ausgebrochen. Ich wusste nicht, was es war, aber ich musste an Ciars Erklärungen denken, über Echos und Begabte, die mit ihrer Stimme der eigenen Seele einen Weg geben konnten, ihre Energie zu befreien.

Vorsichtig streckte ich eine Hand nach Faren aus und berührte ihn an der Schulter. Zitternd versuchte ich, ihn zu schütteln und aufzuwecken, was auch immer er hatte. Obwohl ich der Wache von uns war, fühlte ich mich ohnmächtig. Vor Schock konnte ich nicht klar denken und wusste nicht, was ich am besten tun sollte. Wie ein hilfloses Kind.

Wie eine Ewigkeit saß ich da und starrte Faren nur tatenlos an, umgeben von einer erdrückenden Stille. Zu gern hätte ich jetzt seine Stimme gehört. Irgendeinen bescheuerten Witz, über den nur wir beide lachen konnten. Erst als schließlich Blut aus Farens Nase lief, weckte das endlich wieder meinen Verstand, der dafür sorgte, dass ich mit dem Handy eilig einen Krankenwagen anrief.

Unbeholfen versuchte ich zu erklären, wo wir mit dem Wagen standen. Anscheinend stammelte ich dabei so undeutlich, dass die Person am Telefon einige Fragen mehrmals wiederholte, mit einer professionellen und erfahrenen Ruhe, die mich nur erst recht verrückt machte. Hier ging es um meinen besten Freund. Jemand, der am Leben hing und stets darum kämpfte, auch in schlechten Zeiten. So jemand durfte nicht sterben!

„Scheiße ...“, nuschelte der bewusstlose Faren neben mir auf einmal. „Mein Schädel ...“

Abrupt versagte meine Stimme und ich erstarrte, während ich beobachtete, wie Faren langsam wieder zu sich kam. Zuerst bemerkte er mich gar nicht, weil er noch zu benebelt war und über heftige Kopfschmerzen klagte. Irgendwann musste ihm aber auffallen, dass ich noch neben ihm saß, was bald darauf geschah.

Anfangs schien er zu glauben, sich mich nur einzubilden. Erschöpft richtete er sich anständig im Sitz auf und sah sich orientierungslos um. Am anderen Ende der Leitung sprach noch jemand zu mir, der fragte, was los sei und warum ich nichts mehr sagte. Aber ich konnte nichts darauf erwidern. Mir gelang es nicht mal, Faren ein Taschentuch anzubieten, womit er sich das Blut unter der Nase wegwischen könnte.

Ich hielt den Atem an, kaum dass er mich erneut ansah und diesmal der Blick länger auf mir ruhte. Mehrmals blinzelte er und beugte sich ein wenig näher in meine Richtung.

„Hä?“ Ratlos musterte Faren mich und kniff die Augen zusammen. „Wer bist du?“

Etwas brach in mir zusammen. Sprachlos ließ ich das Handy sinken und erwiderte Farens Blick mit geweiteten Augen. Das war kein Scherz, er hatte wirklich keinen Schimmer mehr, wer ich war oder in welcher Situation er sich befand. Genau wie gewünscht. Wie meine Worte es verlangt hatten, nur wenige Minuten zuvor.

„Hey, krass, du siehst ja voll aus wie ich.“ Genauso erstaunt war Faren bei unserem ersten Treffen schon gewesen. „Was geht denn hier ab? Hab ich zu viel getrunken?“

„T-tut mir leid ...“

Statt Faren aufzuklären und ihn zu beruhigen, folgte ich dem Drang, vor dieser Verantwortung zu fliehen, und stürzte regelrecht aus dem Wagen. Rannte schwankend über die Straße, ohne auf mögliche weitere Fahrer zu achten, die ich in einen Unfall verwickeln könnte. Blind stürmte ich in die nächstgelegene Gasse hinein und lief einfach so weit ich konnte, weg von Faren.

Mein Bein schmerzte und Schweiß lief über meine Stirn, trotz der kühlen Abendluft, die mich begleitete. Straßenlaternen sorgten mit ihrem matten Lichtschein für eine bedrückende Atmosphäre. Sirenen heulten in der Ferne auf. Vermutlich der Krankenwagen, den ich für Faren gerufen hatte. Er war mir nicht gefolgt. Warum sollte er? Für ihn war ich nur noch ein fremder, schräger Kerl, der ihn in seiner Verwirrung sitzenließ. Sicher dachte er, nur zu träumen.

Auch ich wünschte mir, dass ich bloß in einem Alptraum feststeckte.

 
 

***

 

Es war aber kein Alptraum.

So etwas passierte mir nicht zum ersten Mal. Dunkel erinnerte ich mich daran, in meiner Kindheit den anderen ungewollt Angst eingejagt zu haben. Einen Hexer hatten sie mich genannt. Schon damals wusste ich nicht, was diese merkwürdigen Fähigkeiten bedeuteten, mit denen ich leben musste.

Jedes Mal, wenn ich genau das sagte, was ich fühlte und wollte, geschahen solche Dinge wie mit Faren. Personen verhielten sich aus heiterem Himmel anders oder taten etwas, das sie normalerweise nicht machen wollten. Zuerst hatte mich das begeistert. Klar, als Kind war es oft zu spät, bis man erkannte, wie schlimm etwas in Wahrheit war.

„Pass doch auf, Spinner!“, beschwerte sich ein Autofahrer lautstark bei mir, der abbremsen musste, weil ich gedankenverloren bei Rot über die Straße ging. Das Hupen war in dieser nächtlichen Stille wie ein Hammerschlag auf den Kopf. „Mach mal hinne, hau ab!“

Mit quietschenden Reifen fuhr er weiter, nachdem ich die letzten Schritte hinter mich gebracht und die andere Straßenseite erreicht hatte. Schweigend schweifte mein Blick über die Bremsspuren auf dem Asphalt, bevor ich weiterging und meinen Gedanken folgte.

Ziellos ging ich durch die Stadt, an einigen Kirschblütenbäumen vorbei. Außer mir gab es nur wenige Menschen, die ebenso geisterhaft umher streiften wie ich oder irgendwo herumsaßen und aus eigenen Gründen ihrer Existenz auf diese Weise nachgingen. Manche rauchten, tranken Alkohol, beschäftigten sich mit dem Handy oder hatten einen Partner dabei, für einen romantischen Spaziergang bei Nacht.

Solange ich niemandem im Weg stand, beachtete mich keiner. Mir wurde bewusst, warum bestimmte Geschehnisse in meinem Leben so unglücklich verlaufen waren. Nach dem Brand, bei dem meine Familie starb, hatte ich angefangen, meine wahren Gefühle zu verstecken und etwas vorzuspielen. Gute Laune und Zufriedenheit. Eine Stimmung, mit der ich nicht aus Versehen irgendetwas aussprechen konnte, das einen Wunsch oder ein Verlangen beinhaltete.

Irgendwie musste es mir gelungen sein, meine Fähigkeiten dadurch abzuschwächen und sie gerieten in Vergessenheit. Sonst hätte mir schon mindestens die letzten zwei Jahre über andauernd so etwas passieren müssen wie heute mit Faren. Laut Ciar erwachten meine Fähigkeit nun langsam – erneut. Woran mochte das liegen?

Vielleicht weil ich auch ohne sie meinen Platz in der Welt nicht fand. Ach, wer weiß warum. So oder so machte es die Lage nicht besser. Ich fühlte mich verlorener als jemals zuvor in meinem Leben. Als Freak mit solch unheimlichen Fähigkeiten wollte ich erst recht nicht länger existieren, das war unmöglich. Für Ciar schien das allerdings ein Kinderspiel zu sein.

Ciar … ob ich zu ihm gehen sollte? Er könnte mir beibringen, mit diesen Fähigkeiten so umzugehen, dass sie keinem mehr schadeten – und mir möglicherweise sogar Vorteile verschafften. Bevor ich wieder an Selbstmord dachte, wäre das einen Versuch wert. Angeblich wüsste er auch einen Weg, wie ich all mein Leid loswerden könnte. Reizvoll klang das schon …

„Das letzte Mal“, hauchte ich mir selbst zu und blieb stehen. „Das ist mein letzter Versuch, doch noch die Kurve zu bekommen. Danach wähle ich den Notausgang.“

Mein Entschluss stand fest, also holte ich mein Handy hervor, mit dem ich Ciar schreiben wollte. Dumm