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Heilloser Romantiker

von

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Kapitel 1

Kapitel 1:
 

/Mit ihm lachen können… wenn er ernst wird, dann sollen seine Augen ehrfürchtig sein, doch man soll sogleich in ihnen versinken können… sein Blick soll dabei mir gelten, mir ganz allein…/
 

„Wie konnte ich mich nur dazu überreden lassen!?“

Beschämt sah Rick auf den Schmierzettel vor sich, auf dem im wilden Chaos die verschiedensten Charakterzüge und –eigenschaften notiert waren, und verbarg sein errötendes Gesicht hinter einer seiner Hände. Als er an seinen besten Freund dachte, der ihn nach langem hin und her endlich so weit gebracht hatte, dass er sich ein Herz fasste und im Begriff war, eine Zeitungsannonce aufzugeben, kicherte er amüsiert in seine Handfläche hinein. Während seine meerblauen Iriden immer wieder verdeckt wurden und ihren tiefen Glanz nur nach jedem Wimpernschlag offenbarten, fuhr er sich durchs haselnussbraune Haar, das ihm strähnenweise wie so oft in die Stirn gefallen war.

„Na, wie weit bist du gekommen?“, fragte eine freundliche Stimme hinter Rick.

„Oh, ich habe dich gar nicht hereinkommen hören.“

Verwundert, aber immer noch lächelnd, blickte Rick auf zu Joe, den er schon aus frühesten Kindheitstagen her kannte.

„Kein Wunder; du scheinst dich ja auch ohne mich prächtig zu unterhalten. Zeig doch mal her!“

Sogleich wurde Rick das Notizblatt unterm Arm weggerissen, das neugierige Gestiken auf dem Gesicht seines besten Freundes hervorrief.

„Du bist wirklich ein heilloser Romantiker, weißt du das?“

Grinsend setzte sich Joe neben Rick, nahm einen Stift zur Hand und kritzelte eilig ein paar Sätze auf das Papier.
 

/Dein strahlendes Haar und deine hellen leuchtenden Augen haben die Mädchen von Beginn an angezogen… auch mich hast du schon so oft in deinen Bann gezogen, was du nicht einmal ahnst…/
 

„Warum habe ich mich von dir eigentlich dazu überreden lassen?“, seufzte Rick nun, als sein Freund ihm das Blatt zurückschob, und wusste ohne einen Blick darauf zu werfen, dass nichts Vernünftiges darauf stehen konnte. Er las es sich dennoch durch und missachtete dabei gekonnt Joes schelmisches Grinsen.

„Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?“ Gespielt rollte Rick die Augen und schaute den Blonden herausfordernd an.

„Nö, so solltest du die Anzeige aufgeben.“

Joe brach in Gelächter aus und als die ersten Freudentränen hervorquellten und er sich den Bauch halten musste, stand der Kleinere auf, sah ein wenig gequält zum Fenster hinaus.
 

/So ein Depp… aber ich habe ihn viel zu gern, als dass ich sauer auf ihn sein könnte./
 

Heimlich beobachtete er den hellhaarigen jungen Mann, der erneut eifrig den Stift schwang.

„Setz dich wieder hin, mein kleiner Romantiker. Ich verspreche dir, dass ich diesmal ernst bleibe.“

Zweifelnd wandte Rick den Kopf und gab dem flehenden Blick nach, der ihm das Herz wärmte.

„Dein Wort in Gottes Ohren… also was hat dein krankes Hirn sich nun wieder einfallen lassen?“

„Hier bitte!“

„Ne lass mal. Lies lieber vor, bevor du mich wieder auslachst. Lieber sollst du an deinen eigenen Sätzen ersticken.“

Neckisch sah er zu Joe, der bereitwillig den Zettel zurücknahm und sich vor die Nase hielt.
 

„Romantischer, gut aussehender, liebevoller und netter junger Mann such einen Freund, mit dem er lachen, reden und insbesondere viel kuscheln kann. Wem ebenso ein Mann fürs Leben fehlt und mal wieder tief in zwei Seelen versinken möchte, der soll sich einfach melden unter:

email==Heilloser_Romantiker@anzeigen.deHeilloser_Romantiker@anzeigen.de=Heilloser_Romantiker@anzeigen.deHeilloser_Romantiker@anzeigen.de/email“
 

Erstaunt hob Rick die linke Augenbraue und war im ersten Moment aller Worte verlegen. Das kleine Organ in seiner linken Brust pochte einfach zu schnell, um auch nur eine Silbe über die Lippen zu bringen. Dass sein bester Freund und zugleich der Mann, für den er seit Jahren viel mehr empfand als nur Freundschaft, ihn in ein dermaßen gutes Licht rückte, freute ihn und… erregte ihn.

„D-Danke“, wisperte er und vermied dabei jedweden Blickkontakt.
 

/Wenn ich dir sagen würde, dass ich dich liebe… würde ich dich vergraulen…/

Kapitel 2

Kapitel 2:
 

„Missfällt es dir so?“

Verwundert sah Rick auf und gab seine meerblauen Augen preis. „Nein überhaupt nicht.“

„Von was kommt dann deine plötzliche Traurigkeit?“

Der Braunhaarige biss sich auf die Unterlippe.
 

/Ich hatte gar nicht registriert, dass mich die Sehnsucht nach dir dermaßen traurig stimmte…/
 

Zwanghaft rang sich Rick ein Lächeln ab, winkte mit einer Hand ab. „Mir geht´s gut, du musst dich getäuscht haben. Sag mal…“, er deutete auf den Notizzettel, „wie kommst du eigentlich darauf, dass ich gerne viel kuscheln würde?“

Zuerst fiel Joe die Kinnlade herunter, doch dann begann er leise zu lachen. „Ich kenne dich lange genug, mein kleiner Romantiker. Zudem, warum würde ich dich sonst so nennen!?“

Mit dem Zeigefinger seiner Rechten tippte er dem Kleineren an die Stirn.

„Wenn du keine Zärtlichkeiten bekommst, wirst du nämlich unerträglich“, fügte er hinzu.

Rick zog einen Schmollmund einerseits aus gespieltem Trotz, andererseits weil er sich um diese seine Eigenart nur allzu sehr bewusst war.
 

/Und doch kennst du nur den Rick, der dich als guten Freund ansieht und behandelt… ich würde dir so gerne sagen, was ich für dich empfinde… doch wenn ich das tue, dann verliere ich dich…/
 

„Soll ich die Annonce wirklich aufgeben?“, begann der Dunkelhaarige zweifelnd. „Denn eigentlich kann doch dabei nichts Gutes herauskommen. Wenn auf die Anzeige keiner reagiert, dann stärkt mich das in meinem Selbstbewusstsein nicht gerade. Oder wenn nur verspottende Antworten kommen, Aussagen, die mich verletzen...“ Rick hielt nun drei Finger hoch. „Oder wenn-“

„Hey, hey sachte. Sei nicht schon wieder so pessimistisch. Genau deshalb solltest du sie ja einreichen. Du wirst sehen, dass sicherlich ein paar nette Jungs dabei sein werden, und wer weiß, vielleicht ist ja einer darunter, der sich heimlich in dein Herz schleicht.“
 

/In meinem Herzen ist nur einer… und das bist du!/
 

„Mhhhh“, seufzte Rick und nickte. „Okay, dir zuliebe.“

Kaum hatte er seine Zustimmung gegeben, schon sprang sein bester Freund auf und wedelte mit dem losen Zettel in der Hand. „Komm, wir tippen das gleich ab und schicken das an die Partnerbörse.“

Resigniert, aber dennoch irgendwie aufgeregt, folgte Rick Joe ins Nebenzimmer. Sein Adrenalin stieg und stieg, doch er wusste nicht, ob es davon kam, dass er tatsächlich im Begriff war, diese Annonce aufzugeben, oder, weil er so dicht neben Joe saß, dass er dessen Duft bei jedem Atemzug in sich aufsog. Immer wieder atmete er tief ein und aus und verlor sich allmählich in dem Dunst von Aftershave und dem Eigengeruch seines Freundes.

„Du glühst ja richtig.“

Rick schnellte mit dem Kopf zurück und fühlte sich vollkommen ertappt.
 

/Ahnt er, dass…?/
 

„Ich hätte nicht gedacht, dass dich das so nervös werden lässt.“
 

/W-was?/
 

„Hehe, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir den Vorschlag mit der Anzeige schon eher unterbreitet.“

„Ach so das“, entwich es dem Kleineren beruhigt. Als er den irritierten Blick von Joe sah, wurde Rick ganz mulmig, denn da registrierte er erst, dass er das eben laut ausgesprochen hatte. „Äh, klar macht das einen ein wenig fahrig.“

„’Ein wenig’!“

Rick knuffte Joe in die Seite und deutete ihm, dass er wieder auf den Monitor schauen und weiter schreiben solle.

„Und nun kannst du es wohl nicht eilig genug haben.“ Kichernd ließ Joe seine Finger über die Tastatur fliegen.
 

/Ohweh, da hatte ich noch mal Glück. Ich sollte meine Gefühle schleunigst wieder unter Kontrolle bringen, nicht dass… er noch merkt, was er für mich bedeutet…/
 

„Fertig! Rick?“ Liebevoll sah er dem Kleineren in die Augen, die glänzten wie wenn der Ozean das Licht des Mondes widerspiegelt. „Auf ‚Senden’ musst du drücken, das kann ich dir nicht abnehmen, denn es muss allein deine Entscheidung sein.“

Rick sah zurück auf den Monitor und starrte lange den entsprechenden Button an, auf dem der Mauszeiger bewegungslos ruhte. Zögernd legte er seine Rechte auf die Maus und streifte mit dem Zeigefinger über die linke Taste. In Gedanken focht er einen Zwiespalt aus, der ihn erzittern ließ.
 

/Wenn ich sende, dann wird der Abstand zwischen ihm und mir, der sowieso schon unüberwindbar ist, nur noch größer… wenn ich es nicht mache, dann wird er von mir enttäuscht sein und von mir denken, ich sei nicht um mein eigenes Glück bedacht… doch falls ich diese Annonce abschicke und mir jemand darauf antwortet, dann wird er mich überreden, einem Treffen einzuwilligen… er wird mich in die Arme eines anderen drängen…/
 

Unbemerkt schielte er zu dem Blonden, der sich vom Computer abgewendet hatte, um seinem Freund die Zeit zu geben, die er für solch eine wichtige Entscheidung brauchte. In Rick schnürte sich etwas zu, das ihm den Atem raubte und ihm die Blässe ins Gesicht treten ließ.
 

/Du bist so fern…/
 

Mit zusammengekniffenen Augen, um den aufsteigenden Tränen nicht den Weg nach außen zu gewähren, drückte er. Ja, er tat es wirklich. Dann tauchten die Worte
 

‚Ihre Mail wurde gesendet!’
 

auf dem Bildschirm auf.

Kapitel 3

Kapitel 3:
 

Glücklich schlangen sich zwei Arme um Ricks Körper, deren Hände am Ende durch das dichte haselnussbraune Haar wuschelten.

„Ich bin stolz auf dich“, hauchte Joe seinem Freund ins Ohr, was diesem eine mächtige Gänsehaut bereitete, die Joe jedoch unbemerkt blieb. „Zur Feier des Tages gehen wir essen!“

Der Blonde löste sich von Rick, der kaum zu atmen wagte, und drehte Ricks Stuhl, so dass er ihn sich betrachten konnte.

„Wir hätten noch ein Bild von dir hinzufügen sollen.“ Sanft griff er nach dem Kinn des Kleineren und ließ seine grünen Augen über sein Gesicht wandern. „Auf jeden Fall!“ Um seine Aussage noch zu bekräftigen, nickte er ein paar Mal.
 

Es pochte. Ricks Herz überschlug sich beinahe.
 

/Wie kann er mich berühren, ohne dabei dasselbe zu empfinden wie ich?/
 

Angestrengt versuchte Rick, sich seine Aufgeregtheit und unendliche Freude nicht anmerken zu lassen, was alles andere als leicht war, zumal ihn die unmittelbare Nähe zu Joe halb verrückt machte.

Er konnte sich noch ganz genau an den Tag erinnern, an dem er das erste Mal dieses flaue Gefühl im Bauch bekommen hatte. Nach vielem Nachdenken und Zögern hatte er sich vor seinen Eltern geoutet, was leider nicht die gehoffte Reaktion mit sich gebracht hatte.
 

/Sie waren so geschockt, dass sie mich an jenem Tag des Hauses verwiesen… ich fühlte mich dermaßen vor den Kopf gestoßen, dass ich mich in der kleinen Hütte am See versteckte und in der Nacht nicht nach Hause ging… ich wäre ewig dort geblieben, hätte Joe mich nicht gefunden… seine Worte füllen noch immer meinen Kopf und bezirzen meine Sinne… ’Mir ist es egal, welches Geschlecht du liebst, Hauptsache, wir bleiben für immer Freunde.’… Als er mir dabei aufrichtig in die Augen sah, spürte ich plötzlich, dass sich alles in mir nach ihm sehnte… dass er derjenige war, der mich jedwedes Interesse an Frauen vergessen ließ…/
 

„Aber wir gehen zu dem niedlichen kleinen Italiener“, begann Rick mit bemüht fester Stimme.

„Alles, was du willst, mein kleiner Romantiker. Schließlich hast du heute einen wichtigen Punkt in deinem Inneren überwunden. Aber bevor ich nun sentimental werde, würde ich vorschlagen, wir gehen gleich.“ Joe packte seinen Freund an der Hand und zog ihn hinaus und ließ es sich nicht nehmen, ihn dabei keck anzugrinsen.

„Hehe, vielleicht findest du ja dort schon deinen Traummann, dann hättest du dir das Ganze heute sparen können.“
 

/Ja, der wird sicher dort sein…/
 

„Wohl kaum, denn der würde mich eh nicht beachten, solange du bei mir bist.“

„Keine Sorge, dann mach ich eben in der Zwischenzeit die Kellnerin an, dann hat er freie Bahn.“

„Das traue ich dir auch ohne Grund zu.“

„Hey, stell mich hier nicht als Schürzenjäger da. So schlimm bin ich nun auch wieder nicht.“

„Hmm, muss ich das nun bejahen?“

„Natürlich!“, erwiderte der Blonde gut gelaunt.

„Wie du möchtest.“
 

/Zum Glück bist du es wirklich nicht… /
 

„Siehst du, geht doch. Ach Rick, wo wir schon beim Thema wären. Ich habe dich nie gefragt, wie dein Traummann eigentlich aussieht. Bisher hast du immer nur über den Charakter gesprochen.“

Fragend sah Joe zur Seite und wunderte sich darüber, dass Rick nicht mehr neben ihm her lief. Dieser war abrupt stehen geblieben und schaute blicklos in ein Schaufenster. In dem spiegelnden Glas nahm er nur wie aus weiter Ferne seine Silhouette wahr, die alsbald von einer zweiten verdeckt wurde.

„Hast du was Schönes entdeckt?“

„Nein“, schluckte Rick.
 

/Lach Rick, lach! Zeig ihm nicht, wie sehr dich diese Frage aus der Bahn wirft!/
 

„Das nicht, aber da drinnen gibt es sicher einen Flachbildfernseher, den du mir sicherlich schenken möchtest“, juxte er.

„Sonst noch Wünsche?“
 

/Meinen einzig wahren Wunsch kannst du mir nicht erfüllen…/
 

„Japs. Ich habe Hunger, gehen wir weiter.“

„Da habe ich wahrlich nichts gegen, mein Magen knurrt schon so laut, dass ich dafür einen Waffenschein bräuchte.“

„Den bräuchtest du nicht nur dafür.“

„Was soll das denn schon wieder heißen?“

„…“

„Hey warte, du entkommst mir nicht!“

Joe rannte hinter Rick her und bekam ihn nach einigen Schritten zu fassen. Mit beiden Händen hielt er ihn an der Hüfte fest und zog ihn an sich.

„Du bist ganz schön frech.“

Erneut schlug Ricks Herz wild und er löste sich ungestüm aus der Berührung mit dem Größeren.

„Oh, ich verstehe. Du willst nicht, dass du mit mir so gesehen wirst. Schließlich könnte uns ein schöner Jüngling beobachten, der dir sonst durch die Lappen gehen würde.“

„Red keinen Stuss, ich habe einfach nur Hunger.“

„Ach ich vergaß: du wirst nicht nur unerträglich, wenn du keine Streicheleinheiten bekommst, sondern auch, wenn du nichts im Magen hast.“ Lächelnd trabte Joe hinter dem Dunkelhaarigen her, der all seine Konzentration darauf verwand, seinen Puls zu verlangsamen.
 

/Ständig kommt er mir nah und ich weiß in diesen Momenten nicht, wie ich noch umhin kann, ihn nicht zärtlich zu berühren… ich würde so gerne wissen, wie es ist, ihn zu küssen… verdammt, ich muss diese Gedanken loswerden, denn sie bringen mir nichts weiter als unerfüllte Sehnsucht!/
 

„Komm schon, hindurch mit dir.“ Rick hielt die Tür zum Restaurant geöffnet und gestikulierte wild. „Dass man auf dich immer warten muss.“

„Werde nicht schon wieder so frech. Ah guten Tag!“ Als eine hübsche Kellnerin in Joes Blickfeld auftauchte, vergaß er vollkommen, dass er Rick noch knuffen wollte.

Traurig sah Rick seinem Freund nach, wie er gierig hinter der jungen Dame herlief, um sich einen Tisch weisen zu lassen. Schlurfend folgte er den beiden und rang sich ein nettes ‚Danke’ ab, als die Rothaarige ihm eine Speisekarte reichte.

„Wissen Sie schon, was Sie trinken möchten?“

„Bringen Sie mir doch Ihren Lieblingsdrink“, antwortete Joe sofort mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. „Nein, bringen Sie mir bitte eine Cola.“

„Und Sie?“ Ihre dunklen Augen sahen fragend zu Rick, der ganz klein auf seinem Stuhl saß.

„Einen Lambrusco, bitte.“

Erstaunt sah Joe zu seinem Freund. „Seit wann trinkst du am helligten Tage Alkohol?“
 

/Damit ich meinen Frust darin ertränken kann…/
 

„Du hast doch gesagt, dass wir etwas zu feiern haben. Ist das nicht Anlass genug?“

„Oh, eigentlich keine schlechte Idee.“ Sofort winkte er nach der Kellnerin und schenkte ihr dabei sein charmantestes Lächeln.

Rick fühlte, wie sein Herz schmerzte, doch wollte Joe das Gefühl geben, er sei unbeschwert und glücklich. „Du und deine schlechten Flirtversuche. Kein Wunder, dass du keine feste Beziehung hast“, neckte er den Blonden.

„Hach ja.“ Joe stützte seinen Kopf auf seine Hände und blickte den Kleineren an. „Aber wenn es schon bei mir nicht klappt, dann eben bei dir. Langsam bin ich selbst ganz aufgeregt, wer sich so alles auf deine Annonce rührt.“

„Meinst du echt, dass sich darauf jemand meldet?“

„Natürlich. Einen so lieben Kerl wie dich lässt sich doch keiner entgehen. Außerdem solltest du endlich mehr Selbstbewusstsein in dieser Richtung haben. Da draußen gibt es so viele Männer und einer davon wartet nur auf d-i-c-h.“

„Kann schon sein.“

„Blas nicht so viel Trübsal, glaub mir, es werden sich sicher welche melden und es wird bestimmt jemand dabei sein, der dir sympathisch ist.“
 

/Der müsste dir schon wirklich sehr ähneln… Deine grünen Seen funkeln mich an, doch gilt ihr Glanz einzig und allein den Frauen…/
 

„Ich lass mich einfach überraschen.“

„Genau das solltest du auch. Denn man weiß nie, was passieren wird. Ach Rick?“

„Ja?“

„Weißt du vielleicht, seit wann die Rothaarige hier arbeitet?“ Verträumt schweifte Joes Blick hinüber zur Theke, vor der die junge Kellnerin gerade ihre Getränke auf ein Tablett stellte.

„Keine Ahnung, sie scheint dir wohl wirklich zu gefallen.“

„Hast du sie dir mal aus der Nähe betrachtet? Das ist ein Bild von einer Frau!“

Wehmütig schaute Rick sich die Kellnerin genauer an, als sie die Getränke brachte.

„Ja, sie ist ganz hübsch.“

„Och Rick,“ Joe konnte sich nicht verkneifen, seinem Gegenüber wie so oft durchs Haar zu wuscheln, „ich weiß ja, dass du die weiblichen Konturen nicht attraktiv findest, doch mir kannst du das Vergnügen lassen.“

„Lass ich dir ja.“ Wohlwollend griff er nach dem Weinglas und nahm einen großen Schluck. Erst wollte er das Glas abstellen, doch dann gönnte er sich noch einen weiteren Schluck daraus. Die Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete, empfand er ein wenig als Befreiung.

„Nicht so hastig, du verträgst nicht viel. Wenn du weiter so machst, dann muss ich dir das Glas abnehmen.“

„Das trau dich erst einmal.“

„Kein Problem.“ Joe schnappte sich das gläserne Gefäß und verleibte sich selbst den restlichen Wein ein.

„Na danke, und was trink ich jetzt?“

„Wir bestellen uns eine Flasche, was hältst du davon?“
 

/Ein rotes Meer, in dem ich ertrinken kann.../
 

„Viel.“

„Na also, wusste ich es doch, dass ich schon wieder eine Gelegenheit bekomme, die Schönheit zu rufen.“

Rick verdrehte die Augen und vertiefte sich in der Speisekarte, um nicht mit ansehen zu müssen, wie die beiden offensichtlich miteinander liebäugelten. Ihm war so schon schlecht genug, als dass er sich das noch in Großformat antun musste. Gekonnt hörte er weg und merkte erst, dass er angesprochen worden war, als er hart unterm Tisch getreten wurde.

‚Aua’ wollte er schreien, doch unterdrückte jedweden Schmerzensschrei, um seinen Freund nicht vor der Dame bloßzustellen.

„Hast du dich entschieden?“

„Äh ja. Nummer 24 bitte.“

„Sag mal, wo bist du denn hin entschwunden?“, fragte Joe, als die Kellnerin wieder gegangen war.

„Ich habe darüber nachgedacht, ob wohl in meinem Postfach schon eine Reaktion liegt.“
 

/Eine Notlüge ist besser, als dich mit der Wahrheit zu verschrecken./
 

„Wie süß, du wirst ja ganz rot.“

„Werde ich gar nicht.“

„Doch wohl.“

„Ne.“

„Doch.“

„Pah, stoßen wir lieber auf uns an!“

„Aber gerne doch!“ Als die Gläser klirrten, flüsterte Joe: „Und ob du rot wurdest.“

Kapitel 4

Kapitel 4:
 

Es war schon das dritte Glas Lambrusco, das sich Rick genüsslich zu Gemüte führte. Während sich Joe angeregt mit Julia, so hieß die Dame, unterhielt, kippte der Kleinere einen Schluck nach dem anderen hinunter.
 

/Warum hat diese Frau eigentlich nichts zu tun!? Drängt sich hier einfach mit an den Tisch… ach herrje, ich sollte froh sein, dass Joe glücklich ist… aber dieses Lachen von ihr macht mich noch wahnsinnig!/
 

’Ist denn alles so komisch, was mein Freund erzählt?’ Die Frage lag auf seiner Zunge und wollte unbedingt laut ausgesprochen werden, doch er biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe, so dass sie leicht zu bluten begann. Heimlich wischte Rick sich mit einer Serviette das rote Rinnsal weg, aber war sich dabei nur allzu gut bewusst, dass er dies gar nicht zu verstecken brauchte, da er von den anderen beiden sowieso nicht beachtet wurde. Zu tief waren ihre Blicke ineinander versunken, als dass sie registrieren konnten, wie genervt er war, und insbesondere, bereits angeheitert war. Zum wievielten Male auch immer setzte er das Weinglas an seinem Mund an und nippte gewiss nicht nur daran. Den süßlichen Geschmack nahm er eigentlich nicht mehr wahr, sondern trank nur noch rein aus Eifersucht.
 

/Wenn ich voll bin, dann nehme ich wenigstens nicht mehr bewusst wahr, was sich hier direkt vor meinen Augen abspielt…/
 

Eine halbe Stunde verging, in der Rick nur sporadisch ins Gespräch mit einbezogen wurde und er sich wie das fünfte Rad am Wagen vorkam. Noch offensichtlicher konnte er gar nicht fehl am Platze sein.

„I-ich wird nun ge-gehen“, hickste er und bekam plötzlich volle Aufmerksamkeit von seinen Tischgenossen geschenkt. Als er dazu noch aufstand und dabei mächtig ins Schwanken geriet, fuhr Joe sofort hoch und stützte seinen Freund, so dass er vor einem Sturz bewahrt wurde.

„Ich muss mich für meinen Freund entschuldigen“, begann Joe an Julia gewandt, verbarg aber, wie wütend er war. „Normalerweise kennt er seine Grenzen und lässt sich nicht unnötig voll laufen.“

Mit den Schultern zuckend sah er von Rick auf Julia und von Julia auf Rick.

„Besser, du bringst ihn nach Hause“, schlug die Kellnerin vor und stützte die andere Hälfte von Rick.

„N-nimm deine-“

„Rick möchte sich“, hakte der Größere schnell ein, „bei dir für dein Verständnis bedanken.“

„Das tue ich doch gern.“

Zu zweit bugsierten sie den Dunkelhaarigen zur Tür und frische Luft stob Rick ins Gesicht, als er sicher die Stufen hinabgeleitet worden war.

„Wie-wiedersehn.“ Halbherzig winkte er und wollte schon weitergehen, wurde aber von Joe unsanft festgehalten.

„Hey, w-was-“

„Still jetzt!“, fauchte Joe im ins Ohr, lächelte anschließend zu Julia, die noch oben an der Restauranttür stand. „Also bis morgen, ich freue mich schon!“

Das fröhlich erwiderte Lächeln war das Letzte, was Rick nun sehen wollte. In ihm breitete sich ein ungemütliches Unwohlsein aus, das ihm die pure Blässe ins Gesicht trieb.

„Du wirst dich nun nicht übergeben, ich warne dich!“

„K-kann d-d-doch dir egal sein.“

„Mir ist aber nicht egal, was du tust. Also komm her, du zitterst ja total.“

Er zog Rick an sich und glitt mit einer Hand durch sein dichtes Haar, entfernte ein paar Strähnen, die dem Kleineren in der Stirn hangen.

„Warum hast du dich betrunken? Ich dachte, du seiest glücklich.“

Kleine glitzernde Perlen rannen über Ricks Wangen, die silbrig im Schein des Mondes funkelten. Liebevoll wischte sie Joe beiseite und sah besorgt auf seinen Freund hinab.

„Ich bringe dich wohl doch besser gleich nach Hause.“
 

/Wo du mich dann allein zurücklässt…/
 

Auf dem Weg zu Ricks Wohnung lehnte sich der Dunkelhaarige die ganze Zeit über an Joes Schulter und genoss bei jedem Schritt seine Wärme, die nur allzu deutlich von ihm ausging. Mit halb geschlossenen Augen versuchte er, jedes noch so kleine Detail jenes Momentes festzuhalten und doppelt oder gar dreifach verstärkt in sich aufzunehmen. Tief im Herzen wollte er das Gefühl, dass Joe nur für ihn da war, behüten. Während er wie in Trance neben Joe herlief, besser gesagt von ihm angeschoben wurde, begann sich alles in ihm zu drehen. Als das Schwindelgefühl einmal eingesetzt hatte, glich es bald einer wilden Karussellfahrt. Der Himmel wurde zur Erde, die Erde zum Himmel. Immer und immer schneller kreisten die Bilder vor Ricks Augen.

„M-mir ist so schl-schlecht.“

„Und ich vermag grad nicht recht zu sagen, ob ich Mitleid haben soll oder nicht. Schließlich weißt du ja, dass du nicht viel verträgst.“

Trotz der Worte sah man Joe deutlich an, wie sehr er mit Rick mit litt. Er hatte es noch nie ertragen können, wenn es dem Kleineren nicht gut ging.

„Wir sind gleich da, bis dahin hältst du noch durch.“
 

/Deine Lippen sind so nah… ich will endlich wissen, wie sie sich anfühlen…/
 

Obwohl sich Rick immer noch im Taumel seines Zustandes befand, tastete er vorsichtig über Joes Brust hinweg nach dessen Wange und bettete letztendlich seine Hand auf sie. Langsam schmiegte er sein Gesicht in die Halsbeuge seines Freundes und…
 

Vor Schreck weiteten sich seine Pupillen und das Schwarz verdeckte mit einem Mal fast gänzlich das Meeresblau, das ihn sonst kennzeichnete. Ruckartig stieß er sich von Joe weg und stolperte dabei über seine eigenen Füße. Bevor er rücklings zu Boden fallen konnte, fühlte er erneut starke Arme um sich.

„Hoch mit dir“, ächzte Joe mit leicht gerötetem Teint.

„Ich w-wollte nicht-“

„Sshhh, schon gut.“
 

/Oh mein Gott, wie konnte ich nur!/
 

Schweigend brachte Joe Rick nach Hause, half ihm ins Bett und deckte ihn zu. „Schlaf gut“, verabschiedete er sich leise.

„D-danke“, erwiderte Rick noch, bevor er in die süßen Wogen des Schlafes entwich.
 

Gelbliches Licht fiel durch das große Fenster und ließ Rick blinzeln. Ehe er die Augen aufschlug, fuhr er sich mit einer Handfläche über die Stirn, die sich schmerzlich bemerkbar machte. Zögernd hob er die Lider an und brauchte eine Weile, um zu registrieren, wo er war. Beim Anblick der hellblauen Vorhänge und des daneben hängenden Leinwandbildes war ihm klar, dass er in seinem Bett lag. Nach und nach kamen die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück und mit jeder Sekunde wünschte er sich mehr, im Boden zu versinken. Verzweifelt wollte er die Bettdecke über den Kopf ziehen, doch sie hatte sich wohl irgendwo verhakt, weshalb er stattdessen weiter nach unten in seinem Bett rutschte. Mit einem Fuß stieß er auf was Hartes, das unter dem Hieb laut aufstöhnte.
 

/Was???/
 

Regungslos blieb Rick an Ort und Stelle liegen, wagte nicht mehr, auch nur den kleinsten Mucks von sich zu geben. Die Kopfschmerzen, die ihn plagten, verschlimmerten sich aufgrund dessen, dass er nun auch noch die Luft anhielt.
 

/Er ist hier!?... Verdammt, warum ist er nicht nach Hause gegangen? Ich kann ihm jetzt doch nicht unter die Augen treten…/
 

Fast eine Minute verstrich, in der Rick mit angehaltenem Atem stocksteif unter der Bettdecke verweilte. Als er aber allmählich zu ersticken drohte, schnappte er nach Luft und erschrak, dass er lauter war als nötig. Aus Reflex schlug er sich eine Hand vor den Mund, bekam dabei aber zu viel von der Decke zu fassen, die folglich unsanft unter Joes Kopf weggerissen wurde. Der Größere schnellte hoch und blicke angsterfüllt um sich. Als er das Knäuel vor sich betrachtete, wich die Angst unwillkürlich einem breiten Lächeln.

„Tock, tock.“

Mit den Fingerknöcheln seiner Rechten klopfte er leicht auf das Bündel aus Decke und Rick.
 

/Keiner da!/
 

„Hey Rick, komm schon raus.“

„…“

„Wie du möchtest. Dann mach ich uns Frühstück und warte in der Küche auf dich.“

Gähnend und sich streckend wandte sich Joe von seinem Freund ab und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen.

Allein zurück gelassen kauerte Rick in seinem Bett und spürte die Hitze, die in seinem Körper wallte. Wenn er daran dachte, dass er vor ein paar Stunden im Begriff gewesen war, seinen besten Freund anzumachen, stellten sich seine Nackenhärchen auf und sein Blut strömte pochend durch die vielen Venen. Wie sollte er sich nun gegenüber Joe verhalten? Kleine, aber heftige Gewissensbisse nagten in seinem Verstand.
 

/Er stand immer hinter mir, egal, was ich tat… und ich? Ich missbrauche leichtfertig sein Vertrauen!/
 

Ein Gemisch aus Scham und Erregung übermannte den Dunkelhaarigen, als erneut die Szene der letzten Nacht vor seinem inneren Auge auftauchte, wie er beinahe die so lang ersehnten Lippen auf den Seinigen gefühlt hätte.
 

/Oh nein! Nicht das auch noch!/
 

Tastend fuhr sich Rick über den Körper und als er an die heiße Stelle zwischen seinen Beinen angelangt war, kniff er seine Augen fest zusammen. Sein Glied war völlig hart und ließ ihn aufseufzen. Ungestüm kickte er die Decke von sich und sah sich hilfesuchend im Zimmer um. Hoffnungslos fragte er sich, wie er seine Erektion schleunigst loswerden konnte. Denn wenn Joe diese nun auch noch sehen würde, würde er ihn sicherlich verprellen.

Salziges Wasser stieg in ihm auf, doch er wehrte sich partout gegen die Tränen, die ihn so oft in ein kindliches Licht rückten. Auf Zehenspitzen schlich er sich zur Tür, legte sein Ohr an das helle Holz und horchte angespannt. Das einzige, was er zu hören bekam, war das Klirren von Geschirr, was ihn aber vorerst ein wenig zur Ruhe kommen ließ. Jetzt oder nie, sagte er sich, und drückte die Klinke so lautlos wie möglich herunter. Durch einen kleinen Spalt lugte er in Richtung Bad, das für ihn seine Rettung bedeutete. Erst nachdem er sich dreimal vergewissert hatte, dass die Luft rein war, sprintete er zum Badezimmer und ließ sich kurz gegen die eilig abgeschlossene Türe sinken. Da sich aber sogleich wieder der seichte Schmerz zwischen seinen Beinen bemerkbar machte, streifte er seine Kleider vom Leib und stieg unter die Dusche. Warmes Wasser floss wohltuend über seine nackte Haut, durchflutete ihn mit einem Gefühl der Wonne. Erst langsam, dann zunehmend schneller ließ er seine Hand vor und zurück gleiten. Mit all seinen Sinnen war er bei Joe, jede noch so kleine Empfindung verwand er auf ihn. Während das Wasser stetig auf ihn herabprasselte, wog er sich lustvoll im Rausch der Gefühle.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon unter der Dusche stand, doch als er sich ergoss, fühlte er sich endlich erleichtert trotz des bevorstehenden Zusammentreffens mit seinem Freund. Ein wenig lethargisch drehte er den Hahn zu, trocknete sich ab und sah in den Spiegel. Große blaue Augen sagen ihm entgegen, trugen eine gewisse Sehnsucht in sich.
 

/Du wirst jetzt da raus gehen und so tun, als ob nichts passiert sei!/
 

Laut atmete er aus, wovon das spiegelnde Glas beschlug. Mit dem rechten Zeigefinger malte Rick ein Herz hinein und begann über sich selbst zu lachen.

„Heillos romantisch, das passt echt zu mir“, hauchte er seinem Porträt entgegen.

„Rick?“

Joes Stimme riss Rick aus seinen Gedanken.

„Der Tee wird kalt und ich glaube, du hast deine Nachwehen von gestern lange genug weggespült.“

„Äh… ich bin gleich da.“

Rick fasste sich ein Herz, besah sich ein letztes Mal im Spiegel und begab sich dann zu Joe in die Küche. Obwohl ein dicker Kloß in seinem Hals steckte, befand er, dass er irgendetwas sagen sollte.

„Warum bist du heute Nacht da geblieben?“

Wunderschöne grüne Augen blickten ihn fest an.

„Einfach so.“

„A-aber…“

„Rick, vergiss es einfach!“

Stirnrunzelnd saß Rick seinem Freund gegenüber, nestelte unkontrolliert in seiner Kleidung.

„Ich muss mich bei dir entschuldigen.“

Verlegen wandte er den Kopf, wich den aufmerksamen Blicken des anderen aus.

Da war sie wieder! – Die Hand, die durch seine Haare wuschelte.

„Schwamm drüber.“

„Wie?“

„Du hast mich schon richtig verstanden. Ich schreibe diesen Vorfall dem Alkohol zu, durch den du deine Hemmungen verlorst und dich wohl einfach nach Zärtlichkeiten sehntest. Sieh es doch mal so…“

Irritiert wartete Rick darauf, dass Joe fortfuhr.

„Ohne dich wären wir gestern nicht bei diesem kleinen Italiener gewesen und ich hätte diese bezaubernde junge Dame nicht kennengelernt.“
 

/Daher weht der Wind… das plötzliche Leuchten in deinen klaren Seen gilt nicht mir…/
 

„Wenn man das von der Seite betrachtet, bin ich dir sogar zu Dank verpflichtet.“

„Hat es dich echt so erwischt?“, entfuhr es dem Kleineren halblaut.

Joe räusperte sich. „Wollen wir mal nach Mails schauen?“

Kapitel 5

Kapitel 5:
 

Bevor Rick auch nur einen Bissen zu sich nehmen konnte, zerrte ihn Joe ins Nebenzimmer.

„Nun suchen wir dir auch jemanden!“, strahlte der Größere und überspielte damit seine eigene Verlegenheit.

„Du weichst mir aus.“

„Und du wirst mich ja wohl gut genug kennen.“

„Hm?“

„Denke doch mal nach!“
 

/Ich glaube, ich habe dich bisher erst einmal erlebt, wie du wegen einem Mädchen dermaßen unsicher wurdest… doch damals war ich mir meiner Gefühle für dich noch nicht im Klaren… Hast du dich tatsächlich Hals über Kopf in die Rothaarige verliebt?/
 

Traurig starrte Rick auf den Monitor, der bereits laut summte und das Hintergrundbild aufzeigte, das Joe vor einer Woche extra für ihn im Internet gesucht hatte. Der rauschende Wasserfall barg so viel Stärke in sich, die sich Rick für sich selbst wünschte.

Er hatte das Gefühl, eine Faust hätte ihm in den Bauch geboxt und dabei wichtige Organe zerstört. Aber insbesondere sein Herz stach, als ob sich tausend kleine Glassplitter hineinfraßen. Warum nur musste diese Welt so grausam sein? Da saß wahrhaftig die Liebe seines Lebens neben ihm und war dennoch so unerreichbar. Innerlich weinte Rick und schrie, doch nach außen hin verzog er keine Miene, stierte stumm auf das Wunder der Natur.

„Bist du bereit?“

„Für was?“

„Na für die Mails. Sag mal, wo verweilst du denn schon wieder?“

„Ach, ich hab´ nur festgestellt, dass du wieder dieses feurige Glänzen in dir trägst.“

Dieses Mal war Joe es, der irritiert um sich sah. „Tu ich?“

Rick nickte nur und widmete seine Aufmerksamkeit dem Computer, grämte sich unbemerkt ob seiner Bemerkung.

„Wie auch immer. Ruf lieber deine Mails ab anstatt mir solch abwegige Dinge zu unterstellen.“

Frech knuffte Joe dem Dunkelhaarigen in die Seite, was ein Lächeln auf seinem Gesicht hervorrief.

„Okay, dann mal los.“

Beide warteten gespannt, dass sich Outlook aktualisierte. Als sich die Seite neu aufgebaut hatte, leuchtete die Zahl ’1’ am Rand auf und im Hauptfeld war eine Textzeile dick schwarz unterlegt:
 

’Automatisch erstellte Antwort auf Ihre Anzeige.’
 

„Komm schon, klick drauf. Das muss dich noch nicht nervös werden lassen.“

Rick gehorchte und beide lasen, was nun vor ihnen stand. Plötzlich brach Joe in lautes Gelächter aus und schlug sich mit einer Hand an die Stirn.

„Ich bin so doof“, prustete er. „Das habe ich glatt vergessen.“

Allmählich stimmte auch der Kleinere ins Lachen ein, angesteckt von den fröhlichen Klängen seines Freundes.

„Da müssen wir wohl noch einen Tag warten“, begann Joe, nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten. „Tut mir leid, dass ich dir für heute schon so große Hoffnungen gemacht hatte, doch ich hab völlig verschwitzt, dass die Online-Zeitung nur zweimal in der Woche erscheint.“

„Kein Problem, das verpflichtet dich doch nicht zu einer Entschuldigung“, erwiderte Rick, freute sich, dass die Atmosphäre zwischen ihnen nicht mehr so unerträglich angespannt war. Erleichtert stellte er zudem fest, dass sein Herz keinem Nadelkissen mehr glich.
 

/Lachen ist eben doch die beste Medizin…/
 

Glücklich sah er auf seinen Freund, von dem er schlicht und einfach froh war, ihn zu haben. Ungemein stolz schätzte er sich, dass er ein Teil des Lebens eines so lieben und aufrichtigen Menschen sein durfte.

„Und was machen wir derweil?“

„Vielleicht sollten wir nach der ganzen Aufregung doch erst einmal genüsslich frühstücken.“

„Klingt verlockend.“
 

„Verrat mir mal was...“

Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck saß Rick da, während Joe fragend von seinem Brötchen aufsah.

„Warum erscheint eine Zeitung nur zweimal die Woche?“

Fast hätte Joe ein Stück Brötchen aus seinem Mund ausgespuckt, konnte sich aber gerade rechtzeitig zurückhalten. Aufgrund des unterdrückten Lachens fing er dafür an zu husten und er klopfte sich ein paar Mal auf den Brustkorb. Tränen des Gefühls zu ersticken und zugleich des Amüsements funkelten hinter seinen hellen Wimpern und verliehen seinen grünen Seen einen spiegelnden Schimmer.

„Du bist mir ja einer.“

„Lach mich nicht aus.“

„Tu ich ja gar nicht.“

„Warum sonst erstickst du mir hier halb beim Essen!?“

„Ach, ich hab mich nur verschluckt.“

„Ja klar.“

Joe schüttelte leicht mit dem Kopf. „Ich schwör, ich sage die Wahrheit.“

„Darum versteckst du gleich beide Hände hinterm Rücken.“

Kurz streckte der Größere in Richtung Rick seine Zunge raus und grinste ihn dann breit an.

„Die Frage war aber auch zum Brüllen.“

„Warum?“

Rick verschränkte die Arme und verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen.

„Du meinst sie wirklich ernst?“

„Natürlich! Hätte ich sie sonst gestellt?“

Verblüfft setzte Joe seine Ellbogen auf dem Tisch auf und bettete sein Kinn in seinen Händen. „Manchmal werde ich den Gedanken nicht los, dass du wie ein Kind bist, das noch dabei ist, die Wunder der Welt zu entdecken.“

„Bekomme ich heute noch eine Antwort?“

„Sei nicht gleich so gereizt, auch wenn das meine These unterstreicht. Also gut, erörtern wir das nun gemeinsam. Stellen wir uns doch zuerst die Frage, warum es diese Online-Zeitung überhaupt gibt.“

„Hältst du mich für bescheuert?“
 

/Jetzt dreht er am Rad!/
 

„Gewiss nicht. Und schau mich nicht so an, denn ich meine es ernst… Meiner Meinung nach soll diese Zeitung bezwecken, dass die Anonymität eines Einzelnen besser gewährleistet wird und sich so auch die Menschen trauen, eine Anzeige aufzugeben, die sonst viel zu scheu oder mutlos für so was sind… so wie du.“

„Das Nachwort hättest du dir sparen können, Blondschopf.“

„Sehe ich da Neid aus deinen Augen blitzen?“

„Auf was sollte ich denn neidisch sein?“

„Natürlich auf meine Intelligenz.“

„Und wer ist jetzt das Kind von uns beiden?“

„Immer noch du.“

Mit einem Finger zeigte Joe auf Rick, der den Mund aufklappte, doch zu keiner Erwiderung kam.

„Denn du lässt doch von mir an der Nase herumführen.“

Rick sprang auf und stürzte sich auf seinen Freund, um ihm einen Satz heiße Ohren zu verpassen. Im wilden Chaos schlangen sich Arme und Beine umeinander, bis beide unsanft auf dem Boden landeten.
 

/Ich höre dein Herz schlagen… mir wird ganz schwindlig… dieser herrliche Duft, der aus all deinen Poren gleichzeitig zu strömen scheint…/
 

Joe stützte sich mit den Händen am Boden ab und stemmte sich ein Stück nach oben, um dem darunter liegenden Rick Raum zum Atmen zu gewähren. Indes trafen sich ihre Blicke.

Mehrere Sekunden lang verharrten sie so, ohne irgendwelche Worte oder sonstige geräuschvolle Verständigungen. Die Luft schien zu vibrieren und Rick versank in den hellen Tiefen, die sich ihm unablässig und ohne jede Gegenwehr darboten. Immer weiter schwamm er in die grünen Seen hinab, verlor sich alsbald in den Wellen, die ihn umgaben und vor lauernden Gefahren geborgen hielten. Umhüllt von Wogen heißen Begehrens ließ er sich treiben. Genau in dem Augenblick, in dem sich ein sinnliches Lächeln auf seinen Lippen bilden wollte, entschwanden die grünen Seen und ließen ihn allein und unbeschützt zurück.
 

Oh Lichtlein im samt´nen grünen Bette

werd´ endlich deines Leuchtens gewahr!
 

„Es wird Zeit für mich zu gehen“, waren Joes erste Worte, nachdem er sich aufgerichtet und dabei Rick zurück auf die Füße gezogen hatte.

„Mach was schönes heute und vergeude die wertvollen Stunden nicht damit, untätig vor dem Computer zu sitzen und auf etwaige Mails zu warten.“

Benommen stand Rick in der Küche und sah Joe zu, wie er seine Sachen packte und zur Tür lief.

„Ich werde Julia lieb von dir grüßen.“

Es klickte.

Er war gegangen.

Hatte Rick tatsächlich einfach stehen lassen.
 

/Verdammt! Halluziniere ich oder ist das eben wirklich passiert?... Meine zitternden Knie wären eigentlich Beweis genug, doch… ist es vielleicht doch nur ein Traum?/
 

Rick zwickte sich sanft mit zwei Fingern in den Arm. Tat es noch mal und noch einmal. Dann trat er, so fest er konnte, gegen den Küchenschrank.

„Auaaaa!“

Verwirrt ließ er sich am Schrank hinabgleiten und fühlte erneut den kalten Boden unter sich. Zärtlich strich er mit einer Handfläche über die weißen Fließen und seine Nervenenden leiteten unbeschreibliche Empfindungen weiter. Er vermochte nicht zu sagen, was das war, was eben vorgefallen war, doch allmählich kristallisierte sich ein Gedanke in dem Dunst seines derzeitigen Wahrnehmungsvermögens heraus, der ihn nicht mehr loslassen wollte.

Rick zog die Augenbrauen nach oben, schüttelte aber dann bestimmt den Kopf.
 

/Niemals wird er so empfinden wie ich, sieh es doch endlich ein!/
 

„A-Aber…“
 

/Nichts aber!/
 

„Er hat doch…“
 

/Alles Einbildung!/
 

„… meinen Blick ebenso…“
 

/Wach endlich auf!/
 

„… erwidert.“
 

/Sei kein Narr! Siehst du ihn etwa hier noch irgendwo?/
 

„…“
 

Kleine Perlen flossen langsam an Ricks Wangen hinab und sammelten sich als dunkle Flecke auf seiner Kleidung. Regentropfen prasselten leise an die Fensterscheibe, waren Zeugnis des schon für den Vortag angekündigten Wetterumschwungs. Die sonstige Stille im Raum wurde nur von dem fast unhörbaren Schluchzen durchbrochen, das sich gänzlich in die traurige Sinfonie des Regens einfügte.
 

/Monate, sogar fast zwei Jahre habe ich mit meiner Zuneigung leben können und warum trifft es mich nun so hart?/
 

Das war eine Frage, die sich Rick nicht beantworten konnte. Dass Joe der wichtigste Mensch für ihn war, sein bester Freund, sein einzig wahrer Zuhörer, belastete die Situation enorm. Mit wem sollte er denn reden, wenn nicht mit Joe? Es gab doch sonst niemanden, der ihn verstand. Seit seinem Outing hatte sich so vieles verändert. Was ihm von seinem vorherigen Leben geblieben war, war Joe… der Grund, weshalb er nun auf dem Küchenboden saß und weinte. Dabei wollte er doch nicht wegen der Person weinen, die für ihn so lebensnotwendig war. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Lagen Liebe und Trauer denn wirklich so nah beieinander?

Eigentlich hätte Rick das schon längst bejahen können, doch Joe verkörperte für ihn immer das Licht, das Schatten über die Vergangenheit legte und so in weite Vergessenheit rückte. Aber nun flackerte dieses Licht und gab preis, was tief in Ricks Innerem verborgen lag. Das Geheimnis einer sehr leicht verletzlichen Seele, eines von den Eltern im Stich gelassenen Kindes war nun kein Geheimnis mehr. Das, was Rick in akribischer Kleinarbeit unter Joes schützender Hand in Koffern gepackt und in der hintersten Ecke seines Gedächtnisses verstaut hatte, bohrte sich unablässig einen Weg in die Gegenwart und konnte nur schwerlich aufgehalten werden. Unschöne Bilder erschienen vor Ricks meerblauen Augen und waren Anlass genug, den Tränen keinen Einhalt gebieten zu können.

Rick kämpfte. Kämpfte gegen die schrecklichen Erinnerungen an, die er bewusst für immer hinter sich hatte lassen wollen. Nie wieder hatten sie in Erscheinung treten sollen und auch jetzt war keine Gelegenheit dafür.
 

Oh Lichtlein im lieblichen Scheine,

entsage niemals deiner wahren Kraft.
 

Während Rick gegen die Vergangenheit anfocht, realisierte er einen möglichen Grund, warum er in dieser misslichen Lage war. Der Umstand, dass Joe ihn an einen Mann bringen wollte und dabei selbst ein Date hatte, war zu viel des Guten. Zwar hatte er den drängenden Bitten seines Freundes nachgegeben und diese überflüssige Aktion mit der Annonce mitgemacht, aber dass Joe nun mit der Kellnerin unterwegs war, verkraftete er nicht.

Mit der Faust schlug Rick auf den Boden und wischte sich mit der anderen Hand die Tränen weg.
 

/Wenn ich mich gehen lasse, dann gewinne ich ihn für mich auch nicht! Steh auf Rick und werde endlich erwachsen. Sei ein Mann, auf den Männer nicht verzichten können und der das Herz anderer spielend für sich gewinnt!/

Kapitel 6

Kapitel 6
 

Ein entschlossenes Funkeln mischte sich unter die restlichen Tränen in Ricks Augen. Wenn er schon so nichts erreichte, dann musste dies eben mit anderen Mitteln gehen. Und diese anderen Mittel formten sich in seinem Verstand zu einem Plan, der baldmöglichst in die Tat umgesetzt werden sollte. Denn lange würde der Dunkelhaarige eine unerwiderte Liebe nicht mehr ertragen können und deshalb muss dem unbedingt entgegengewirkt werden. In der Vergangenheit hatte er sich einfach zu sehr an Joe geklammert und ihn damit eventuell erdrückt; und das musste schleunigst aufhören!
 

/Wenn ich ihn zu sehr umklammere, dann geht er einen Schritt nach dem anderen zurück…/
 

Und das war das Letzte, was Rick wollte! Den besten Freund verlieren? Oder gar die große Liebe? Nein! Nie und nimmer! Fest entschlossen richtete er sich auf, er hatte lange genug da gelegen und geheult. Er war alt genug, um für sein Ziel alles Erdenkliche zu tun und dabei nicht bei einer Niederlage einfach aufzugeben. Sein ganzer Körper straffte sich, selbst bis ins kleinste Detail drang Spannung. Erhaben ging er ins Bad, wusch sich das Gesicht, entledigte sich des Zeugnisses von Verzweiflung und Schwäche. Er schenkte sich selbst ein freundliches Lächeln, als er in den Spiegel blickte.
 

/So gefällst du mir wieder./
 

Rick verweilte keine unnötige Zeit mehr zuhause und machte sich sogleich auf den Weg in die Innenstadt.
 

/Du hast mir gesagt, ich solle nicht untätig daheim herumsitzen, und sieh her, das tue ich auch nicht! Vergnüg´ dich ruhig mit Julia, genieß es ein letztes Mal!/
 

Erheitert lief Rick durch die Straßen und konnte nicht umhin, in jedes Schaufenster zu schauen. Neben seiner Suche nach ’Mission 1’, wie er den ersten Teil seines Vorhabens getauft hatte, musste ja schließlich auch die Neugierde nach Neuem befriedigt werden. Modische Lampen, kuriose Kunstgegenstände und seltsam gebogene Gläser erhaschten seine Blicke, wurden aber nicht weiter mit Interesse bekundet. Flüchtig schnappte er ein Gespräch von zwei Mädchen auf, die sich über irgend so eine Boyband mit Feuereifer austauschten, und rollte die Augen. Er dachte kurz an die Musik, die stimmenmäßig nichts zu bieten hatte, und schüttelte sich innerlich. Dann war er lieber der Typ, der Musicals über alles liebte, insbesondere deren Imposanz und Stimmengewalt. Notgedrungen musste er an seinen ersten und bisher leider einzigen Musicalbesuch denken und bekam eine wohlige Gänsehaut, in der er sich nur zu gern wog. Er schwelgte noch eine ganze Weile in dieser schönen Erinnerung und bekam dabei nicht mit, dass er einen in die Jahre gekommenen Herrn anrempelte. Als er Schmerzen in seinem Bein vernahm, kehrte er zurück in die Realität und entschuldigte sich höflich.

„Kann ich Ihnen als Entschädigung vielleicht behilflich sein?“

„Sie sind zu gütig, doch ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie die Tasche hier“, er deutete auf die größte Einkaufstüte, die Rick in seinem bisherigen Leben zu sehen bekommen hatte, „zu mir nach Hause bringen könnten.“

Rick sah auf den von weißen Haar und gekrümmten Rücken gekennzeichneten Mann, der sich sicherlich mit so einem Gewicht schwer tun musste.

„Das mache ich doch gerne.“

Den Beutel hochhebend vernahm er das glückliche Lächeln seines Gegenübers, was sein Herz hüpfen ließ. So lange er zurückdenken konnte, war er immer darauf bedacht gewesen, älteren Menschen freundlich gegenüberzustehen und ihnen unter die Arme zu greifen, wann immer es die Situation ergab. Eigentlich war es grotesk, dass er mit alten Leuten viel besser auskam als mit Gleichaltrigen, Joe ausgenommen, doch er vermutete, dass es einfach daran lag, dass sie unvoreingenommener und leichter handhabbar waren. Natürlich gab es Ausnahmen, doch Ricks Meinung nach war es immerhin eine große Mehrheit.

„Sie sind wirklich was Besonderes.“

Rick glaubte sich verhört zu haben. Hatte der Mann wirklich eben ’besonders’ in den Mund genommen?

„Ich verstehe nicht ganz.“

Der Mann lachte, aber es klang weder abwertend noch in anderer Weise verletzend. Es trug vielmehr viel Sympathie in sich.

„Heutzutage denken die Menschen nur noch an sich. Hektisch rennen sie durch die Straßen und haben kein freundliches Wort mehr übrig. Doch Ihre Geste zeigt mir, dass ich die Hoffnung in die Menschheit noch nicht aufgeben darf. Wissen Sie, ich bin alt und mach es nicht mehr lange-“

„Aber nicht doch!“, warf Rick ein, wurde aber nicht erhört.

„Aber zu sehen, dass es noch jemanden wie Sie gibt, erfüllt mich mit Freuden.“

Rick schluckte. Er wollte einen Einwand nach dem anderem einwerfen, kein einziges Wort jedoch drang über seine Lippen. Sein Mund bewegte sich stumm.

„Sehen Sie, genau das meine ich.“
 

/???/
 

„Andere hätten sich nun gebrüstet und wären vor falschem Stolz geplatzt, doch Sie zweifeln an meinen Worten, was Sie aber gewiss nicht nötig haben.“

Fassungslos schleifte sich Rick, von der Schwere der Tasche ein wenig ermüdet, hinter dem Herrn her.

„Sie können ruhig mehr von sich halten. Scheuen Sie sich nicht vor sich selbst und haben Sie Vertrauen in sich…“
 

Konnte dieser Mann tatsächlich in Rick hineinsehen? Wie war es möglich, dass er exakt das ansprach, was Rick immer versuchen wollte, aber den großen Sprung nie ernsthaft gewagt hatte? In seinem Innern rührte sich etwas. Er empfand sehr viel Sympathie für den Fremden, der ihm aber auf keinste Weise fremd vorkam. Der Herr hatte etwas an sich, das Rick schmerzlich vermisst hatte.
 

„… haben Sie nur Mut, dann wird sich Ihr Leben von allein in die richtigen Bahnen lenken. Nur wenn Sie sich selbst lieben, können Sie geliebt werden. Wir sind gleich da, da vorne das Eckhaus. Ist es nicht wunderschön?“

Zustimmend nickte Rick ohnmächtig alles anderem. Sein Herz schlug und er wollte nicht, dass er diesem Mann schon Lebewohl sagen musste.

„Meine Frau hat es entworfen, die ich schon bald wiedersehen werde. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Umstände.“

„G-gern geschehen.“

„Stellen Sie die Tasche ruhig hier ab, den Rest schaffe ich schon. Nun gehen Sie schon wieder Ihrem Weg nach.“

Der Mann ließ das Gartentürchen hinter sich zuschnappen und wandte Rick den Rücken zu.

„Darf… ich Sie noch was fragen?“

Unerwidert lief der Mann Rick weiter.

„Woher-“

„Erfahrung, mein Junge, Erfahrung“, seufzte der andere, ließ Rick die Frage gar nicht erst zuende stellen.
 

Es dauerte nicht lange, da war der Ältere im Haus verschwunden, das Rick gedankenverloren anstarrte.

„Dankeschön“, hauchte er in die feuchte Luft und trug ein sanftes Lächeln auf den Lippen.

Das Gefühl, das der Mann ihm vermittelt hatte, breitete sich wohlig in seinem Körper aus, erreichte nach und nach jeden Zentimeter seines Seins.
 

/Väterliche Worte sind unersetzlich und sie waren für mich seit langem gestorben… heute wurden sie mir zurückgebracht…/
 

Beflügelt schwebte Rick zurück in die Innenstadt, trug so viel Ausstrahlung in sich wie selten zuvor. Viele Leute drehten sich nach ihm, sahen ihm nach und oder nickten ihm unbemerkt zu.
 

/Da ist es ja!/
 

Vor einem kleinen Laden kam er zum stehen, in dessen Schaufenster zwei Puppen in modischer Kleidung standen. Die eine trug einen langen braunen Mantel, der Rick sofort gefiel, sich dafür aber nicht als der Richtige empfand. Die andere war mit einem engen schwarzen Hemd bestückt, dazu ausgewaschene Jeans, die ab den Knien ein wenig ausgestellt war. Das Outfit wurde von Rick lange in Augenschein genommen, bevor er den Laden betrat. Als die Glocke über seinem Kopf bimmelte, kam ihm direkt eine kleine Frau entgegen, die er auf Mitte fünfzig schätzte. Sie rückte sich die Brille auf der Nase zurecht und sah auf zu ihrem neuen Kunden.

„Nur herein, nur herein!“ Ein wenig nach Ricks Geschmack zu hibbelig winkte sie ihn hinein und bekam dabei seinen Arm zu fassen, an dem sie ihn vorwärts zog. „Ich freue mich, Sie hier herzlich begrüßen zu dürfen.“

„Hallo“, erwiderte Rick höflich, doch etwas pikiert von dem Überfall.

„Wie kann ich Ihnen dienen? Ohh, das hier würde Ihnen mit Sicherheit stehen.“

Sie hielt ihm ein knallorangenes Hemd hin, das er mit viel Skepsis anblickte.

„Die Farbe mag vielleicht ein wenig gewöhnungsbedürftig sein, aber sie unterstreicht das Meeresblau Ihrer Augen. Sie haben aber auch so schöne große blaue Augen, hach, einfach bewundernswert.“

Verzückt tätschelte sie seine Wange, musste sich dazu auf Zehenspitzen stellen, indes sich Rick fragte, was er hier eigentlich zu suchen hatte.

„Ähm, entschuldigen Sie, dürfte ich mich ein wenig umsehen?“

Konnte er etwa Kränkung in ihren Augen aufglimmen sehen?

„Natürlich.“

Als sich die Verkäuferin einige Schritte entfernt hatte, atmete Rick erleichtert auf und begann damit, sich im Kreis zu drehen, um den idealen Ort für den Startpunkt seiner Suche auszumachen. Die Kleidung im Schaufenster hatte ihm wirklich sehr gefallen, aber seine unerklärliche Abneigung gegen zu figurbetonte Oberteile hinderte ihn am Anprobieren. Stattdessen lief er um die ganzen Ständer herum, warf nur flüchtige Blicke auf Hosen, Hemden und Jacken.
 

/Was ist nur los mit mir? Ich bin doch extra her gekommen, da kann ich doch nicht mit leeren Händen gehen./
 

Er fuhr sich durchs Haar und seufzte tief. Es war wohl doch nicht so leicht, Neues auszuprobieren.

„Das kann ich gar nicht mit ansehen“, meldete sich eine ihm seit Kurzem vertraute Stimme. „Ich habe bestimmt mit Recht den Anschein, dass sie Hilfe benötigen, daher schlage ich Ihnen vor, Sie probieren einfach mal ein paar Sachen an.“

Während die dunkelhaarige Frau Rick in Richtung Kabine bugsierte, entnahm sie den Ständern hier und da Kleidungsstücke und drückte sie dem jungen Mann in die Hand, als er total perplex in einer der wenigen Umkleiden stand. Vor seiner Nase wurde ein roter Vorhang zugezogen, der an der Seite noch fein säuberlich zurechtgezupft wurde.
 

/Ohweh, wo bin ich da nur hineingeraten? Aber wenn ich schon mal den Plan gefasst habe…!/
 

Die Sachen in seinen Armen begutachtete er mit Sorgfalt und begann dann zu lächeln.
 

/Also, dann mal los!/
 

Die nächste halbe Stunde brachte er damit zu, sich immer und immer wieder umzuziehen, vor den Vorhang zu treten und die Kritik der Verkäuferin entgegenzunehmen, die meist aber sehr skeptisch dreinschaute. Schlichte, glänzende, aufwendig verzierte oder gar ganz ausgefallene Gewänder wurden ihm nacheinander in die Hand gedrückt, die er mit immer größer werdender Neugier und Freude anprobierte. Bei jedem neuen Outfit trat er mit mehr Selbstbewusstsein vor die Frau, drehte sich freiwillig vor ihr im Kreis, sah sich selbst dabei im Spiegel an und bemerkte seinen zufriedenen Gesichtsausdruck.

„Mhh, so ganz gefällt mir das immer noch nicht.“

„Habe ich nicht bald den ganzen Laden durchprobiert?“, grinste Rick.

„Jetzt hab ich´s! Ich bin gleich wieder da.“

Auf dem Absatz drehte sie sich um und lief eilig durch eine weiße Tür, auf der in kleinen schwarzen Lettern ’Privat’ stand. Nach nicht einmal drei Minuten kehrte sie mit einem großen Karton auf den Armen zurück und stellte ihn behutsam vor Ricks Füßen auf dem Boden ab.

„Dass ich da nicht früher dran gedacht habe“, murmelte sie unverständlich vor sich hin. Behände entnahm sie seidenen dunkelblauen Stoff, der das Licht der Halogenlampen warm reflektierte. „Eine Maßanfertigung, wissen Sie, wurde nie abgeholt, müsste Ihnen aber ungefähr passen.“

Stolz überreichte sie Rick das Hemd und dazu eine schwarze jeansstoffartige Hose, die aber viel feiner und leichter war als eine Jeans.

Bereitwillig zog sich Rick ein weiteres Mal um. Nachdem er alle Knöpfe bis auf die oberen zwei des seidenen Hemdes geschlossen hatte, blickte er auf, direkt in den hohen Spiegel seiner Kabine, wobei ihm fast das Herz stehen blieb. Seine Augen schweiften von Kopf bis Fuß.
 

/Bin das wirklich ich? Diese Eleganz…/
 

„Habe ich die Maße wohl doch falsch geschätzt?“
 

Mit angehaltenem Atem zog Rick den Vorhang zur Seite.

„Man könnte meinen, Sie entflohen gerade dem Adel.“

Sichtlich begeistert lief die Dame um Rick herum, konnte die Hände nicht von solch Edel lassen.

„Passt wie angegossen. Schön, dann haben wir wohl endlich gefunden, was Ihr Ich perfekt zur Geltung bringt. Ja, ich bin damit sehr zufrieden.“
 

/Die Nervosität macht mich ganz verrückt, ich hoffe, dass sich meine SMS dringend genug angehört hat und Joe bald kommt… ob er mal an heute Vormittag gedacht hat?.../
 

Unruhig lief Rick in seiner Wohnung auf und ab. Überprüfende Blicke in das spiegelnde Wohnzimmerfenster waren dabei keine Seltenheit.
 

/Ich habe gewiss nicht vergessen, wie du mich angesehen hast… deine grünen Seen waren einfach zum Ertrinken schön… ich möchte noch viele Male in ihnen zergehen… Wo bleibst du nur?/
 

Die Minuten zogen sich qualvoll dahin. Der Zeiger seiner Uhr sträubte sich vehement dagegen, weiterzuspringen, was Rick kleine Schweißperlen auf die Stirn trieb. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass es klingelte, doch das geschah nicht.
 

/Grrr… Ist dir diese Julia so viel wichtiger als ich?... Falls ja, dann nicht mehr lange… wenn mein Plan aufgeht, dann wirst du in MEINEN Armen liegen… dann wirst du MICH küssen…/
 

Ein leichter Rotschimmer überdeckte Ricks Gesicht und er blickte sehnsüchtig hinaus auf die Straße, in stiller Hoffnung, Joe könnte endlich angefahren kommen. Seine Pupillen wanderten umher und suchten verzweifelt den Asphalt ab, auf dem aber weit und breit nichts von seinem besten Freund zu sehen war. Der plötzliche Gedanke, dass Joe auf dem Weg zu ihm etwas passiert sein könnte, entsetzte ihn und rief Schuldgefühle wach. Gelbliche Blätter zogen an ihm vorüber, die vom auffrischenden Wind in die weite Ferne getragen wurden. Ängstlich folgten ihnen Ricks Blicke und er biss sich auf die Unterlippe.
 

/Bitte, lass dir wohlauf sein, das könnte ich mir sonst nie verzeihen… Warum konnte ich nur nicht bis morgen warten!?/
 

Die Frage bedarf keiner Antwort. Natürlich wollte er Joe sehen, ihn um sich haben. Insbesondere aber wollte er wissen, ob seine Bemühungen fruchten würden.

Rick hielt es vor Spannung kaum noch aus und schaltete die Stereoanlage ein. Vertraute Klänge umspielten sein Herz und besänftigten ihn größtenteils. Laut ausatmend sank er auf einen Stuhl und horchte der tiefen Stimme, die von der Ohnmacht sang, dem eigenen Schatten zu entfliehen und alles hinter sich zu lassen. Zu allem Überfluss mischte sich Lethargie in Ricks Gefühlszustand, aus der er aber jäh gerissen wurde. Das laute ’Dingdong’ ließ ihn aufspringen und unkoordiniert durch das Zimmer rennen. Vergeblich versuchte er seinen Atmen abzuflachen und öffnete die Tür. Als er Joes Gesicht sah, vergaß er für einen Moment alles und jedwede Zweifel wurden nichtig.

„Hi Rick, du bist ja ganz außer Atem.“

Joes Miene war von so viel Ausgelassenheit und Glanz geprägt, dass sich Ricks Magen zuschnürte.
 

/Er hat den Tag mit ihr wohl mehr genossen, als ich anzunehmen wagte./
 

„Danke, dass du gekommen bist“, würgte der Kleinere hervor.

„Deine Nachricht klang sehr ernst, was ist denn los?“

„Also… ich möchte mich bei dir bedanken.“

„Ja?“

Verwundert betrat Joe die Küche und setzte sich.

„Verrätst du mir auch wofür?“

„Dafür, dass du mich zu dieser Zeitungsannonce überredet hast.“

Bemüht um eine klare, feste Stimme fuhr Rick fort: „Ich kann es kaum erwarten, dass sie morgen früh freigeschalten wird. Ja und darum wollte ich mich hiermit bei dir revanchieren.“

Er zog eine Tüte unterm Tisch hervor und stellte sie vor seinem Freund ab.

„Für mich?“

„Siehst du hier sonst noch jemanden?“

Überrascht griff Joe hinein und zog einen braunen Mantel heraus, genau der, den Rick im Schaufenster gesehen hatte.

„Wow, der sieht echt toll aus!“

Geschwind schlüpfte Joe in den schweren Stoff.
 

/Du hast keine Ahnung, wie attraktiv du darin aussiehst…/
 

„Na, wie steht der mir?“

„Gut“, antwortete Rick grinsend, aber seine wahre Faszination verbergend.

„Danke dir, Rick. Das macht meinen Tag wirklich perfekt.“
 

/Ob du heute Morgen einschließt!?/
 

„Julia ist toll. Sie ist witzig, charmant und sehr hübsch. Vor allem ihre Unkompliziertheit imponiert mir.“

Das tat weh. In Rick arbeitete es gewaltig, doch er ließ sich nichts anmerken.

„Das freut mich für dich.“

Sein unbeschwertestes Lächeln versuchte er aufzusetzen, was ihm zu gelingen schien, denn Joe nahm seine Worte ernst.

„Du bist ein wahrer Freund.“

„Joe, du tust so viel für mich und darum gönne ich dir dein Glück“
 

/…aber nicht mit dieser Frau…/
 

„von Herzen.“

Wie so oft fühlte er Joes Finger durch sein Haar wuscheln.

„Du bist wirklich niedlich.“
 

/Niedlich???/
 

Rick glaubte felsenfest, dass Joe das nicht gesagt hatte. Dieses Wort hatte er doch noch nie in den Mund genommen. Was war denn jetzt kaputt? Was veranlasste ihn zu solch einer Wortwahl?

Völlig irritiert sah er seinen Freund an, der den Blick nicht erwiderte. Nun war Rick total zerstreut. Er verstand einfach nicht, was da schon wieder vor sich ging. Dieses Gefühl war dem vom Morgen sehr ähnlich, aber es absurd! Einfach absurd.

„Ach, ich soll dich übrigens lieb von Julia grüßen und von ihr ausrichten, dass sie sich freuen würde, wenn wir mal wieder zusammen bei ihr im Restaurant auftauchen würden.“
 

/Habe ich mich schon wieder getäuscht? Aber die Atmosphäre war so seltsam, dass…/
 

„Dankeschön. Das heißt, ich hab es bei ihr nicht vermasselt?“

„Nö, warum denn?“

„Naja, du weißt schon.“

„…“

„Wegen meinem kleinen Ausfall letzte Nacht.“

„Mache dir da mal keine Sorgen, das hat sie mit Humor genommen. Ich sagte doch, sie ist umkompliziert.“
 

/Und du bist die ganze Zeit bei mir am Bett geblieben, was mich immer noch beschäftigt…/
 

„Scheint tatsächlich nett zu sein.“

„Nett ist wahrlich eine Untertreibung!“

„Kann schon sein, aber es ist spät und ich werfe dich nun raus.“

Mit einem Augenzwinkern stand Rick auf und machte Joe deutlich, dass er es dennoch ernst meinte.

Als sie an der Haustür standen, setzte Joe an:

„Da morgen die Zeitung erscheint, lad ich mich bei dir zum Mittagessen ein. Also, ich wünsche dir eine gute Nacht, bis in ein paar Stunden. Und danke!“

„Tschüs, bis dann.“
 

Rick ging nicht gleich ins Bett, denn an schlafen konnte er nicht denken. Zu viel Unerklärliches war geschehen, worüber er nachdenken musste.
 

Oh Lichtlein umhüllt von reinster Seele,

sei gülden auf ewig mein.

Kapitel 7

Kapitel 7
 

/Ihm zu sagen, ich würde mich bezüglich der Annonce freuen, war verflucht schwierig… er hat mir das tatsächlich abgekauft… aber ich kann ihm deshalb nicht böse sein, denn ICH bin derjenige, der ihm seit Jahren was vorspielt… Warum müssen einen Gefühle dermaßen verletzen!?/
 

Ein Blick auf die Uhr genügte, um Rick nicht aus seiner Lethargie bewegen zu können. Die Nacht über war er mehrmals aufgewacht, hatte sich bei jedem einzigen Mal vergewissern müssen, dass Joe nicht doch vielleicht am Ende seines Bettes ruhte. Bei jedem verdammten Male hatte er still in sich hinein gelächelt in Spott seiner selbst. Er war sich einfach so dumm und naiv vorgekommen zu glauben, der Mann, für den sein Herz schlug, läge bei ihm. Wäre extra für ihn zurückgekehrt und…
 

/… hätte wie ein Schutzengel über mich gewacht… so wie gestern… Warum kann das nicht immer so sein? Warum ist mir solch ein Glück nicht gegönnt?... Stattdessen darf ich mich hiermit quälen…/
 

Mit seinem rechten Zeigefinger stupste Rick die Computermaus an, deren Zeiger auf dem Button ’Outlook’ gelegen hatte. Seit geraumer Zeit saß er vor seinem Rechner und konnte sich nicht überwinden, nach Mails zu schauen. Natürlich hatte er Joe weisgemacht, er sei Feuer und Flamme diesbezüglich, doch ein einziger Blick in sein Herz bewies das pure Gegenteil.
 

/Kannst du mir bitte mal verraten, warum du mich ’niedlich’ nanntest?... Wenn ich nur an deinen Gesichtsausdruck dabei denke, der so unendlich warmherzig war, überkommt mich ein wohliger Schauer, der zugleich völlig unangenehm ist… Diese Zwiespältigkeit zerreißt mich…/
 

Lustlos suchte sich Rick ein Spiel auf dem Computer aus, schob ohne jedwede Konzentration Karten hin und her und seufzte laut auf, als ein dickes Minus auf dem unteren Rand des Bildschirms prangte. In seinem Zustand konnte man selbstverständlicherweise kein Spiel gewinnen, denn dazu dürften die Blicke nicht alle zwei Sekunden in die Ferne schweifen.
 

/Nicht einmal so einfache Dinge wie Solitär wollen mir mehr gelingen… ein Wort… ein einziges Wort hat mich derart durcheinander gebracht… umso mehr ich daran denke, umso absurder kommt es mir vor… solche Attribute waren dir immer fremd… Was hat dich nur dazu bewogen?/
 

Es war vollkommen gleichgültig, mit was sich Rick abzulenken versuchte, nichts würde auch nur im Entferntesten nützen. Darum ließ er sich in seinem Stuhl zurücksinken und das Meeresblau hinter seinen Lidern verbergen.

Die Uhr an der Wand tickte. Jedes Ticken klang in seinen Ohren wie ein Hammer, der auf harten Stahl geschlagen wurde, dessen Echo schwer im Kopf nachhallte.

Er würde so vieles über sich ergehen lassen, wenn doch nur einer begreifen würde, was er brauchte. Dieser eine war dabei kein beliebiger, nein, gewiss nicht. Doch wie sollte er Gefühle bei jemandem hervorrufen, der das andere Geschlecht liebt? - Es war einfach aussichtslos.

Und doch… war da zum Beispiel dieses eine kleine Wörtchen…
 

/Ein Wort! – Was sagt das schon?/
 

… und die Situation auf dem Küchenboden…
 

/Ein Blick! – Was bedeutet der schon?/
 

… und der Fakt, dass er die halbe Nacht auf Ruck aufgepasst hatte.
 

/Eine Nacht! – Aus Liebe?/
 

Elf Glockenschläge drangen dumpf in Ricks Wohnung und fügten sich ins mitunter verhasste Ticken der Wanduhr ein.
 

/Ich bin ein hoffnungsloser Fall… tzzz und möchte dennoch nicht aufgeben. Keine Ahnung, woraus ich noch Kraft schöpfen soll,…/
 

’Haben Sie nur Mut, dann wird sich ihr Leben von allein in die

richtigen Bahnen lenken.’
 

/Wie gewinne ich Mut? Wo ich doch niemanden außer ihn habe…/
 

’Nur wenn Sie sich selbst lieben…’
 

/Mich?... Es ist wahr, ich habe noch mich… Bin ich denn mein Leben wirklich so leid… dass ich nicht einmal mehr aus mir heraus Kraft schöpfen kann…?/
 

Das Rauschen des Windes gesellte sich zu den hammerartigen Schlägen in Ricks Kopf. Seine Hände verkrallten sich mittlerweile in der schwarzen Jeans, deren Knöchel weiß schimmerten. Quälend strichen die Minuten dahin und vergaben seine Zweifel nicht.
 

/Vielleicht sollte ich… wirklich nach vorne sehen… ein weiteres Mal… vergessen, was geschah…/
 

Erneut vergessen. Erneut hinter sich lassen… Rick wusste nicht recht, ob er das konnte. Wenn Joe anwesend war, konnte er es. Zumindest in der Hinsicht, alles vor den letzten zwei Jahren ruhen zu lassen. Nur durch Joe hatte er sich der Vergangenheit entledigen können.

War er aber dazu in der Lage, etwas zu verdrängen, das einzig und allein mit Joe zu tun hatte?

Rick atmete schwer. Sein Brustkorb hob und senkte sich, verbarg das kleine Organ, das hart arbeitete. Die Spannung in seinem Körper brachte ihn zum erzittern.

War es möglich, schon wieder Lebewohl zu Erinnerungen zu sagen? Und insbesondere zu solchen, die nicht einmal im Entferntesten die Vergangenheit verkörperten?
 

Plötzlich sank Rick in sich zusammen, zog die Beine nah an seinen Oberkörper und umschlang sie mit seinen Armen. Halbherzig schlug er die Augen auf und sah durch einen nebligen Schleier zum Fenster hinaus.
 

/Ich muss!... Wenn ich mir den Hauch einer Chance erkämpfen möchte…/
 

Ein Funke neuer Hoffnung glimmte in seinen Augen und ließ ihn unbewusst in die Küche schreiten. Als er den Ofen vor sich sah, schüttelte er die träge Lethargie so gut es ging ab und begann ein kleines Mahl zuzubereiten.
 

Nur noch der Tisch gehörte gedeckt und Rick wuselte geschäftig hin und her, als es klingelte. Das Geräusch ließ ihn für einen Augenblick in allem innehalten, wovon ihm fast ein Topf heruntergefallen wäre; doch er verdrängte sogleich jedweden traurigen Gedanken wieder.

Lange ausatmend begab er sich zur Haustür und nahm mit einem Lächeln seinen Freund in Empfang, der postwendend an ihm vorbeistürmte.

„Mein Magen knurrt schon seit einer Stunde, aber ich wollte viel Hunger mitbringen, da ich weiß, wie köstlich du kochen kannst.“

„Woher willst du wissen, dass ich das habe?“

„Oh, da fühlt sich der Herr Koch gekränkt. Tschuldige.“

Joe fiel auf die Knie und nahm eine von Ricks Händen in seine.

„Seid gegrüßt, mein werter Magenfüller. Verzeiht mir, dass ich Euch so ungestüm überfallen habe.“

Lauthals begann Rick zu lachen. Joes Hundeblick sag aber auch zu göttlich aus.

„Erhebt Euch und gesellt Euch zu mir an den Tisch.“

„Mit dem reinsten Vergnügen.“

„Ach, da habe ich wohl eine Nichtigkeit vergessen zu erwähnen. Hofnarren sind fürs Decken verantwortlich.“

„Eyy, so was blödes.“

„Eure Worte geziemen sich nicht.“

„Deine schadenfrohe Miene aber auch nicht.“

„Ihr fallt in Ungnade. Wollt ihr etwa Hungern als Strafe in Kauf nehmen?“

Joe streckte die Zunge raus und seufzte ein ’Ich mach ja schon’ in sich hinein.

„So ist´s recht, werter Hofnarr.“

„Nun ist es wieder gut, ja?“

„Warum begleitet Euch so viel Unmut?“

„Ri-ick!“

Beseelt schmeckte der Kleinere die Tomatensoße ab, versah sie noch mit ein paar frischen Kräutern und stellte sie anschließend auf den Tisch.

„Aua!“

„Wartest du, bis die Nudeln gar sind?“

„Na gut, wenn es sein muss, aber-“

„Ja ja, dein Magen.“

„Stimmt genau“, grinste Joe.

„Typisch.“

„Ach Rick?“

Die unerwartet ernste Tonlage gefiel dem Dunkelhaarigen überhaupt nicht.

„Ja?“, erwiderte er zart.

„Ich möchte dir noch mal herzlich für den Mantel danken.“

Innerlich fiel Rick ein zentnerschwerer Stein vom Herzen, eine Last, die er nur ungern mich sich herumgetragen hätte.

„Nicht der Rede wert.“
 

/Schließlich bereite ich die gerne eine Freude, schon allein aus dem Grund, ein Lächeln auf deine weichen Lippen zu zaubern./
 

„Es war wirklich eine liebe Geste von dir.“

„Essen wir!“

Rick versuchte die Ernsthaftigkeit im Raum zu überspielen, denn er wollte nicht schon wieder Gefühle zulassen, die ihn am Ende womöglich in die Pedrouille brachten.

„Na, das lass ich mir garantiert kein zweites Mal sagen!“

Joe konnte sich gar nicht genug auf den Teller bauen und aß mit Begeisterung.

„Alscho dasch isch wirglisch legger.“

„Mit vollem Mund spricht man nicht.“

„Aber wenn es doch so gut ist.“

„Du übertreibst.“

„Nein.“

„Doch.“

„Rick, es ist in der Tat vorzüglich.“

Ein sanfter Rotschimmer zierte nun Ricks Gesichtszüge.

„Danke für die Lorbeeren.“

„Die ich mit Recht verteile.“

„Solange ich sie bekomme.“

Der Kleinere ließ die Gabel fallen und schaute besorgt zu Joe. Hatte er das eben laut gesagt?

Der Blonde blickte lediglich verwirrt zurück.

„Was ist los?“

„Oh, alles okay.“
 

/Zum Glück hast du nicht verstanden, welche Bedeutung in meinen Worten lag!/
 

„Du wirst von Tag zu Tag undurchsichtiger.“ Ein verschmitztes Grinsen lag nun auf Joes Lippen. „Kann es sein, dass dich diese Anzeige so durcheinander bringt, weil du glaubst, dass du schon bald deinem Zukünftigen begegnest?“

Rick lächelte schwach zurück. Musste Joe denn immer solch unpassende Bemerkungen von sich geben? Er kämpfte um seinen Vorsatz, das Geschehene hinter sich zu lassen.

„Blondschopf, iss!“

„Masch isch ja!“

„Und halte den Mund.“

„Isch-“

„Psssst!“

Joe begnügte sich im Folgenden tatsächlich damit, seine Aufmerksamkeit nur noch dem Essen zu widmen. Ebenfalls schweigend saß Rick da, doch anstatt zu essen beobachtete er lieber heimlich seinen Freund. Die grünen Seen funkelten in ihren sanften Kratern. Die Haare leuchteten im wenigen Licht, das zum Fenster hereinfiel. Doch vor allem die Lippen taten es dem Kleineren an, die vor seinen Augen sinnlich über das Metall des Bestecks glitten.

Rick wurde beim Anblick ganz heiß und musste zwangsweise die Lider senken, damit ihm die Schmach einer Erektion vor Joe erspart blieb.

„Hast du etwa keinen Hunger?“

Die warme Stimme erschreckte Rick und er verschluckte sich. Hustend wand er sich vom Tisch ab und fühlte eine Hand auf seinen Rücken klopfen.

„Danke.“

„Also, isst du das hier noch?“ Joe wies auf Ricks Teller, wobei dieser nur den Kopf schüttelte.

„Dann her damit!“

Fahrig fuhr sich der Kleinere durchs Haar, besah sich den essenden jungen Mann, der ihm all das Gefühlschaos bereitete.

„Du scheinst nicht genug zu bekommen.“

„Von deinem Essen nie!“

„…“

„Wie? Schon alles weg?“ Joe spähte noch einmal in alle Töpfe. „Mh schade, doch eigentlich bin ich ja satt.“

Zufrieden lehnte er sich zurück und rieb sich den Bauch.

„Wo gehst du denn hin?“

Irritiert blickte er Rick nach.

„Mails schauen.“

„Wahh, das habe ich bei all den Leckereien total vergessen“, rief er und kippte fast vom Stuhl.

Dieses Mal starrte der Kleinere den Computer nicht teilnahmslos an, sondern drückte sofort den Button, der ihm zu ’Mission 2’ verhelfen sollte. In seinem Verstand aber flogen die Fetzen, denn einerseits sträubten sich seine Gefühle für Joe vor diesem Teil des Plans, andererseits sah er keinen anderen Weg als ihn zu bestreiten.

„Gleich sieben Mails!“, sagte Joe verblüfft hinter Rick und holte den Kleineren damit in die Realität zurück.

„Sieben?“

Ungläubig betrachtete er sieben einzeln dunkel unterlegte Textzeilen.

„Öffne mal die hier.“ Der Größere deutete auf die unterste. „’Ich versüße dir deine Träume’ klingt doch für dich, mein kleiner Romantiker, genau richtig!“
 

/Wenn du das ’mein’ auch so meinen würdest…/
 

Rick drückte die linke Maustaste und ein Satz erschien vor seinen Augen:
 

’Mit meiner Zunge werde ich dir Stellen zeigen, von deren Existenz du nichts wusstest!’
 

„So ein Idiot!“

Es war Joe, der sich aufregte. Rick saß nur still da und fragte sich, ob er von nun an nur mit solch Schweinereien konfrontiert werden würde.

„Die Zeitung galt als seriös. Ich fasse es nicht, dass die solche Mails weiterleiten.“

„Lass es gut sein, beschweren hilft auch nicht.“

„Aber so was ist doch der letzte Mist!“

„Wärst du so gütig und schreist mir nicht ins Ohr?“

„Tschuldigung, aber-“

„Nichts aber. Mund halten und weiter lesen!“

Es war das zweite Mal innerhalb einer Stunde, dass Rick seinen Freund anwies, still zu sein. Normalerweise war das nicht seine Art, doch irgendwie konnte er momentan nicht ertragen, wenn sich Joe zu viel einmischte. Klar, er tat dies alles durch ihn und für ihn, aber das gab ihm nicht das Recht, ständig unnötige Kommentare loszulassen.
 

/Ob der guten Absicht möchte ich nichts davon hören…/
 

Die nächste Mail klang nicht viel besser, was Joe erzürnte. Aber ein Blick auf Rick genügte, dass er nicht wieder laut wurde. Die stille Enttäuschung auf dem Gesicht des Dunkelhaarigen ließ Joe dazu verleiten, einen Arm um ihn zu legen.

„Hey, lass die Penner doch. Ich mache dir einen Vorschlag: ich schaue die restlichen Mails durch und du spülst derweil ab.“

Rick runzelte die Stirn und wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte.

„Ich mache dir einen: Du gehst in die Küche!“

So hatte sich Joe das nicht vorgestellt, nickte dann aber.

„Lass dich nicht entmutigen“, hauchte er in Ricks Ohr.
 

/Wenn du mir so nah bist, dann sind mir solche Mails egal, aber das verstehst du nicht. Sollen diese unromantischen Seelen doch schreiben, was sie wollen./

Rick horchte auf das Geklapper des Geschirrs und wünschte sich, dass er einfach in die Küche gehen und seine Arme um Joes Körper schlingen könnte. Das Gesicht tief in seiner Halsbeuge vergraben und genießerisch die Wärme und den Duft wahrnehmen…

Kapitel 8

Kapitel 8
 

’Fühlst du dich auch oft allein und wünschst dir jemanden an die Seite, der dich einfach mal in den Arm nimmt, damit du merkst, dass du gar nicht einsam bist? Kennst du das Gefühl, in der unmittelbaren Nähe anderer zu sein und doch nicht an ihrem Leben teilzuhaben? Weißt du, wie es ist, nachts im Bett zu liegen und dich an ferne Orte zu wünschen? Nagt in dir auch öfter der Gedanke, wegzugehen und ein neues Leben zu beginnen?

Stell dir vor, du könntest fliegen. Wo würdest du hinfliegen? Zu einem Freund? Zu dem, den du liebst? Oder würdest du einfach nur die Schwerelosigkeit genießen und das Gefühl, allem entfliehen zu können? Würdest du fernab von Zivilisation fliegen hinein in die Gewalten der Natur? Würdest du dich im Rausche eines Wasserfalls wiegen oder mit den Wolken spielen? Würdest du knapp über dem Meer schweben und deine Hand über das Wasser gleiten lassen? Würdest du über weite Wiesen fliegen und den Duft von frischem Gras und Blumen einatmen?

Wo würdest du landen, wenn dich die Fähigkeit zu fliegen plötzlich wieder verlässt? In dem Bett deines Liebsten? Auf der Spitze eines Berges? Auf den Türmen eines Schlosses?

Kann man denn seinen Gefühlen entfliegen? Begleiten sie nicht einen auch auf diesem Wege?

Ist ein Mensch nicht immer allein?

Ich bin nur eine kleine Seele, die sich nach wahren Worten sehnt. Wenn du mir ein paar schenken möchtest, dann maile mir zurück.’
 

Immer wieder las sich Rick die Zeilen durch und konnte nicht von ihnen lassen. Voller Abneigung hatte er den Rest der Mails gelesen, aber die letzte der sieben Stück hatte ihn in den Bann gezogen und gab ihn nun nicht mehr frei. Wie gut er nur all die Fragen nachvollziehen konnte. Gab es da draußen jemanden, der ebenso fühlte wie er? Jemanden, der ihn verstehen konnte?

Ein weiteres Mal las er die Mail und versank in ihr.

Seine Augen glänzten, das Meeresblau verwandelte sich in ein Ozean, dessen Wellen wild auf und abwogen. Kleine Perlen sammelten sich in den Winkeln und wollten sich einen Weg nach draußen bahnen. Vehement wehrte er sich jedoch dagegen. Warum eigentlich? Warum wehrte er sich? Er wusste es nicht.
 

/Sollen sie doch ergossen werden…/
 

Das salzige Nass bedeckte alsbald seine rötlichen Wangen, die nun im fahlen Licht schimmerten.

Irgendwie hatte die Mail sein Herz berührt. Er hätte im Leben nicht erwartet, dass die Anzeige eine solche Reaktion mit sich brachte. Darum hatte es ihn mehr getroffen, als er je vermutet hätte.

Seine Finger strichen sanft über die Tastatur, doch sie schrieben nichts. Was sollte er darauf antworten? Wollte er denn wirklich etwas erwidern?
 

/Meine Liebe ist nur wenige Meter von mir entfernt…/
 

Unentschlossen besah er die Zeilen, die in schwarzen Lettern auf dem Monitor geschrieben waren. Jede einzelne von ihnen wurde zum dutzenden Male von dem Dunkelhaarigen in sich aufgesogen.
 

/Die Mail könnte von mir stammen…/
 

Rick setzte seine Finger zum Schreiben an, aber er konnte nicht. Er konnte diesem Mann keine Antwort zukommen lassen. Wenn er dies täte, würde er seine Liebe an Joe verraten. Und dennoch zauderte er weiterhin.
 

/Ich verrate meine Liebe doch nicht, nur weil ich jemanden ein paar Zeilen schreibe… dass der Anlass meine Annonce war, spielt doch dabei keine Rolle… oder?/
 

Er seufzte. Wie er sich entscheiden sollte, wusste er nicht. War denn keiner da, der ihm einen Rat geben konnte? Warum musste er das einzig und allein auf seinen Schultern austragen?

Joe konnte er ja nicht fragen. Wen denn dann? Sollte er einfach aus dem Herzen heraus doch antworten?
 

„Rick?“

Besorgt sah Joe auf seinen Freund und reichte ihm ein Taschentuch.

„Hey, warum weinst du denn?“

Joes Stimme trug so viel Sanftheit in sich, dass Rick nur noch mehr weinte. Egal, was er tun würde, es wäre falsch oder würde sich zumindest falsch anfühlen. Die Lage war einfach nur noch verzwickt und konnte von Rick nicht mehr festgehalten werden. Zu viel war in den letzten Tagen geschehen, als dass er damit allein fertig würde. Und somit liefen die Tränen ungehindert an seinen Wangen hinab und fanden kein Ende.

„Was ist denn los?“

Da der Größere keine Antwort erhielt, schaute er auf den Monitor und las das, was dort stand, durch.

Minuten vergingen, in denen keiner von beiden etwas sagte. Die Stille im Raum trieb weitere funkelnde Perlen in Ricks Augen. Warum musste Joe auch immer so verständnisvoll sein? Könnte er ihn nicht einfach hassen, damit sein Herz wieder frei würde?
 

/Ich könnte ihn niemals hassen, egal was passiert…/
 

„Komm her.“

Joe zog den Kleineren in seine Arme und hielt ihn fest. Seine Hand fuhr vorsichtig durch die dunklen Haare des anderen, um ab und an tiefer zu gleiten und ein paar Tränen wegzuwischen.

In Rick verkrampfte sich alles. Die betörende Nähe machte alles nur noch schlimmer. Alles in ihm wehrte sich gegen sie, doch er fand keine Kraft, sich aus ihr zu befreien. Stattdessen lehnte er sich freiwillig gegen Joes Oberkörper und ließ dessen Berührungen ungehindert zu.

„Worte können einen wirklich berühren und deine Sensibilität verstärken diese noch“, sagte Joe leise vor sich hin und war sich nicht einmal bewusst, dass er dies nicht nur dachte.

Rick nahm die Worte auf und sie stimmten ihn noch trauriger, wenn dies überhaupt möglich war. Wenn ihn jemand kannte, dann Joe…
 

/… Warum tust du das alles für mich?... /
 

‚Ich glaub, ich weiß, wo du hinfliegen würdest’, dachte Joe und drückte seinen Freund noch fester.
 

„Geht´s wieder?“

Rick nickte nur stumm, doch an seinem Gesichtsausdruck erkannte Joe, dass er das ehrlich meinte.

„Gut, dann koche ich dir einen Tee und derweil versuchst du, wieder ein Lächeln auf dein Gesicht zu zaubern, okay?“

Joe wartete keine Antwort ab, sondern wandte sich sofort von Rick ab und lief zur Tür hinaus. In der Küche setzte er Wasser auf und als zwei Tassen vor ihm standen, lehnte er sich an den Schrank. Mit einer Hand wischte er sich das rechte Auge und stellte verwundert fest, dass er wohl selbst geweint hatte. Er hatte sich von den Tränen des Kleineren tatsächlich mitreißen lassen. Mit gesenkten Lidern senkte er den Kopf in seinen Nacken und wurde das Bild von eben nicht los. Warum nur war Rick so aufgelöst? Hatte er seinen Freund zu sehr bedrängt, ihn zu einer Tat gezwungen, die er partout nicht wollte?
 

/Dann hätte er die Anzeige doch niemals abgeschickt./
 

Joe konnte sich schon denken, warum Rick die Mail dermaßen mitnahm. Schließlich war er lange genug sein bester Freund und wusste um seine Vergangenheit, die alles andere als rosig war. Doch irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass dies nicht der einzige Grund für Ricks Zustand war.
 

/Aber was war es dann?/
 

Lautes Pfeifen riss Joe aus seinen Gedanken. Liebevoll richtete er ein Tablett mit dem Tee und ein paar Keksen her.
 

/Ich hoffe, das bringt dich wieder auf andere Gedanken./
 

„Hier, eine kleine Aufmunterung!“

Mit einem seichten Lächeln stellte Joe das Tablett vor Rick ab, der in der Zwischenzeit den Computer heruntergefahren hatte. Der Dunkelhaarige nahm eine Tasse, aus der heißer Rauch stieg, in seine Hände und nippte an dem fruchtigen Getränk.

„Danke.“

„Das ist selbstverständlich.“

„Würdest du mich bitte allein lassen?“

„Was?“, entfuhr es Joe, denn er verstand diese Bitte nicht.

Flehentlich sah Rick den Blonden an, der sonst nichts entgegensetzte.

„Lass den Kopf nicht hängen, versprich mir das.“

„…“

„Versprich es mir!“

„Versprochen“, erwiderte Rick leise.

Mit einem letzten verworrenen Blick auf Rick verließ Joe das Zimmer.
 

/Deine Güte versetzt mir immer wieder Stiche, die mir allmählich mein Herz zerfetzen… jede wohlwollende Tat von dir bereitet mir so viel Schmerz, dass ich an ihm zugrunde gehe… und doch bleibst du für mich die Person, der ich niemals entsagen möchte… verzeih´ mir, dass ich dich einfach so weggeschickt habe!/
 

Rick legte sich auf sein Bett und schaute die Decke an, durch die er mehr oder minder hindurch sah. In seichter Melancholie konnte er noch die Arme von Joe um sich spüren. Er bettete den Handrücken auf seine Stirn, konnte aber nicht die Wärme fühlen, die er dort vermutet hatte.

Peitschender Regen prasselte gegen die Fensterscheibe, was in ihm ein Déjà-vue hervorrief.
 

/Immer weint der Himmel mit mir… ob die Engel dort oben mir damit sagen wollen, dass ich mit meiner Trauer nicht allein dastehe?.../
 

Die Dämmerung nahm allmählich das letzte Licht und legte Ricks Zimmer in dunkle Schatten. Die Stunden waren mürbe an ihm vorbeigezogen, ohne dass es ihn kümmerte. Soll die Zeit doch an ihm vorbeiziehen!
 

/Wen stört es schon, wenn ich untätig bin?/
 

Eine kleine Stimme in seinem Ohr meldete sich zu Wort, die so unfassbar liebevoll war und doch so bestimmt.

’Lass den Kopf nicht hängen, versprich mir das!’

Ein Satz, der in Ricks Verstand immer wieder nachhallte. Er hatte es versprochen, aber konnte nicht umhin, sich in der Last des Seins zu wiegen. Hatte er sein Versprechen gegeben, nur um des Friedens Willen? Darüber dachte Rick eine ganze Weile lang nach. Dann klärte sich sein Blick ein wenig.
 

/Ich habe es ihm versprochen, weil er für mich da war… weil er mich in den Arm nahm und mir Liebe gab… und ich bin kein Mensch, der sein Wort bricht… /
 

Mühsam richtete sich der Dunkelhaarige in seinem Bett auf und sah hinaus auf die Stadt, die von warmem orangenen Licht umhüllt war. Der Abend war bereits halb vorüber und gab die Welt der Finsternis preis.

Langsam stand er auf und ging ins Nebenzimmer, schaltete den Computer ein.
 

’Ein Lichtlein ist uns allen gegeben, in welcher Form auch immer. Sieh in dich hinein und suche nach diesem. Ich bin mir sicher, du wirst es finden.

Tauche dein Ich in warmes Licht, umhülle es und liefere es nicht den tiefen Schatten aus, die dich umwerben.

Begib dich auf die Suche nach einer Quelle, aus der du immer von Neuem Kraft schöpfen kannst. Doch falls diese einmal versiegt, dann gib nicht auf, sondern erforsche deiner Selbst; dort verbirgt sich mehr Kraft, als man oft denkt.

Fliegen ist nur eine Art sich zu verstecken. Hast du das nötig? Möchtest du nicht vielmehr entdecken, was du nicht kennst?

Sehnsüchte können gestillt werden, du musst dich nur dafür einsetzen.
 

Gezeichnet

Heilloser Romantiker’
 

Er zögerte nicht und schickte die Mail ab. Seine eigenen Worte gaben ihm selbst den Mut zurück, den er brauchte, um nicht unter der Last der Gefühle begraben zu werden. Schließlich hatte er ein Lichtlein, das ihn sogar in die Arme geschlossen hatte. Er durfte nicht unentwegt das Negative in seiner Situation sehen, sondern musste an dem Positiven festhalten, sich an ihm emporziehen und zurück aus dem dunklen Loch kehren, das schon viel zu tief war.

Seine Wunde begann sich zu schließen und er griff nach dem Telefonhörer. Es läutete keine dreimal, da erklang schon eine ihm vertraute Stimme.

„Hi, ich bin es, Rick. Ich wollte dich nicht so vor den Kopf stoßen, doch ich brauchte ein wenig Zeit für mich. Nein sage nichts, höre mir ausnahmsweise einfach mal zu. Du weißt, wie wichtig du für mich bist, darum war es nicht richtig, dich wegzuschicken. Wenn ich damit deine Gefühle verletzt haben sollte, dann tut mir das leid. Doch ich habe mein Versprechen eingehalten und lasse den Kopf nicht hängen. Schließlich habe ich einen besten Freund, der immer zu mir hält, und dem darf ich das nicht antun. Joe, bitte verlasse mich nie.“

Für einen Moment sagte keiner von beiden etwas, bis dann ein Räuspern aus der Leitung drang.

„Versprochen!“

Es klickte und Rick nickte froh dem Telefon zu, legte den Hörer an seine Brust und begann zu lächeln.

Kapitel 9

Kapitel 9
 

Es verging ein ganzer Tag, an dem Rick ständig nach Mails schaute, aber keine einzige in seinem Posteingang lag. Er wünschte sich zunehmend mehr, dass ’Einsame Seele’ wieder etwas schrieb. Rick fühlte sich mit diesem fremden Mann auf irgendeine seltsame Art und Weise verbunden. Zwar rührte dies nur daher, dass sie ihre Gedanken ähnlich in Worte fassten, aber das war mehr Verbundenheit als er mit anderen Menschen innehatte. Bei jedem Male, wo er auf ’Aktualisieren’ klickte, sehnte sich ein Stückchen mehr in ihm nach einer Reaktion. Denn wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte ihm die Mail von diesem Unbekannten sehr geholfen. Sie war Anlass dafür, dass er viel über sich nachgedacht hatte und zu dem Entschluss gekommen war, nicht zu fliegen und sich damit nicht vor seinem Leben zu verstecken.

Mittlerweile war es früher Abend und Rick saß erneut vor seinem Computer, der einfach nicht das anzeigen wollte, was er sich erhoffte.

„Blödes Teil“, schimpfte der Dunkelhaarige leise vor sich hin und schnippte die Maus vom Pad herunter.

Das Klingeln seines Handys ließ ihn endlich einmal vom Monitor abwenden.
 

/Eine Nachricht von Joe… seit meinem Anruf gestern habe ich nichts von ihm gehört… /
 

Neugierig öffnete Rick die SMS und stutzte.
 

/’Ich hole dich in zehn Minuten ab. Mach dich startklar!’/
 

Mit fragendem Gesichtsausdruck blickte Rick um sich. Hatte er was verpasst? War heute irgendein besonderer Tag?

Im Kalender stand nichts, also was hatte Joe dann mit ihm vor?

Plötzlich rannte Rick eilig durch seine Wohnung, zog sich um, machte sich im Bad frisch und streifte sich eine Jacke über. Da klingelte es schon an der Haustür.

Völlig abgehetzt öffnete er seinem Freund.

„Puh, ich hab´s geschafft. Bin fertig.“

„Hehe, gut, dann komm mit.“

Joe packte ihn am Arm und zog ihn nach draußen. Gerade noch so konnte Rick die Tür hinter sich herziehen, die laut ins Schloss fiel.

„Wohin gehen wir?“, fragte der Kleinere immer noch völlig außer Atem.

„Das wirst du bald wissen.“

„Du hast mich total überrumpelt.“

„Sinn der Sache.“

„Verrat mir, was du vorhast.“

„Nö.“

„Komm schon.“

„Rick, nein, dann wäre es ja keine Überraschung mehr.“
 

/Überraschung?/
 

„Du schaust ja, als ob du ein Geist gesehen hättest.“
 

/Vielleicht habe ich das auch…/
 

„Hey, ich werde dich schon nicht schocken… Traust du mir im Ernst zu, dass ich was Schlimmes mit dir vorhätte?“

„Naja, also-“

„Na danke, so wirkt das also auf dich.“

„Neeeein, das denke ich nicht.“

„Das weiß ich doch“, lachte Joe und zog Rick weiterhin hinter sich her.
 

Was ging hier vor sich? Er hatte doch noch nie einfach so eine Überraschung bekommen, auch nicht von Joe. Sicher, zu Geburtstagen und zu Weihnachten bekam er was von ihm geschenkt, doch sonst? Verunsichert ließ er sich von seinem Freund führen, der wirklich glücklich aussah. Seine grünen Augen glänzten geheimnisvoll und Rick konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.

Sie liefen schon einige Minuten lang durch die Straßen und Rick verlor allmählich die Orientierung. In dem Stadtteil, in dem sie sich gerade befanden, war er vielleicht erst ein- oder zweimal gewesen, und er wusste nicht, was es außer Industrie und Fabriken hier noch geben sollte.

„Bist du dir auch sicher, dass wir hier richtig sind?“

„Hundertprozentig.“

„Aber-“

„Vertrau mir!“

„Das tu ich ja, aber ich weiß nicht, was es hier geben sollte.“

„Umso besser. Dann wirst du noch größere Augen machen.“

„Kannst du mir nicht mal einen Hinweis geben?“

„Üb dich in Geduld, mein kleiner Romantiker.“

Das war von Joe so einfach daher gesagt. In Rick stauten sich die Gefühle: Neugierde, Verwirrtheit, Zuversicht und natürlich ganz viel Ungeduld. Eigentlich waren dies zu viele Impressionen auf einmal für eine so empfindsame Seele wie Rick, weshalb er sich in Joes Jacke krallte, das erste, was er zu fassen bekam, um ein wenig von der Anspannung loszuwerden.

„Wir sind gleich da.“

Joes Stimme klang wieder einmal vollkommen sanft, was Rick nur noch mehr irritierte. Lange würde er diese Ungewissheit nicht mehr aushalten können, dessen war er sich sicher.

Abrupt blieb der Blonde stehen und lächelte Rick an.

„Schließ die Augen.“

Rick fühlte etwas Kuscheliges um seine Stirn und Augen, es musste ein Schal oder so etwas in der Art sein. Sein Herz klopfte.
 

/Eine Überraschung… jetzt ist es real… und nur für mich…/
 

„Sooo nun ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen. Halte dich ruhig an mir fest. Gleich hast du es geschafft, nur noch eine Stufe.“
 

Es war einfach unbeschreiblich für Rick. Er konnte vor Anspannung kaum atmen und verkrampfte sich in dem Stoff, an dem er sich festhielt.

„Halt, da sind wir.“

Joe trat hinter Rick und legte seine Hände an den Knoten des Schals um Ricks Kopf.

„Bist du bereit?“, fragte er leise.

„Ich denke schon.“

„Gut, dann drei…“

Ricks Körper versteifte sich vor Spannung.

„…zwei…“
 

/Wahh, kann das nicht schneller gehen?/
 

„… eins…“
 

/Nun mach schon, bitte…/
 

Der Schal fiel lose herab und landete auf Ricks Schultern. Der Kleinere hob beide Hände vor den Mund, drehte sich im Kreis und seine Augen wurden feucht.

„Woher… wusstest… du das?“

Der Dunkelhaarige war kaum fähig zu sprechen. Zu viele Glückshormone wurden auf einmal freigesetzt, als dass er in der Lage war, seine Stimme zu kontrollieren.

„Du hast irgendwann einmal erwähnt, dass du so etwas gern machen würdest.“

Rick wusste seine Freude nicht besser auszudrücken als Joe um den Hals zu fallen.

„Gehst du mit rein?“, fragte er leise in Joes Ohr hinein.

„Klar.“

Geschwind rannte Rick davon und sah sich bald ungeduldig nach seinem Freund um.

„Komm, mach schon.“

„Wie ein Kind, das erfahren hat, es bekommt ein Eis“, grinste Joe.

Als die beiden das alte Gemäuer betraten, stob ihnen zugleich staubige Luft und ein leicht modriger Geruch entgegen.

„Dürfen wir überhaupt hier sein? Ich meine, es ist bestimmt Privatbesitz.“

„Darum habe ich mich gekümmert, wir haben für heute Nacht die Erlaubnis.“

Dass er sich nun gerade tatsächlich in einer alten Ruine befand und diese auch einfach so erkunden durfte, machte ihn mehr als glücklich. Er wusste gar nicht, wie lange er sich so etwas bereits gewünscht hatte, und nun wurde dieser Traum wahr. Außerdem war auch noch Joe dabei und erlebte seinen größten Traum mit ihm gemeinsam. All die trüben Gedanken der vorhergehenden Tage waren mit einem Mal vergessen.

„Die hier wirst du brauchen.“

Joe drückte ihm eine Taschenlampe in die Hand, die bläulich leuchtete.

„In all der Zeit, die ich hier wohne, habe ich nie in Erfahrung gebracht, dass ganz in meiner Nähe eine Ruine steht, die früher sicher ein halbes Schloss war, habe ich Recht? Sieht zumindest von außen danach aus.“

„1682 erbaut, gehörte mal einem reichen Fürsten, der in der Tat vorhatte, ein Schloss errichten zu lassen, doch seine finanziellen Mittel reichten dafür nicht aus und so entstand dies hier. Mir wurden keine Verbote auferlegt, also dürfen wir überall hingehen. Nur als Warnung wurde mir mitgegeben, dass wir vorsichtig sein sollen, da die Bretter und Mauern hier und da morsch sein könnten.“
 

/Sprachlosigkeit… drückt das, was ich in mir vorgeht, nicht im Geringsten aus…/
 

„Gibt es hier auch Geheimgänge, -türen und so was?“

„Da muss ich leider passen. Was hältst du davon, wenn wir das einfach herausfinden?“

„Und du machst wirklich mit?“

„Ich lass dich hier nicht alleine rumlaufen.“
 

/…?/
 

„Gehen wir zuerst dort entlang!“

Rick leuchtete in einen dunklen langen Gang hinein, der aus der großen sicher einst prunkvollen Vorhalle westwärts führte. Die Finsternis lag schwer im Raum und Spinnweben zierten Wände und Fenster, die meist mit schwarzen Leinentüchern behangen waren. Halb unkenntliche Gemälde schmückten die Seitenwände, zerfressen von Motten und bedeckt mit grauem Staub. Ihre Schritte hallten von überall her wider, verloren sich dann dumpf in den dunklen Winkeln des Ganges. Der Kleinere ging voraus und leuchtete um sich, besah sich jedes Detail, das er zu fassen bekam.
 

/Ich frage mich, wie Joe das wissen konnte... Kann schon sein, dass ich das mal angesprochen habe, aber dass er sich daran erinnern kann?... Sonst merkt er sich solche Dinge auch nicht unbedingt… es muss schon Jahre her sein, dass wir darüber geredet haben könnten… Bin ich ihm mehr wert, als ich immer dachte?/
 

Mit einer leicht zu einer Faust geformten Hand klopfte Rick gegen die Wand rechts von ihm. Abrupt war er stehen geblieben und horchte nun auf den Klang des Schlages.

„Klingt hohl. Dahinter ist ein Zimmer.“

„Dann lass uns mal nachsehen, ob sich hier irgendein Stein bewegen lässt.“

Joe begann, die Wand abzutasten, was ihm Rick gleichtat.

„Wie bist du an die Erlaubnis gekommen?“

„Betriebsgeheimnis.“

„Das ist Wahnsinn. Man bekommt doch sonst auch nie solch eine Möglichkeit.“

„Du bist echt überwältigt.“

„Was auch sonst. Bedenke doch mal, was wir hier tun? Wir erforschen vergangene Zeiten und ein früheres Leben… zudem ist es Nacht… die beste Tageszeit für so was.“

„Kaum zu glauben, eigentlich, dass gerade dich so etwas begeistert.“

„Naja… allein würde ich mich hier nicht aufhalten… das stimmt schon,… aber… du bist ja bei mir.“

Joe räusperte sich, war um eine Erwiderung verlegen. Plötzlich riss er die Augen weit auf und schüttelte den Kopf.

„Hast du was gefunden?“

„Hm?“

„Einen losen Stein oder so was?“

„Nein leider nicht.“

„Ich auch nicht“, sagte Rick mit unüberhörbarer Enttäuschung in der Stimme.
 

/Auch wenn ich heute hier nichts Ungewöhnliches entdecken sollte, wird mir diese Nacht für immer in Erinnerung bleiben…/
 

Einen verstohlenen Blick warf Rick auf Joe, der mit offenem Mund dastand und an die Decke starrte.

„Joe?“

Der Kleinere schaute ebenfalls empor und schluckte schwer.

„Aber-“

„Hmm-mm.“

„Das kann nicht-“

„Anscheinend schon.“

Rick fühlte eine Hand um seine und er wusste in diesem Moment nicht recht, was ihm das Herz eher schnell schlagen ließ, das Gesehene oder die innige Berührung.

„Siehst du dieses Funkeln, so golden und warm, zugleich so vibrierend und…“

„Grotesk kalt.“

„Seltsam.“

Der Druck um Ricks Hand wurde fester und Rick spürte jeden einzelnen Finger des anderen.
 

/Bist du dir bewusst, was du hier tust?... Oder ist es nur ein Reflex, weil die Atmosphäre in diesen Gemäuern mit einem Mal viel unheimlicher wurde?... Wenn ich die Zeit anhalten könnte, dann würde ich das tun… dann würdest du mich nie wieder loslassen…/
 

„Hast du dir jemals Gedanken über Mythen gemacht?“

„Sehr oft sogar.“

Weiterhin blickten beide unbeirrt empor, das Spiel des wundersamen Lichtes schien beide nicht mehr loszulassen.

„Als kleines Kind starb mein Vater, wie du weißt…“

Rick stockte der Atem, denn er konnte nicht recht einordnen, ob er vielleicht träumte oder doch wachte. War es dieses Schloss, diese merkwürdige Atmosphäre, die seinen Freund zu all dem bewog?

„Viele Nächte saß ich auf dem Fensterbrett und schaute hinaus in den Garten… ich vermisste ihn schrecklich und wollte nicht wahrhaben, dass er tot war… mich zurückgelassen hat…“

Ein dicker Kloß steckte in Ricks Hals, er hatte den Blonden bisher nur ganz selten so reden hören und das letzte Mal war schon eine kleine Ewigkeit her. Seit der Schulzeit hatte er ihn nicht mehr so erlebt. Er wollte irgendwas sagen, doch er konnte nicht, er brachte keine einzige Silbe über die Lippen.

„Während ich hinaussah, glaubte ich, meinen Vater dort stehen zu sehen… ich berichtete meiner Mutter davon, doch sie nahm mich nur in den Arm und meinte, dass er ihr ebenso fehlte… doch ich wollte das nicht so auf mir beruhen lassen… als ich alt genug war, suchte ich nach Informationen über unser Grundstück…“
 

/Aber… das hast du mir nie erzählt… wie… hast… du das… vor mir… geheim halten können?/
 

„Ich habe nichts gefunden… nichts, was in irgendeiner Weise mystisch oder geheimnisumwoben war… da begann ich meine Mutter zu verstehen… wenn man sich etwas ganz sehr wünscht, dann kann man sich einbilden, dass es in Erfüllung geht… als kleiner Junge wollte ich nichts sehnlicher als meinen Vater zurück und ’sah’ ihn in unserem Garten…“
 

/Heißt das, dass… dass… du… bemerkt hast… dass…/
 

„Und doch… habe ich den Glauben an… wie soll ich sagen… Übernatürliches… nicht verloren… etwas in mir wehrte sich gegen ein allzu rationales Denken…“
 

/… diese Seite… an dir… kenne ich… gar nicht…/
 

„Als ich mit dem Hausbesitzer gesprochen habe, erwähnte er, dass dieser Fürst ein Urahne von ihm sei… er brachte es nie übers Herz, das Gemäuer abzureißen… vermutlich aus demselben Grund, wie ich meinen Vater nicht loslassen wollte… das, was einem teuer ist, was einen verbindet, möchte man nicht gehen lassen…“
 

Stille kehrte ein und Rick wusste noch immer nicht, was er sagen sollte. Die richtigen Worte konnte er sowieso nicht finden, denn die gab es nicht. Das Licht über ihnen erlosch plötzlich und die Berührung zwischen ihren Händen löste sich.
 

„Wollen wir nach oben?“

Joes Stimme trug nun keine Sehnsucht mehr in sich, was Rick irgendwie bedauerte. Zu gern hätte er länger dort in stiller Zweisamkeit verweilt und die Offenheit seines Freundes genossen.
 


 

/Einmal mehr entdeckte ich eine Facette an dir, die mich tief bewegte… einmal mehr durfte ich in dein Herz blicken und sehen, welch besonderer Mensch du bist… einmal mehr erkannte ich, dass du das Beste in meinem Leben bist…/

Kapitel 10

Kapitel 10
 

Müde lag Rick in seinem Bett, war aber noch ein wenig zu aufgeregt, als dass ihn der Schlaf übermannen konnte. Die zwei Stunden in den halb verfallenen Gemäuern zogen unentwegt an ihm vorüber, nährten ihn mit stiller Sehnsucht, die er nur allzu gut kannte. Langsam ließ er seine Hand vor sich kreisen, besah sie sich im fahlen Licht des Mondes, das zum Fenster direkt in die Ecke des Zimmers, in der sein Bett stand, hereinfiel. Seine Blicke strichen sanft über die nackte Haut, ließen nicht mal ab, um die Augen zwischendurch ein wenig zu entspannen. Das Meeresblau heftete sich förmlich an die wenigen Quadratzentimeter seines Körpers, wollte sie keine Sekunde unbeobachtet lassen, nicht dass das Gefühl tief im Innern schwand. Als Joe seine Hand genommen hatte, hatte er nicht glauben können, dass das der Realität entsprach. Doch er hatte nicht geträumt, es war nicht nur eine Illusion gewesen, die sich beim nächsten Wimpernschlag in Luft auflöste. Nein… er hatte seine Hand tatsächlich in seiner gehalten, fest und bestimmt. Joes Wärme war in ihn übergegangen, sein Herz hatte pulsierend im Gleichklang mit seinem geschlagen.

Rick bettete nun sein Gesicht in seine Hand, schmiegte seine Wange fest an sie. Ewig könnte er so daliegen, die Erinnerung umklammern und sich in ihr wiegen. Leise atmend fühlte er die Hand in seinem Gesicht und schloss die Augen, rief das Bild der Nacht in sich empor, das ihm trügerisch erschien.
 

/Als wir durch die dunklen Straßen zurück zu meiner Wohnung liefen, war er wie sonst, er lachte und scherzte viel. Wenn ich nur verstehen würde, was ihn in dieser Ruine dazu bewogen hat, mich zu berühren,… meine Hand zu fassen… und von seinem tiefsten Innern zu sprechen… überhaupt, dass er das alles für mich getan hat… mein Herz sagt mir, es gibt Hoffnung,… mein Verstand jedoch… entbehrt jedweder Zuversicht…/
 

Rick zog seine Rechte wieder hervor, hielt sie erneut vor seine Augen, konnte anschließend nicht umhin, sie zu schließen und an den Mund zu legen.
 

/Mit keiner Silbe hast du diese Kellnerin erwähnt… der Abend gebührte nur mir… Hat dich mein Anruf vergangene Nacht veranlasst?... dachtest du, ich bräuchte mehr Aufmerksamkeit?... oder… ?... Ja was?... Als ich mich bei dir bedankte und nach dem Grund fragte, bliebst du stumm… du wehrtest dich gegen eine Antwort jeglicher Art… schautest mich zufrieden an und… und nichts… nichts außer deinen strahlenden Augen… ich blickte in sie und sah in ihnen…/
 

Leicht legte Rick seine Zähne an die Knöchel, wollte zubeißen, doch tat es nicht.
 

/Sie trugen nicht den Glanz in sich, den du bei Julia hattest… und doch glaube ich, dass du mich anders anblicktest… als sonst…/
 

Rad der Zeit, sag mir eins,

wird er einmal… mein?

Dreh dich, dreh dich,

bitte tu es,… für mich.
 


 

Warme Sonnenstrahlen legten sich sanft auf das Gesicht des schlafenden jungen Mannes und verkündeten frohlockend den Morgen. Reges Vogelgezwitscher drang zum Fenster herein, ein Singsang purer Lebendigkeit entsprungen. Der Himmel war von einem tiefen Blau geprägt, aller Wolken vom Vortage entflohen.

Blinzelnd schlug Rick die Augen auf und machte sich ganz lang, dehnte sich ausgiebig.

„Guten Morgen“, hauchte er der Sonne entgegen.

Er entschlüpfte seiner Decke und gab sich damit den sommerlichen Lichtstrahlen preis.
 

/Nur schade, dass uns der düstere Herbst bald in vollen Zügen einnimmt…/
 

Barfuß begab er sich in die Küche und setzte noch ein wenig verschlafen Wasser auf. Gähnend griff er nach einer Tasse im Schrank, betrachtete sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Ein kleiner brauner Bär versuchte wie immer vergeblich auf dem dünnen Baumstamm zu balancieren.

Mit dampfend heißen Tee schlurfte er ins Nebenzimmer und sah auf seinen Computer. Zuerst nickte er leicht, dann setzte er sich davor.
 

/’Einsame Seele’, hast du über meine Worte nachgedacht?.../
 

Er setzte seine Lippen am Porzellan an und nippte einmal, genoss die heiße Flüssigkeit, wie sie seine Kehle hinab glitt. Das laute Summen seines Rechners hörte sich irgendwie wohlig vertraut an und er lauschte mit geschlossenen Augen den süßen Klängen des Morgens, die in seine Wohnung von überall her zu dringen schienen.
 

/Du hast mich beseelt und wirst es wohl nicht erahnen… schon eine kleine Berührung kann einem wie ein Wunder vorkommen…/
 

Nach wenigen Minuten konnte Rick seine Mails abrufen und vor ihm erschienen drei dunkle Balken.
 

/Also hast du dich doch endlich entschieden, mir zu schreiben… bevor ich mich dir widme, muss ich die anderen beiden Mails erst einmal in den Papierkorb befördern…/
 

Zwei kleine Mausklicks trennten den Dunkelhaarigen und etwaige neue Bekanntschaften. Er wollte keine Nachrichten mehr lesen, die mit seiner Annonce zu tun hatten, mit Ausnahme von ’Einsame Seele’. Auf Schmuddel und sonstige unseriöse Briefe konnte er gerne verzichten, wollte ihnen nicht den Hauch einer Chance geben, ihn vielleicht doch irgendwann zu bestürzen. Und falls doch eine ernsthafte Nachricht darunter war, war ihm das völlig gleich. Was sollte er mit einem anderen Mann, wenn er doch Joe hatte? Wer weiß, vielleicht sucht der Blonde irgendwann wieder seine Hand und da will er ihm nicht sagen müssen, dass er vergeben sei und dies eine Eifersuchtsszene heraufbeschwören kann. Mit einem Lächeln öffnete Rick die lang erwartete Mail und ließ seine Augen über die Textzeilen schweifen.
 

’Bevor ich wieder in meiner Melancholie versinke, möchte ich dir von ganzem Herzen danken, dass du meine Nachricht nicht unbeachtet ließt und mir sogar ein paar Zeilen zurückgeschrieben hast. Heutzutage sind die Menschen viel zu sehr auf sich bedacht, völlig egoistisch und verschwenden keinen Gedanken mehr an andere. Du bist für mich ein kleiner Funke, der sich aus dem Dunst des Alltags heraushebt, der sagt, hier… hier gibt es noch jemanden, dem seine Mitmenschen nicht egal sind.

Weißt du, ich hatte auch mal ein Lichtlein, das einst für mich erstrahlte, mir den Weg leuchtete. Ich dachte, es könne nicht erlischen und würde auf ewig für mich strahlen, doch… doch nun ist es aus. Es gibt es nicht mehr.

Von Tag zu Tag rücke ich ein Stückchen mehr in die Dunkelheit, die mich alsbald ganz verschlingen... Manchmal ist die Finsternis verlockend, denn in ihr sieht man die Grausamkeiten der Welt nicht mehr. Man kann die Augen verschließen vor Gewalt, vor der sich nur selbst liebenden Menschheit und vor… dem Tod… Vor dem Tod sollte man sich nicht fürchten, er gehört zum Leben dazu… wurde dir das als Kind auch immer eingeredet? Und hast du mit dem Älterwerden auch die Furcht in den Augen der Erwachsenen gesehen?... Ich frage mich, warum sie ihre Kinder anlügen, warum sie ihnen nicht einfach die traurige Wahrheit sagen. Würde man nicht viel besser mit dem Tod klarkommen, wenn man von Anfang an die Schwere dahinter aufgezeigt bekommt?

Einen geliebten Menschen zu verlieren bedeutet Trauer, tiefe Trauer… wenn er sterbend in deinen Armen liegt, dann fürchtet man den Tod, denn man möchte am Leben festhalten, möchte seinem Liebsten den Hauch der Unsterblichkeit schenken…

Sicher bin ich mir bewusst, dass der Tod nichts ungewöhnliches ist, dass es jeden einmal trifft,… doch… wenn der eigene Vater daneben steht und…
 

Du hast mir nicht gesagt, wohin du fliegen würdest. Aber ich bin mir sicher, dass du ebenfalls schon über diese Fähigkeit nachgedacht hast… Ich würde hoch in den Himmel fliegen und meine Seele gegen die meiner Mutter tauschen… Klingt irrsinnig, nicht wahr?
 

In Liebe,

Einsame Seele’
 

Endlose Minuten verstrichen, in denen Rick starr dasaß. Während er die Mail las, war das Lächeln nach und nach von seinem Gesicht gewichen, ebnete den Weg für die Erinnerungen, die er für ein und allemal verdrängt geglaubt hatte. Zwar hatte er noch keinen Menschen sterben sehen, doch an jenem Tag, als er verstoßen worden war, war für ihn eine Welt zusammengebrochen… eine Welt, in der er Familie und viele Freunde hatte.
 

/Wenn Joe nicht gewesen wäre, dann… gute Frage… ich weiß nicht, wie mein Leben dann verlaufen wäre…/
 

Niedergeschlagen klickte er auf ’Antworten’. Er hatte nämlich nicht vor, dermaßen gefühllos wie seine Eltern zu sein. Er wollte einen Menschen, der offensichtlich einen Freund brauchte, nicht im Stich lassen. Wenn er sich damals eins geschworen hatte, dann war es, den Hilferuf eines anderen nicht zu ignorieren.

Nur wusste er nicht, was er schreiben sollte. Er befürchtete, jedes seiner Worte könnte falsch verstanden werden. In diesem Moment glaubte er fest, Joes Hand auf seiner zu fühlen, jenen sanften Druck. Es gab ihm Kraft und ließ ihn durchatmen.
 

/Ein Versuch ist es allemal wert!/
 

’Ich kann diesen deinen Wunsch in keinster Weise als verwerflich erachten. Nein, vielmehr kann ich solche Sehnsüchte sehr gut nachempfinden.’
 

Rick hielt inne, denn es war für ihn nicht leicht, die Gefühle von damals gleichzeitig nicht aufsteigen zu lassen und doch in gewisser Hinsicht empfinden zu müssen, um auf richtiger Ebene schreiben zu können.
 

’Einsame Seele… dein Pseudonym spiegelt sehr gut das wider, was ich auch schon erleben durfte… DURFTE… musste trifft es dann doch viel besser. Auch wenn ich es einst nicht wahrhaben wollte, bin ich dennoch mittlerweile der Meinung, dass jeder sein Schicksal zu tragen hat. Vielleicht mag es den einen schwerer treffen als den anderen, doch es gibt sicher keine Ausnahmen. Meinst du nicht auch, dass man trotz all des Leids, des Kummers, der Schmerzen, der Qualen nicht immer nach etwas suchen sollte, das einen das Lächeln zurückbringt? Selbst der härteste Schicksalsschlag sollte irgendwann zumindest soweit überwunden werden, dass man von vorne anfangen kann…

Das soll nicht heißen, man soll vergessen, was war… denn dann würde man abstumpfen und zukünftig alles an sich abprallen lassen. Ich denke, man würde dann die Liebe verlieren, das stärkste Gefühl, dessen man niemals entsagen darf.

Ich schreibe dir nicht aus Mitleid oder aus einem sonstigen unwürdigen Grund.’
 

Gedankenverloren wandte sich Rick vom Monitor ab, legte seinen Kopf auf die Schulter und verweilte in dieser Position solange, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.
 

/Wenn man wirklich möchte, findet man immer etwas, an dem man sich hochziehen kann…/
 

’Sei dir sicher, dass ich dir antworten möchte!
 

Gezeichnet
 

Heilloser Romantiker’
 

Mit einem Seufzen legte er seine Finger noch mal auf die Buchstaben der Tastatur.
 

’PS: Fliegen ist eine Gabe, die ich solange nicht weiter erörtern möchte, bis ich wirklich keinen anderen Ausweg mehr sehe.’
 

Sollte er sich das Geschriebene noch einmal durchlesen, bevor er es abschickte? Er beantwortete die Frage schnell mit einem Nein, denn er würde sonst sicher zögern oder von vorne beginnen. Bevor er es sich anders überlegen konnte, sendete er die Nachricht.

Gerade als auf dem Monitor die Sendebestätigung aufblinkte, hörte er etwas gegen sein Fenster prallen. Er stand auf und trat an die Glasscheibe, an die sogleich erneut etwas flog. Leicht identifizierte Rick es als Kieselstein. Behände öffnete er das Fenster und lehnte sich hinaus, ließ es sich dabei nicht nehmen, tief und genießerisch die frische Luft, die ihm entgegen stieb, einzuatmen.

„Sag mal, sitzt du auf den Ohren?“

Rick blickte hinab auf die Straße, auf der Joe mit einer ganzen Hand voll Steinen stand.

„Seit wann bittest du mit Kiesel um Einlass?“

„Seitdem du mir beim Klingeln nicht aufmachst. Dumme Frage!“

„Echt? Aber es hat doch nicht geklingelt.“

„Und ob! Um die-“

Joe ließ die Steine fallen und zählte wild seine Finger ab.

„Zwanzig Mal!“

„…“

„Hey grinse nicht so unverschämt schadenfroh. Ich mache mich hier zum Affen und du lachst mich auch noch aus.“

„Ich würde dich nie auslachen, das weißt du.“

„Jaja, an! Das kannst du Gott weiß wem erzählen, aber nicht mir. Also lässt du mich endlich rein oder soll ich morgen immer noch hier stehen?“

„Wenn ich mir das recht überlege-“

„Rick!“

„Hehe, bis gleich.“
 

/Als ob du den richtigen Zeitpunkt erahntest…/
 

„Na das wurde aber auch Zeit.“

Joe betrat Ricks Wohnung, war froh, dass der Kleinere ihn nicht noch länger zappeln ließ.

„Dein Nachbar hat schon einen Schuh nach mir geworfen, als ich lauthals deinen Namen schrie.“

„Das glaube ich nicht.“

„Ist dies Beweis genug?“

Er zog einen braunen Lederschuh hinter seinem Rücken hervor, der niemals ihm selbst gehören konnte. Zuerst schluckte Rick, doch dann brach er in Gelächter aus.

„Vielleicht wollte er wissen, ob er dir passt und du sein Prinz bist.“

„Na warte!“

Der Größere ließ den Schuh fallen und stürmte hinter Rick her, der vorsichtshalber gleich Reißaus genommen hatte.

„Feigling! Der Tisch wird dir auch nicht lange Schutz bieten können.“

„Lange genug, um dir zu sagen, dass dir mein Nachbar sicher den Hof machen wollte.“

„Jetzt lauf!“

Joe bekam kurz darauf Rick zu fassen und begann ihn durchzukitzeln.

„Aufhören!“

„Jaja, jetzt um Gnade winseln. Nichts da.“

„Das ist gemein, du bist stärker als ich.“

„Selbst Schuld, wer hatte hier denn die große Klappe.“

Schnaubend ließ Joe dann doch von Rick ab, legte sich neben ihn auf den Fußboden. Der weiche Teppich sandte wohlige Wärme aus, die in seinen Körper überging.

„Warum hast du denn nicht gehört?“

Rick wand sich von seinem Freund ab, stierte die Wand an, die ihm in diesem Moment lieber war als das erhitzte Gesicht des attraktiven jungen Mannes neben ihm.

„’Einsame Seele’ hat geschrieben und… ich habe geantwortet“, flüsterte er kaum merklich.
 

/Warum muss ich immer dermaßen unbedacht sein? Wenn ich ihn so daliegen sehe, dann schnürt sich meine Kehle zu… er hat niemanden außer mich und ich bin nicht in der Lage, ihm den Schutz zu geben, den er braucht… manchmal tauge ich als bester Freund überhaupt nicht…/, dachte Joe.
 

„Verzeih mir meine Indiskretheit.“

„Schon gut, das konntest du ja nicht wissen.“

„Dennoch könnte ich manchmal sensibler sein.“
 

/Wenn ich schon nicht rund um die Uhr für dich sorgen kann, dann will ich wenigstens in der Zeit, in der ich bei dir bin, nichts falsch machen und dich nicht traurig stimmen./
 

„Hey, mach dir mal keinen Kopf, mir geht es schon wieder gut.“

Schwungvoll richtete sich Rick auf und hielt Joe eine Hand entgegen. Bereitwillig, aber ein wenig irritiert, ergriff er sie und ließ sich aufziehen.
 

/Du bist wahrlich eine Kämpfernatur, wofür ich dich schon so oft bewundert habe./
 

„Was wollen wir denn heute unternehmen? Als ich heute aufgewacht bin, dachte ich mir, dass man einen so schönen Tag nicht ungenutzt lassen sollte. Also, fällt dir spontan was ein?“

Fragend sah Joe dem Kleineren in die meerblauen Ozeane.

„Mhh, wir wäre es mit einem Spaziergang im Park?... so wie in alten Zeiten, bis auf dass wir nicht dort herumtollen.“

„Och warum nicht? Lass uns nach Histerian fahren und nachsehen, ob unser Baum noch steht.“
 

/Da dich deine Familie verstoßen hat, möchte ich dir zumindest ein wenig Glück aus deiner Kindheit zurückbringen./
 

„Für den Vorschlag hast du sicher die ganze Nacht lang gegrübelt.“

„Unterschätze mich nicht.“

„Und wenn schon, ich finde das eine geniale Idee. Ich mach uns schnell noch ein paar Brote, dann können wir gehen.“

„Hach, du denkst an mich.“

„Und deinen Magen.“

„Ja, der freut sich immer, dich zu sehen.“

„Das glaub ich sogar.“

Kapitel 11

Kapitel 11
 

„Ich hatte gar nicht mehr in Erinnerung, dass die Fahrt nach Histerian so lange dauert“, seufzte Joe, der heimlich nach der Tasche griff, in die Rick das Essen gepackt hatte.

„Unterstehe dich!“

„Wie-“

„Das Rascheln der Folie hat dich verraten. Also leg es wieder weg und warte, bis wir da sind.“

„Nichts darf man hier.“

Rick zuckte mit den Schultern. „Tja, wenn du dich auch nicht zu benehmen weißt.“

„Sonst geht es dir noch gut, ja?“

„Natürlich.“

Grummelnd schloss Joe den Reißverschluss des Rucksacks wieder und legte seinen Kopf an die Fensterscheibe, aus der er nun sah. Der Bus, mit dem sie fuhren, war kaum besetzt, so dass das Brummen des Motors fast das einzige war, was an seine Ohren drang.

„Rick?“

Auf seltsame Art und Weise klang er gedankenverloren und plötzlich bedrückt, was Rick das Lächeln aus dem Gesicht trieb.

„Ja?“

„Irgendwie ist es schon komisch, wieder dorthin zu fahren.“

„Ja schon… aber ist es nicht auch schön, etwas zu besuchen, was einem am Herzen liegt?“

„Du hast Recht.“

Einverständlich nickte Joe seinem fahlen Spiegelbild entgegen und betrachtete sich dann die Silhouette, die zu seinem Freund gehörte. Lange ruhte sein Blick auf dem Dunkelhaarigen, bis er dann die Augen schloss und durch das ruhige Atmen des jungen Mannes neben ihm beseelt eindöste.
 

„Wach auf!“

„Mhh?“, kam es verschlafen aus Joes Mund.

„Wir sind da. Komm schon, sonst lass ich dich hier zurück.“

Rick zupfte an Joes Jackenärmel und zog dann daran.
 

/Zwar würde ich dies nie tun, doch es scheint zu wirken./
 

Plötzlich hellwach sprang Joe auf, hätte Rick beinahe umgerempelt, konnte ihn aber noch festhalten, so dass sie lediglich gemeinsam aus dem Bus stolperten. Als er das schmerzverzerrte Gesicht seines Freundes sah, setzte Joe ein besorgtes Gesicht auf.

„Hab ich dir wehgetan?“

„Halb so wild.“

„Nein, zeig her, denn du hörst nicht auf, deine Hand zu reiben.“

Er griff nach Ricks Hand und begutachtete sie.
 

/Ich hätte nie im Traum daran geglaubt, dass du so schnell erneut meine Hand hältst… fühlst du auch diese vielen kleinen Schmetterlinge im Bauch, die wild mit den Flügeln schlagen?/
 

„Haben wir Pflaster im Rucksack?“

„Ich denke schon“, entgegnete der Kleinere kleinlaut. Ihm war die Situation irgendwie unangenehm, da sich wohlige Hitze nach und nach in seinem Körper ausbreitete und all seine Gegenwehr nichts nützte.

„Ha, da haben wir es. Nun drauf damit. Tut mir leid, dass ich nicht aufgepasst habe.“

„Das hast du schon längst wieder gut gemacht.“

Verlegen drehte sich Rick weg und lief ein paar Schritte. Er musste Luft holen, damit sein Herz nicht mehr so schnell schlug. Die Nähe zu Joe häufte sich zunehmend und er hatte sehr viel Mühe damit sich zu beherrschen. Wenn er ihm doch sagen könnte, dass… Energisch schüttelte er den Kopf und hoffte, Joe bemerke seine Nervosität nicht.

„Hier hat sich nichts verändert“, begann Joe, als er Rick eingeholt hatte. „Sieht noch genauso aus wie früher.“

Die Blicke der beiden schweiften in Einklang zu den hohen Bergen, dann über die weiten Wiesen bis hin zu dem kleinen Waldstück rechts von ihnen. Ein Schwarm Vögel kreiste über ihre Köpfe hinweg, bildeten eine neue Formation und verschwand hinter den bereits in bunten Farben schillernden Wipfeln. Der Bus hinter ihnen startete seinen Motor wieder und fuhr ab.

„Ebenso so herrlich schön.“

„Ich mag die heilige Atmosphäre ja nicht stören, doch hörst du nicht meinen armen Magen?“

Entgeistert wandte sich Rick seinem Freund zu und bedachte ihn mit einem geringschätzigen Blick.

„Hey, habe Nachsicht, mein kleiner Romantiker. Ich verspreche dir, dass ich dich dies hier alles genießen lasse, wenn mein Hunger gestillt ist.“

„Du bist eine Sünde. Betrittst kaum solch prächtige Landschaft und denkst nur ans Essen.“

„Kann ja nicht jeder so heillos romantisch veranlagt sein wie du.“

„Gib mir den Rucksack.“

Fordernd streckte Rick seinen Arm aus, den der Blonde nun fest umklammerte.

„Da denke ich im Leben nicht dran.“

„Fresssack.“

„Na und?“

Joe lief ein paar Schritte rückwärts, denn Ricks Hand kam gefährlich nahe, wollte ihm das nehmen, was sein Magen so sehr begehrte.

„Das ist alles meins.“

Bevor Rick doch einen Teil des Rucksacks erhaschen konnte, begann er in Richtung des Waldes zu rennen.

„Wer zuerst da ist, darf alles aufessen“, rief er über die Schulter hinweg dem Kleineren zu.

Der verdrehte die Augen, rannte dann aber hinter Joe her. Völlig außer Atem erreichte Joe zuerst den großen Kastanienbaum, der seine Äste weit von sich streckte. Eilig öffnete er die Tasche und holte einen großen Beutel heraus. Da er kurz nicht aufpasste, ergriff eine Hand den Beutel und entriss ihn ihm.

„Und nun?“, kam es frech über Ricks Lippen.

„Das ist nicht fair.“

„Ach was. Klettere da rauf und du bekommst was ab.“

„Das klingt ja, als ob du mit einem Hund reden würdest.“

„Komm Blondschopf, rauf da!“

„Pah und ich höre auch noch“, murrte Joe, als er den Fuß auf den ersten Ast aufsetzte.

Es dauerte keine drei Minuten, da hatten es sich beide auf dem Geäst gemütlich gemacht. Mit einem zufriedenen Grinsen fing Joe den Beutel mit den belegten Broten auf.

„Du hast eben doch ein Herz für Tiere.“
 

„Es ist schon ungefähr zwei Jahre her, dass wir das letzte Mal hier oben saßen.“

„26 Monate, es war mitten im Hochsommer“, sagte Rick eher zu sich selbst, denn in Gedanken war er weit in die Ferne geschweift. Einerseits genoss er in vollen Zügen den Ausblick, er konnte über die gesamte Grünfläche blicken, die am Fuß des mittelhohen Berges endete, andererseits schwelgte er in den Bildern, die sich vor seinem inneren Auge aufgetan hatten, als er den Baum berührt hatte. Die Drucke von Realität und Vergangenheit verschmolzen allmählich miteinander und woben ihn in ein seidenes Band.

„Wir wollten uns von diesem Ort verabschieden und dies mit einer uns selbst erdachten Zeremonie“, erzählte Rick leise. „Weißt du noch, wie die Kerzen unter uns brannten und den Baum in ein warmes Licht tauchten? Du hieltest mich für verrückt, weil ich das unbedingt durchziehen wollte, doch am Ende fandest selbst du Gefallen daran und wurdest traurig, weil wir von hier fort gingen.“
 

/Tagelang hast du mich dazu überredet… all meine Widerreden waren vergeblich gewesen. Und als ich dann in deinen Augen las, dass es dir ernst war, stimmte ich zu/, dachte Joe im Stillen.
 

„Die Nacht war lauwarm und wir verbrachten sie komplett hier. Erst als die ersten Sonnenstrahlen am Himmel auftauchten, bliesen wir die Kerzen aus und sagten Lebewohl… Warum sind wir nicht eher wieder hergekommen?“
 

/Die Rhetorik deiner Frage überrascht mich nicht… ich nahm dir zuliebe Abschied von diesem Ort, damit du mit deinem alten Leben abschließen konntest. Ich bin dir gefolgt, habe selbst alles hinter mir gelassen, denn ich konnte dich nicht unbeschützt den großen Schritt wagen lassen./
 

„Es erfüllt mich mit Freude, dass ich solch prachtvolle Umgebung nicht nur mit schlechten Erinnerungen in Verbindung bringen kann. Diese Schönheit und Anmut ist ein Teil von mir, auch wenn ich ihr eine Zeit lang entsagen musste. Ich bin wirklich glücklich hier zu sein.“
 

/Du hast tapfer gekämpft, mein kleiner Romantiker. Für den Sieg über die erlebten Grausamkeiten habe ich immer gebetet und nun zeigst du mir, dass mein Hoffen nicht umsonst war./
 

„Rick, sieh mal nach unten!“

Ein kleines Kitz knabberte an dem einen Riemen des Rucksacks, den sie unten am Fuß des Baumes stehen gelassen hatten. Als er aber aufgrund seiner Leichtigkeit zu schnell nachgab, schüttelte sich das Tier und trabte weiter.

„Irgendwie haben es die Waldbewohner auf deine Sachen abgesehen.“

„Hm? Ah meinst du den Biber?“

Rick war noch immer von seichter Melancholie umgeben und nickte nur.

„Solange sie Spaß daran haben“, schloss Joe das Thema.
 

/In deinen Augen zeichnet sich ein unbeschreiblicher Glanz ab, während du das Spiel der Natur verfolgst. Dein Herz ist ebenso rein wie dieses Fleckchen Erde, so unschuldig, aber auch ebenso leicht zu verletzen. Lass es dir niemals zerstören, dafür bist du zu wertvoll./
 

„Wollen wir nun ein wenig spazieren gehen?“, fragte Joe hoffnungsvoll. Sein Bauch fühlte sich so voll an, dass er Bewegung dringend nötig hatte.

„Jetzt schon?“

„Habe Erbarmen.“

„Wir sind doch gerade erst gekommen.“ Ein Blick auf die leere Tüte genügte Rick, um zu verstehen. „Du hast doch nicht im Ernst alles auf einmal gegessen?“

„Also das war so… Du hast geredet und da ich dich nicht unterbrechen wollte, habe ich mich anderweitig beschäftigt.“

„Nun bin ich schuld, oder was!?“

„Sicher, siehst du sonst noch wen?“

„Geh doch allein.“

„Klopf, klopf. Komm schon mit.“

„Ich soll mich mit solch einem Vielfraß abgeben?“

„Ohne dich ist es nicht das gleiche.“

„Darauf fall ich nicht rein.“

„Och Rick, lass dich doch nicht immer von mir aufziehen.“
 

/Auch wenn es lustig ist./
 

„Los klettere schon runter, sonst muss ich über dich drüber steigen.“

„Danke vielmals, mein großzügiger Magenfüller.“
 

In stiller Zweisamkeit liefen sie durch den Wald, stiegen über hoch herausragende Wurzeln und ließen heruntergefallene Blätter unter ihren Füßen rascheln.

„Triffst du Julia noch?“

Die Frage war ungewollt laut ausgesprochen, doch sie beschäftigte Rick schon eine ganze Weile. Das Schweigen, das seit dem Verlassen des Kastanienbaumes eingetreten war, war damit durchbrochen.

„Wir sind für heute Abend verabredet.“

„Wie… wie ernst ist das zwischen euch beiden?“

Eine Antwort ließ lange auf sich warten und Rick hätte beinahe seinen Freund angeschrieen, er solle doch endlich etwas sagen. Doch der Kleinere hielt sich zurück und nestelte stattdessen an dem Reißverschluss seiner Jacke. Innerlich schalt er sich für die Frage, denn er war sich nicht sicher, ob er tatsächlich eine Antwort hören wollte. Insgeheim hatte er zu viel Angst, dass sie seine schlimmsten Befürchtungen bestätigen würde.

„Das kann ich nicht sagen. Wir verstehen uns wirklich blendend, aber…“
 

/Aber was? Joe, tu mir das nicht an! Schaffe Klarheit in das Chaos meiner Gefühle… du bist hier bei mir und doch verweilt dein Herz bei einer Frau, hab ich Recht?... Oder nicht?/
 

„Aber?“, wiederholte Rick dezent.

„Ach, wir kennen uns noch nicht lange, aber es könnte noch sehr ernst werden.“
 

/Warum hast du gezögert?... Sag mir, warum!/
 

„Eine Beziehung baut sich langsam auf, da kann ich nicht sofort sagen, dass ich sie über alles liebe. Das verstehst du doch, oder?“
 

/Wenn du solch ein Geständnis gerne hören würdest, könnte ich dir diesen Gefallen tun…/
 

„Ja. Heißt das, dass du dir bei ihr noch nicht sicher bist?“

„Ich habe sie wirklich sehr gerne und bekomme weiche Knie, wenn ich sie sehe. Also das spricht doch für sich.“

Verschmitzt grinste er den Kleineren an, der halbherzig zurücklächelte. Rick war mit einem Mal elendig zumute, musste dies aber verstecken, konnte seine Gefühle aber nicht lange verbergen. Er hielt sich den Bauch und beugte sich vornüber.

„Hey Rick. Hast du Schmerzen?“

„Hab wohl das Essen nicht vertragen“, redete er sich aus der Wahrheit heraus.

Joe stützte ihn und half ihm auf eine Bank, die ganz in der Nähe stand.

„Ein Schluck Wasser sollte helfen. Ohweh, haben wir den Rucksack etwa am Baum stehen gelassen!?“

Ein weiteres Mal drehte sich Joe im Kreis und suchte alles nach dem dunkelblauen Stoff ab.

„Kann ich dich hier einen Moment allein lassen, dann hole ich ihn schnell.“

„Kein Problem, bis gleich.“

Nichts war Rick lieber als das. Einen Augenblick der Einsamkeit ausgeliefert zu sein war das, wonach er sich gerade sehnte. Warum war er so idiotisch gewesen und hatte Joe nach Julia gefragt? Das Beisammensein mit ihm an dem Ort, der sie sehr miteinander verband, war so schön gewesen und er stellte dennoch diese Frage. Wie konnte man nur so dumm sein? In Rick stiegen Tränen auf, die leise an seinen Wangen hinabkullerten. Die Frage, ob er ’Mission 2’ überhaupt noch antreten würde, kreiste in seinem Verstand.
 

/Ist doch eh vergebens!/, schreite es in Rick. /Vergiss es, du wirst ihn nie für dich bekommen!/
 

Kraftlos stampfte er mit einem Fuß auf den weichen Untergrund, der nachgab und lediglich leises Knistern von sich gab.
 

/Mach dir nichts vor und sieh es endlich ein!/
 

„Ich will aber nicht“, hauchte er in die herbstlich duftende Luft hinein, die seine Worte in sanften Schwingen mit sich trug. Trotzig beseitigte er die kleinen schimmernden Perlen, die ihm auch nicht halfen.
 

/Ich gebe nicht auf! Niemals!/
 

Joe kehrte zurück und reichte ihm eine Plastikflasche.

„Geht’s wieder?“

„Ja, danke dir.“
 

Danach gingen sie weiter, redeten über belanglose Dinge, was Rick sehr zugute kam. Als es allmählich zu dämmern begann, beschlossen sie, nach Hause zu fahren. Kurz vor der Bushaltestelle, drehte sich Rick noch einmal um, sah auf den Wald, glaubte, ihren Baum sehen zu können.
 

/Ich werde nicht wieder zwei Jahre auf mich warten. Mach’s gut, heil’ger Ort, der du mir die Sehnsucht nachempfinden kannst./

Kapitel 12

Kapitel 12
 

„Und du kommst auch wirklich nicht zu spät zu deiner Verabredung?“, fragte Rick den blonden jungen Mann, der ziemlich nervös wirkte und ständig unruhige Blicke auf die lederne Uhr an seinem Armgelenk warf.

„Wenn nun nichts mehr dazwischen kommt, dann schaffe ich es rechtzeitig.“

„Es konnte ja keiner ahnen, dass der Bus plötzlich eine Reifenpanne hat.“

Verstohlen sah Rick immer auf die drei kräftigen Männer, die gerufen worden waren, um dem ältlichen Busfahrer beim Reifenwechsel zu unterstützen. In ihren blauen Overalls stemmten sie mit vereinten Kräften das Ersatzrad hoch und bugsierten es in mühevoller Kleinarbeit auf die Narbe. Joe neben ihm lief ständig ein paar Meter auf und ab, konnte seine Augen dabei einfach nicht von dem großen schwarzen Zeiger lassen, der viel zu schnell zu hüpfen schien.

„Da schau, die ziehen schon die Muttern fest!“

Zwar freute das Rick nicht sonderlich, aber er wollte Joe ein wenig aufmuntern. Zu gern würde er ihm sagen, er solle Julia vergessen, denn sie sei nicht die Richtige für ihn. Doch wenn er nur ein Sterbenswörtchen in dieser Hinsicht von sich geben würde, würde er davon ausgehen müssen, dass Joe sauer und ihn vielleicht missachten würde. Und das konnte er auf gar keinen Fall herausfordern!

„Ja, schön.“ Das war das Einzige, was Joe erwiderte.

„Ich habe dir noch eine Kleinigkeit vorenthalten“, begann der Kleinere und fixierte dabei seinen Freund. „Würde dich ein Crossaint entschädigen?“

Mit einem Mal blieb Joe stehen und wusste nicht recht einzuordnen, was er da eben gehört hatte. Rick amüsierte sich über den irritierten Gesichtausdruck, der sich allmählich zu lichten begann.

„Wie konntest du mir die ganze Zeit verschweigen, dass wir noch was zu essen haben!?“

„Naja, ich hatte es vergessen, doch als ich dich eben so mürrisch auf- und ablaufen sah, ist es mir wieder eingefallen.“

Entschuldigend zuckte er mit den Schultern und hielt Joe den Rucksack entgegen. Bestimmend griff dieser nach ihm und es dauerte nicht lange, da hatte er schon die Hälfte des Crossaints verschlungen.

„Wie immer legger, wenn du wasch dabei hascht.“

„Okay, ich versuch erst gar nicht, dich zu ermahnen.“

„Siehsch doch mal scho“, Joe schluckte, „so weißt du wenigstens, dass es mir schmeckt.“

„Na dann.“

„Das war jetzt genau das, was ich brauchte.“ Gierig schleckte sich der Größere die Finger ab und warf die Tüte, in der das Crossaint aufbewahrt worden war, in den kleinen Abfall am Straßenrand.

„Dachte ich mir.“

„Mein kleiner Romantiker weiß mich eben zu beruhigen.“ Mit dem Zeigefinger seiner Rechten tippte er Rick an die Stirn.

„Das ist ja auch keine Kunst, wenn man weiß, dass Essen deine größte Leidenschaft ist.“

„Besser als deine Leckereien zu verschmähen, oder?“

„Dem kann ich nicht widersprechen.“

„Alle einsteigen!“, rief eine raue Stimme, die wohl dem Busfahrer gehörte.

„Wurde auch Zeit!“ Joe fackelte nicht lange und lief zum Bus, zog dabei Rick hinter sich her, um ja keine weitere wertvolle Minute mehr zu verlieren. „Können die sich nicht mal beeilen, diese gekünstelte Ruhe regt mich auf!“ Er sah auf die kleine Menschenmenge, die noch vor der Tür stand.

„Pssst, sonst hören die dich noch.“

„Na und? Vielleicht bewegen sie dann ihre Hintern hier rein!“

Ratlos beobachtete Rick, wie Joe mit Armen und Beinen fuchtelte und eine Frau anfauchte, die dann eiligst an ihm vorbeihuschte.

„Es tut mir sehr leid, dass Sie diese Verzögerung in Kauf nehmen müssen, doch als Dankeschön für Ihre Geduld wird gleich ein Korb herumgehen, aus dem Sie sich alle etwas nehmen dürfen.“ Das Rauschen des Lautsprechers verstummte.

„Das kann er sich sonst wo hinstecken.“

„Joe, jetzt reicht’s aber!“

Länger konnte der Dunkelhaarige den Missmut des anderen nicht mehr ertragen, da er sowieso schon viel zu lang dabei zugesehen hat, wie er seine Mitmenschen mit seinen Gesten beleidigte. Aus Joes Kehle drang ein lautes Knurren, aber er ließ sich am Ende dann doch resigniert in seinen Sitz fallen. Schweigend schaute er auf die Uhr.

„Ruf sie doch an und sage ihr, dass du ein wenig später kommst.“

Rick konnte sich nicht erklären, warum Joe tonlos dasaß und nichts in derlei Hinsicht unternahm.

„Kratzt es an deinem Stolz, ihr mitzuteilen, dass du dich verspätest?“

„Das ist es nicht“, antwortete Joe kleinlaut, besah den Boden unter seinen Füßen mit größter Sorgfalt.

„Du trägst ja nicht mal die Schuld“, setzte Rick an, wurde aber sogleich von einer Hand auf seinem Mund zum Schweigen gebracht.

„Lass es gut sein, ja?“, murrte Joe und sah ihn dabei böse an.

Was war denn nun los? Hatte er was Falsches gesagt? Seit wann schnürte ihm Joes Blick dermaßen die Kehle zu? Wann hatte er ihn das letzte Mal so aggressiv gesehen?

„Ich… wollte nichts… Falsches… von mir… geben.“ Jedes Wort war eine Qual, wollte einfach nicht ausgesprochen werden und glich einer Tortur, es doch über die Lippen zu bringen.
 

/Warum sagst du nichts mehr? Hab ich deine Abweisung wirklich verdient? Dann erkläre mir weshalb. Weshalb lässt du mich links liegen und heftest deine Blicke an den grauen Untergrund, der dein Interesse eigentlich gar nicht wecken könnte?/
 

„Tut mir leid“, fügte Rick schwach hinzu und wandte sich ab. Draußen war es dunkel, der Himmel von einem Schwarz gezeichnet, das ihm gerade willkommen war. Kleine funkelnde Sterne gaben hier und da ihr Licht preis, wollten der Finsternis dann doch nicht allein die Herrschaft überlassen.

„Das braucht es nicht zu tun.“

Verunsichert drehte Rick den Kopf, glaubte seinen Augen kaum, dass Joe beschämt an seinem Handy spielte.

„Weißt du, ich…“

’Ja?’, wollte Rick den anderen bedrängen, unterließ es jedoch.

„… habe ihre Nummer nicht.“

Erstaunt fiel dem Kleineren die Kinnlade herunter, denn damit hatte er nicht mal näherungsweise gerechnet. Anstatt etwas zu sagen, sah er auf Joes Finger, die ziellos über die kleinen Tasten huschten.
 

/Du hast ihre Nummer nicht?/, wiederholte Rick lautlos. /Aber… ward ihr nicht schon ein paar Mal aus? Ich meine, dass es dann selbstverständlich sei, die Nummer des anderen zu haben… Das… verstehe ich nicht, denn es ist entspricht gar nicht deiner Art, so offen und direkt wie du bist./
 

„Da vorne!“ Joes Stimme riss Rick aus seinen Gedanken und sah auf die verwiesene Stelle.

„Ich sehe nichts.“

„Da gibt es auch nichts zu sehen, ich wollte nur, dass du mich nicht mehr so anstarrst.“

„Öhm…“

„Jaaa, ich habe die Nummer wirklich nicht, zufrieden?“

Abwehrend hob Rick die Hände und war um eine Antwort verlegen.

„Aber ich werde sie nachher darum bitten“, fügte Joe hinzu und steckte sein Handy zurück in die Hosentasche.

„Sie bringt dich ziemlich durcheinander“, dachte Rick laut, zu laut!, denn er wurde sogleich in Augenschein genommen.

„Vernehme ich da Missgunst?“
 

/!!!/
 

Ricks Augen weiteten sich und er biss sich auf die Unterlippe. Wie konnte er nur solch bitteren Klang in seine Stimme mischen?
 

„Du musst dich verhört haben“, versuchte er sich herauszureden, bemerkte selbst nur allzu gut die Vibration in seinen Worten, die von großer Unsicherheit ausgelöst wurde. „Dein Glück ist auch mein Glück. ÄHM, du weißt schon!“
 

/Nein! Halte endlich den Mund, sonst musst du dich immer tiefer in Ausflüchte hineinmanövrieren, die du mittlerweile selbst leid bist!/
 

„Du wirst rot.“

Tatsächlich stieg ihm die Röte ins Gesicht und wollte ihn bloßstellen.

„Weil ich es nicht leiden kann, so direkt angesehen zu werden.“

„Hehe, dann sollte ich dich noch ein wenig länger anstarren.“

Sanft griff Rick nach der Schulter seines Freundes und drückte ihn weg.

„Hebe dir das für Julia auf.“

„Keine schlechte Idee“, grinste Joe nun und befreite den Kleineren aus seinen Blicken.
 

/Ich bin so ein Idiot!!! Ermutige ihn auch noch, wo das doch gar nicht in meiner Absicht liegt…/
 

Innerlich schalt sich Rick immer und immer wieder. Er war heilfroh, als sich die ersten Häuser vor seinen Augen auftaten und darauf hinwiesen, dass sie fast da waren. Die hohen Fassaden waren grau, nur die unteren Stockwerke waren umspielt von dem orangenen Licht der Laternen, die in gleichmäßigen Abständen die Straße säumten. Ihre Haltestelle zeichnete sich alsbald im Dunkel des Abends ab und ließ Rick erleichtert aufatmen. Endlich konnte er aus den Fängen seiner Selbstvorwürfe entkommen, die ihn beinahe zur Verzweiflung trieben.
 

„Ich wünsche dir einen schönen Abend“, verabschiedete er sich von Joe. „Grüß Julia von mir.“

Er hatte Anstand und wollte diesem keinesfalls entsagen!

„Werde ich ihr ausrichten. Mach’s gut!“ Eilig rannte der Größere davon, dessen Schritte lange in Ricks Kopf nachhallten.
 

/Wenn das Schicksal es so möchte, dann bin ich machtlos…/
 

Mit langsamen Schritten begab sich Rick nach Hause, bedachte die Mondsichel dabei immer wieder mit traurigen Blicken.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, streifte er die Jacke vom Leib, ließ sie ungeachtet auf den Boden fallen und schlurfte in den Raum, der zugleich Küche und Wohnzimmer war. Mit einem Klick war der Fernseher an und er ließ sich von ihm eine Weile berieseln. Angeödet von dem schlechten Programm, schaltete er wieder ab, blieb aber noch auf dem Sofa liegen. Warum spielte das Schicksal mit ihm ein derart böses Spiel? Warum konnte sich nicht einfach alles zum Guten wenden und ihm die Last von den Schultern nehmen, die ihn in die Knie zwang?
 

/Anderen ergeht es schlechter als mir!/, rief eine dünne Stimme in ihm, die zum Ende hin anschwoll.
 

„Das stimmt“, erwiderte er rau und ihm fiel sogleich ’Einsame Seele’ ein.
 

/Ich frage mich, was sein Vater getan hat, dass er dermaßen unglücklich ist… Ob ich es irgendwann erfahren werde?/
 

Er verweilte nicht länger auf der hellblauen Couch, sondern hatte den Gedanken gefasst nachzusehen, ob er neue Mails hat, und ging diesem nach.
 


 

’Heilloser Romantiker,
 

kannst du mir denn sagen, was Liebe ist? Ist das nicht nur ein einfach dahergesagtes Wort?

Du meintest, es sei ein Gefühl, dem man nicht entsagen darf. Doch was ist, wenn einem die Liebe mit einem Mal genommen wurde? Nach dem Motto: Gib sie mir, du brauchst sie eh nicht! Seitdem höre ich ständig dieses Wort und mit jedem Mal kommt es mir unwichtiger und bedeutungsloser vor. Es hat einfach keinen Sinn. Warum sollte man lieben, wenn man dann nur Schmerz und Qualen erleidet?

Ich brauche keine Liebe!

Denke nur an die Finsternis, die frohlockt!
 

Und doch sehe ich dich als mein Glück… an dem ich momentan festhalte.
 

Deine Einsame Seele’
 

In Rick keimte die Frage, warum gerade e-r von ’Einsame Seele’ ausgewählt worden war, warum er i-h-m schrieb und i-h-m sein Innerstes offenbarte. Die Antwort sollte irgendwann folgen, doch nicht an diesem Tage. So tat er die Frage mit einem Schulterzucken ab und wollte zurückzuschreiben.

Wie von Beginn an blieb er lange regungslos vorm Computer sitzen und ließ seine Finger auf der Tastatur ruhen. Es war aber auch wirklich nicht leicht, Kontakt mit einem überaus verzweifelten Menschen zu haben. Bei solch einer Mutlosigkeit und Bekümmernis konnte jedes Wort ein Vergehen sein. Als nach einer geschlagenen halben Stunde immer noch kein einziger Buchstabe auf dem Bildschirm zu sehen war, beschloss Rick, seine Antwort zu vertagen. Lieber verschob er sie, als dass er mit Unbedacht an die Sache heranging.

Gerade als er ’Outlook’ schließen wollte, blinkte eine neue Nachricht auf. Darin standen nur vier Worte, vier klitzekleine Worte, die eine ungeheure Macht auf Rick ausübten. Stocksteif wurde sein Körper und er erbebte.
 

’Ich möchte dich treffen!’

Kapitel 13

Kapitel 13
 

/Ich….
 

… möchte
 

… dich
 

…treffen!/,
 

wiederholte Rick in seinem Verstand, konnte die Bedeutung dahinter nur allzu gut erfassen. Ein Treffen…
 

… aus heiterem Himmel?
 

… so plötzlich?
 

… und überhaupt!
 

Tief, wirklich tief atmete er durch, wollte sein Hirn mit Sauerstoff versorgen, das nämlich arg zu rattern schien. Ein Treffen bedeutete sich real gegenüberzustehen, hieß seine Anonymität zu verlieren, besagte Nähe! Wollte er das alles? War er denn dazu bereit?

Insgeheim hatte er die Anzeige doch nur aufgegeben, um Joe nicht vor den Kopf zu stoßen. Er hatte nie vorgehabt, jemanden, der sich auf sie melden sollte, zu treffen. Also, was saß er hier untätig vor dem Computer rum anstatt ein fettes NEIN DANKE zu antworten?

Das war wirklich eine sehr gute Frage… Konnte er sie denn auch beantworten?

So einige Phrasen kamen ihm in den Sinn, doch keine traf die Wahrheit, vor der er sich eventuell einfach zu voreilig entziehen wollte. War es denn nicht so, dass ihm ’Einsame Seele’ etwas bedeutete?

Vehement schüttelte Rick den Kopf, wollte eine derartige Vermutung nicht zulassen. Er hatte Joe und nur Joe und niemand anderen!

Nein, das war es ja nicht einmal… ’Einsame Seele’ war ein Mensch, der ebenso schlecht von der Welt dachte wie er selbst und dessen Mails ihm nahe gingen, ihn auf eine unsanfte Art und Weise berührten. Ja, vielleicht wollte er sogar den Mann kennenlernen, der es vermag, sein Herz anzusprechen… aber noch war er nicht so weit und er konnte nicht ausschließen, dass er das nie sein würde.
 

Geschlagene drei Stunden vergingen, in denen Rick entweder vor seinem Computer auf und ab lief, aus Verzweiflung seine Wohnung putzte oder durchs Fernsehprogramm zappte. Die vier kleinen Wörtchen ließen ihn einfach nicht los, hatten sich wohl so tief in seinen Verstand gebrannt, dass er sie nicht verdrängen konnte. Selbst das Foto von Joe, das in seiner Vitrine in einem dunkelblauen Rahmen stand, lenkte ihn nicht genügend ab, erinnerte ihn vielmehr an die Annonce und deren Folgen.

„Wie soll ich mich nur entscheiden?“, hauchte er dem Glas des Schrankes entgegen, das sogleich beschlug. Schwermütig wischte er über das Zeugnis seines Atemausstoßes, polierte die Stelle gleich säuberlich nach, solange, bis auch wirklich nichts mehr da war außer Glanz und noch mal Glanz. Dann betrachtete er darin sein Spiegelbild, das sich deutlich abzeichnete. Fragende Augen sahen ihm entgegen, die auch keinen Rat zu geben vermochten. Wenn ihm nur jemand die Entscheidung abnehmen könnte, ihm sagen, ja oder nein, geh oder geh nicht. Aber so leicht konnte man sein Leben nicht bestimmen beziehungsweise bestimmen lassen. Man war selbst verantwortlich für den Weg, den man einschlug und den man dann mit all seinen Folgen zu gehen hatte.

Widerwillig schlurfte Rick zurück ins kleine Zimmer und setzte sich mal wieder mit völliger Unsicherheit im Gefühl davor. Seine Hände schmiegten sich an die schwarzen Tasten mit den kleinen weißen Buchstaben darauf. Ohne seine Finger sanften Druck ausüben zu lassen, schloss er die Augen. Erst seichtes, dann immer heller werdendes Licht erschien wie ein Traum vor seinem inneren Auge, hüllte ihn alsbald vollkommen ein. Er brauchte nicht zu sinnen, er wusste, wo er das schon einmal gesehen hatte: in der Ruine, als Joe seine Hand ergriffen hatte. Sogleich pochte sein Herz ein wenig schneller, pumpte Blut durch seine Venen, die sachte pulsierten. Die Erinnerung an das alte Gemäuer war stark, die kalten Steine, die von dickem Staub bedeckten Gemälde zeichneten sich deutlich in dem Bild ab. Er sah Joe, wie er sein Gesicht hoch zur Decke gewandt hatte, er fühlte seine Hand um seine eigene umschlungen. Kurz darauf spürte er, wie die Wärme um seine Haut nachließ und er sah seinen Freund, der ihn anwies, mit nach oben zu kommen. Eigentlich war er gar nicht dazu in der Lage gewesen, war aber dennoch hinterher getrabt, hatte sich von der positiven Aura des Blonden angezogen gefühlt. Die Szene, wie er wie ein Schoßhündchen seinem Herrchen brav und artig folgte, lief an ihm vorüber und rief ein kleines Schmunzeln auf seinen Lippen hervor. Als er sich und Joe so sah, erkannte er, wie dümmlich man wirken konnte, wenn man verliebt war.

Das Bild vor ihm zeigte eine dunkle Türe aus Holz, durch ein großes Eisenschloss verriegelt, von dem er damals dachte, es sei nie und nimmer mit bloßer Kraft aufzubekommen. Aber Joe hatte ihn überrascht, hatte ihn vollkommen zum Staunen gebracht. Rick blickte nun auf einen Schlüssel, der im Schein seiner Taschenlampe funkelte, verlockend das Licht tanzen ließ. Wenig später klickte es laut und mit einem dumpfen Knarren öffnete sich die Tür. Fest glaubte er, die stickige Luft erneut einzuatmen, die unangenehm im Hals kratzte und der Lunge den nötigen Sauerstoff entwendete. Leise räusperte er sich. Im Moder, der von allen Seiten her zugleich auf sie einzuströmen schien, schritten sie durch einen Raum, der mit allem möglichen Gerümpel vollstand, der ihnen immer wieder im Weg war. Wie in einem Hindernislauf bahnten sie sich einen Weg durch das Zimmer, schoben Spinnweben zur Seite, duckten sich unter ihnen hindurch und suchten nach der Stelle, woher das seltsame Licht nach unten gedrungen war. Als sie am Ende vor einer kahlen Wand standen, die weder Fenster noch sonstige Öffnungen aufwies, rein aus kalten, nackten Steinen bestand, seufzte er laut auf.
 

„Wir haben uns in der Richtung getäuscht“, flüsterte er Joe zu, wagte seine Stimme nicht lauter zu erheben in Angst, seine kleinen Krabbelfreunde könnten alle auf einmal auf ihn einstürmen.

„Nö. Ich verirre mich nie.“

„Komm schon, sieh es ein, dass wir hier falsch sind.“

„Kommt gar nicht in Frage.“

„Dass du immer so stur sein musst.“

„Kritisiere mich nicht, sondern pass’ auf, was gleich passiert!“

Rick hielt die Luft an, als sich die Wand vor seinen Augen zu bewegen begann. Sie glitt förmlich über den Boden, kaum ein Geräusch war zu vernehmen, lediglich ein gleichmäßiges Rascheln, als der Staub vor seinen Füßen aufgewirbelt wurde und ein Luftzug entstand.

„Den Mund nicht mehr zubekommen, aber an mir zweifeln, das sind die Richtigen.“

Spitzbübisch wuschelte Joe durch die Haare seines Freundes und zog ihn dann durch den Spalt, der sich vor ihnen aufgetan hatte. Rick konnte es nicht fassen, dass er mit einem Mal in einem Raum stand, den er dort nicht vermutet hatte, denn als er sich den Grundriss vom Erdgeschoss ins Gedächtnis rief, konnte er sich nun wirklich nicht dort befinden, wo er nun war.

„Wo-woher wusstest du das?“

„Bin eben ein Genie.“

Lächelnd verdrehte Rick die Augen. „Ein Meister der Geheimtüren.“

„Endlich würdigst du mich, wie es mir gebührt… autsch!“

„Das konnte gar nicht weh tun.“

„Na und ob! Morgen habe ich bestimmt einen blauen Fleck auf meinem Arm.“

„Ich habe dich kaum berührt.“

Joe lachte, weil sich Rick tatsächlich verteidigte und dies gar nicht nötig hatte. Das ließ den Kleineren zum Schmollen verleiten.

„Hey, zieh´ nicht so einen Mund.“

„Na, aber wenn du-“

„Och Rick, nimm nicht alles so ernst.“

„Ha-haaa.“

„Nun lege deinen Sarkasmus ab und schau mal nach vorn.“

Gehorsam folgte Ricks Blick Joes Hand und erschauerte. Aus vielen kleinen Ritzen in der rechten Ecke drang Licht, genau dieses kalte und zugleich warme Licht, das sie unten gesehen hatten. Der Anblick war einfach nur aufregend, weckte ein Beben in ihm, das aus reinstem Abenteuerdrang bestand.

„Halt, nicht so stürmisch.“ Joe hielt Rick fest, so dass er nicht weitergehen konnte. „Bevor wir da jetzt hingehen, muss ich dir noch was erzählen.“

Verwundert schaute Rick den Größeren an.
 

/Du klingst so geheimnisvoll…/
 

„Ja?“

„Als ich den Hausbesitzer sprach, musste ich ihm ein Versprechen geben.“

„Ein Versprechen…?“

„Ja, du hast schon richtig gehört. Dieses Haus oder besser gesagt dieses Schloss ist wie schon erwähnt nicht fertig gestellt worden.“

Rick nickte, was Joe mit Genugtuung im bläulichen Schimmer seiner Taschenlampe wahrnahm.

„Es gab noch einen weiteren Grund, warum der Bau nicht fortgesetzt worden war. Der Fürst hatte eine Frau… die er wohl während der Arbeiten hier vernachlässigt hatte, weshalb sie eines Tages einfach verschwunden war. Seine finanziellen Möglichkeiten waren fast erschöpft, doch er setzte alle Hebel in Bewegung, um sie zu finden… Nach zwei Tagen war sie wieder bei ihm, doch er musste ihr versprechen, dass…“

Rick konnte kaum glauben, dass Joe einfach das Reden aufhörte. Voller Inbrunst knuffte er ihn in die Seite. „Was denn?“

„Rick?“

Was sollte Joes reservierter Unterton?

„Mh?“

„Wenn dir was wirklich wichtig im Leben ist, dann versprich mir, dass du es mit aller Kraft bei dir hältst.“
 

/…?/
 


 

Ricks Blick klärte sich und er sah den Monitor vor sich, der leise summte. Das helle Licht des Raumes irritierte ihn ein wenig, doch er entsann sich mühelos, wo er gerade war. Mit einem leisen Seufzer nahm er die Finger von der Tastatur und stützte seine Ellbogen auf den Tisch, so dass er sein Kinn in seine Hände betten konnte.
 

/Als ich dir mein Versprechen gab, lächeltest du und liefst davon… riefst mir ein ’Komm, nun dürfen wir hier rein!’ zurück… und wusstest vielleicht insgeheim, dass allein du damit gemeint warst…/
 

Nun tat sich in Rick ein Entschluss auf, der ihm als einzig richtig erschien. Er durfte ’Einsame Seele’ nicht treffen! Das würde alles zerstören, was er sich mühsam aufgebaut hatte. Mit reinem Gewissen konnte er doch seine fein säuberlich hochgezogene Mauer um sich herum nicht zum Einstürzen bringen… nicht für einen Menschen, den er nicht liebte.

Und doch nagten immer noch kleine Zweifel in ihm, tief verborgen, so dass er sie nicht wahrnehmen konnte oder absichtlich über sie hinweg sah.
 

Wie gern hätte er jetzt Joe angerufen, doch der steckte ja mitten in seiner Verabredung. Wenn er ihn da nun stören würde, müsste er sich darauf gefasst machen, gelyncht zu werden. Okay, es war wirklich schon spät, die Uhr zeigte viertel vor eins an, doch wie er seinen Freund kannte, war er noch nicht zuhause und wenn doch, dann gewiss nicht allein. Die Vorstellung, Julia läge nun in seinen starken Armen, würde von ihm liebkost und geküsst und… tat weh, sehr weh sogar. Beschwerlich verbannte er solch abscheuliche Szenen, denn sie brachten ihm wirklich nichts als Schmerz.

Trotzdem hätte er liebendgerne Joes Rat eingeholt. Er hielt eben viel auf die Meinung seines Freundes, auch wenn er dieses Mal einen kleinen, winzigkleinen, aber wichtigen Aspekt außen vor lassen müsste. Nie und nimmer könnte er ihm sagen, dass er wegen IHM Zweifel hegte, ’Einsame Seele’ zu treffen, dass ER der Grund war, weswegen er all die Qualen erlitt.

Rick dachte daran, wie schön es doch wäre, die Zeit zurückzudrehen. Er würde so weit zurückspulen, dass Julia noch nicht in ihrer beider Leben auftauchte. Partout konnte er diese junge Frau nicht ausstehen! Sie drängte sich zwischen Joe und ihn und das passte dem Dunkelhaarigen überhaupt nicht. Feuriges Blitzen flammte hinter seinen Lidern auf und er stand so unbeherrscht auf, dass sogar der Stuhl das Weite vor ihm suchte. Krachend kollidierte er mit dem Schrank an der hinteren Wand und der laute Knall beeindruckte Rick nicht im Geringsten, zu sehr kochte er vor Wut.
 

„Diese Kellnerin bildet sich ein, sie könne ihn mir wegnehmen,… grrrr….“
 

Rick entlockte seiner Kehle ein Knurren, das nicht mehr enden wollte. All den Kummer, den er in sich trug, projizierte er auf Julia und es war schlicht und einfach eine Genugtuung für ihn, einen Sündenbock gefunden zu haben. Egal, was ihn störte, Julia war schuld, egal, was ihn rasend machte, Julia war schuld!

Das fühlte sich wirklich toll an! Julia! Ja sie und nur sie! Sie ist das Übel!
 

„Sie ist die reinste Plage!!!“, schrie Rick aufgebracht in das ansonsten leere Zimmer hinein.
 

Die Worte schienen tausendfach an den Wänden widerzuhallen, was ihm gefiel, denn so konnte er sich davon überzeugen, dass sich das sein Verstand auch ja gut einprägte. Als es um ihn herum verstummte, fühlte er sich befreit, sein Herz fühlte sich endlich mal wieder leicht und sorgenlos an. Wie lange das andauern würde, wusste er selbst nicht, doch er genoss es. Lächelnd lief er ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage an. Er drehte die Musik ganz laut auf, überhörte geflissentlich die Beschwerden, die sofort von allen Seiten her auf ihn einstürmten, ob durch Klopfen mit einem Besen von unten an den Fußboden, ob durch wütendes Geschrei ausgedrückt. Sollen seine Nachbarn doch Einwände haben, das war ihm in diesem Moment vollkommen gleich. Er mimte sonst immer den braven, unscheinbaren Mieter, da konnte er ja wohl einmal aus seiner Rolle purzeln.

Zufrieden öffnete er das Fenster und lehnte sich hinaus in die dunkle Nacht, sog mit Wohlwollen die frische Luft ein und atmete sie langsam wieder aus. Genießerisch hob er die Arme nach oben und streckte sich, schloss dabei kurz sinnfreudig die Augen. Der Wind streichelte sein Kinn und er wiegte sich in den Wellen des Labsals. Selten war es ihm vergönnt, doch wenn er es einmal auskosten durfte, dann mit Leib und Seele!
 

Platsch! Eiskaltes Wasser regnete sturzflutartig auf Rick herab, dessen Augen sich vor Schreck weiteten und verwundert durch ein Gemisch aus Haaren und glänzenden Perlen blickten. Erst leise, dann immer lauter begann er zu lachen, schüttelte seinen Kopf ein paar Mal hin und her, so dass die Tropfen nur so um sich flogen.
 

„Danke!“, rief er extra fröhlich nach oben, hoffte, sein Nachbar würde sich darüber ärgern, dass sein Einsatz nicht den Effekt erzielte, den er sich damit gewünscht hatte.
 

Rick drehte die Anlage noch ein Stückchen lauter, begann mitzusingen und rubbelte sich währenddessen mit einem Handtuch trocken. Als er sich einigermaßen trocken wusste, besah er sich den gelben Stoff und benutzte ihn sogleich als Mikrofon. Wenig später sank er auf die Knie vor Lachen und hielt sich den Bauch, der allmählich weh tat.
 

Es tat einfach gut! So gut…

Kapitel 14

Kapitel 14
 

Unschlüssig hielt Rick den Telefonhörer in seiner Linken. Es war halb elf Uhr morgens und er hatte den erholsamsten Schlaf, den man sich nur irgend vorstellen kann, hinter sich. Eine Nacht, die neue Energien und Vitalität weckte, durfte ihm zuteil werden, was an der Frische seines Teints gut sichtbar war. Seine Augen strahlten das pure Leben aus.

Das cremefarbene Plastik, seit Minuten von seiner Hand gewärmt, zog unentwegt seinen Blick auf sich und wollte von ihm bedient werden; die Tasten jedoch blieben unberührt. Seine Finger wollten die entsprechenden Knöpfe einfach nicht drücken.

Sein Zögern beruhte auf der Tatsache, dass er Angst davor hatte, er könne Joe aus dem Bett klingeln und dann böse angefahren werden, er hätte Julia geweckt und wäre schuld daran, dass der Morgen danach nicht mehr perfekt werden könne.

Gab es denn einen Morgen danach? – Rick befürchtete es, sicher war er sich aber nicht. Zu lange und zu gut kannte er Joe, darum konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er mit Julia geschlafen hatte und sie jetzt noch bei ihm war oder eben nicht. In seinen früheren Beziehungen hatte sich Joe immer erst sicher sein wollen, dass das Mädchen für ihn die Richtige war. Ein wirklich seltener Charakterzug bei Männern, doch das war genau der Funken Hoffnung, den Rick aufbaute und ihn den Hörer in den Händen halten ließ. In Gedanken stellte er sich seinen Freund vor, wie er allein in seinem Bett lag… allein, das war für ihn das Schlüsselwort und ermutigte ihn, endlich seine Nummer zu wählen. Es läutete und Rick horchte voller Anspannung auf das in gleichmäßigen Abständen auftretende Tuten.
 

/Komm schon, Joe, geh’ ran…/
 

Nach dem achten Läuten machte es endlich Klick und eine total schlaftrunkene Stimme ertönte.
 

„Hallo?“

„Hi Joe, habe ich dich etwa geweckt?“
 

Rick wollte so unschuldig wie möglich klingen, war sich ja nur allzu sehr bewusst, dass er das mit seinem Anruf bewirken würde. Wenn Joe nun herausbekäme, dass er es dennoch gewagt hatte, bei ihm anzuklingeln, würde er sich auf eine schöne Predigt einstellen müssen, die davon handelte, dass man Schlafende nicht aufwecken sollte, da sie sonst am Tage keinen richtigen Hunger verspürten und das viel zu schade um die vielen Leckereien auf der Welt wäre.
 

„Hört man doch“, murrte Joe, zeigte damit deutlich, dass er es Rick übel nahm.

„Das lag nicht in meiner Absicht, tut mir leid“, heuchelte der Dunkelhaarige, fuhr aber sogleich drängend fort: „Es ist nur so, dass ich unbedingt deinen Rat brauche!“

„Und das hätte nicht warten können?“

„Naja…“, - jetzt bloß keine Unsicherheit aufkommen lassen! - , „Nein!“

„Um was geht´s denn?“, fragte Joe ein wenig genervt.

„Das möchte ich nicht am Telefon bereden.“

„Grr, sag mal, hast du mich etwa dafür aus dem Bett geschmissen?“

„Sei nicht so ein Morgenmuffel.“

„Ach, wenn ich einer sein will, dann lass’ mich.“

„Es ist aber nicht nett, andere so anzufahren.“

„Du meinst wohl, dass es netter sei, anderen den wohlverdienten Schlaf nicht zu gönnen!?“

„Es tut mir ja leid, aber jetzt hab’ dich nicht so.“

„Ich hab’ mich, wie i-c-h will.“

„Sei in einer Stunde bei mir, ich koche dir auch was Gutes.“
 

Damit legte Rick einfach auf und beherbergte ein hinterhältiges Grinsen auf den Lippen. Wenn DAS Joe nicht versöhnte, dann müsste die Welt sofort untergehen, und das war ja wohl nicht im Entferntesten der Fall. Schließlich stand er noch mit dem Hörer in der Hand vor seinem Fenster und konnte sein Spiegelbild im Glas sehen.

Noch einmal drangen Joes Worte an sein Ohr: ’sag mal, hast du mich etwa dafür aus dem Bett geschmissen?’
 

MICH!!!!
 

Kein WIR!!!
 

Das rief nun ein seliges Lächeln auf Ricks Gesicht hervor und er begab sich vergnügt zum Kühlschrank, in dem er nun eilig etwas Essbares finden musste. Wenn er nun Joe mit einem ’Sorry, hatte doch nichts mehr, was ich für dich hätte kochen können’ empfinge, würde er sich in Luft auflösen müssen, dass ihm der Größere nicht die Gurgel umdrehen konnte.

Der Blick auf seine Essensvorräte erfüllte Rick glücklicherweise nicht mit allzu großen Sorgen. Mit dem Proviant, der all in den Schränken verteilt herumlag, würde er schon was Anständiges zaubern können, auch wenn es Ideenreichtum erforderte, wovon Rick genug haben sollte. Mit flinken Handgriffen füllte er Töpfe und polierte er Gläser. Kritisch beäugte er den dekorierten Tisch, rückte Teller und Besteck noch einmal zurecht, dass sich alles auch ja auf seinem Platz befand.
 

/Nun würde nur noch eine Kerze fehlen… dann würde er wohl Reißaus nehmen bei so viel Romantik auf einmal… eigentlich wirklich schade… /
 

Wohlriechender Essensduft verbreitete sich im Zimmer und ließ in Rick allmählich Nervosität aufsteigen. Er wollte, dass alles perfekt war, um somit sein Vergehen, Joe aus den Federn geschmissen zu haben, wieder gutzumachen. Um seiner Ruhelosigkeit Herr zu werden, bereitete er noch einen Nachtisch vor, der eigentlich gar nicht geplant war, doch er musste seine Hände irgendwie beschäftigen. Mit Sorgfalt wusch und schnitt er frisches Obst, das am Ende zu einem Salat vermengt werden sollte.
 

/Noch ein wenig Zitrone, ein Löffel Zucker… Voila, fertig ist das Menu… Nun könnte er endlich mal kommen./
 

Ein Blick auf die Uhr besagte, dass Joe schon zehn Minuten über der Zeit war, was Rick nicht gerade dabei unterstützte, den Adrenalinausstoß seines Körpers zu bändigen. Doch als dann doch die Klingel erschall, atmete er erleichtert aus, schüttelte so gut es ging seine Aufregung ab und lief zur Haustür. Einen letzten Blick in den Spiegel ließ er sich nicht nehmen und machte auf.
 

„Hi“, war alles, was er seinem Freund zur Begrüßung sagen konnte, denn das sonnige Lächeln in Joes Gesicht raubte ihm den Atem. Der Größere strahlte so viel Lebensfreude aus, dass es in Rick einfach nur noch pochte.

„Du hast was gut zu machen, mein kleiner Romantiker. Mich einfach aus meinen Träumen zu reißen bedeutet das beste Essen, was du je zubereitet hast.“

Rick schluckte, konnte bei dem Anblick, der sich ihm bot, auch nur grinsen, bat seinen Freund mit einer Handbewegung herein. Die warme Aura, die Joe umgab, war überaus anziehend, verlockte einen selbst, Glück zu empfinden und der Dunkelhaarige war froh, dass Joe endlich wieder bei ihm war.

„Also es riecht schon einmal vorzüglich. Wenn der Duft einen nicht Strafen lügt, dann lasse ich dir deine Schmach ausnahmsweise durchgehen.“

Mit viel Wohlwollen setzte sich Joe gleich an den Tisch und schaute erwartungsvoll Rick an, der noch mit sich rang, endlich den Mund wieder aufzubekommen außer zum Lächeln.

„Dann lasse uns mit der Vorspeise beginnen“, entgegnete er sanft.

Als vor jedem eine hohe Schale stand, nickte Rick dem Blonden zu. „Guten Appetit!“

Das ließ sich Joe wie üblich nicht zweimal sagen, tunkte seinen kleinen Löffel in die rötliche Masse und schob ihn dann gierig in den Mund. Nicht viel später sah er stirnrunzelnd auf und Rick errötete.

„Stimmt was nicht?“, fragte er verlegen. Vielleicht mochte Joe seine neu kreierte Müslivariante ja doch nicht, zumal sie nicht mehr wirklich was mit Müsli zu tun hatte, doch er hatte auf die Schnelle keine bessere Bezeichnung dafür gefunden.

„Das knirscht bei jedem Bissen.“

„Kommt von den Choco Crossies.“

„Choco Crossies?“

„Cornflakes, Schokolade, kleine Berge.“

„Haha, sehr witzig. Ich meinte eher, was die in Joghurt zu suchen haben!“

„Schmeckt doch eigentlich ganz gut, nicht?“, entgegnete Rick hoffnungsvoll, wollte Joe keine Bedenken zeigen.

„Mhh, doch schon.“

„Dann philosophiere nicht über den Lärm, den man beim Kauen erzeugt.“

„Kann es sein, dass du mal wieder einkaufen gehen solltest?“

Rick zog eine freche Antwort einer Blöße vor: „Nur, damit du dich bei mir wieder voll stopfen kannst?“ Manchmal fragte er sich wirklich, wie Joe bei all seinen Essexzessen so eine gute Figur haben konnte.

„Das würde ich als positiven Nebeneffekt bezeichnen.“

Gespielt rollte Rick mit den Augen und erwiderte nichts mehr. Nicht nur, dass es sinnlos gewesen wäre, da der Größere immer eine Antwort parat hatte, sondern auch, weil er den Moment des vertrauten Beisammenseins genießen wollte.

„Okay, du hattest Recht“, begann Joe, nachdem er seinen Löffel fein säuberlich abgeschleckt hatte. „Es ist genießbar.“

„Bloß nicht zugeben, dass du davon nicht genug bekommen konntest.“

Feixend besah sich Rick Joes Schale, die völlig leer gegessen war und bald schon glänzte. Man hätte fast meinen können, sie komme gerade aus der Spülmaschine.

„Okay, ich gebe zu, dass das eher eine Nachspeise war, aber das schien dich nicht im Geringsten zu stören.“

„Hauptsache gut, weißt du doch… sag mal, was hat dich nun dazu getrieben, mich hierher zu locken? Das hast du mir nämlich noch gar nicht verraten.“

„Naja, weißt du, ich… Es ist so, dass… Also, ich meine…“

Joe stand auf und stellte sich neben Rick, wuschelte ihm aufmunternd durchs Haar. „Na, was lässt dich so nervös werden? Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass du neidisch auf meine Verabredung bist, weil du auch eine haben wolltest. War wirklich schön gestern Abend-“

„Das kannst du mir später erzählen“, unterbrach ihn Rick mit bebender Stimme, konnte die Freude in Joes Gesicht irgendwie nicht mehr ertragen. „Nein, es geht darum, dass mich ’Einsame Seele’ treffen will.“

Kaum zuende gesprochen, schon wandte sich Rick ab und widmete sich dem Essen, das munter kochte. Mit einem Kochlöffel rührte er die Soße durch, war dabei so zittrig, dass die Soße teils neben dem Topf landete. Joe betrachtete sich seinen Freund und war total perplex. Hätte er nun zugeben müssen, zu verstehen, was gerade vor sich ging, hätte er lügen müssen, denn er hatte wirklich keinen blassen Schimmer. Lediglich stumm sah er den Dunkelhaarigen an, wollte ihn einerseits in die Arme nehmen, ihm Trost wegen was auch immer schenken, ihn andererseits necken, da sich Rick, wenn er nicht auf der Höhe war, sich noch leichter auf die Schippe nehmen ließ. Beides unterließ er, stand nur tatenlos da und wusste weder ein noch aus.

„Bekomme ich heute noch den zweiten Gang?“, fragte Joe endlich, mischte aber viel Gefühl in seine Worte.

Ricks Blick klärte sich und er sah auf das Schlamassel, das sich ihm darbot. Glücklicherweise war es halb so wild, wie es aussah. Behände wischte er den Herd so gut es ging sauber und murmelte dabei ein ’Setz dich’ vor sich hin.

Mit einem heiteren Lächeln nahm Joe wieder Platz, behielt seinen kleinen Romantiker dabei insgeheim im Blick, denn dessen Verwirrtheit war irgendwie belustigend. Er konnte sich nicht erinnern, wann Rick das letzte Mal dermaßen konzentrationslos beim Kochen gewesen war, wenn es überhaupt mal vorgekommen sein sollte. Die gelblichen Soßenflecke auf seinem weißen Hemd waren auf gewisse Weise ein niedliches Zeugnis ob seiner Gedankenferne.
 

/Was ist der Grund für deine Abwesenheit?/, fragte sich der Blonde und wusste noch im selben Moment, dass er das bald erfahren würde.
 

Währenddessen goss Rick die Nudeln in einen Sieb und schüttelte sich innerlich. Partout wollte er sich all der trübsinnigen Hirngespinste entledigen, sie taten zum einen nicht gut, zum anderen standen sie ihm nur im Weg. Er wollte doch selbstsicherer auftreten und Joe zeigen, welch willensstarker und attraktiver Mann in ihm steckte. Nun, manchmal konnte man derartige Vorhaben nicht von jetzt auf nachher umsetzen, aber man konnte sich immerhin bemühen und das tat Rick. Er biss sich wie so oft kurz auf die Unterlippe und zauberte dann ein fast unbeschwertes Lächeln zurück auf sein anmutendes Gesicht.
 

„Dann greife mal ordentlich zu“, sagte Rick, als er selbst wieder am Tisch Platz genommen hatte.

„Nein.“
 

/Hä? Wie kann es sein, dass du mein Essen nicht magst???/
 

„Nicht, bevor du mir sagst, warum dich sein Wunsch so durcheinander bringt.“

Seufzend sah Rick seinen Freund an, bewahrte sich aber weiterhin ein Lächeln, damit sein Gegenüber nicht erkennen konnte, wie schwer es ihm fiel.

„Du lässt nicht locker, stimmt’s?“

„Nein.“
 

/Du siehst mich plötzlich so ernst an, das jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken, aber ich muss standhaft bleiben…/
 

„Wir kennen uns kaum und ich weiß nicht, ob es richtig wäre, ihn zu treffen.“

„Ist das alles?“

Erstaunt hob Rick die Augenbraue, nickte vorsichtig.

„Rick, es ist doch nur ein Treffen, völlig unverbindlich.“

Aus dieser Sicht hatte das Rick noch nie betrachtet. Dass solch ein Treffen vielleicht ein Date sein mochte, aber keine großen Erwartungen dahinter steckten, zumindest dann nicht, wenn er das vorher andeuten würde, erleichterte sein Herz enorm.
 

/Wenn ich ’Einsame Seele’ sage, dass ich momentan keine Beziehung möchte und er das akzeptiert, dann könnte ich ihn tatsächlich treffen… Joe, du bist wirklich der Beste!/
 

Rick begann zu lachen und seine Augen funkelten wieder vor wahrer Fröhlichkeit. „Du bist wirklich ein Genie. Dann lasse uns mal speisen.“

„Sehr wohl, mein werter Herr Magenfüller. Und nun darf ich dir endlich erzählen, wie es gestern war. Also nach der Buspanne kam ich seltsamerweise noch rechtzeitig zum kleinen Italiener, wo ich Julia von ihrer Schicht abgeholte habe. Und bevor ich mich vor dir wieder blamieren muss, habe ich gleich nach ihrer Nummer gefragt, die sich nun mit vollem Stolz in meinem Handy befindet…“
 

Joe redete und redete, konnte gar nicht mehr aufhören zu schwärmen und zu berichten. Wenn Rick nicht so glücklich über die Lösung des Problems mit ’Einsame Seele’ gewesen wäre, wäre ihm das sehr an die Nieren gegangen, doch heute war es ihm vollkommen gleich, dass Joe von einer Frau sprach, denn er war schließlich derjenige, der die rettende Idee hatte… Lächelnd nickte Rick bei allem, was Joe von sich gab, strahlte ihn an und genoss, dass er ihm gegenüber so offen war, ihm sichtlich vertraute.
 

Nach etwa einer halben Stunde endete Joe, fügte aber noch einen Satz hinzu: „Ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich geweckt hast.“

„Was?“, entfuhr es Rick, denn damit hatte er nach dem Redeschwall nicht gerechnet.

„So konnte ich gut essen, die Neuigkeiten loswerden und habe nun noch genügend Zeit, eine Überraschung für Julia zu organisieren. Perfekt, nicht?“

„Könnte man so nennen.“

„’Könnte’… mehr Begeisterung bitte“, schmunzelte der Größere, nahm dabei wahr, wie eilig Rick plötzlich das Geschirr übereinander stapelte. „Alles in Ordnung?“

„Mh? Sicher. Ich möchte nur auch dem Motto ’Carpe diem!’ gerecht werden und ’Einsame Seele’ schreiben.“

„Wie es scheint, haben wir beide einen guten Tag vor uns.“

„Klar“, bestätigte Rick, wusste selbst nicht, woher dieses flaue Gefühl im Magen schon wieder kam.
 

Als Joe ging, schrieb er sofort eine Mail, kurz und bündig:
 

’Einsame Seele,
 

meine Gefühle lassen im Moment keine Beziehung zu, doch ich würde dich gerne kennenlernen.
 

Gezeichnet
 

Heilloser Romantiker’
 

/Trotz all deiner Offenheit vorhin, beschleicht mich nach und nach das Gefühl, dass du mir gegenüber nicht ehrlich warst… es ist so grotesk, da du mir bald jedes Detail erzähltest… ich sehe eindeutig Gespenster, anders kann ich mir das nicht erklären… und doch… kann ich mich dem Gefühl nicht entledigen, dass du mir was verschwiegen hast…/

Kapitel 15

Kapitel 15:
 

„Morgen ist es also so weit?“

„Ja“, antwortete Rick und hielt einen weißen Schal in den Händen, hielt ihn sich vor die Augen und schloss, als sein Blick verdeckt war, die Lider.

„Und das soll das Erkennungszeichen sein?“

„Auch das hast du richtig verstanden.“

„Dann kann ja gar nichts mehr schief gehen.“
 

Zwei Tage war es her, dass der Dunkelhaarige ’Einsame Seele’ einem Treffen zugesagt hatte. Seitdem hatten sie nur noch kurze Mails, die den Tag und den Ort verkündeten, hin und her geschrieben. ’Einsame Seele’ hatte es trotz der wenigen Worte irgendwie immer wieder geschafft, einen tieferen Sinn zu vermitteln, den Rick stets hatte nachdenklich werden lassen.

Nun saß ihm Joe gegenüber und ging mit ihm die Details durch, hatte sie nun schon zum zweiten Mal erfragt.
 

„Nun mag ich aber nicht mehr darüber reden,… wird schon alles klappen.“

„Dann schlage ein besseres Thema vor.“

„Wie wäre es damit, dass du mir verrätst, was du in den letzten zwei Tagen gemacht hast?“
 

Tatsächlich hatte Rick seinen besten Freund über achtundvierzig Stunden nicht mehr gesehen. Über all dem Grübeln, welches Ambiente perfekt für das Treffen mit ’Einsame Seele’ sei, hatte er kaum an Joe gedacht und es hatte ihn irgendwie auch nicht gestört, dass er sich nicht gemeldet hatte. Schließlich hatte es auf Gegenseitigkeit beruht und das war okay gewesen. Doch nun interessierte es ihn schon brennend, was der Blonde erlebt hat, denn das kleine Organ in seiner Brust verkündete, dass er das erfahren wollte, insbesondere um Joe glücklich zu wissen.
 

„War mit Julia unterwegs.“
 

Sonst antwortete Joe doch auch nicht so knapp, schmückte vielmehr seine Erlebnisse aus. Verwundert sah Rick sein Gegenüber an und spürte den sachten Schmerz, der von dem kleinen Stich im Herzen kam.
 

„Was habt ihr schönes gemacht?“
 

Rick konnte nicht anders. Wenn er nicht mehr herausfinden würde, würde ihn das nicht mehr loslassen.
 

„Wir waren in diesem neuen Museum, du hast sicher von seiner Eröffnung gehört.“
 

Was hatte Joe nur? Warum tat er die letzten Tage einfach ab, als ob nichts passiert sei? Rick vermisste den Joe, der seinen Mund nicht mehr zubekam, denn er selbst war doch schon still und nachdenklich genug, da konnte sein Freund nun nicht auch noch damit anfangen, sich mit Informationen zurückzuhalten.
 

„Geht das auch ein wenig ausführlicher?“

„Die Führung war schon toll, denn man durfte manche Ausstellungsstücke berühren und hochheben. Es ging nicht so streng zu wie in anderen Museen, wo man bei der kleinsten Annäherung an ein Werk von einem Wärter halb des Hauses verwiesen wird.“

„Wie läuft’s mit Julia?“
 

So schwer von Begriff konnte Joe doch gar nicht sein!
 

„Gut.“
 

Rick legte seinen Kopf auf den Tisch. /Das kann nicht wahr sein!/
 

„Schläfst du nun hier ein oder was wird das?“

„Selten so gelacht“, murmelte Rick in seinen nicht vorhandenen Bart hinein.

„Mh, tu dir keinen Zwang an, denn ich muss eh los.“
 

Mit einem Mal fuhr Rick hoch, glaubte, sich verhört zu haben. Joe wollte schon wieder gehen? Er war nicht mal eine Stunde da und wollte schon wieder ’Tschüs’ sagen?
 

„Was wartet denn so dringend auf dich?“

„Eher w-e-r!“

„Oh, okay.“
 

Voller Enttäuschung ließ er seinen Freund gehen und empfand eine Stunde einfach viel zu kurz, als dass er sich damit zufrieden geben könnte. Hätte er sich nur nicht nach dieser Kellnerin erkundigt, vielleicht wäre Joe dann noch bei ihm geblieben. Natürlich war das ein Hirngespinst von Rick, doch man konnte sich so vieles einreden, wenn man eine andere Tatsache einfach nicht wahrhaben wollte. Grummelnd nahm er das Glas in die Hand, aus dem Joe getrunken hatte, und hielt es sich selbst an die Lippen, nippte an der Flüssigkeit, die sich noch darin befand. Wehmütig floss das Wasser seine Kehle hinunter.
 

/Dann triff dich doch mit diesem blöden Weib!… Du weißt ja nicht, wie sehr du mich damit verletzt, weshalb ich dir keine Vorwürfe machen kann… Aber du solltest wissen, dass es weh tut, wenn du mir Dinge verschweigst… Wo ist deine Offenheit nur hin?

Du kamst zwar zu mir und sprachst eigentlich wie immer mit mir, aber als es um dich ging, weichtest du aus… Kannst du mir sagen, weshalb?/
 


 

Nach Stunden der verzweifelten Ablenkung klingelte sein Handy.
 

’Viel Spaß mit ’Einsame Seele’, Gruß Joe.’
 

Rick starrte auf das rote Display und den schwarzen Buchstaben, freute sich darüber, dass Joe an ihn gedacht hatte, auch wenn ein Satz alles war, was er empfangen hatte. Er zeigte aber, dass er ihm nicht egal war.

Nun konnte er leichteren Herzens zum Treffen gehen…
 


 

Mit dem weißen Schal vor sich auf dem Tisch wartete Rick ein wenig zu aufgeregt auf das Erscheinen von ’Einsame Seele’. Ja, er hatte ein paar Tage gebraucht, um sich zu dieser Entscheidung durchzuringen, aber nun saß er hier im Café und freute sich sogar ein wenig auf das Zusammentreffen. Da er nichts mit seinen Händen anzustellen wusste, griff er nach der kleinen Karte, die sorgfältig ausgerichtet in dem gläsernen Halter stand. Ruhelos schweifte sein Blick über die in feinen geschwungenen Lettern aufgelisteten Getränke, deren Namen er zwar las, sein Gehirn aber nicht verarbeiten konnte. Mit den Fingern seiner Rechten zupfte er sein seidenes dunkelblaues Hemd zurecht. Er dachte an die nette kleine Verkäuferin, mit der er vor gut zwei Wochen wirklich viel Spaß gehabt hatte. Ihre kritischen Bemerkungen zu all den Outfits, die er durchprobiert hatte, hallten in seinem Kopf, doch eine unter ihnen kristallisierte sich zunehmend heraus. Dazu mischte sich ihr hellauf begeistertes Gesicht, als er den roten Vorhang zum letzten Mal zurückgezogen hatte… Und nun wartete er gekleidet in Edel, anmutiger Ausstrahlung umgeben, auf einen Menschen, der ihm wirklich am Herzen lag, seine Liebe jedoch nie für sich gewinnen konnte. Er schien diesem Unbekannten eine Menge zu bedeuten, zumindest glaubte er das, und er hatte ihm keine Abfuhr erteilen können, das hatte er nicht übers Herz gebracht, zumal Joe ihm geholfen hatte, seinem inneren Twist Einhalt zu gewähren. Fürderhin war Rick neugierig. Nicht nur die noch offen stehende Frage, was der Vater dieser Seele verbrochen haben könnte, dass solch markerschütternde Mails die Folge waren, sondern auch seine aufkeimende Begierde, diesen Menschen kennenzulernen, waren Anlass für seine Gefühle.
 

„Hallo.“
 

Eine weiche Stimme ließ Rick aufblicken.
 

„Hi“, erwiderte er irritiert, wollte abwinken, doch sah der Person dabei zu, wie sie sich ihm gegenüber setzte.
 

/Ein Mädchen???/, schrie es in ihm und wollte sich dem Anblick widersetzen.
 

Eine zierliche Hand nahm seinen Schal und führte ihn zu einem rundlichen Gesicht, das von einem blassen Teint gezeichnet war. Die kleine Nase roch an dem weißen Stoff und ein zufriedener Gesichtsausdruck folgte. Rick war verdammt, schweigend zuzusehen, er fühlte sich seiner Sprache beraubt.
 

„Du wunderst dich bestimmt, dass ich ein Mädchen bin.“
 

Treffender konnte sie es gar nicht formulieren! Genau das und nichts anderes dachte Rick. Immer noch aller Worte ohnmächtig nickte er leicht.
 

„Ich wollte dir das nie verschweigen, doch es gab keine Gelegenheit, dir das zu schreiben.“
 

Ihr Finger gruben sich in Ricks Schal, den sie nicht mehr herzugeben wollen schien.
 

„Wenn du deine Stimme wieder findest, dann würde ich mich freuen, wenn du mir deinen richtigen Namen verraten würdest.“
 

Dunkle braune Augen, die erschreckender Weise vollkommen leer wirkten, sahen auf Rick, der einmal kräftig schluckte.
 

„Ich… heiße Rick“, entfuhr würgend seiner Kehle, die so trocken war wie ein Flussbett, das kein Wasser mehr führte.
 

„Amelia.“
 

Sie streckte ihm eine ihrer zarten Hände über den Tisch hinweg entgegen. Reflexartig ergriff er sie und spürte voller Entsetzen nur eisige Kälte, die sich unter seine Haut schlich.
 

„Wie… Ich meine… Die Online-Zeitung beinhaltet doch nur Annoncen von homosexuellen Männern… Wie kommt dann… ein Mädchen…“
 

Er schämte sich für sein Stottern, doch sein Hirn hatte das Arbeiten nicht wieder aufgenommen. Hundert Fragen schossen ihm durch den Kopf, von denen sich einfach keine einzige recht fassen ließ. Immer wieder entglitten die Worte seinem Verstand.
 

„Liegt das nicht auf der Hand?“
 

Sofort schüttelte der Dunkelhaarige den Kopf, er wusste wirklich nicht, was so offensichtlich daran sein sollte.
 

„Schwule Männer sind meist viel sensibler und netter“, begann Amelia zu erklären. „Sie nehmen einem Gefühle und tiefsinnige Worte nicht gleich böse oder tun sie mit einem verächtlichen Blick ab… Als ich deine Anzeige gelesen habe, musste ich es versuchen… Und hatte mit meiner Annahme ja wohl nicht so falsch gelegen.“
 

Die Sekunden dehnten sich zu Minuten und die weiche Stimme drang immer verzerrter an Ricks Ohren. Er war her gekommen, um den Mann, der hinter den Mails steckte, kennenzulernen, nur um festzustellen, dass es gar kein Mann war?

Mit einem Mal begann Rick zu lachen, was ihn irgendwie von seiner Befangenheit befreite. Er bettete seine Stirn in einer seiner Handflächen und sein ganzer Körper wippte auf und ab. Als die fröhlichen Klänge allmählich versiegten, besah er sich das Mädchen, das stirnrunzelnd den Blick erwiderte.
 

„Ich muss dir wohl Recht geben, Amelia. Damit müsstest du echt einen Preis verdienen.“

„Ach Quatsch, so denken viele Frauen.“

„Echt?“
 

Seine Überraschung tat sie mit einer lässigen Handbewegung ab und nahm dann die Karte, um sie zu studieren.
 

/Joe hat Recht, ich lasse mich viel zu leicht an der Nase herumführen, doch mit einem weiblichen Wesen habe ich nun mal nicht im Entferntesten gerechnet…/
 

„Wollen wir was bestellen?“ Amelia sah fragend auf.

„Warum eigentlich nicht.“

Mit einem Handzeichen verständigte Rick die Kellnerin, die mit einem leuchtend rosa Kugelschreiber die gewünschten Getränke notierte.
 

„Hast du den Schock überwundern?“
 

Die direkte Art von Amelia erinnerte ihn an ein kleines bisschen an Joe, der diese in letzter Zeit ja sehr zu seinem Bedauern größtenteils abgelegt hatte.
 

„Ich glaube, dass ich das mit einem hundertprozentigen ’Ja’ beantworten kann.“

„Schön, dann sag mir, warum deine Entscheidung, mich zu treffen, so lange auf sich warten ließ. Oh, das tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich erscheinen, doch ich dachte, dass dich meine Mails vielleicht zu sehr eingeschüchtert haben und du deshalb keinem Treffen einwilligen wolltest. Weißt du, ich hatte vorher nie jemandem geschrieben, geschweige denn gesagt, wie ich wirklich fühle…“
 

Betretenes Schweigen löste den Redefluss des Mädchens ab, das mit Wohlwollen die kleine cremefarbene Porzellantasse der Kellnerin abnahm, die ein ’Meldet euch, wenn ihr noch etwas braucht’ runterspulte und sogleich den nächsten Bestellungen nachging. Rick musterte sein Gegenüber, wollte Amelia einschätzen lernen, wollte sagen können, ob er sie mochte oder nicht. Ihre Mails waren ihm sehr nahe gegangen, er hatte ihr ein guter Ansprechpartner sein wollen und niemand, der sie verstößt oder ungerecht verurteilt. Dass sie nun ein Mädchen war, durchbrach seine fein säuberlich zusammengebaute Vorstellung, es passte nicht zu dem, was er erwartet hatte. Und was steckte zudem hinter ihren Worten? Er fand es verflucht schwer, ihren unbekümmerten und fast zwanglosen Rededrang den tiefgründigen Mails zuzuordnen. Aufgrund all dessen konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, was nun noch auf ihn zukommen würde.
 

„Ich war ziemlich überrascht“, begann der Dunkelhaarige endlich und brach damit die unangenehme Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. „Du erzähltest mir Dinge, die mich erschütterten und ich versuchte dir… irgendwie ein Freund zu sein.“

„Das bist du auch!“, warf Amelia betont ein.

„D-Danke, dass du das so siehst. Ich… ich bin es nicht gewohnt, dass mich jemand so schnell als einer ansieht… oder überhaupt…“

„Du möchtest mir doch nicht gerade ernsthaft sagen, dass du keine Freunde hast!?“

Amelia klang so ungläubig, dass Rick nur die Hände hob und entschuldigend blickte. „Einen…“
 

/… der mir mehr bedeutet als alles andere…/
 

„Glaube mir, die Menschen, die dich missachten, sind vollkommene Idioten.“
 

Ricks Augen weiteten sich, er begann aber gleich darauf zu lächeln, von Amelias Aufgebrachtheit verleitet. Sie setzte sich für ihn ein, das war so viel mehr, als er mit Ausnahme von Joe von seinen Mitmenschen kannte.
 

„Übertreib’ nicht gleich.“

„Was heißt hier Übertreibung? Ich kann diese Ignoranz und Oberflächlichkeit meiner Umwelt nicht ausstehen. Wenn sie sich mal die Zeit nehmen würden, dich kennenzulernen, dann könnten sie man feststellen, dass es nicht nur egozentrische Selbstherrlichkeit auf der Welt gibt.“
 

Flüchtig nippten ihre Lippen am Tee, der ihre Aufmerksamkeit aber nicht auf sich zog. Vielmehr fixierte sie Rick, der berührt auf seinem Stuhl hin- und herrutschte.
 

„Gerade deine Zurückhaltung und Freundlichkeit“, Amelia setzte erneut an, „machen dich interessant, nur sehen das die Menschen von heute als Hindernis für Karriere und Zukunft. Was will man denn mit einem guten Job und viel Geld, wenn man die wahren Werte nicht kennt? Hach, das macht mich tierisch wütend!“
 

Tatsächlich ballte sie ihre Hände zu Fäusten und schlug eine davon auf den Tisch. Die Kraft, mit der sie das tat, verwunderte Rick, denn die Zierlichkeit, die sie ansonsten ausstrahlte, war einfach zu konträr. Irgendwie beeindruckte ihn das Mädchen. Sie brachte all das auf den Punkt, was er auch an der Welt bedauerte.
 

„Menschen behandeln einen nur solange gut, bis sie haben, was sie wollen“, bemerkte Rick, halb in seinen Gedanken versunken.

„Wenn sie dich ausgenutzt haben, werfen sie dich weg wie ein benutztes Taschentuch“, fuhr Amelia fort.

„Falls sie aber das nicht bekommen, was sie von dir begehren, dann trampeln sie auf dir herum und spielen mit dir, bis sie ihre Unzufriedenheit doppelt und dreifach gerächt haben“, sprach nun Rick wieder.
 

Ihn freute es, dass sie sich so gut verstanden. Aus der Erfahrung anderer wusste er, dass sich Menschen im Internet verstellten und real dann ganz andere Facetten an den Tag legten. Amelia war anders; ihre Worte spiegelten ihre Mails wider. Das imponierte Rick und er fand Gefallen an einem Mädchen, was er vorher nie für möglich gehalten hatte. Schließlich waren es die weiblichen Geschöpfe dieser Erde, die ihm sein Glück immer streitig machen wollten. Nun saß davon eines vor ihm, eines der Wesen, das ihn so oft Abneigung empfinden gelassen hatte, und es erfüllte sein Herz mit Wärme. Lächelnd fuhr er sich durch das dunkle Haar und nickte ihr zu.
 

„Und aus all diesen Gründen sitzen wir nun hier.“

„Ich könnte fast froh sein, dass alles so gekommen ist.“

„Sage so was nicht, denn das meinst du nicht so.“

„Da hast du wohl Recht.“
 

Sie lächelte schwach. Allzu deutlich erkannte Rick nun, wie leer ihr Blick tatsächlich war. Er entbehrte jedweden Glanz, ihre Augen waren einfach nur Zellen, die einem einzigen Zwecke dienten, nämlich zu sehen. Sie tat ihm leid, auch wenn er ein solches Gefühl als völlig falsch befand. Und dennoch empfand er es.
 

„Weshalb hast du dich entschieden, dich jemandem anzuvertrauen?“
 

Die Frage mochte indiskret sein und aller Höflichkeit entsagen, aber Rick wollte das Mädchen ein wenig mehr verstehen. Er wusste eigentlich rein gar nichts über sie. Dass sie der Groll gegenüber der Menschheit miteinander verband, war eine Sache, aber wer der Mensch dahinter war eine andere.
 

„Weil ich es allein nicht mehr schaffe, mich gegen die Dunkelheit zu wehren.“

„Sie verlockt…“

„Das habe ich geschrieben, ja. Und ich meinte das auch so. Stelle dir vor, von jetzt auch nachher verschwindet das Licht, das dich immer am Leben hielt, das dich schützend in seinen Armen wog. Was würdest du dann machen?“
 

Sofort dachte Rick an Joe und in ihm schnürte sich alles zusammen. Wenn Joe plötzlich nicht mehr da wäre, dann würde er mit einem Schlag alles verlieren, was ihm lieb und teuer und wichtig war.
 

/All mein Denken, all meine Gefühle sind auf ihn ausgerichtet. Er ist das Zentrum meines Seins, so wie die Sonne unseres Universums… Wenn die Sonne plötzlich implodieren würde, würden alle Planeten um sie herum sterben, so wie ich, wenn Joe mich verließe oder… ums Leben käme./
 

Seine Gedanken lasteten schwer auf ihm und er wollte sie sogleich wieder abschütteln. Ein paar Mal zwickte er sich ins Bein, wollte damit die Realität einholen, sich verdeutlichen, dass das Jetzt solch Unfassbares nicht bot.
 

„Ich würde innerlich sterben“, presste er zwischen seinen Lippen hervor.

„Würdest du noch am Leben festhalten können?“
 

Der Inhalt der Frage vernebelte Ricks Verstand. Er brauchte eine Weile, bis er ihn verarbeitete, dann zuckte er mit den Schultern, wollte ausdrücken, dass er das so nicht sagen konnte.
 

„Meine Zweifel, ob ich es noch lange kann“, setzte Amelia leise an, „trieben mich, jemandem zu schreiben. Dass dieser jemand du warst, war reiner Zufall. Aber ich bin wirklich froh, dass es dich getroffen hat.

„Wenn es das nicht hätte, dann säße nun ein anderer hier.“
 

Rick traute seinen eigenen Worten kaum. Seit wann war denn dermaßen unsensibel?
 

„Meinst du?“, entkam es ironisch ihren Lippen.

„Naja…“ So ganz glaubte er selbst nicht daran.

„Gut, dann haben wir das geklärt.“
 

Zum ersten Mal sah er nun ein ehrliches Lächeln auf ihrem Gesicht, das zwar nur kurz anhielt, aber doch existent gewesen war. Lediglich sein Selbstkomplex hatte es heraufbeschworen, doch was machte es schon, wenn er im Gegenzug ’Einsame Seele’ lächeln sehen durfte?

Beseelt griff er nach seinem Glas und trank einen Schluck Wasser, befeuchtete seine Kehle, die nach Flüssigkeit lechzte.
 

„Konnte ich deine Zweifel beseitigen?“ Seine Stimme klang fest und zeigte seine Unsicherheit nicht, die er beim Fragen empfand.

„Du bist auf gutem Wege… und doch füllt sich mein Sein nicht mit Kraft.“
 

Er verstand nicht ganz, was sie meinte, und runzelte die Stirn, legte den Kopf ein wenig schief.
 

„Mein Körper ist eine Hülle“, fuhr sie fort, „die der Finsternis keine Hindernisse zu bieten hat. Erst deine Mail brachte einen kleinen Funken zum Erglimmen… zu schnell erlosch er in dem Nichts.“
 

Obwohl Rick förmlich an Amelias Lippen hing und jedes ihrer Worte in seinem Kopf studierte, fühlte er selbst Blicke auf sich ruhen. Die von dem Mädchen konnten es nicht sein, denn sie hatte ihre Augen abgewandt, schaute auf ihre Hände, die gefaltet auf dem runden Tisch zwischen ihnen lagen. Ein kleiner Schauer lief ihm den Rücken herunter und er konnte sich diese seine Körperfunktion nicht erklären. Zu sehr folgte er den Ausführungen Amelias, als dass er dem Grund für die plötzliche Unruhe in ihm nachgehen konnte, wollte.
 

„Eine Silbe von dir genügt schon, um mich dem Dunkel ein kleines Stück zu entreißen… ich fürchte nur, es reicht nicht aus.“
 

Unbewusst legte Rick seine Hände auf ihre, suchte ihren Blick auf und sah sie fest an.
 

„Sag’ mir, wie ich dir helfen kann.“
 

Sie presste ihre schmalen Lippen aufeinander, zog ihre Hände unter seinen weg, faltete sie in ihrem Schoß. Falls er einen Moment lang Glanz in ihren braunen Augen gesehen haben sollte, dann konnte er sich davon nun nicht mehr überzeugen. Ihre Iriden glichen wieder dunklen Schatten, die ja keinen Ausdruck in sich tragen wollten.

„Du… kannst mir nicht helfen… außer…“

„Außer“, wiederholte Rick mit Nachdruck.

„Das kann ich dir nicht zumuten!“

„…vielleicht ja doch.“
 

Da war wieder dieses Gefühl des Beobachtetwerdens! Schon zum zweiten Mal und völlig ohne Vorwarnung und im unpassendsten Moment. Er wand sich von Amelia ab und suchte verstohlen das Café ab, konnte mit seinen flüchtigen, doch genau inspizierenden Blicken nichts Ungewöhnliches ausfindig machen. Da war keiner, der ihn anstarrte, geschweige denn überhaupt beachtete.
 

„Wie vermagst du so etwas zu sagen, wenn du mit deinen Gedanken woanders verweilst?“
 

Der Vorwurf ließ ihn zurück auf das Mädchen blicken, das seinen Schal verächtlich vor ihm auf den Tisch warf.
 

„Nein… bitte, es war nur, weil… es tut mir leid, ich…“

„Spar’ dir deine Ausflüchte.“

„Aber es sind keine, ich war nur… irritiert, dass…“

„Ich bin Ausreden leid!“

„Moment! Geh’ nicht!“
 

Verdammt! Was hatte sie auf einmal? Er hatte doch nur um sich gesehen, nichts weiter! Und doch schien sie es verletzt zu haben.
 

„Ich möchte dir helfen, ehrlich. Ich schwöre es.“

„Schwöre nie, was du nicht halten kannst“, waren ihre letzten Worte, bevor sie davonlief.
 

Perplex sah er ihr nach, konnte einfach nicht begreifen, was eben geschehen war. Sie war einfach gegangen und hat ihn hier sitzen lassen. Ihm war seltsam zumute. Er hätte es ihr hoch und heilig geschworen, ganz sicher sogar. War sein Wille unbedacht? Gar einfach nur dahergesagt?

‚Nein!’, meinte eine Stimme in ihm. /Ein Schwur ohne Überzeugung ist nicht deine Eigenart!/

War ihr das denn auch bewusst? Hatte sie das aus seinen Mails und seiner Anwesenheit hier nicht lesen können? Vor was lief sie davon? Wohl nicht vor ihm… oder doch?

Seufzend legte Rick einen Geldschein auf den Tisch. Als er nach seinem Schal griff, überkam ihn eine Welle des Versagt-zu-habens. Er sah auf den leeren Stuhl, der Amelia vor kurzem noch beherbergt hatte. Das nackte Holz stand ihm überhaupt nicht! Rick hätte sie am liebsten zurückgeholt, aber es war zu spät. Sie war gegangen und er konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob er sie je wiedersähe.

Langsam stand er auf, löste sich aus der Melancholie des Anblicks und winkte der Kellnerin, dass sie Bescheid wusste, dass er nicht ohne zu zahlen gehen wollte.

Er war schon fast an der Tür, da tauchte dermaßen unerwartet ein großer, schwarzhaariger Mann in seinem Blickfeld auf, dass er ihn beinahe angerempelt hätte.
 

„Verzeihung“, nuschelte er und sah den Unbekannten dabei entschuldigend an, dessen markantes Gesicht und tiefdunkle Augen auf ihn gerichtet waren.
 

Schluck! Ganz langsam richteten sich Ricks Nackenhärchen auf, bescherten ihm ein Beben, das einfach nur gewaltig war. Er lief zwei Schritte zurück, tastete sich dabei mit seinen Fingern voran, um nicht irgendwo darüber zu stolpern. Er musste hier weg! Schnell! Mühsam senkte er den Blick und zwang seinen Körper, die andere Richtung, die, die nach draußen führte, anzusteuern. Er wankte, fasste sich dann aber irgendwie und huschte an dem Mann vorbei. Die Türglocke bimmelte freudig hinter ihm her.

Als er frische Luft in seinem Gesicht spürte, nahm er das Atmen wieder auf, das schlagartig ausgesetzt hatte. Nun wusste er, wessen Blicke er die ganze Zeit gespürt hatte! Mit einer Hand auf der Brust nahm er den Heimweg auf, fühlte seinen schnellen Herzschlag, der pochend in seinen Ohren vibrierte. Der Wind umspielte seine Haare und streifte sanft seinen leicht geöffneten Mund. Was ihm gerade durch den Kopf ging? – So vieles und doch nichts. Die letzte Szene wirbelte in seinem Verstand und ließ sich nicht recht fassen. Die Menschenmassen zogen rechts und links an ihm vorüber, waren nur Teil graustufiger Silhouetten, denen es auszuweichen galt. Den nebligen Schleier vor seinen Augen konnte er nicht durchdringen, er glich einem Gefängnis, aus dem er sich nicht befreien konnte…

Kapitel 16

Kapitel 16
 

Die harten Gesichtszüge dachte Rick immer noch auf sich zu spüren, die fast schwarzen Augen brannten sich in seinen Verstand ein. Er hatte diesen Mann noch nie gesehen, er konnte sich nicht erklären, weshalb er solch eine Wirkung auf ihn ausübte. War es dieser durchdringende Blick? War es seine harte, sehr männliche Erscheinung? Dieses markante Gesicht?

Völlig aufgelöst schloss Rick hinter sich die Tür und sank sofort gegen sie, glitt an dem hellen Holz hinab, bis sein Hintern den Boden berührte. Blicklos sah er sich in dem Spiegel schräg gegenüber an, erkannte zwar seine Silhouette, schaute aber durch sie hindurch… in die weite Ferne, in der es nur den Fremden und ihn selbst gab. Er fragte sich schon gar nicht, wie er es mit derart wackeligen Beinen überhaupt bis nach Hause geschafft hatte, denn es war sowieso unwichtig, vielmehr interessierte es ihn, weshalb ein anderer Mann außer Joe ihn unruhig werden ließ, ihm eine Gänsehaut bescherte. Nein, er fühlte keine Schmetterlinge im Bauch, wie auch, aber alles drehte sich in ihm, machte ihn ganz wirr und brachte ihn nur noch durcheinander. Die tiefdunklen Augen sahen ihn an, schienen sich förmlich in ihn hineinzubohren und wollten in seine Seele blicken. Vehement wehrte sich Rick dagegen, griff mit beiden Händen in den Teppich, krallte sich in ihm fest.
 

/Bloß nicht zulassen, dass er das bewerkstelligt! Darein darf seit zwei Jahren nur noch ein einziger Mensch sehen und das ist Joe!... nur Joe!/
 

Ein seichtes Vibrieren seiner Hosentasche entriss ihm das Bild des Mannes, was ihn kurz in sich zusammensinken ließ. Er fühlte sich mit einem Mal leer und ausgelaugt. Kraftlos zog er sich an der Türklinke hoch und schlurfte ins Wohnzimmer, wo er sich auf das Sofa legte. Vorsichtig glitt seine Hand in die Tasche seiner schwarzen, jeansstoffartigen Hose und holte das Handy heraus. Auf dem Bauch liegend und das Gesicht halb unter Kissen vergraben sah er aufs Display, öffnete anschließend die neu angekommene Nachricht.
 

’Wie läuft’s?’
 

Verständnislos starrte Rick die von Joe gestellte Frage an, bis es ihm endlich dämmerte, dass er sich ja mit ’Einsame Seele’, auch bekannt unter dem Namen Amelia, getroffen hatte. Mit einem Mal kamen ihm all die Erinnerungen vor dem überraschenden Zusammentreffen mit diesem großen, schwarzhaarigen Mann, und sie erschreckten ihn ein wenig. Amelia war ja einfach gegangen und er hatte sie nicht davon abgehalten. Wo sie nun wohl stecken mochte?

Rick zog eines der vielen Kissen gänzlich über seinen Kopf, versteckte sich im Schutz der Dunkelheit und wollte damit all den Erlebnissen des Tages aus dem Weg gehen, vor ihnen flüchten. Tief atmete er den Duft des Mobiliars ein, glaubte einen Hauch von Joes Aftershave riechen zu können und wog sich darin. Das Aroma, das in seine Nase kroch, betörte ihn und er sank in eine Welt hinab, in der er in Joes Armen lag und zärtlich von ihm liebkost wurde.
 

Stürmisches Klingeln ließ ihn zusammenzucken und er drückte das Kissen noch fester über seine Ohren.
 

„Keiner da“, murmelte er.
 

Es klingelte und klingelte, wollte partout nicht aufhören. Der schrille Ton hämmerte alsbald in Ricks Kopf und verleitete ihn dann doch aufzustehen. Brummig lief er zur Haustür und öffnete sie mit einem kalten „Ja?“
 

Joes grüne Augen besahen sich Rick, schweiften über seine gesamte Erscheinung und blieben an dem aschfahlen Gesicht hängen, das ihm sogleich Sorgen bereitete.
 

„Was ist passiert?“, fragte der Größere sanft.
 

Wortlos schlurfte Rick davon und warf sich wieder aufs Sofa, zog das Kissen erneut über seinen Kopf. Joe folgte mit deutlicher Verwirrung im Gesichtsausdruck, kniete vor Rick nieder und zupfte an einer Ecke des Kissens.
 

„Ri-ick?“
 

Der Dunkelhaarige erwiderte nichts, lag einfach nur da und ignorierte Joe und die ganze Welt. Sollte sich die Zeit doch weiterdrehen, doch ohne ihn! Er wollte jetzt nicht teilhaben, sich ihr lieber entziehen.
 

„Vor drei Stunden habe ich dir eine SMS geschrieben“, setzte Joe an. „Ist sie bei dir gar nicht angekommen?“
 

Obwohl Joe genau wusste, dass sie das war, denn der Übertragungsbericht erübrigte seine Frage, stellte er sie. Irgendwas wollte er sagen, wollte nicht stumm neben Rick verweilen und ihn in seinem Zustand verharren lassen. Als Rick auf seine Nachricht nicht geantwortet hatte und Minute um Minute verstrichen war, waren ihm üble Gedanken in den Sinn gekommen. Immer mehr hatte er das Gefühl bekommen, dass seinem Freund etwas passiert sei. Dass sich ’Einsame Seele’ als elender Lustmolch entpuppte und Rick an die Wäsche wollte oder dass ihm auf dem Heimweg was zugestoßen sei.

Nun konnte sich Joe live davon überzeugen, dass es Rick in der Tat nicht gut ging und dass irgendetwas vorgefallen sein musste. Die Apathie des Kleineren gefiel ihm gar nicht, unterstrich seine anscheinend völlig berechtigten Sorgen.

Bald lautlos griff er nach Ricks Handy, das auf dem Tisch lag, sah gleich, dass noch eine Nachricht von ihm als ungelesen erschien und legte es zurück. Mehr hatte er gar nicht wissen wollen und mehr hätte er an dem Telefon seines Freundes auch nicht nachgesehen.
 

„Gut, wenn du nicht reden möchtest, dann sieh mich doch bitte wenigstens an.“
 

Immer noch keine Reaktion.
 

Joe setzte sich auf den Boden, direkt neben dem Sofa, und lehnte sich mit dem Rücken an eben dieses. Ratlos stützte er sein Kinn auf die Knie und wartete darauf, dass Rick doch mal einen Laut von sich gab. Endlose Minuten vergingen, in denen sich die Stille an den Wänden brach. Allmählich verlor sich der Größere in seinen eigenen Gedanken, entfernte sich ebenfalls der Gegenwart und schloss irgendwann die Lider.
 

/Wenn ich nur wüsste, was du erlebt hast, vielleicht könnte ich dir dann helfen… wie es scheint, ist es sehr schlimm, zumindest in solch einem Ausmaß, dass du nicht darüber reden möchtest, nicht einmal mit mir… Ich kenne das, habe es gestern erst selbst erlebt. Irgendwie konnte ich dir nicht sagen, dass ich gar keine-/
 

„Bist du noch da?“
 

Ricks durch das Kissen mächtig gedämpfte Stimme riss Joe abrupt aus seinen Gedanken und er nickte eifrig, bis ihm bewusst wurde, dass das sein kleiner Romantiker gar nicht sehen konnte.
 

„Ja“, erwiderte er sachte und zugleich bestimmt.

„Er ist ein Mädchen.“
 

Verständnislos hob Joe eine Augenbraue und wandte sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass Rick wach war und nicht etwa laut im Schlaf sprach. Als er seine Hand sah, wie sie unablässig die Sofalehne auf und abfuhr, wusste er, dass sein Freund nicht schlief.
 

„Wer?“

„’Einsame Seele’.“

„Was? E-r ist eine s-i-e?“

„Genau.“
 

/Das muss dich erschüttert haben!/, dachte Joe, sprach es aber aus Rücksicht vor Ricks Gefühlen nicht aus.
 

„Hast du sie weggeschickt?“

„Nein.“

„Heißt das, dass du sie kennengelernt hast?“

„Ein wenig.“

„Du klingst enttäuscht.“

„Bin ich auch.“
 

Überrascht betrachtete er Ricks Gestalt, konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser wegen einem Mädchen betrübt war. War es denn nicht immer Rick gewesen, der den weiblichen Wesen kritisch gegenüber stand?
 

„Magst du sie?“

„Ja.“

„Liebst du sie?“ Besseres wusste Joe nicht zu fragen.

„Nein.“

„Woher rührt deine Enttäuschung?“

„Sie ist einfach weggerannt.“

„Weil?“

„Weil ich mich umgesehen habe.“
 

Für Joe waren Ricks Antworten zusammenhanglos und er konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen, weshalb sich Rick unter Kissen vergrub und nicht herauskommen wollte.
 

„Du hast dich also umgesehen und sie ist derweil weggerannt. Verstehe ich das richtig?“

„Irgendwie schon.“

„Irgendwie? Rick, komm schon, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Ich verstehe nur Bahnhof.“

„Als ich gehen wollte…“. Mitten im Satz hielt Rick inne, schluckte heftig und erzitterte, was Joe mitbekam und nun erst recht die Stirn runzelte, eine Hand aber liebevoll durch Ricks Haare streicheln ließ.

„… war da ein Mann… ich rempelte ihn versehentlich fast an und er… blickte mich total durchdringend an…“

„Lässt dich sein Blick unter diesen Kissen verstecken?“
 

Rick sagte nichts mehr, fühlte stattdessen die behagliche Hand auf seinem Kopf, die unablässig zärtlich war und ihm die Geborgenheit gab, die er gerade brauchte. In der Tat hatte der Fremde in ihm etwas ausgelöst, das ihn sich fernab von jedwedem Sein wünschen ließ. Ein einziger Blick hatte ihn entlarvt, ihn einem Fremden vollkommen ausgeliefert. Erneut durchfuhr ihn ein Beben, das Joe nur allzu deutlich spürte.
 

„Hey, alles wird gut. Du bist nicht allein, ich bin bei dir“, flüsterte der Blonde bald, traute sich kaum die Stimme zu erheben in Angst, das könnte Rick noch mehr erschrecken. Seit gut einem Jahr hatte er Rick nicht mehr dermaßen aufgewühlt erlebt, die Zeit, in der er wegen seinen Eltern in solchem Ausmaß trauerte war schon lange vorüber. Der Anblick, der sich ihm darbot, missfiel ihm sehr. Mehr als ihm zu zeigen, dass er da war, vermochte er nicht zu tun. Selbst seine Hand in Ricks Haar empfand er als verkehrt, doch dies war das einzige Mittel, von dem er wusste, dass es seinem Freund helfen könnte, so wie damals, als er ihn in der Hütte gefunden hatte. Ein wenig wehmütig dachte Joe an den Tag zurück, wie er von Ricks Homosexualität erfahren hatte, denn selbst er als bester Freund hatte nicht eher davon gewusst. Doch entgegen aller Vorwürfe hatte er Rick weiterhin seine Freundschaft bekundet und mit ihm nur wenige Tage später ein neues Leben begonnen. Nur wegen ihm hatte er selbst so vieles zurückgelassen, nun, er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, solch einen sensiblen, verletzten Menschen unbeschützt gehen zu lassen. Wer weiß, was er für idiotische Dinge angestellt hätte…
 

Nach einer ganzen Weile pellte sich Rick unter dem großen Kissen hervor und blickte seinen Freund dankbar an, schenkte ihm sogar ein Lächeln.
 

„Bist du mir böse?“, fragte Rick mit seichter Stimme.
 

Der Blonde brauchte nicht zu antworten, denn Rick wusste, dass er es nicht war, wofür er ihm beinahe um den Hals gefallen wäre, sich aber mühsam davon abhalten konnte. Das letzte, was er wollte, war eine Szene wie vor nicht allzu langer Zeit, als er halb betrunken Joe beinahe geküsst hatte.

Schwungvoll nahm der andere neben ihm Platz, griff dabei nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Nach kurzem Zappen lief vor beider Augen eine Dokumentation über mittelalterliche Sitten und Bräuche. Sich berieseln lassend folgten sie mehr oder weniger aufmerksam dem gut kommentierten Bericht. Der ziemlich sachliche Stil war eine schöne Abwechslung zu all dem Gefühlschaos, das noch ein wenig in Rick wütete, aber merklich durch Joes Aufmunterung abgeklungen war. Der Dunkelhaarige kuschelte sich mit angezogenen Beinen immer tiefer in die Kissen hinein, nahm sie als für heute ausreichenden Ersatz.
 

„Wow, durften die Frauen anfangs echt nicht an der Tafel zusammen mit den Männern zum Speisen sitzen?“, fragte der Größere ungläubig den Fernseher, der die Fakten der Sitten von früher gewiss nicht extra für ihn wiederholte.
 

/Recht so!/, dachte Rick insgeheim, da er sogleich an Julia denken musste, wie sie an ihrem letzten Abend im kleinen Italiener einfach bei ihnen Platz genommen hatte, ohne seine Einwilligung.
 

„Mhhhh, so ein leckeres Stück Fleisch hätte ich aber nun auch gerne, ob mit Frau oder ohne.“

Rick grinste ihn an. „Du kannst echt nur ans Essen denken, oder?“

„Also, wie lange kennst du mich schon!?“

„Hehe, mich stört es ja nicht.“

„Wolltest du nicht mal einkaufen gehen?“

Mit zwei Fingern zwickte Rick Joe in die Seite. „Eigentlich wollte ich dir das ja nicht verraten, aber das habe ich gestern Abend tatsächlich noch erledigt.“

Ganz große, wirklich mächtig große Augen sahen Rick plötzlich voller Begeisterung an, fragten stumm nach Leckereien.

„Du weißt ja, wo du was findest“, fügte der Kleinere hinzu.

Eine kleine Staubwolke war das einzige, was er noch zu sehen bekam, die wenig später von einem viel bepackten Joe wieder ersetzt wurde.

„Ist das da mein kompletter Kühlschrank?“

„Nö, das Obst wollte ich nicht.“

Rick blieb das Wort im Halse stecken und er schüttelte nur noch den Kopf, ließ es sich aber nicht nehmen, selbst die Hand nach etwas Essbarem auszustrecken. Fast rechnete er damit, dass Joe alles in Sicherheit bringen würde, was er aber zu seiner eigenen Sicherheit nicht einmal versuchte.

Genüsslich kauend verfolgten sie weiter die Szenen der Dokumentation, die sich als äußerst interessant herausstellte.
 

„Habbn die esch gud gehabd“, begann Joe mal wieder aller Höflichkeiten beraubt. „Drei Gänge mit bald fünfzig unterschiedlichen Speisen! Stelle dir das mal vor! Ein wahres Paradies… Hey, Rick? Magst du nicht auch mal solch eine Festlichkeit ausrichten?“

„Und du kochst.“

Joe verschluckte sich und hustete ein ’Ich? Sicher?’

„Wenn ich noch einmal darüber nachdenke, dann sollten wir das lieber professionellen Köchen überlassen. Dein Essen würde sicherlich alle Leute von der Feier verscheuchen.“

„Eben, dafür haben wir ja dich.“

„Ich bin froh, wenn ich d-i-c-h satt bekomme.“

„Reicht ja auch“, lachte Joe und nestelte eifrig an einer Chipstüte herum, die partout nicht aufgehen wollte.

„Aber wenn du nicht mal solch triviale Dinge alleine hinbekommst, wirst du mich wirklich für immer als…“

„… mein werter Herr Magenfüller brauchen“, beendete der Blonde den Satz und nickte dabei zustimmend.

Bemüht versuchte Rick, nicht rot zu werden ob der Tatsache, dass Joe gerade indirekt gesagt hatte, dass er ihn für immer brauchte. „Hast du ein Glück, dass wir Gas und vernünftiges Licht haben, sonst würde selbst ich meiner Rolle nicht gerecht werden können.“

„Im Dunkeln zu kochen, da eröffnen sich einem doch ganz neue Möglichkeiten.“

Nun lief Rick tatsächlich knallrot an und schluckte, denn seine Fantasie ging mit ihm durch und er konnte sich nicht gegen die erregenden Bilder, die sich nach und nach auftaten, wehren.

„Ich hatte vielmehr an die neuen Kreationen gedacht, die beim versehentlichen Verwechseln der Zutaten entstehen… aber wenn ich mir mal deine Fantasie ausborgen darf, dann, ja, hm-mm, wirklich nett.“

Immer noch leuchtend streckte Rick die Zunge raus und drehte Joes Gesicht weg, so dass dieser ihn nicht mehr so unverschämt frech anschauen konnte.

„Schade, dass wir nicht im Mittelalter leben. Da würdest du zusammen mit dem Vieh fressen dürfen!“

„Jetzt weiß ich erst recht, dass ich genau ins Schwarze getroffen habe.“ Joe wuschelte dem Kleineren keck durch die Haare, ließ aber gleich wieder ab, denn er brauchte die Hand, um in die Chipstüte zu greifen, die sich letztendlich doch erbarmt hatte.
 

/Ohweh, wenn ich derartige Bilder vor meinem inneren Auge sehe, wird mir ganz heiß und schwummrig. Aber Joe halbnackt beim Kochen wäre doch wirklich mal eine Option… Rick! Stop!... Stelle dir so was erst gar nicht vor… Obwohl…/
 

Ein anzüglicher Blick folgte, den der Größere glücklicherweise nicht mitbekam, sonst wäre er vermutlich an den Chips erstickt. Vehement zwang sich Rick, sich wieder auf den Fernseher zu konzentrieren, nicht dass er noch laut aufstöhnte oder andere peinliche Geräusche von sich gab. In jemanden verliebt zu sein, der nicht dasselbe empfand, war einfach verflucht schwer. Keine einzige Fantasie durfte man ausleben außer in seinen Gedanken oder Träumen. Leise seufzend schob er alle Szenen, die mit Joe und ihm in verruchten Positionen zu tun hatten, in die hinterste Ecke seines Vorstellungsvermögens, da wo sie in trister Einsamkeit verrotten konnten.
 

„Also mit vierzehn möchte ich nicht verheiratet werden“, kommentierte Joe die sich dem Ende neigende Dokumentation.

„Dann hättest du jetzt vielleicht schon zwei oder drei Kinder.“
 

Diese Vorstellung behagte Joe überhaupt nicht, denn er benahm sich selbst oft genug noch wie ein Kind.
 

„Nein danke.“

„Magst du keine Kinder?“

„Doch schon und das weißt du, aber in dem Alter ist man doch nicht mal annähernd reif für Kinder, geschweige denn, dass ich das jetzt von mir behaupten könnte.“

„Ich denke, du wärst ein guter Vater.“

„Echt?“

„Sicher, du würdest mit ihnen spielen, ihnen zeigen, dass, wenn man schon leidet, dann gewiss nicht an Hunger-“

„Hey, na warte, das ist mein Job, dich zu veralbern.“ Er ergriff Ricks Arm und zog ihn an sich, so dass er ihn in den Schwitzkasten nehmen konnte.

„Du bist eben ein guter Lehrmeister“, lachte Rick und entwand sich erfolgreich aus dem Griff seines besten Freundes.
 

Trübe Erinnerungen kann man verdrängen, doch sie holen einen früher oder später im Leben wieder ein… und wenn sie zurückkehren, werden sie noch heftiger sein als man je zu träumen gewagt hatte…

Kapitel 17

Kapitel 17
 

„Magst du mit Julia und mir heute Abend ins Kino gehen, in die Spätvorstellung?“
 

Die Dokumentation im Fernsehen war nicht mal fünf Minuten um und Joe stand schon mit seiner Jacke bekleidet auf der Türschwelle, blickte Rick
 

/… hoffnungsvoll?.../
 

an.
 

„Mit Julia und dir?“

„Ja, warum denn nicht. Sie hat anklingen lassen, dass sie dich gern mal wieder sehen würde.“

„Im Kino!?“

„Hab’ dich nicht so und geh mit.“

„O-okay.“
 

Kaum hatte er seine Zustimmung gegeben, winkte Joe ihm noch schnell zu, bevor er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.
 

/Ich soll mit den beiden gemeinsam ins Kino…?/
 

Den Kopf schüttelnd lief Rick im Zimmer auf und ab, wusste nicht besser, seine Gedanken ordnen zu können.
 

/Wie kommst du nur darauf, dass ich Lust darauf hätte, Pärchen beim Händchenhalten und Küssen zu sehen… insbesondere Julia, wie sie gierig ihre Arme um dich schlingt, ihre Lippen direkt vor meinen Augen auf deine presst… ? … Ahhh dieses Biest! Das war sicher von ihr geplant!/
 

Aufgebracht stampfte Rick auf dem Fußboden auf, wollte schon nach seinem Handy greifen und Joe absagen, doch dann fiel ihm ein, dass Julia gar nicht wissen konnte, dass er ebenfalls in ihren Freund verliebt war. Er knurrte kurz, denn es wäre einfach zu schön gewesen, diese dumme Idee, mit ins Kino zu sollen, auf die rothaarige Kellnerin zu schieben. Wollte sie ihn wirklich mal wieder sehen oder war das ein Alleingang von Joe und Julia wusste gar nichts von ihrem Glück? Doch weshalb sollte ihn der Blonde zu einem Date mitschleppen? Er würde sowieso die Rolle des berühmten fünften Rads am Wagen einnehmen und sich vollkommen fehl am Platze vorkommen. Hat das denn keiner von beiden bedacht?
 

„Dann bringe ich eben auch jemanden mit!“, brummte er und rieb sich die Hände.
 

„Ich hoffe nur, dass sie auf meine Mail reagiert…“, hauchte er ein wenig sorgenvoll in die Luft, denn er hatte dabei an Amelia gedacht. Natürlich wusste er, dass sie ihn sicherlich nicht sehen wollte, nachdem er sie offensichtlich enttäuscht hatte, doch ein Versuch war es wert. Er hatte eigentlich nichts dabei zu verlieren, mehr als ihn ignorieren konnte sie ja nicht. Außerdem würde er auf diese Weise vielleicht zeigen können, dass ihm etwas an ihr lag und ihr vermitteln können, dass er ihr ein guter Freund sein könnte, einer, der sie nicht links liegen lässt, nur weil sie ihm harte Vorwürfe an den Kopf geschmissen hatte.
 

/… Ich verleumde dann unsere Freundschaft doch nicht, oder?... Sie muss ja nicht erfahren, weshalb ich sie genau für heute Abend einlade, so wenige Stunden nach unserem ersten Treffen… Aber ich habe ja ein schlechtes Gewissen, dass ich sie einfach gehen gelassen habe, und das ist meine Wiedergutmachung…/
 

„Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen!“
 

Mit etwas mehr Mut öffnete Rick nun seinen E-Mail-Account und begann seine Finger über die Tasten fliegen zu lassen.
 

’Hallo Amelia,
 

es tut mir aufrichtig leid, dass ich dich enttäuscht habe. Das lag niemals in meiner Absicht. Menschen verletzen andere Menschen ohne es zu merken und das ist mir heute anscheinend passiert. Dafür möchte ich mich mit allem Anstand, den ich habe, bei dir entschuldigen und ich hoffe sehr, dass du mir verzeihen kannst.
 

Hättest du denn Lust, mit mir heute Abend noch ins Kino zu gehen (Spätvorstellung)? Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn du mir die Chance einer Wiedergutmachung gewähren würdest.
 

Gezeichnet
 

Rick’
 

Ohne zu zögern sandte er die Nachricht ab und wünschte sich von ganzem Herzen, dass sie sie zum einen überhaupt lesen würde und sie nicht sofort in den Papierkorb befördert, zum anderen ihm eine Antwort zukommen ließ.

Was ist, wenn sie ablehnt?
 

/Dann müsste ich wohl ins kalte Wasser springen und das frisch verliebte Paar allein begleiten…/
 

Was ist, wenn sie zustimmen sollte und er ihr plötzlich Julia und Joe vorstellte ohne vorher erwähnt zu haben, dass das sozusagen ein Doppeldate war?
 

/Ohweh, daran habe ich gar nicht gedacht, ich Depp. Sie möchte sicherlich keine Freunde von mir kennenlernen. Moment! Julia ist keine Freundin! Eine Bekannte, eine ganz ganz ganz flüchtige Bekannte!/
 

Rick biss sich auf die Unterlippe und schaute den Monitor seines Computers an. Sollte er noch ein Postskriptum nachschicken? Nach einigem Überlegen ließ er es sein, denn er beschloss, dass es nichts bringen würde, vielmehr das Gegenteil bewirken könnte und das wollte er auf gar keinen Fall.
 

/Es war… eine bescheuerte Idee von mir, sie zu fragen!… Nun ist es zu spät… Sag mal, mache ich denn momentan alles falsch, was soziale Kontakte anbelangt?... Bin ich nicht mal in der Lage, zwei Menschen zufrieden zu stimmen!?... Joe schien mir vorhin ganz der Alte zu sein… aber bei Amelia habe ich wohl alles zerstört und meine Mail macht es vermutlich noch schlimmer… Ich bin so ein verdammter Idiot!!!/
 

Zu allem Überfluss krochen immer mehr Selbstvorwürfe in seinen Verstand, machten es sich dort gemütlich und wollten nicht mehr so schnell verschwinden. Rick wurde fast wahnsinnig. Er klopfte sich mit einer Hand an die Stirn und fragte sich, wie er ’Einsame Seele’ nur in seine Liebesangelegenheiten mit reinziehen konnte. Völlig gefühllos und wie ein Trampel kam er sich vor. Amelia hatte ihn um Hilfe gebeten und er möchte sie dazu benutzen, Julia und Joe eins reinzuwürgen. Er musste echt verzweifelt sein!

Woher war nur die Überzeugung gekommen, dass seine Aktion richtig wäre? Verzagt blickte Rick umher, konnte seinen Blick nicht auf belanglosen Dingen halten.
 

„Grrr, ich vermassle alles!“, entfuhr seiner Kehle und sprach genau das aus, was ihn so schmerzte. Er fühlte sich völlig unnütz auf dieser Welt.
 

Unerwartet gab der Computer ein seltsames Geräusch von sich und Rick wollte schon nach ihm treten, da er dachte, dass er nun den Geist aufgegeben hätte, doch er besann sich glücklicherweise eines besseren, als er den Laut in den Wirrungen seines Verstandes doch noch zuordnen konnte. Er drückte den Bildschirmschoner weg und als er die neue Nachricht aufblinken sah, wusste er endgültig, dass er sich nicht geirrt hatte. Er schluckte heftig, denn mit so einer schnellen Antwort hatte er nicht gerechnet. Eigentlich hatte er mit gar keiner Antwort gerechnet!

Mit einer leicht zitternden Hand öffnete er die Mail und seine dunkelblauen Augen bannten die schwarzen Buchstaben, die sogleich erschienen.
 

’Sehr gerne sogar. Ich werde um halb elf in der Eingangshalle des Orange Star auf dich warten.’
 

„Ehrlich?“, fragte er das außer ihm völlig leere Zimmer, das ihm nur den Hall seiner eigenen Stimme als Antwort gab.

Ein zentnerschwerer Stein fiel ihm vom Herzen und als der Druck von ihm abfiel, schlich sich völlig unbemerkt ein kleines Lächeln in seine Mundwinkel.
 

/Vielleicht… wird ja doch noch alles gut werden…?/
 


 

Rick sah das große moderne Gebäude vor sich, das von seinen Architekten auf den Namen ’Orange Star’ getauft wurde. Dass das rundliche Erscheinungsbild und die vielen Fenster die Erbauer anscheinend zu solch einer Namensgebung veranlasst hatten, war dem Dunkelhaarigen momentan völlig gleichgültig. Er interessierte sich stattdessen dafür, wie Amelia reagieren würde, wenn er ihr beibrachte, dass er nicht alleine hier war.

Erwartungsvoll betrat er das Kino und lief über den roten Teppich in Richtung der großen Plakate, die in edlen gläsernen Kästen von der Decke herabhingen. Er brauchte sich gar nicht erst umzusehen, denn da stand das Mädchen, das ihm solch Kopfzerbrechen bereitete. Leise ausatmend ging er geradlinig auf sie zu und versuchte, sie mehr als liebevoll anzulächeln.
 

„Danke, dass du gekommen bist.“

„Du hast eine zweite Chance verdient.“

„Das freut mich wirklich. Glaube mir, ich wollte dich vorhin nicht-“

„Hak’ das Thema einfach ab, okay?“
 

Ihre Stimme klang hart und zugleich so sanft, dass Rick nicht wusste, ob sie noch böse auf ihn war oder nicht. Ihr leicht rosafarbener Teint verriet ihm aber, dass ihr die frische Luft gut getan hatte.
 

„Gerne sogar. Wollen wir uns einen Film aussuchen?“

„Aber bloß keine Romanzen.“
 

Rick konnte sich ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken, denn nach schnulzigen Liebesfilmen stand ihm nun gewiss auch nicht der Sinn.
 

„Verständlich“, erwiderte er und ließ seinen Blick über all die professionellen Plakate schweifen. „Wie wär’s mit einem Horrorfilm? Der da klingt nicht schlecht.“
 

Er zeigte auf einen Kopf, dessen Mund weit aufgerissen war.
 

„Keine Einwände.“

„Schön, dann warte hier, ich hole die Karten.“
 

Während Rick zum Schalter lief, hielt er nach Joe Ausschau. Er wollte ihm sagen, dass er kurzerhand beschlossen hatte, sich mit Amelia allein einen Film anzusehen und sie sich danach auf einen Drink treffen könnten. Gewiss wollte er Joe nicht vor den Kopf stoßen, doch als er das Mädchen gesehen und sie ihm gleich verziehen hatte ohne eine weitere Entschuldigung, war ihm dieser Gedanke gekommen und ihm als vernünftig erschienen. Zudem hatte das einen positiven Nebeneffekt: Er konnte somit Julia erst einmal aus dem Weg gehen!

Etwa in der Mitte der Schlange, die am Verkauf anstand, konnte Rick seinen Freund ausmachen.
 

„Hi!“, begrüßte er ihn, würdigte dabei die Kellnerin keines Blickes, die tatsächlich an Joe klebte wie eine lästige Klette. Ihre Hand lag auf seiner Brust, was Rick überhaupt nicht gefiel, er aber gekonnt verdrängte.

„Da bist du ja, dachte schon, du lässt uns im Stich.“

„Hallo“, sagte Julia und Rick quälte sich zu einem höflichen Nicken in ihre Richtung.

„So in etwa tu ich das auch.“

Fragende grüne Augen sahen ihn an und er zuckte leicht mit den Schultern.

„Ich habe Amelia gefragt, ob sie Lust hat, mit mir einen Film zu sehen und-“

„Sie ist auch hier?“ Joe ließ Rick gar nicht aussprechen.

„Ja und-“

„Dann stelle sie uns mal vor.“

„Nein, das halte ich für keine gute Idee und du weißt warum.“

„Verstehe… aber wirklich schade, dass du uns keine Gesellschaft leistest.“
 

Julia sah von einem zum anderen und begriff nicht, was die beiden meinten. Und Rick bemerkte nicht einmal, welch trauriger Ausdruck in Joes Gesicht lag. Er war einfach zu sehr damit beschäftigt, die Frau an Joes Seite aus seinem Blickfeld zu bannen.
 

„Wir können uns doch nach dem Film treffen“, meinte der Dunkelhaarige.

„Schön, dann bis nachher“, rief ihm Joe noch hinterher und wurde von Julia weggezerrt, die es anscheinend kaum erwarten konnte, wieder mit ihrem Freund allein zu sein.
 

/Die Idee mit dem Kino kam sicherlich nicht von ihr…/
 

Als Rick zwei Karten in den Händen hielt, marschierte er zurück zu Amelia, die sich mit einem Prospekt die Zeit vertrieben hatte und noch immer darin vertieft zu sein schien.
 

„Voilà, nun können wir.“
 

Er hielt ihr die Karten unter die Nase, so dass sie ihn endlich bemerkte. Mit ihren leeren Augen sah sie ihn an, klappte dann das Heft zu und legte es zurück ins Regal, woher sie es entnommen hatte.
 

/Im ersten Moment glaubte ich, sie erkenne mich gar nicht…/
 

Mit einem „Wir müssen ganz nach oben“ durchbrach Rick das seltsame Schweigen und hoffte, dass sie dadurch wieder ein wenig redseliger werden würde.
 

„Bin schon wirklich auf den Film gespannt.“
 


 

„Ich auch“, erwiderte Amelia endlich. „Nur die Handlung darf nicht so einfach gestrickt sein, sonst schlafe ich ein.“
 

Dass sie ein wenig humorvoll klang, freute Rick, denn es zeigte ihm, dass ihr das Treffen wohl doch ein wenig zu gefallen schien.
 

/Ein kleines Lichtlein erstrahlt… bitte lass es brennen…/
 

Als sie die ganzen Stufen hinaufgestiegen waren, stießen sie auf einen ganzen Schwarm von Menschen.
 

„Wow, dass um die Zeit noch so viele Leute im Kino sind“, staunte Rick.

„Sie haben nichts besseres zu tun.“

„Hey, wir sind aber auch hier.“

„Du willst uns aber nicht auf eine Ebene mit all diesen Egoisten stellen.“

„So pauschal kann man das doch nicht sehen…“
 

Amelia sagte nichts mehr, sondern grub sich durch die Masse, die nach billigem Parfum und kaltem Schweiß roch. Mit einem Schulterzucken folgte ihr Rick und entschuldigte sich für einen Moment, als sie endlich hinter dem Träubel wieder auftauchten. Er begab sich zur Toilette, in der merkwürdiger Weise fast kein Andrang herrschte.

Als er sich erleichtert hatte, wusch er sich noch schnell die Hände, betätigte den Seifenspender, der wohl aber leer war, weshalb er sich vornüberbeugte, um nachzusehen, ob dies tatsächlich der Fall war oder er einfach nur streiken wollte.
 

/Dann muss es eben mal ohne gehen…/
 

Als er wieder aufsah, erstarrte er sofort zu einer Salzsäule. Nicht nur er schaute ihm im Spiegel entgegen, sondern noch jemand, den er hier nicht mal im Traum vermutet hatte. Vor allem nicht jetzt! Die tiefdunklen Augen des anderen bohrten sich zum zweiten Mal an diesem Tag in seine Seele und Rick erschauerte wie schon am Nachmittag.
 

/Verfolgt mich dieser Kerl etwa?... Ich kann meinen Blick nicht senken, obwohl mir nichts lieber wäre als das… Warum muss sich mein Körper gerade jetzt in einer Totallähmung befinden?.../
 

„Schön, dass du auch hier bist, Kleiner“, hauchte der Schwarzhaarige, während er sein Gesicht immer näher dem von Rick brachte. Jedes einzelne Nackenhärchen richtete sich auf, bekundete die aufkeimende Unruhe, die mit jeder Zehntelsekunde wuchs und unermesslich zu werden schien, vor allem in dem Augenblick, als er den warmen Atem des anderen auf seiner Haut spüren konnte. Rick war nicht einmal mehr fähig zu schlucken, schon aus Angst, er könnte dem anderen damit zeigen, dass er sich unbehaglich fühlte. Wenn sich doch nur ein Spalt im Boden auftun könnte,…
 

„Selbst die Blässe steht dir gut, verleiht dir gläserne Zerbrechlichkeit.“
 

Rick schloss die Augen, denn er konnte die Szene, die sich vor ihm im Spiegel darbot, nicht mit ansehen. Weg wollte er, weg von diesem Mann, doch er konnte nicht.
 

„Da mag es einer mit geschlossenen Augen“, flüsterte der Fremde mit einer unüberhörbaren Erregung in der tiefen Stimme.
 

Als Rick die Lippen des anderen in seinem Nacken spürte, zuckte er zusammen und riss die Augen wieder auf.
 

/Wie kann der sich nur erdreisten-/
 

Eine Hand legte sich auf Ricks Kinn und wandte sein Gesicht um, so dass er nun direkt in die fordernden Augen des Fremden blicken konnte, musste. Reflexartig öffnete er den Mund, um auf irgendeine Weise Gegenwehr zu leisten, doch er spürte sogleich die zweite Hand des Kerls, die ihn gewaltsam daran hinderte, Widerworte zu geben.
 

„Na na, böse Worte würden mich nur noch mehr antörnen und ich bezweifle, dass du so viel Begierde beim ersten Mal ertragen könntest.“
 

/Beim ersten Mal?/
 

Die anzügliche Stimme des Mannes brachte ihm die Beherrschung über seinen Körper zurück und er trat mit nun aller Kraft gegen das Schienbein des Widerlings, der lediglich kurz das Gesicht verzog und seinen Griff nun verstärkte.
 

„Wenn du dies noch einmal tust, wirst du es bitter bereuen.“
 

/Kann denn keiner hier reinkommen und mir helfen?/
 

Rick wurde an die Wand gedrängt und er fühlte die kalten Fliesen an seinem Rücken.
 

„Nun kannst du mir nicht mehr entfliehen, auch wenn das die ganze Sache vielleicht ein wenig reizvoller gestalten würde… Als ich dich heute gesehen habe, wusste ich, dass du mir gewisse Dienste leisten könntest. Dein entsetzter Blick sagt mir, dass du mich genau verstehst. Dann lass ich dich mal nicht länger warten.“
 

/Komme nicht näher… nein bitte nicht… ich flehe dich an… geh weg… nein… NIIIIICHT!!!!!/
 

Warme Lippen pressten sich auf seine und Rick fühlte nur noch Abscheu und Ekel. Heiße Tränen rollten an seinen Wangen hinab, die seinen stummen Hilferuf verkörperten. Die Zunge des Fremden forderte unerbittert Einlass, den Rick partout nicht gewähren wollte. Die Hand an seinem Kinn drückte fest zu, so dass Rick am Ende keine andere Wahl mehr hatte, als den Mund zu öffnen. Verzweifelt krallten sich seine Hände in den Stoff seiner Kleidung und er betete, dass endlich jemand kommen und ihn retten würde. Ihm kam die Zunge des anderen einfach nur überdimensional groß und glitschig vor, alles in ihm wehrte sich gegen diese Intimität.
 

/JOEEEE!/, rief sein Verstand. /Joe, hilf mir…/
 

Leises Klopfen an der Tür veranlasste den Schwarzhaarigen dazu, endlich von Rick abzulassen.
 

„Wir sehen uns wieder“, hauchte er begehrend in Ricks Ohr, ließ ihn anschließend los und verließ die Herrentoilette, vor der eine unruhig auf- und ablaufende Amelia wartete, die hoffnungsvoll auf den kleinen Raum schaute, doch anstatt Rick nur einen großen Mann herauskommen sah, der ein kaltes Lächeln auf den Lippen trug.

Kapitel 18

Kapitel 18:
 

Seine Knöchel wurden immer weißer, während sich seine Finger krampfhaft in den weißen Stoff, der über seiner Brust lag, hineinkrallten. Sie zitterten unablässig und lautes Keuchen erfüllte den Raum um sie herum. Rick stand die Angst in den dunkelblauen Augen und ein nebliger Schleier umspielte die Iriden, die fortan jedwedem freudigen Glanz entsagten. Vielleicht schimmerten sie doch ein wenig, allein durch die Tränen, die nicht versiegen wollten, veranlasst, aber das kam einzig von der Trauer, die sich über sein Herz gelegt hatte.

Wie konnte ein Mensch nur solch grausame Dinge tun? Wie kann ein Mann nur jemanden zu einem Kuss zwingen, sich das nehmen, was der andere gar nicht möchte? Warum kann jemand anderen nur solche Schmerzen zufügen?
 

/… und dann mit einem eiskalten Gesichtsausdruck verschwinden… /
 

Während Rick jeglichen Blick in den Spiegel vermied, drehte er sich zum Waschbecken und hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn, den er anschließend aufdrehte. Etwa eine Minute lang verharrte er unter dem kühlen Nass, wollte alle Sünden wegwaschen, die ein anderer gegen seinen Willen begangen hatte. Er füllte immer wieder seinen Mund mit Wasser und versuchte den abscheulichen Geschmack loszuwerden, der ihm noch mehr kleine Perlen in die Augen trieb.

Wie in Trance vernahm Rick eine wütende Stimme, die dumpf durch die Tür drang. Er brauchte ein wenig, sie zu erkennen, doch er konnte sie alsdann Amelia zuordnen.
 

/Sie wartet ja auf mich!/
 


 

„Was hast du denn so lange gemacht?“, fuhr ihn das Mädchen an, als Rick aus der Herrentoilette trat. Er sah sie gequält an.

„Der Seifenspender streikte und ich habe versucht, ihn zu überlisten und seine Rache bestand darin, mein Hemd vollzuspritzen.“

Genauestens studierte Amelia seine Kleidung, die am Kragen tatsächlich feucht war. „Mhh, wir haben den Anfang des Films verpasst. Aber wenn wir uns beeilen, dann verpassen wir nichts Wichtiges.“

„Dann los, hier sind die Karten“, erwiderte Rick und zückte zwei Papierstreifen, die ihm das Mädchen sofort entriss.

Mit langsamen Schritten folgte er ihr in den Kinosaal, in dem viele Menschen gebannt auf die große Leinwand schauten. Erstickte Klänge drangen von allen Seiten her und Rick kämpfte sich durch die volle Reihe, nahm ein ’Weg da!’ wortlos in Kauf und setzte sich neben Amelia, die ebenfalls wie der Rest nur noch einen Blick für den Film hatte.
 

Dumpf das Prasseln im Herzen

der Tropfen jeder Träne…

im Schweigen ergossen.
 

Verzweifelt versuchte Rick der Handlung zu folgen, versuchte mit aller Kraft, seinen Körper zu entkrampfen. Er stierte mit gepressten Lippen nach vorne, sah zwei Männer, wie sie durch Gänge eingefasst durch dickes Glas mit seltsamer Inschrift liefen und immer neue kritische Blicke hinter die gläsernen Wände warfen. Die Musik wurde zunehmend bedrohlicher und helle Töne mischten sich ab und an darunter, die in Ricks Kopf schrill nachhallten und einfach nicht verklingen wollten.
 

„Hey, Rick?“, fragte Amelia, aber Rick nahm ihre Stimme nicht wahr.
 

Wehmütig das Klagen des Herzens

jedweden Stiches Nadeln gleich…

im Dunkel aller ungeachtet gefühlt.
 

’… ich bezweifle, dass du so viel Begierde beim ersten Mal ertragen könntest…’
 

Worte… nur Worte… die in Rick geschrieen wurden. Er sah wie einer der Hauptdarsteller in der Mitte gespalten wurde, sah eine Hälfte am Glas hinabgleiten und rotes Blut hinterlassen. Vor Ricks Augen färbte sich alles rot, tiefrot und obwohl auf der Leinwand bereits kein Blut mehr zu sehen war, sah er es immer noch. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und seine Atmung beschleunigte sich. Seine Fingernägel bohrten sich zittrig in die Armlehnen seines Sitzes.
 

Als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, sprang er auf, um der Berührung auszuweichen, und stolperte anschließend über die Beine sich beschwerender Menschen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel auf einen Jungen, der ihn unsanft wegstieß. Verstört fühlte er alsbald härteren Boden unter sich, stieg die Treppen hoch und fiel aus der Tür. Auf allen vieren kroch er vom Saal weg hin zur langen Reihe aus Heizung und stabilen Holzbrettern. Kraftlos zog er sich auf eines der Bretter und kauerte sich in die letzte Ecke hinein.
 

Amelia schlüpfte durch die große Tür des Kinosaals und lief geradewegs auf den Dunkelhaarigen zu, der seinen Kopf unter seinen Armen vergraben hatte, die auf seinen angewinkelten Beinen lagen. Lautlos setzte sie sich nicht unweit von ihm hin und sah ihn mit ihren leeren Augen an, legte eine ihrer zierlichen Hände auf das Holz direkt neben Rick, kam mit ihrem Gesicht nahe an seine Schultern heran.
 

„Kämpfe dagegen an, lass das Dunkel nicht die Überhand gewinnen“, flüsterte sie mit weicher Stimme. „Denke an dein Licht, das für dich erstrahlt... nur für dich…“
 

/Mein Licht…/
 

„Du bist viel zu wertvoll, als dass du dich von der Finsternis verleiten lassen könntest… glaube an das Licht,…. Bitte glaube daran… bitte!!!“
 

/… Joe… mein Joe…/
 

„Spüre die Wärme der Strahlen deines Lichtes… lass sie in deine Haut dringen und dir das Böse vertreiben… Rick, glaube!“
 

/… seine grünen Seen beschützen mich… hüllen mich ein… /
 

„Stehe über allen Dingen und siehe nach vorne… in dein Licht hinein… es wärmt dich,… es schützt dich… es erstrahlt einzig und allein für dich.“
 

Vorsichtig hob Rick den Kopf an und sah in Amelias leere Augen, die in diesem Moment überhaupt nicht leer waren, sondern den ganzen Schmerz in sich trugen, der dem Mädchen zugefügt worden war.
 

„Kämpfe Rick, bitte!“, flehte sie und nahm ihren Blick nicht von ihm. „Mache nicht denselben Fehler wie ich, ich bitte dich.“
 

Rick legte langsam seine Arme um sie und drückte sie erst leicht, dann immer fester an sich…
 


 

„Du schmeckst so gut…“, säuselte Julia und knabberte an Joes Ohr.

„Ja…“

„Die Sonne ist blau.“

„Hm-mm.“

„Du hörst mir gar nicht zu!“, fuhr sie ihn laut an, wofür sie wütende Rufe der anderen Besucher erntete und Popcorn zugeschmissen bekam.

„Erst sehe ich dich tagelang nicht und dann nimmst du mich gar nicht mal richtig wahr. Weshalb gebe ich mich eigentlich mit dir ab!“, fauchte sie nun um einiges leiser.

Joe sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und versuchte sie mit einem liebevollen Blick zu beruhigen, was aber anscheinend das Gegenteil bewirkte.

„Bist du etwa in Gedanken nur noch bei deinem Freund? Der ist alt genug, der wird schon ohne dich klar gekommen! Du brauchst ihn nicht bemuttern, er steht auf eigenen Füßen!“

In Joes Kehle steckte ein dicker Kloß und er wusste im ersten Moment nichts zu erwidern. Julia funkelte ihn böse an und er begriff nicht, weshalb sie dermaßen wütend war. Es stimmte, dass er ihr abgesagt hatte und das nicht nur einmal, sondern mehrmals. Ja, er hatte die Verabredungen mit ihr gecancelt… und? War das ein Grund, ihn nun so anzugreifen? Er saß doch jetzt neben ihr, war mit ihr hier im Orange Star und schaute mit ihr zusammen einen Film.
 

/Rick ist mir nun einmal wichtig, er ist mein bester Freund. Verflucht, kannst du das nicht verstehen? Er hat niemanden als mich!/
 

„Beruhige dich erst mal“, versuchte Joe Julia zu besänftigen. „Wir stören die anderen.“

„Was interessieren mich die anderen? Ich möchte wissen, ob er dir wichtiger ist als ich.“
 

Joe schluckte schwer. Was sollte er auf die Frage antworten? Natürlich war Rick der Mensch, der ihm am Herzen lag, eben als guter Freund, als Kumpel, als d-i-e Bezugsperson. Und Julia? – War eine Bekanntschaft, ein Flirt, aber wirklich seine Liebe? Er mag sie, sogar sehr… doch sein Herz schlägt nicht für sie. So sehr er sich das in den letzten Tagen einzureden versucht hatte, hatte sein Körper ihm jedes Mal etwas anderes gesagt, als er mit ihr telefoniert oder sie gesehen hatte. Sein Herz schlug nicht schneller, wenn er mit ihr Kontakt hatte, er fühlte keine Schmetterlinge im Bauch, da war nichts, was auf intime Zuneigung hin deutete. Immer wieder hatte er sich gewünscht, dass die Rothaarige seinen Verstand vernebeln würde, doch sie tat es nicht, in keinster Weise.

Betroffen erwiderte er ihren Blick, hielt ihm stand, doch wusste im selben Augenblick noch, dass er sie verletzen würde, wenn er ihr etwas in der Art sagen würde, zumal er sich etwas anderes nicht eingestehen wollte. Zärtlich legte er eine Hand auf ihre Wange und küsste sie auf die Stirn, was sie immer noch Groll verspürend zuließ.
 

„Ich möchte dich nicht verlieren, denn ich habe dich sehr gerne.“
 

Er strich mit zwei Fingern über ihre vollen Lippen, bevor er seine auf sie legte und mit seiner Zunge um Einlass bat. Der innige Kuss nahm die Spannung aus ihrem Körper und ließ sie in seine Arme sinken. Im Dunkel des Kinos erkannte man kaum die Wehmut in Joes grünen Augen, die durch seine Lider nicht verdeckt waren. Keuchend löste sich Julia von ihm und lächelte ihn dankbar an.
 

„Ich liebe dich“, hauchte sie ihm entgegen, was sein Herz beinahe zerriss.
 

/Wenn ich nicht bald Herr über meine Gefühle werde, werde ich dir irgendwann sehr weh tun… /
 


 

„Amelia…?“

„Ich möchte nicht darüber reden.“

„Aber ich… möchte dich verstehen.“

„Bitte Rick, frage nicht nach.“
 

Rick fuhr sich langsam durchs dunkle Haar und fixierte einen Punkt auf der geschlossenen Tür des Kinosaals, in dem sie nun eigentlich hätten sitzen und einen Film schauen sollen.
 

„Auf der Welt passieren Dinge, dich ich einfach nicht begreife… Menschen begehen Verbrechen und haben sichtlich auch noch Spaß daran, andere zu verletzen… Ich wünsche mir manchmal, noch klein zu sein, denn da sieht man die grausame Wirklichkeit nicht, man kann sich vor ihr verstecken und lebt meist in harmonischer Eintracht…“

„Auch als Kind kann man Schmerzen erfahren“, sagte Amelia leise.

„Ich lebte in einer intakten Familie… das machte mich wirklich glücklich… Meine Eltern kümmerten sich um mich… doch dann wurde ich älter und-“

„Sie ließen dich im Stich“, unterbrach sie ihn.
 

Traurig sah er auf das weiße Papier auf der schwarzen Tür, auf dem eine große zwölf stand. Er hatte innerlich ein Bild vor sich, das ihm zu teuer war, als dass er es gleich wieder verdrängen konnte.
 

/Meine Eltern waren wirklich immer für mich da, bis ich ihnen offenbarte, dass ich ihnen keine Enkelkinder auf dem üblichen Wege schenken kann… mein Vater war in seinem Weltbild total erschüttert und verstieß mich, erkannte mich nicht mehr als Sohn an… Obwohl sie mich weggeschickt haben und ich sie seitdem nicht mehr gesehen habe, liebe ich sie… ich bin ihr Fleisch und Blut und kann sie nichts als lieben…/
 

„Ich glaube, manchmal haben die Eltern zu große Erwartungen in ihre Kinder oder wünschen sich, dass sie ihre unerfüllten Träume verwirklichen… Mein Vater zum Beispiel wollte immer noch ein zweites Kind haben, eine Tochter, doch meine Mom wurde nach mir nicht mehr schwanger…“
 

Warum erzählte er das Amelia überhaupt? Hatte sie nicht selbst genug Probleme, musste er sie dann mit seinen auch noch belasten?

Ihre Nähe tat Rick gut und er war heilfroh, dass er jetzt nicht alleine war. Selbstverständlich konnte sie Joe nicht ersetzen, aber in manchen Situationen war ein Mensch, der ähnliches erlebt hatte, genau der richtige, weil er nachvollziehen konnte, was in einem vorging. Und Rick glaubte fest daran, dass sie von ihren Eltern enttäuscht war, nicht nur, weil sie unter anderem in einer ihrer Mails erwähnt hatte, dass sie wegen ihrem Vater betrübt war, sondern auch, weil sie vorhin exakt die richtigen Worte gewählt hatte. Zwar war er wegen diesem widerlichen Kerl so aufgelöst gewesen, und doch hatte ihr Zureden ihn auch daran erinnert, wie viel Leiden er schon wegen seinen Eltern überwunden hatte.
 

„Ich sollte ihm eine Enkelin schenken,… keine, durch deren Adern nicht sein Blut floss…“

„Väter können kaltblütig sein“, erwiderte Amelia, fügte aber ansonsten nichts hinzu, schloss stattdessen die Augen und dachte an den Funken, den Rick immer wieder entfachte, wenn sie seine Stimme vernahm.
 

Die Türen der Kinosäle öffneten sich und alsbald tummelten sich rege unterhaltende Menschen, bepackt mit Jacken und Taschen, in den Gängen. Die einen liefen schnell an Rick und Amelia vorüber, die anderen blieben ab und an stehen, um wilde Szenen nachzuspielen, die sie eben gesehen hatten.
 

„Viele verschließen sich vor der Torheit der Welt… Falls ihr Lachen ehrlich ist, sind sie einfach nur zu beneiden.“
 

Rick betrachtete sich das Mädchen, von dem er immer noch nichts wusste außer ihrem Namen und dem Fakt, dass sie Schlimmes durchgemacht haben musste. Er hatte all ihren Schmerz gesehen und war sich nun sicher, dass es eine harte Aufgabe wurde, ihr zu helfen. Doch nun war sie für ihn da, hatte ihm ungemein geholfen, über dieses schreckliche Erlebnis in der Toilette einigermaßen hinwegzusehen, und er beschloss, alles Erdenkliche zu tun, um sich dafür zu revanchieren, wenn es in seiner Macht liegen sollte.
 

/Ihr Schicksal und meines sind vielleicht total verschieden, auf gewisse Weise aber doch ähnlich gestrickt…/

Kapitel 19

Kapitel 19
 

„Wir haben euch überall gesucht“, rief eine vertraute Stimme und nur wenig später standen Joe und Julia vor Rick und Amelia.

Amelia schaute skeptisch auf das Pärchen und griff instinktiv nach Ricks Arm.

„Joe, Amelia,… Amelia, Joe“, stellte der Dunkelhaarige die beiden vor.

„Sehr erfreut“, erwiderte Joe und drückte kurz ihre Hand, ließ sich aber einen Blick auf ihre andere Hand, die seelenruhig auf Ricks Arm lag, nicht nehmen. „Und das hier ist Julia.“ Er deutete auf die Rothaarige, die neben ihm stand und nun ihre Arme gierig um seine Hüften schlang.

„Hey Rick, ein hübsches Mädchen hast du dir da angelacht“, meinte sie.

„Ähm…“, er errötete und vermied, Joes Blick zu treffen.

„Wir sind nicht zusammen“, korrigierte Amelia, ließ Rick aber nicht los.

„Naja, was nicht ist, kann ja noch werden.“

„Man kann nie hundertprozentig sagen, was die Zukunft bringt.“ Amelia klang sehr beherrscht und kein bisschen verlegen. Ganz im Gegensatz zum jungen Mann neben ihr hatte sie ihren blassen Teint behalten.

„Wie war euer Film?“, fragte Rick die anderen beiden, um endlich ein anderes Thema anzusprechen.

„Wenn man mal von dem unpassendsten Happy End der Weltgeschichte absieht, war er ganz okay.“

Julia knuffte Joe in die Seite, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und grinste Rick an. „Glaube ihm kein Wort. Der Film war grandios!“

Heimlich rollte der Blonde mit den Augen und teilte seinem Freund mit einem Blick mit, dass sie maßlos übertrieb und er nur ihr zuliebe den Film nicht noch schlechter beurteilte.

Obwohl Rick die Kellnerin am liebsten auf den Mond geschossen hätte, insbesondere weil sie sich immer fester an Joe schmiegte, rang er sich ein Lächeln ab.

„Und wie war eurer?“, fragte sie, bevor sie abermals Joes Wangen mit Küssen bedeckte.

„Nicht der beste Schocker, aber ganz brauchbar“, warf Amelia ein, bevor Rick etwas erwidern konnte. Sie spürte die Anspannung seines Körpers und wollte nicht, dass er offenbarte, dass sie ihn gar nicht gesehen haben. „Bringst du mich noch nach Hause?“, fragte sie an den Dunkelhaarigen gewandt, der sie dankbar anblickte.

„Gerne. Ich wünsche euch eine gute Nacht.“

Völlig pikiert sah Joe den beiden nach, sah gedankenverloren dabei zu, wie sich sein bester Freund mit einem Mädchen immer weiter von ihm entfernte.

„Tschüs“, flüsterte er ihnen hinterher, wusste, dass das Rick nicht mehr hören konnte.

„Ein Cent für deine Gedanken.“ Julia baute sich vor ihm auf, stellte sich auf ihre Fußzehen, um ihm die Sicht zu versperren.

„Hunger!“, entgegnete er mit einem kecken Grinsen, weshalb sie fast vor Bestürzung das Gleichgewicht verlor. Sie wankte und konnte sich im letzten Moment noch an Joe festhalten.

„Ist das dein Ernst?“, keuchte sie.

„Natürlich.“

Er zog sie hinter sich her, als er den Weg zum Bistro antrat. Dabei entging ihm ihre Widerwilligkeit nicht und er dachte an das überaus große Verständnis von Rick, was seine Leidenschaft gegenüber dem Essen anging…
 

„Wie… wusstest du, dass ich…“, stammelte Rick, als er und Amelia vor den Orange Star in die frische Luft traten. Ein seichter Wind blies ihnen entgegen und umspielte ihre Haare, legte sich wohltuend auf Ricks erhitzte Haut.

„Ich habe sofort bemerkt, dass du Julia nicht leiden kannst, und daher geht es sie nichts an, was wirklich passiert ist“, antworte Amelia kalt.

„Danke dir“, sagte Rick leise und lief neben dem Mädchen her, das ihn auf kuriose Art und Weise beglückte. Ihre manchmal ein wenig harte Sichtweise gefiel ihm irgendwie, denn sie brachte einfach das auf den Punkt, was Sache war.

„Nun, das habe ich wirklich gerne für dich getan… Weißt du, du bist ein besonderer Mensch, bei dem ich nicht tatenlos zusehen kann, wie er wegen anderen kaputt geht.“
 

/Kaputt?... Vielleicht bin ich das ja schon… Ich habe keine Familie mehr… und meine große Liebe bleibt für immer unerreichbar…/
 

„Welchen Fehler hast du denn begangen?“ Als sich Rick reden hörte, erstarrte er, denn das war nicht im Entferntesten das, was ihm durch den Kopf gegangen war. Darüberhinaus schockte ihn seine Direktheit, die normalerweise nicht zu seinen Stärken gehörte. Schwer schluckte er und schalt sich mehrmals stumm.

„Ich habe nicht an dem festgehalten, was mir wichtig war.“
 

/… festhalten… /
 

„Als meine Mom starb, hielt ich sie in den Armen und wollte sie krampfhaft am Leben halten“, fuhr sie leise fort und bedachte den dunklen Nachthimmel mit einem sehnsüchtigen Blick. „Mein Fehler war, dass ich irgendwann die Erinnerungen an sie verblassen ließ… Damit verlor ich den Halt und stürzte von einer Depression in die nächste.“
 

Betretenes Schweigen trat ein und Rick lagen einige Worte auf der Zunge, vermochte aber nicht, sie auszusprechen. Er wollte Amelia nicht schon wieder verletzen, ob durch angenommene Interesselosigkeit oder durch unbedachte Worte. Deshalb nahm er einfach kurz ihre Hand in seine und drückte sie.
 

„Heute Nachmittag hast du mein wahres Ich kennengelernt. Das, das dir Gleichgültigkeit vorwarf und voller Verletztheit vor seinem Leben davonläuft… Es ist wahr, dass jeder ein Licht braucht, auch wenn es noch so klein ist, an dem man sich wieder hochziehen kann… aus dem Loch, das bedrohlich im Boden klafft.“

„Wenn man hineinsieht, sieht man nichts als Schwärze…“, flüsterte Rick und merkte nicht einmal, dass er stehen geblieben war und auf den Fluss unter ihnen blickte, dem Wasser nachsah, wie es stetig in der Weite verschwand.

„Rick, bitte versuche, dich nicht vom Schicksal übermannen zu lassen.“

Amelia war die paar Schritte zurückgelaufen, die sie ihm voraus gewesen war, und stand nun neben ihm auf der Brücke, sah ebenfalls auf den Flusslauf.
 

/… Schicksal… War dieser Kerl Teil meines Schicksals? Ist es Schicksal, dass mich meine Eltern nicht mehr wollen?.../
 

„Auf so ein Schicksal kann ich verzichten!“

Bestimmt ergriff Amelia Ricks Schultern, zwang ihn ihren Blick zu erwidern. „Fall nicht in das Loch, denn wenn du einmal darin bist, kann es für dich zu spät sein!“, schrie sie ihn an und ließ ihn gleich darauf los und rannte davon. Abermals sah Rick sie an diesem Tag weglaufen und sich stumm hinterher blicken…
 


 

Zwei Tage vergingen, die Rick unheimlich lang und sinnlos vorkamen. Er hatte die meiste Zeit im Bett gelegen und die Decke angestarrt. Solch Trägheit kannte er gar nicht von sich, doch so sehr er sich auch bemüht hatte, er hatte sich nicht aufraffen können. Nur wenige Male hatte er sich in der Küche oder vorm Fernseher wiedergefunden, hatte aber nie lange dort verweilt, hatte einfach das kuschelige Bett vorgezogen. Auch jetzt lag er darin und erforschte das Weiß, das sich ab und an in feinen Unebenheiten ergötzte.
 

’Begib dich auf die Suche nach einer Quelle, aus der du immer von Neuem Kraft schöpfen kannst. Doch falls diese einmal versiegt, dann gib nicht auf, sondern erforsche deiner Selbst; dort verbirgt sich mehr Kraft, als man oft denkt.’
 

Das waren seine eigenen Worte gewesen und er hatte sie Amelia voller Ernsthaftigkeit geschrieben. Es war so verdammt leicht, anderen Ratschläge zu geben und Dinge zu sagen, wenn man sie selbst nicht befolgen musste. Solange man selbst in keiner misslichen Lage steckte, konnte man frei und gut gemeint daherreden, doch dies auf sich beziehen war fast unmöglich. Zu oft gibt man Floskeln wie ’Lass den Kopf nicht hängen!’ oder ’Es wird alles wieder gut’ von sich, doch wenn es einem selber schlecht geht, dann möchte man sie nicht hören und sie sich nicht zu Herzen nehmen. Sie gehen einem einfach nur auf den Geist und sobald man wieder derartiges hört, dann möchte man am liebsten nur noch schreien oder sich in einer Ecke verkriechen.

Vergeblich hatte Rick darauf gewartet, dass sich die Welt weiter drehte und ihm mitteilte, dass alles vorbei war.
 

/Nichts ist vorbei… Amelia lässt nichts mehr von sich hören… ebenso wenig Joe… Es ist einfach ungerecht… das Leben ist… ungerecht!/
 

Seufzend rollte er sich auf die Seite und dachte an Julia, wie sie sich immer enger an Joe schmiegte. Die Szene war ihm einfach zuwider und er verzog den Mund.
 

/Ich habe seit dieser Nacht nichts mehr von Joe gehört, auf meine Nachricht reagierte er nicht… Sie spannt ihn vollkommen ein und entfernt ihn immer weiter von mir… Dabei brauche ich ihn doch, viel mehr als ich ertragen kann… Wie gerne möchte ich deine Lippen auf meiner Haut spüren…/
 

Ricks Augen weiteten sich, als er plötzlich auf ein anderes Lippenpaar blickte. Sofort zog er die Bettdecke über seinen Kopf und wollte damit das nähernde markante Gesicht abblocken. Nur zu dumm, dass man Bilder vor dem geistigen Auge nicht einfach materialisieren und mit einem Stück Stoff von sich fernhalten konnte.
 

„Geh weg!“, knurrte er. „Lass mich los…“
 

Er blieb unerhört und musste noch einmal den ungewollten Kuss schmecken. Angewidert schluckte er schwer und quälte sich anschließend auf. Nachdem er sich ins Bad geschleppt hatte, nahm er Wasser in den Mund und spuckte es heftig wieder aus. Als er in den kleinen Spiegel sah, erblickte er ein aschfahles Gesicht, das jedweden glücklichen Zügen entsagte.
 

/Wenn ich diese Szene noch öfter durchlebe, dann-/
 

Ein einzelnes Läuten riss Rick aus seinen Gedanken und er schlurfte zur Tür, verharrte aber dann vor dieser. Ihm war nicht im Geringsten nach Besuch zumute, egal wer davor stehen sollte. Vorsichtig legte er eine Hand an das Holz und ließ die Klinke ungedrückt. Nach einer ganzen Weile läutete es noch einmal und Rick ging dessen unbeachtet zurück in sein Schlafzimmer, legte sich wieder ins Bett und kuschelte sich ein.
 

/Ich sollte diese Lethargie abschütteln… aber mir fehlt schlicht und einfach der Beweggrund… Joe scheint mit Julia glücklich zu sein… ich… ich g… gönne ihm sein Glück ja… und doch macht es mich so schwach… /
 

Die Sonne kämpfte sich unter den grauen Wolken hervor und ihre Strahlen durchbrachen zaghaft das Grau, das über der Stadt lag. Das unerwartete Licht ließ Rick aus dem Fenster sehen und er fühlte seinen Herzschlag, der sich beim Anblick des Himmels beschleunigte. Das Bild, das sich ihm darbot, war unglaublich, einer Malerei gleich, die das Schöne noch tausendmal schöner darstellte. Wie sich das gelbliche Licht durch die Wolken kämpfte und dabei seine Kraft offenbarte, bannte Rick. Die Natur zeigte ihm, wie man sich zu wehren hatte, wie man sich gegen die Dunkelheit einzusetzen hatte.
 

/Die Anmut und die Reinheit der Natur werden im Sonnenschein einem erst so richtig gewahr. Im Licht sieht das Gras noch saftiger aus, der Wald freundlicher und weniger beängstigend, die Blumen farbenfroher und lebendiger, der Himmel weiter und größer… Die Natur trotzt uns Menschen, die sie zerstören, sie ohne zu zögern vernichten. Welch unermessliche Stärke in ihr innewohnt, sehen nur die wenigsten und doch gibt sie nicht auf… Ich sollte ein klein wenig mehr wie sie sein…/
 

Rick stand wieder auf und setzte sich aufs Fensterbrett, wandte dabei niemals den Blick vom Himmel ab.
 

/Gib mir Kraft, die gleiche, die in dir innewohnt, erfülle mich mit Leben…/
 

Langsam schloss er die Lider und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Nach und nach floss das Blut in seinen Adern schneller und brachte ihm einen Teil der Energie zurück, der er sich tagelang beraubt gefühlt hatte.
 

Noch einmal tief durchatmend ging er zur Haustür hinaus in den frisch angebrochenen Tag hinein und befand sich das erste Mal seit nicht weniger als drei Tagen draußen und nicht in seiner Wohnung. Erst zögerlich setzte er einen Schritt vor den anderen, dann immer sicherer und bestimmter. Genießerisch sog er die Luft ein und schlenderte ziellos durch die Straßen. Es tat unheimlich gut, sich mal wieder zu bewegen und seine Glieder anzustrengen. Er hatte lange genug lamentiert, es war tatsächlich an der Zeit, dass er wieder zu leben begann und das tat er nun auch. Hier und da warf er neugierige Blicke in die Schaufenster und fand es schade, dass Sonntag war und sie geschlossen hatten. Irgendwie hätte er gern in dem kleinen Laden nachgesehen, ob die Verkäuferin, die er ins Herz geschlossen hatte, da war und ihm einen Pullover empfehlen konnte, schließlich stand der Winter vor der Tür und erhörte keine verzweifelten Bitten, noch ein wenig zu warten, da man sich vor der Kälte nicht schützen könne.

Viele Leute waren unterwegs, gingen mit ihren kleinen Familien spazieren oder liefen vereinzelt mit Krückstock oder mit Handy in der Hand an Rick vorüber. Immer beseelter setzte er einen Fuß vor den anderen und er achtete nicht darauf, wohin ihn seine Füße trugen, es war ihm vollkommen gleich, wo er am Ende stehen würde. Hauptsache, er entkam der Trägheit und der Melancholie, die ihm in keinster Weise gut tat.
 

„Mami, darf ich den Lebkuchen da haben?“, fragte ein kleines Mädchen und zog Ricks Aufmerksamkeit auf sich.

„Der Laden ist geschlossen, meine Kleine.“

„Aber ich will den haben!“

„Maria, das geht heute nicht.“

„Ich will den Lebkuchen haben!“, schrie das Mädchen, was peinlich berührte Blicke der Mutter zur Folge hatte.

„Pssst, hier sind noch andere Menschen und wir wollen sie doch nicht stören, oder?“, sagte die große blonde Frau einfühlsam. Ihre Tochter schüttelte mit kleinen Perlen in den Augen den Kopf. „Wir gehen morgen noch mal hierher und kaufen ein paar von diesen leckeren Lebkuchen und essen sie daheim mit Papi. Kannst du bis morgen warten?“

Die Kleine nickte, griff nach der Hand ihrer Mutter und lächelte anschließend.

Rick löste sich von den beiden und trug selbst ein Lächeln auf den Lippen. Es erfreute ihn, dass es noch Eltern gab, die ihr Kind nicht gleich anschrieen oder anderweitig zur Räson brachten, sondern liebevoll mit ihnen umgingen. Sein Herz regte sich und er drehte sich noch einmal zu der kleinen Familie um.
 

/Das Glück soll sie niemals verlassen…/
 

Etwa eine Stunde verging, in der Rick immer weiter durch die Straßen lief und einige weitere Szenen beneidenswerter Familien beobachtete. Vielleicht wünschte er sich zurück nach Hause, wo ihn seine Eltern in den Arm nahmen und über seine Homosexualität hinwegsahen, vielleicht wünschte er sich, dass die Worte seines Vaters niemals ausgesprochen worden waren, doch er schätzte sich trotz aller Vorkommnisse nicht vollkommen unglücklich. Es gab schließlich Menschen, die ihn nicht missachteten, ihn nicht vor den Kopf stießen und sogar ein freundliches Wort für ihn übrig hatten. Solange es auch nur eine Person gab, die nicht mit Füßen nach ihm trat, konnte er nach vorne blicken und das Vergangene zumindest einigermaßen ruhen lassen.

Plötzlich tauchte ein vertrautes Gesicht vor seinen Augen auf und er ging mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf den Menschen zu, zu dem es gehörte.

„Hi Joe.“

Sein bester Freund sah ihn irritiert an und zwang sich dann zu einem Grinsen.

„Hey Rick. Tut mir leid, aber ich habe gerade keine Zeit.“

„Wir haben uns lange nicht gesehen“, begann Rick, bekam aber alsbald nur noch den Rücken des Blonden zu sehen, weshalb er verstummte.

„Mach’s gut!“, rief Joe ihm noch zu, bevor er hinter der nächsten Hausecke verschwand.
 

Perplex stand Rick da und starrte auf die Hauswand, die Joe irgendwo hinter sich barg. Was war mit seinem Freund los? Erst meldete er sich nicht und dann hatte er es eilig, wenn er ihm begegnete. Obwohl Ricks Herz stach, bewahrte er sich ein wohliges Lächeln, zu sehr hatte er für es gekämpft und wollte es nicht gleich wieder einbüßen…
 

Joe war nicht weit gekommen. Laut keuchend ließ er sich auf einer Bank nieder und stierte den Boden unter seinen Füßen an. Fahrig fuhr er sich durchs Haar und legte sich dann eine Hand an die Stirn.
 

/Warum bin ich gerade vor ihm davon gelaufen? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Tagelang habe ich mich nicht bei ihm gerührt, sogar seine Nachricht ignoriert und nun renne ich sogar weg, wenn ich ihn sehe… irgendwas stimmt nicht mit mir. Früher habe ich mich auch nicht derart hilflos gefühlt, wenn ich bei ihm war…/
 

Er blickte nun gen Himmel, an dem graue Regenwolken entlang zogen und wohl nicht mehr lange darauf warten lassen würden, kaltes Nass zur Erde zu schicken.
 

/Ich muss endlich zur Vernunft kommen, sonst…/
 

… kann das ungeahnte Konsequenzen haben…

Kapitel 20

Kapitel 20
 

„Jetzt schweige mich nicht pausenlos an! Ich kann deine Wortkargheit nicht mehr länger ertragen! Hast du das Vertrauen zu mir verloren? Ich weiß echt nicht mehr, was du denkst oder fühlst… früher durfte ich an deinem Leben teilhaben“, Rick wurde ganz leise und schaute den Boden unter seinen Füßen an. „Seit Tagen verschließt du dich vor mir. Sage mir doch… was passiert ist.“
 

/Warum beachtest du mich nicht mal mehr? Dein ’Hallo’ und ’Tschüs’ bin ich leid, ich möchte wissen, was in dir vorgeht…/
 

Das silberne Leuchten des Mondes fiel zum Fenster herein, legte sich sachte auf Joes Gesicht, ließ ihn noch blasser wirken als er sowieso schon war. Seine Lippen waren fest aufeinander gepresst und in seinen Augen zeichnete sich ein fiebriger Glanz ab. In Rick wütete es, er war so aufgebracht und wollte schreien,… immer wieder schreien, dass sich sein Herz nicht mehr so arg verkrampfte. Wenn Joe nicht bald etwas erwiderte, würde er ihn packen und durchschütteln, bis er wieder der Alte war. Reumütig dachte er an das unbekümmerte Lachen seines Freundes, vermisste es schmerzlich, wünschte es sich sehnlichst zurück.
 

„Bin ich dir denn nichts mehr wert?“
 

Rick standen mit einem Mal kleine funkelnde Perlen in den meerblauen Augen und er ballte seine Hände zu Fäusten. Die Stille im Raum, die nur ab und an durch seine eigene Stimme durchbrochen wurde, trieb ihn in den Wahnsinn. Der Blonde saß einfach nur da und sah ihn kein einziges Mal an.
 

„Wenn das so ist“, würgte er hervor, „dann geh!“
 

Regungslos blieb Joe sitzen, verzog noch immer keine Miene. Rick konnte diesen Anblick nicht mehr ertragen. Um seine angestauten Gefühle loszuwerden, griff er nach einem der vielen Kissen auf dem Sofa und ging auf seinen Freund zu. Heiße Tränen liefen an seinen geröteten Wangen hinab, reflektierten das Mondlicht, wodurch ihnen ein unbeschreiblicher Glanz verliehen wurde.
 

„Wenn du mit mir nicht reden möchtest, dann“, Rick klang vollkommen heiser, „verschwinde, geh, hau ab!“
 

Mit dem Kissen in der Hand schlug er auf Joe ein, nur wenige Male, denn dann hatte ihn der Größere fest an den Handgelenken gepackt und drückte ihn nun gewaltsam an die weiße Wand. Zitternd schnappte Rick nach Luft, war zu stark an den schwarzhaarigen Mann und die Szene in der Toilette erinnert. Sein gesamter Körper bebte und er suchte vergebens einen Weg, sich zu befreien.
 

„Da willst du mich also haben“, presste er gequält hervor. „Ich soll zu dir aufsehen… Ist es das, was du willst?“ Er wurde laut, sogar sehr laut, was er gleich im Anschluss bereute. Traurig sah er Joe an, der einen Punkt über ihm fest im Visier hatte, ihm nicht mal den Hauch von Beachtung schenkte.
 

„Du tust mir weh.“
 

Diesmal sprach Rick leise, es war mehr ein Flüstern, das aus seinem Mund drang.

Joe senkte seinen Blick und durchbohrte Rick förmlich mit seinen grünen Augen, lockerte den Griff um seine Handgelenke dabei aber nicht. Endlose Sekunden verstrichen, in denen sie sich ansahen, in denen man, wenn man genau hinhören wollte, sicher den Herzschlag des einen oder des anderen vernehmen konnte.
 

„Du…“
 

Laut schein Joes erstes Wort von überall her widerzuhallen.
 

„… Was hast du mit mir gemacht? Sag’ mir,… sag’ mir, was du mit mir gemacht hast!“
 

Fest flochten sich ihre Blicke tiefer ineinander. Rick schluckte. Was meinte Joe? War e-r der Grund für das Verhalten von Joe? Warum? Warum sollte er das sein?

Sein Verstand setzte aus, er verlor sich zunehmend in diesen hellen Seen, die ihn zu verschlingen drohten. Er wollte sich an die Oberfläche kämpfen, scheiterte aber kläglich.
 

„Ich?“, entfuhr es fragend, ungläubig, irritiert seinem Mund.
 


 


 


 

Tick-tack-tick-tack… Die Uhr machte Rick wahnsinnig! Die ganze verfahrene Situation machte ihn wahnsinnig.
 

/Sag’ was… sag’ was…/
 

„Sag’ was!“, schrie er und erschrak selbst ob seiner unbeherrschten Art.
 

Weiche, zärtliche Lippen legten sich auf die seinen, übten sanften Druck aus. Heiße Wogen durchfluteten seinen Körper, brachten jeden Muskel zum Erzittern. Die Berührung war zögerlich und doch gewollt, bestimmt… Irgendwie ein Gemisch aus Begierde, Leidenschaft und Schüchternheit.

Ricks Herz schlug schneller, immer schneller und er begann den Kuss zu erwidern. Gerade als er kurz Joes Zungenspitze an seiner Unterlippe spürte, löste sich plötzlich der Größere von ihm, ließ von ihm ab, so ohne jedwede Vorwarnung.
 

„Das hast du mit mir gemacht“, hauchte der Blonde atemlos in die unablässig vibrierende Luft hinein.
 

Der Druck um Ricks Hände war mit einem Mal Schall und Rauch und der Kleinere sank zu Boden, konnte sich auf seinen wackeligen Beinen nicht halten. Stumm und fast wie in Trance musste er zusehen, wie ihm Joe den Rücken zuwendete und ging… ohne einen weiteren Blick, ohne ein weiteres Wort.
 

Die Zeit verrann, zog dahin, völlig rücksichtslos ob des jungen Mannes, der völlig überwältigt auf dem Boden saß. Seine Finger glitten ganz vorsichtig über seine Lippen, schienen nicht zu begreifen, dass diese eben Joes beherbergt hatten. Die Nervenenden sandten stet heiße Wellen weiter, wohl zu stürmisch, als dass sein Verstand sie zu verarbeiten vermochte. In seinem Kopf schlugen die Bilder Purzelbäume, erzeugten Schwindelgefühle, die an Gewalt kaum zu ertragen waren. Langsam schlossen sich seine Lider, denn er musste versuchen, auf diesem Wege wieder zur Vernunft zu kommen. Nach einer Ewigkeit hatte er die Augen immer noch geschlossen, zumal er sich nicht traute, sie wieder zu öffnen. Die Angst, der Kuss könnte nur ein Traum gewesen sein, war einfach zu groß. Ein Traum, der den sehnlichsten Wunsch seines bisherigen Lebens widerspiegelte, doch nicht mal näherungsweise der Realität entsprach. Eine Hand legte er über seine Lider, schob die Finger ein klein wenig auseinander und schlug zaghaft das rechte Auge auf. Lugend sah er durch die kleinen Spalten hindurch, sah Teile des hellblauen Sofas und der offen stehenden Türe. Alles wirkte so, wie zum Zeitpunkt, als er sich vor dem Zimmer verschlossen hatte. Auch seine Gefühle teilten offenkundig mit, dass das Geschehene Wirklichkeit sein musste, kein Traum, der viel zu leicht in Vergessenheit geriet oder einfach zu schmerzlich sehnsüchtig war.

Sein Herz schlug und pochte, wollte sich einfach nicht beruhigen. Es mussten seit der vollkommen unerwarteten Berührung zwischen Joe und ihm viele Minuten vergangen sein, und doch schaffte der Dunkelhaarige nicht, sich zu fassen. So viele Male hatte er sich vorgestellt, Joe zu küssen und selbst bei bloßen Vorstellungen hatte er bereits gebebt. Und dennoch kam solch eine Wunschszene nicht mal um ein hundertstel an das heran, was Rick nun erlebte, was seinen Körper dermaßen zum Erzittern brachte.

So viele Gefühlswallungen konnte ein Einzelner eigentlich gar nicht ertragen. In der Tat war Rick völlig benommen, perplex, irritiert und… glücklich. Ja, er war überglücklich. Diese vielen kleinen Schmetterlinge in seinem Bauch flogen voller Leidenschaft hin und her, sandten Frohlocken und Freude aus. Auf seine Lippen legte sich endlich ein Lächeln, eines voller Genügsamkeit. Allmählich mischte sich auch ein glänzendes Funkeln in den verworrenen Blick seiner Augen. Seine Liebe zu Joe war so unermesslich groß und wurde mit jeder Sekunde größer. Insbesondere durfte es endlich neuer Hoffnung sein…

Kapitel 21

Kapitel 21
 

/Ich habe Rick geküsst… ich habe ihn wirklich geküsst… Wie konnte ich nur!... und doch fühlte es sich gut an… Aber es war falsch!!!/
 

Unruhig lief Joe in seinem Zimmer auf und ab, konnte an nichts anderes mehr denken als an den Kuss, daran, wie seine Lippen die von Rick berührten, wie die Hitze in ihm aufstieg und seinen Verstand vernebelte. Hatte er in dem Moment in der Tat nur ihn gewollt?

Seufzend bestätigte er nickend seinen Gedanken und erschrak dabei. So viele Jahre waren sie beste Freunde, seit etwa zwei Jahren wusste er von Ricks Homosexualität, was ihn nie gestört hatte, doch nie hatte er ihn als mehr angesehen. Klar, er war ihm immer äußerst wichtig gewesen, er war ein fester Bestandteil seines Lebens, er hatte viel für ihn getan, hatte noch mehr von ihm zurückbekommen, doch nun?

Seit Tagen hatte er schon mit dem Gedanken gekämpft, selbst dasselbe Geschlecht anziehend zu finden, immer wieder hatte er sich dagegen strikt gewehrt, sich in Julias Arme geflüchtet, doch immer wenn er an Rick dachte, was ziemlich oft war, um ehrlich zu sein, ständig, brach die Mauer, die er um diesen Gedanken errichten wollte, ein. Er hatte sich vorgestellt, wie es ist, in Ricks Armen zu liegen, in denen eines Mannes, in denen seines besten Freundes… auch jetzt noch erschauerte er bei dieser Vorstellung.
 

/Hatte Rick den Kuss erwidert?... Ich weiß es nicht… zu sehr war ich mit meiner Begierde nach ihm beschäftigt und mit dem Zwang, mich zusammenzureißen, um nicht noch mehr über ihn herzufallen… Oh Gott, ich habe jedwede Selbstbeherrschung verloren!/
 

Er wollte sich setzen, da seine Füße schon schmerzten, doch mehr als eine Sekunde hielt er es auf dem hölzernen Stuhl nicht aus. Aufgewühlt setzte er weiterhin einen Fuß vor den anderen, fand innerlich absolut keine Ruhe. Sein Herz pochte, sein Körper bebte und er glaubte, den Verstand zu verlieren. Was hatte der Dunkelhaarige nur mit ihm angestellt?

Er dachte an die Nacht, in der Rick ihm sehr nahe gekommen war, wie er halb betrunken ihn anscheinend hatte küssen wollen.
 

/Das war doch alles nur, weil er nicht wusste, was er tat!/
 

Immer mehr Bilder von Rick kreisten in seinem Kopf, sie wirbelten umher, bis er versuchte, dem mit beiden Händen an den Schläfen Einhalt zu gebieten.
 

/Womöglich habe ich damit unsere Freundschaft aufs Spiel gesetzt… Ich bin ein verdammter Vollidiot… Warum konnte ich mich nicht zügeln?... Rick ist mein bester Freund und wenn er nicht dasselbe gefühlt hat wie ich, dann habe ich ihn mit meiner Aktion verschreckt… Ich bin doch echt ein Trampel!/
 

Abrupt bliebt Joe stehen und starrte aus dem Fenster. Ein kleiner Schwarm Vögel kreiste gerade über dem Baumwipfel der Kastanie im Garten der Nachbarn.
 

„Ich darf das nie wieder tun!“, hauchte er entschlossen seinem Spiegelbild entgegen.
 

Zunehmend fragte sich Joe, warum er überhaupt zu Rick gegangen war…
 

‚Joe, bitte komme zu mir, denn wir müssen reden…’
 

Der Inhalt der SMS hatte ihn völlig bedrückt und obwohl er ständig mit sich gehadert hatte, weil die ungewohnte Zuneigung zu Rick schwer auf seinem Herzen lastete, war er der Bitte nachgekommen. Nun, vielleicht hatte er sich deswegen dazu durchgerungen, weil er ihm erstens tagelang aus dem Weg gegangen war, jedweden Kontakt sogleich abgeblockt hatte, und weil er zweitens trotz aller Gefühlswirrungen in seiner Nähe hatte sein wollen. Und drittens, nicht zu vergessen, weil er sein bester Freund war und ihn nicht noch mehr abstoßen wollte.
 

/Als er mich vorgestern besuchen wollte, habe ich ihm die Tür förmlich vor der Nase zugeknallt. Sein Anblick hatte mich einfach zutiefst erschüttert, denn mein Herz sagte in diesem Moment ’Da ist dein Glück, nimm es dir!’… doch wie hätte ich ihm das erklären sollen?... Nun habe ich es mir im Endeffekt doch genommen und es war… falsch!... So toll es sich auch anfühlte, es war… falsch…/
 

Es war zu spät, er hatte ihn geküsst, nach all den Jahren Freundschaft die innige Verbindung gefährdet. Leicht schlug er seinen Kopf gegen die Wand, spürte den gerechten Schmerz auf der Stirn.
 

/Hätte ich ihn doch noch ein paar Tage mehr ignoriert, vielleicht hätte ich mich dann unter Kontrolle gebracht…/
 

Der Gedanke ließ ihn bitterlich grinsen, denn er war einfach absurd. Selbst ein ganzer Monat mehr hätte ihn nicht davon abgebracht, Ricks Lippen zu berühren.
 

/Da war die knappe Woche schon zu lange… Erst weise ich ihn tagelang ab und dann falle ich mit der Tür ins Haus… Er denkt bestimmt, dass ich gefühllos und unsensibel bin… grrr, warum kann ich nicht einmal das Richtige tun!?/
 

Sein Handy piepste und Joe ahnte schon, dass Rick abermals um ein Treffen beten würde, was tatsächlich der gerade eingegangenen Nachricht entsprach.
 

/Nun muss ich mich ihm erneut stellen… Können wir den Kuss nicht einfach vergessen?... Das könnte ich ja selbst nicht einmal…/ Er schmiss frisch gebügelte Kleidung achtlos in seinen Schrank. /Er hatte freiwillig diese dumme Annonce aufgegeben, quatsch, ich habe ihn dazu gedrängt, aber er hätte es ja dennoch nicht tun müssen… Er hätte sie doch nicht abgeschickt, wenn er mich lieb-/
 

Mit einem Mal riss Joe die Augen weit auf und verharrte starr mit Gewicht auf nur einem Bein. Er hatte gerade aus lauter Verzweiflung begonnen, sein Zimmer aufzuräumen und wollte ein Buch zurück ins Regal stellen, wofür er sich ziemlich strecken musste.

Wie konnte er nur in Erwägung ziehen, Rick könnte in ihn verliebt sein?
 

/Das ist mein Ende. Ich bin nun völlig irre… Das hätte ich doch gemerkt!/
 


 

Aufgeregt wuselte Rick in der Küche hin und her und schob die letzten Plätzchen in den Ofen, die er in akribischer Kleinarbeit ausgestochen hatte. Der erste Advent ließ zwar noch ein wenig auf sich warten, doch die Freude, dass Joe bald kommen würde, war zu groß, als dass er sich von der fixen Idee, jetzt schon Weihnachtsgebäck aufzutischen, abbringen konnte. Viele kleine Nikoläuse und Sterne und Tannenbäume und ja, ein paar Herzen, bekamen im Ofen bereits eine leicht goldbraune Färbung. Rick besah sich insbesondere die Herzen, während sie ein wenig aufquollen und damit rundlicher wurden. Seines spürte er schon wild im Brustkorb schlagen und Joes Abbild tauchte halbdurchsichtig vor ihm auf. Ein seliges Lächeln legte sich auf seine Lippen und als die Eieruhr schrillte, holte er vergnügt die herrlich duftenden Plätzchen heraus. Vorsichtig löste er sie vom Backpapier und ließ sie auf einen Teller gleiten. Die Herzen stapelte er alle nach oben, so dass sie auch ja den nötigen Respekt zugesprochen bekamen. Anschließend griff er nach einem der bereits abgekühlten Plätzchen und biss eine Ecke ab. Schließlich musste er kosten, was er gleich Joe auftischte.
 

/Eigentlich isst er alles/, dachte Rick mit einem Schmunzeln auf den Lippen und an dem Glück in seinen Augen sah man, dass er seinem Freund bereits tausend Mal verziehen hatte, dass er sich nur mit Müh und Not wieder einmal hat blicken lassen. Was war schon eine Woche ohne ihn, wenn man im Gegenzug solch ein Geschenk des Himmels bekam? Gedankenfern fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen…
 

/Letztenendes ist er doch gekommen und hat mehr wieder gut gemacht, als er verbrochen hatte…/
 

Als es klingelte, hüpfte er auf der Stelle und rannte fast schon zur Tür. Doch bevor er aufmachte, atmete er einmal tief durch, um Herr seiner Emotionen zu werden, um nicht gleich über Joe herzufallen, wenn er ihn seit langen, wirklich langen vierzehn Stunden das erste Mal wieder erblickte.

Nicht zu hastig öffnete er seinem Freund und strahlte ihn an, konnte seinen Mund einfach nicht mehr zubekommen. Joe erwiderte ein kleines Lächeln und dessen eher kalte Miene schnürte Rick die Kehle zu.
 

„Komm’ doch rein“, sagte er bemüht lässig und deutete mit einer Handbewegung an, dass er in die Küche gehen solle.

„Hey, na wie war dein Tag bis jetzt?“, fragte Joe locker und setzte sich dann auf einen der Stühle.

„Sehr gut, habe gebacken.“

„Der Duft erfüllt deine ganze Wohnung. Darf ich?“ Joe hatte bereits das erste Plätzchen in der Hand.

„Natürlich. Sind ja für dich.“
 

/Er tut so, als ob gestern nichts passiert wäre…/
 

„Joe?“, setzte Rick an und als er zusah, wie Joe den Keks in seiner Hand bewunderte und nicht von ihm abließ, verstummte er sogleich wieder.

„Hast du gut geschlafen?“ Joes Stimme klang beiläufig und sein Interesse galt dem nächsten Plätzchen.

„Wirklich gut.“

„Hast du Amelia mal wieder gesehen?“ Selbst diese Frage entbehrte jedweden Gefühls.

„Stop. So nicht!“

Pikiert sah ihn Joe nun an. „Was ist los?“

„Du!“
 

Wieder widmete sich Joe den Leckereien und drehte eines davon zwischen seinen Fingern hin und her, hielt es gegen das Licht und spielte mit den Reflexionen, die es eigentlich gar nicht gab.
 

„Erschüttert es dich so sehr, dass du tiefgehendere Gefühle als bloße Freundschaft für mich hast?“, meinte Rick leise und wandte sich dem Abspülberg zu, da er Joes Ignoranz nicht mehr länger ansehen konnte.
 

Joe schluckte nur und ließ fast das Plätzchen aus der Hand fallen. Sein ganzer Körper verkrampfte sich und er dachte sofort daran, wie sich der Kuss zwischen ihnen beiden angefühlt hatte. Kurz schloss er die Augen und wiegte sich in den Wogen unvorstellbarer Gefühle.
 

„Es war falsch, dich zu küssen.“
 

Aus Ricks Hand entglitt die Schüssel, in der er den Teig angerührt hatte und die nun polternd auf dem Boden aufschlug.
 

„Du… findest also… dass ich ein Fehler bin?“
 

Joes Mund klappte auf und wieder zu. Der Schmerz in der Stimme seines Freundes versetzte ihm einen harten Stich und er wollte aufstehen, ihm durch die Haare wuscheln wie so oft, doch anstatt dem nachzukommen blieb er einfach nur sitzen und schwieg. Jede Silbe, die er sprechen wollte, blieb förmlich in seinem Halse stecken.

In Rick stiegen Tränen auf, doch er wehrte sich partout gegen sie, wollte kein weiteres Zeugnis seines Schmerzes zulassen… wollte vor Joe nicht als verweichlichter Junge dastehen, der sich durch einen einzigen Kuss die größten Hoffnungen gemacht hatte.
 

/Er soll nicht denken, dass ich naiv sei…/
 

Fast schon apathisch hob der Kleinere die Schüssel vom Boden auf und legte sie ins Spülwasser hinein, dessen heißer Dampf sofort eine feine Schicht auf seiner Haut bildete.

Joe indes schluckte würgend den letzten Bissen hinunter und hatte wohl ein paar Brösel in die Luftröhre bekommen, denn er begann zu husten und beugte sich auf seinem Stuhl vornüber. Sofort wollte Rick zu ihm und leicht auf seinen Rücken klopfen oder ihm ein Glas Wasser bringen, doch beides unterließ er, gekränkt von der unberührten Art, die sein Freund an den Tag legte.
 

/Ich bin in seinen Augen also ein Fehler…/
 

Leichter Groll stieg in Rick nun auf und mit lautem Scheppern reinigte er Geschirr und Besteck, bedachte Joe keines Blickes mehr und versteifte sich krampfhaft in seine Arbeit. Mit zusammengepressten Lippen schrubbte er unablässig an einem Messer, das sicherlich schon allem Schmutz entledigt war, doch er konnte nicht aufhören, immer wieder mit dem Lappen darüber zu reiben. Er fuhr auf und ab und auf und ab, bis er das Wasser sich rot färben sah. Mit einer hoch gezogenen Braue hielt er inne und tauchte die Hände aus dem Wasser. Tatsächlich quoll Blut aus dem Zeigefinger seiner Rechten und er besah sich den Schnitt, den er aus lauter Gedankenlosigkeit und Wut nicht einmal spürte. Erst nach und nach fühlte er das Ziehen, sah aber weiterhin nur dabei zu, wie sich rote Fäden ins Wasser spannen.
 

„Zeig’ her“, sagte eine vertraute Stimme hinter ihm, die kaum Intensität in ihre Worte brachte.

Vorsichtig griff Joe nach Ricks Hand und tupfte mit einem Tuch das Blut ab, war sorgfältig darauf bedacht, dem Kleineren nicht weh zu tun. Ricks Blick traf nur kurz den von Joe, doch die geringe Zeitspanne genügte, um sein Herz ungestümer schlagen zu lassen. Da dadurch aber sein Blut schneller in seinen Adern floss, drang es aus der Wunde wieder zunehmender heraus.
 

„Bin gleich wieder da“, meinte Joe und drückte Rick das Tuch in die unversehrte Hand.
 

/Sein Blick war eben total besorgt, richtig mitfühlend… du bringst mich um den Verstand, Joe…/
 

Der Blonde kehrte eilig wieder zurück mit dem kleinen Verbandskasten in der Hand, den Rick immer im Schrank im Bad aufbewahrte und bisher selten davon hatte Gebrauch nehmen müssen. Behände zog Joe Jod und Pflaster daraus hervor und nahm Ricks Hand wieder in seine, was dem Dunkelhaarigen eine Gänsehaut bereitete. Mit viel Rücksicht tupfte er noch einmal das Blut ab, träufelte ein wenig Jod darauf und klebte anschließend das Pflaster darüber.
 

„Ich hoffe, dass das ausreicht.“
 

/Deine Stimme ist mit einem Mal so weich…/
 

„Danke“, erwiderte Rick und bemühte sich, seinen Freund dabei nicht anzusehen.
 

„Du…“, hob der Größere erneut die Stimme an und zögerte noch einen kleinen Augenblick, weiterzusprechen, „… bist mir unendlich wichtig.“
 

Weiterhin vermied Rick Augenkontakt und wandte sich von Joe ab, um den Schmerz im Zaum zu halten, den dieser erzeugte. Er wollte sich nicht noch einmal auf ihn einlassen, wenn er es am Ende nicht ernst meinte. Zu sehr liebte er ihn, um solche Taten leichthin zu ertragen. Ihm bedeutete der Kuss der vergangenen Nacht eine Menge und wenn er für Joe nicht dasselbe bedeutete, dann würde er solche intimen Berührungen auch nicht mehr zulassen.

Sanft schlossen sich die Finger des anderen um Ricks Kinn und zwangen ihn auf diese Weise dazu, ihn anzusehen.
 

„Was spielst du für ein Spiel mit mir?“, presste Rick hervor und konnte die Tränen, die erneut aufstiegen, nur mühsam zurückhalten. Sie glänzten in seinen Augen, funkelten über dem Meeresblau wie Saphire im Regen.
 

„Ich konnte nicht ertragen, wie du mit Amelia fort gegangen bist… Überhaupt schmerzte es mich, dich mit einer anderen Person zu sehen… Mir war dieses Gefühl fremd und es überkam mich so unerwartet, dass ich mich immer wieder dagegen wehrte…“
 

Mit jedem Wort wurde Ricks Blick sanfter und irgendwann legte er seine Linke auf eine von Joes Wangen, der unter der Berührung ein wenig zusammenzuckte, aber keine Gegenwehr offenbarte. Eher schien er sein Gesicht an Ricks Finger zu schmiegen.
 

„Es hat mir Angst gemacht,… ich dachte, ich verliere dich…“
 

Joes Stimme war nur noch ein Flüstern, das aber laut an Ricks Ohren drang.
 

„Du verlierst mich nicht“, erwiderte Rick nun doch unter Tränen.
 

„Verzeih’ mir,… aber ich kann mich nicht länger zurückhalten.“
 

Ganz sachte küsste Joe Rick auf den Mund, nur kurz aber begehrend.
 

„Dafür brauchst du nicht um Ablass bitten“, lächelte Rick und presste seine Lippen nun mit mehr Leidenschaft auf die von Joe.
 

Zaghaft strich Joes Zunge über die Unterlippe des Kleineren, der seinen Mund etwas mehr öffnete und wenig später mit seiner Joes einfing. Ihre Zungen spielten miteinander, bis Rick irgendwann seine zurückzog, um den Kuss zu lösen. Er spürte die Verwirrung in Joes Gesichtszügen, doch ließ ihn nicht lange auf mehr warten. Sachte hauchte er Küsse auf seine Wange, tastete sich hinunter bis zum Hals und benetzte diesen anschließend mit kleinen, genießerischen Küssen, leckte mit der Zunge ab und an über die erhitzte Haut und schmeckte voller Wohlwollen den anderen. Joes Hände fuhren im Widerspiel durch Ricks Haare, übten sanften Druck aus und schoben den Kleineren näher an sich heran. Joe wollte seinen Freund überall an seinem Körper gleichzeitig spüren und er keuchte leise, als Rick eine sehr empfindliche Stelle traf. Ungewollt trat er im Anschluss einen Schritt zurück. Dabei wurde ihm aber klar, was er gerade tat und das ließ ihn noch einen Schritt zurückweichen.
 

„Joe?“, fragte Rick verwirrt und besorgt zugleich.
 

„Ich… Du…“
 

„Verstehe“, erwiderte Rick und lächelte seinem Freund aufmunternd zu. „Lasse dir ein wenig Zeit. An Neues muss man sich langsam herantasten.“
 

Joe runzelte die Stirn, war völlig durch den Wind und verstand zunächst Ricks Worte nicht, aber als es ihm dann doch dämmerte, nickte er leicht und bedankte sich mit einem flüchtigen Kuss auf Ricks Lippen.
 

„Du bist mir wirklich unendlich wichtig“, flüsterte er und sah dabei Rick tief in die meerblauen Augen, die ihn verständnisvoll anblickten.
 

„Ich weiß“, entgegnete der Dunkelhaarige und huschte dann an Joe vorbei.
 

/Finde deinen Weg vollkommen frei zu mir. Egal, wie lange du dafür brauchst, ich warte,… bis du überzeugt sagen kannst, dass du mich auch wirklich möchtest…/
 

„Die ganze Woche über habe ich mich kein einziges Mal bei Amelia gemeldet“, begann Rick, als er sich aufs Sofa gekuschelt hatte. Er wollte einfach irgendetwas Unverfängliches sagen und damit die Spannung aus der Luft bannen, die dort viel zu viel Vibration verursachte. „Habe sie nicht einmal richtig nach Hause gebracht nach unserem Kinobesuch.“
 

„Das heißt, du hast keine Ahnung, wie es ihr geht?“, fragte Joe nach einer ganzen Weile bedacht und ließ sich dann mit ein wenig Abstand neben Rick nieder.
 

„Keinen blassen Schimmer. Doch ich befürchte, dass sie sich wieder aus dem alltäglichen Leben zurückgezogen hat, sonst hätte sie mir sicherlich geschrieben.“
 

„Das tut mir leid.“
 

„Braucht es doch nicht, schließlich hätte ich selbst zu ihr Kontakt aufnehmen können.“
 

Ein ehrliches Lächeln lag auf seinen Lippen und er sah Joe dabei tief an. Als er jedoch registrierte, dass er seinen Freund erneut zu viel zumutete, senkte er seinen Blick wieder und betrachtete das Kissen, das mittlerweile auf seinen Beinen ruhte.
 

„Statte ihr doch einfach mal einen Besuch ab“, schlug Joe vor und vermied ebenfalls, Rick weiter anzusehen, denn sein Herz hatte sich noch nicht wieder beruhigt und er wollte erst einmal einordnen können, was er tatsächlich tief in seinem Inneren empfand, bevor er mit Rick… Ein rötlicher Schimmer zierte plötzlich seinen Teint und er war wirklich sehr froh darüber, dass der Kleinere sich abgewandt hatte und ihm die Möglichkeit gab, zu begreifen, was eben geschehen war.
 

„Sage mir, wo sie wohnt, dann gehe ich dem vielleicht nach“, erwiderte Rick.
 

„Wenn ich das könnte, würde ich das ohne zu zögern tun.“
 

Joe fuhr sich durchs Haar und fixierte einen Punkt im spiegelnden Glas des Fernsehers. Verschwommen sah er sich und Rick darin, wollte sich das Bild aber nicht zu sehr einverleiben, so schön es auch war, sich und ihn zusammen zu sehen. Zu intensiv waren die Emotionen in ihm, als dass er ihnen blind vertrauen konnte. Rick hatte recht damit, dass er Zeit benötigte, um das neue Gefühl in ihm richtig einschätzen zu lernen. Ja, er wollte seit Tagen nichts anderes, als bei Rick sein und ihn küssen, ihn berühren, und doch war es ihm eben zu schnell gegangen. Als Rick angefangen hatte, an seinem Ohr zu lecken, hatte sein Körper seine Sinne tausendfach verstärkt, so dass er vollkommen erschrocken war und reflexartig Abstand gesucht hatte.
 

„Sie wird das schon schaffen… hoffe ich…“
 

Rick klang überhaupt nicht mehr locker und strich mit den Fingern seiner Linken das Kissen auf und ab.
 

„Bestimmt“, versuchte Joe Rick aufzumuntern und war einerseits versucht, ihm einen zärtlichen Kuss zu schenken, damit seine Augen wieder aufleuchteten, aber andererseits wollte er nicht erneut solch Nähe heraufbeschwören, da er so schon genug mit dem Chaos in ihm zu kämpfen hatte.
 

„Übrigens wollte ich dir die Türe nicht vor der Nase zuknallen…“, flüsterte Joe und bemerkte erst, als er gesprochen hatte, dass er insgeheim Rick doch im Fernseher anstarrte.
 

„Bereits verziehen“, meinte Rick und legte eine Hand auf eines von Joes Beinen, tat dies unbewusst und realisierte das erst in dem Moment, in dem Joe seine eigene darüber legte.
 

„Ich war einfach ein vollkommener Schwachkopf-“, versuchte sich Joe weiter zu erklären, wurde aber durch zwei Finger auf seinen Lippen zum Schweigen gebracht. Sie sahen sich an und die Luft begann wieder um sie herum zu flimmern, Joes Magen verkrampfte sich ein wenig ob der blauen Tiefen, in die man weit hinab blicken konnte.
 

„Lass’ die Vergangenheit diesbezüglich einfach ruhen, okay?“
 

„Okay“, würgte der Größere hervor und schloss dann die Augen, um den sanften Klang Ricks’ Stimme verinnerlichen und sich das Bild von diesem unsagbar anmutigen Gesicht auf ewig einprägen zu können.
 

Rick lächelte beseelt, als er seinem Freund dabei zusah, wie er seine Lippen befeuchtete und in Gedanken wohl noch bei ihrem Kuss verweilte. Zwar hatte er seine grünen Seen vor ihm verschlossen, aber das störte ihn nicht. Vielmehr war er glücklich darüber, dass Joe nun hier neben ihm saß und die intime Berührung nicht abstoßend fand oder gänzlich verschreckt war. Es war für ihn ganz natürlich, dass Joe Zeit brauchte. Man konnte nun mal seine Angewohnheiten nicht einfach ablegen und sich in neue Abenteuer stürzen. Abenteuer? Was war das eigentlich, was sie zu solch Intimitäten verleitete? Für Rick war die Antwort eindeutig, er liebte Joe und würde dies auch immer tun, doch für Joe?
 

Nachdem Rick einen Kuss in die Luft gehaucht hatte, ohne dass das Joe mitbekommen konnte, da er seiner Lider immer noch geschlossenen hatte, stand er ganz leise auf und schlich ins Nebenzimmer, lehnte hinter sich die Tür an, ließ sie aber nicht ins Schloss fallen. So lautlos wie möglich rollte er seinen Schreibtischstuhl zurück und ließ sich darauf nieder. Bevor Unentschlossenheit aufkommen konnte, schaltete er seinen Computer ein und drehte das Rad am Monitor nach ganz links, wollte, dass sein Rechner ebensowenig die Atmosphäre zerstören konnte, die einfach alles überstieg, was er bisher erlebt hatte. So sehr er aber auch in seinem Glück schwelgte, er durfte nicht vergessen, dass noch ein weiter Weg vor ihm lag. Ein Kuss war nur ein Anfang… ein Anstoß, der keine Sicherheit mit sich brachte… Die Kugel rollte, doch wohin vermochte keiner zu sagen. Zu leicht ließ sie sich zu Beginn von ihrer Bahn lenken…
 

Das leise Summen des Computers besänftigte Rick ein wenig und er öffnete Outlook. Zu lange hatte er darauf gewartet, dass Amelia etwas von sich hören ließ. Manchmal sollte man einfach selbst die Initiative ergreifen und anderen nicht zum Vorwurf machen, dass sie sich nicht meldeten. Die Situation mit Joe hatte ihn nicht losgelassen, und selbst, wenn er schon vor der Tastatur gesessen hatte, hatte er dem Mädchen nicht schreiben können. All seine Gedanken hatten einzig bei seinem besten Freund verweilt und erst recht zu dem Zeitpunkt, wo er nach einem Spaziergang plötzlich vor seiner Wohnungstür gestanden hatte, und ihm kurz darauf der Eintritt verweigert worden war. Wie hatte er da Amelia schreiben können? Doch nun hatte sich einiges geändert…
 

’Hallo Amelia,
 

ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mich eine lange Zeit nicht bei dir gerührt habe. Als du mich angeschrieen hattest, hast du mich sehr erschreckt. Nein, ich bin dir überhaupt nicht böse deswegen. Ganz im Gegenteil. Irgendwie hat mir das die Augen geöffnet, erst sehr spät, aber ich glaube noch rechtzeitig.’
 

Rick hielt inne und horchte angestrengt. Als er Geräusche aus der Küche vernehmen konnte, begannen seine Augen zu leuchten, denn somit wusste er Joe wohlauf und das war das, was ihm das meiste auf der Welt bedeutete.
 

’Mein Licht ist zu mir zurückgekehrt und ich wünsche mir von Herzen, dass du das irgendwann auch von dir behaupten kannst. Ich glaube, dass es sich immer lohnt, wenn man kämpft, denn irgendeine positive Wendung kann dies stets mit sich bringen… Du magst vielleicht nun denken, dass ich leicht daherreden kann, und das könnte ich dir nicht einmal Übel nehmen. Mehr als einmal habe ich die Welt verflucht und wünschte mir vielleicht sogar, niemals geboren worden zu sein. Doch wenn man sein Leben mal aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, erkennt man, dass solche Wünsche völlig hohl, ja dumm sind und jedweder Rationalität entbehren. Man sollte manchmal einfach mit dem zufrieden sein, was man hat. Es ist verdammt schwer, das Gute zu sehen, doch es ist immer existent, nur verschließt man sich des Öfteren davor…

Ich möchte dir keine Predigt halten, das liegt mir völlig fern, aber ich möchte dir auf diesem Wege mitteilen, dass du mir nicht egal bist. Schon deine erste Mail hatte mich tief berührt und jedes Wort von dir hinterlässt in mir Spuren, die ich nicht so einfach verwischen lassen möchte. Selbst wenn ich es wollen würde, könnte ich das nicht. Denn du hast es verdient, wieder glücklich zu werden, und wenn du möchtest, dann helfe ich dir dabei. Da ich dir gegenüber nichts leugnen möchte, muss ich dir gestehen, dass ich keine Ahnung habe, wie ich das umsetzen kann…
 

Gezeichnet
 

Rick’
 

Abwesend verrichtete Joe den Abwasch. Er musste seine Hände in irgendeiner Form beschäftigen und er befand, dass er dabei etwas Sinnvolles verrichten konnte. Ein wenig verschwommen sah das Küchenequipment in seinen Augen aus, aber er bemühte sich trotz seiner geistigen Abstinenz die Arbeit gründlich und gewissenhaft zu vollenden. Vorsorglich wischte er mit dem Lappen ein gutes Dutzend Mal über jeden Zentimeter des silbernen Topfes, der gerade im Spülbecken lag.
 

/Bin ich denn wirklich so blind gewesen?... Rick machte mir den Anschein, dass er mich schon länger begehrte… Habe ich ihm dann die ganze Zeit über weh getan?/
 

Unbeachtet biss er auf der Spitze seiner Zunge herum, drückte seine Zähne immer wieder in das Fleisch hinein, aber nicht zu fest.
 

/Ich habe nie geahnt, dass es so sein könnte… Für so unsensibel habe ich mich selbst nicht einmal gehalten, aber offenbar bin ich ein kalter Klotz, an dem alles abprallt. Ich muss das wieder gut machen!... Solch eine reine Seele darf nicht leiden, sie ist viel zu wertvoll…/
 

Kaum hatte Joe das letzte Besteck aus dem mittlerweile unansehnlichen Wasser gefischt, lehnte er sich gegen den Kühlschrank und sank mit dem Kopf gegen die kühle Tür. Rick war fest in seinem Herzen verschlossen, nicht erst seit jetzt, sondern schon seit langer Zeit. Nur kam nun noch ein weiteres Gefühl ihm gegenüber hinzu, das ihn total verwirrte. Es war ausgelöst worden, als er Rick in vertrauter Pose mit einem anderen Menschen gesehen hatte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann musste er sich eingestehen, dass es entfacht worden war, als er Rick wegen Amelias erster Mail getröstet hatte. Ein fremdes Schicksal hatte seinen Freund berührt, nicht nur weil er an seine Vergangenheit erinnert worden war, sondern auch weil er mit dem Mädchen mitgefühlt hatte. Während er ihm Trost gespendet hatte, hatte er Eifersucht empfunden, nur ein wenig, aber bereits genug, um sich darüber zu wundern.

Der Dunkelhaarige war für ihn die Vertrauensperson schlechthin, ein Ansprechpartner und ein sehr guter Freund. Er konnte mit ihm lachen und weinen, mit ihm verrückte Dinge tun. Er konnte bei ihm er selbst sein, musste sich nicht verstellen, Rick akzeptierte ihn so, wie er war.
 

/Julia hat ständig die Augen verdreht, wenn ich von Essen sprach… ich dachte anfangs wirklich, dass aus uns was werden könne, doch schon nach dem ersten richtigen Date merkte ich, dass ich Eigenschaften habe, die ihr auf Dauer nicht zusagen würden. Entscheidender ist jedoch, dass mein Körper auf ihre Berührungen nicht in der Form reagierte, wie er es hätte tun müssen… Ich habe sie einfach nie geliebt…/
 

Liebte er denn insgeheim Rick? Unsicher zuckte Joe die Schultern, er konnte es nicht beantworten. Er dachte an ihn, er wünschte sich an seine Seite, er fühlte sich mehr als wohl in seiner Nähe, er bereute die Küsse in keinster Weise… und doch konnte er dieses neue Gefühl in seinem Herzen nicht einordnen.

Behutsam räumte er das Geschirr auf und sah sich dann im Raum um, ließ seinen Blick über jedes Detail schweifen. Er sog jede noch so kleine Feinheit in sich auf, wollte alles, was zu Rick gehörte, für die Zukunft sichern, ob es nun die Fotos in der Vitrine waren oder nur die Teekanne, die neben silbrigen Dosen stand. Langsamen Schrittes begab er sich, als er alle Eindrücke gesammelt hatte, zum Arbeitszimmer, drückte lautlos die Tür einen Spalt breit auf. Rick saß vor seinem Computer und schien in irgendetwas vertieft zu sein. Joe wollte ihn nicht stören und zog daher die Tür wieder zu und ging zurück in die Küche, wo er einen gelben Zettel von einem kleinen Block ablöste und ’Bis bald, mein kleiner Romantiker’ darauf schrieb. Er legte ihn neben den Plätzchenteller, platzierte ihn so, dass ihn Rick auf alle Fälle sofort sehen würde. Dann griff er nach einem der Leckereien und lächelte das Herz in seiner Hand kurz an. Ohne viele Geräusche zu verursachen, schlüpfte er im Flur in seine Schuhe und zog kurz darauf die Haustür hinter sich zu. Auf dem Nachhauseweg hielt er sich das Plätzchen noch einmal vor Augen und dachte an den innigen Kuss, bis er letztendlich hineinbiss und genüsslich Ricks Werk seine Kehle hinunter gleiten ließ.

Kapitel 22

Kapitel 22:
 

Heimlich horchte Rick auf das laute Klicken, das die Haustüre trotz aller Vorsicht von sich gab. Damit wusste er, dass Joe gegangen war, doch obwohl er ihn gerne noch einmal an sich gezogen und geküsst hätte, befand er die jetzige Situation für richtig. Joe hatte seine Homosexualität ohne das kleinste Widerwort akzeptiert und er räumte ihm dafür nun die Zeit ein, die er brauchte, um sich darüber klar zu werden, was er wirklich für ihn empfand.

Nur zu gut kannte Rick die Vorurteile der ’normalen Menschen’, zumindest derjenigen, die sich dafür hielten. Sie legten die größte Intoleranz an den Tag, wenn jemand nicht ihren selbst ernannten Normen entsprach, verachteten die Personen, die anders waren als sie. Dabei waren genau diese anderen die, die viel mehr Herz in sich trugen und das wahre Glück kannten und zu schätzen wussten. Vielleicht hatte Joe ja Angst vor seinen Mitmenschen, wenn sie erfuhren, was in ihm vorging, dass er sich eventuell in das gleiche Geschlecht verliebt hatte. Kopfschüttelnd lief Rick zum Fenster und sah gen Himmel.
 

/Nein, ihm war es schon immer gleichgültig, was seine Umgebung von ihm hielt. Aber ich verstehe ihn dennoch, denn es ist erst einmal ein großer Schock, wenn man realisiert, dass man das gleiche Geschlecht anziehend findet, zumal er immer von Frauen schwärmte… Ich weiß nicht einmal, wieso ich derjenige welche sein soll. Es war immer das, was ich mir gewünscht habe, was ich mir erhofft und erträumt habe, aber ich kann es kaum glauben. Es ist, als ob sich der Himmel für mich geöffnet hätte…/
 

Gedankenverloren ließ er sich auf der Fensterbank nieder und betrachtete die Wolken, die langsam, aber stetig, über ihm entlang zogen, ihren Weg in die weite Ferne suchten, um sich dort möglicherweise zu vereinigen und Regen hinab zur Erde zu schicken. Ab und an funkelte ein reines dunkles Blau zwischen den weißgrauen metaphorischen Wattebäuschen hervor, gab ein sanftes Licht preis, das die Welt so dringend nötig hatte. Zu stumpf und trübsinnig war das Leben der Menschheit geworden und entbehrte oft aller essentiellen Emotionen. Und Rick war einfach froh darüber, dass sein bester Freund nicht zu der Sorte Mensch gehörte, die kalten Mauern glich und eiserne Mienen trug. Er legte eine Hand an das sich spiegelnde Fensterglas und atmete dicht neben ihr aus, so dass sich ein feiner Film bildete. Er schrieb ein großes ’J’ hinein und musste schmunzeln, da er sich wie ein kleiner Teenager vorkam, der zum ersten Mal verliebt war. Doch was störte es ihn, dass er manchmal kindische Züge hatte, er stand dazu und war auch nicht gewillt, sie abzulegen. Das Leben war sowieso oft viel zu steif und er musste sich ja in keine strikten Vorstellungen eines Erwachsenen pressen lassen. Fernab von Idealen sah er den letzten Blättern des Jahres nach, wie sie von einem sachten Windhauch von den Ästen gelöst wurden und nun in unregelmäßigen Linien gen Boden schwebten.
 

/Es war eine liebe Geste von ihm, mit mir nach Histerian zu fahren. Niemand hatte ihn gezwungen, überhaupt von dort wegzugehen und dennoch hatte er mich begleitet und mit mir ein neues Leben begonnen. Stets war er für mich da und spendete mir Trost und Geborgenheit… Joe, du bist einfach der großartigste Mensch, den ich kenne, und es ist mir eine Ehre, an deiner Seite sein zu dürfen, ob als bester Freund oder vielleicht irgendwann einmal wirklich mehr…/
 

Für einen kurzen Moment lugte die Sonne hinter den Wolken hervor und tauchte Ricks Gesicht in ein gelbliches Licht, der die Wärme als sehr angenehm erachtete. Die Natur übte einfach eine enorme Kraft auf das Wohlbefinden eines einzelnen aus und der Dunkelhaarige genoss in der Tat sehr oft ihre Schauspiele. Selbst die heftigsten Gewitter waren für ihn ein Erlebnis, dem er niemals entsagen wollte. Blitze und Donner konnten ebenfalls Faszination und Euphorie wachrufen, die letztenendes das kleine Organ unter der linken Brustkorbhälfte belebten. Langsam stand er auf, öffnete das Fenster und lehnte sich mit ausgestreckten Armen hinaus. Tief sog er die frische Luft ein, die nach Herbst duftete, und schloss die Augen, um seinen Geruchssinn zu stärken. Er konnte die Bäume riechen, ebenso das herbe Gemisch aus Laub und dem bräunlich werdenden Gras. Der Herbst vermochte vielleicht nicht das süßliche Aroma des Frühlings mit sich bringen, dennoch barg er angenehme Frische in sich.
 


 

Unbewusst war Joe doch nicht nach Hause gegangen, sondern hatte sich irgendwann in dem kleinen Park ganz in der Nähe seiner Wohnung wiedergefunden. Mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck stand er vor einem sehr schön angelegten Teich, der im Sommer zur Hälfte von Sonnenblumen eingefasst war, nun aber eher ein wenig traurig wirkte. Unter der Wasseroberfläche schwammen vereinzelt Goldfische und Bitterlinge, gaben ab und an kleine Luftbläschen von sich, die feine Ringe bildeten, wenn sie zerplatzten. Mit seinen Blicken folgte er den Tieren, die zueinander schwammen und dann wieder auseinanderstieben.
 

/Fische leben oft in kleinen Schwärmen, trachten in keinster Weise nach Einsiedlertum. Sie sind genügsam und kennen kein Gefühlschaos oder Seelenschmerzen. Eigentlich sind sie zu beneiden und doch verpassen sie etwas sehr schönes… /
 

Joe kniete sich hin und fuhr mit einer Hand durchs kühle Wasser, hob anschließend einen Kieselstein auf und warf ihn über die Oberfläche, wo er ein paar Mal auftatzte und gleichmäßige konzentrische Kreise erzeugte, die nach außen hin an Radius zunahmen und sich irgendwann in der Weite verloren.
 

/Ich mag mich vielleicht irren, doch ich bezweifle, dass sie dieses Hochgefühl kennen, wenn man einen Menschen, den man sehr gerne hat, im Arm hält und seine Nähe spüren darf…/
 

Mit geschlossenen Augen ließ er seinen Kopf auf die Brust sinken und hatte ein Bild von Julia vor sich, das ihn ein wenig schmerzte. Die Zeit war gekommen, wo er ihr alles beichten musste. Durchaus war er sich bewusst, dass er sie hintergangen hatte, doch er hatte eben gehofft, dass seine Vermutungen falsch sein würden.
 

/Habe ich das denn wirklich so sehr gehofft?/
 

Mit seinem rechten Zeigefinger strich er sich ganz vorsichtig über die Lippen und das Bild von Julia wurde zu einem von Rick. Der Dunkelhaarige schaute ihn tief an und trug ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht. Joes Herz begann sich bemerkbar zu machen und seine Mundwinkel umspielte gleich darauf ebenfalls ein liebliches Lächeln. Jeden Augenblick des Kusses hatte er genossen und er wollte die Zeit gewiss nicht zurückdrehen und ihn ungeschehen machen. Er konnte Rick auch keine Vorwürfe mehr machen; sie waren eh nur ein Vorwand gewesen, um nicht zugeben zu müssen, dass er ihm mehr bedeutete als er sich vorher je erträumt hatte. Diese reine Seele hatte ihm oft Nächte voller Gedanken und Sorgen beschert, wenn auch nur ausgelöst ob des Leids, das ihm seine Eltern zugefügt hatten, und er bereute keine einzige davon. Seit einigen Tagen brachte er nachts kein Auge zu, weil er in Gedanken wie so oft bei Rick verweilte, nun eben aus dem Grund, dass er näher bei ihm sein wollte als früher. Er glaubte daran, dass er Rick lieben könnte und vielleicht tat er das bereits.
 

„George, nun beeile dich schon ein wenig.“ Eine dunkle Frauenstimme drang an Joes Ohren, die zu einer älteren Dame gehörte, wie er, als er sich nach ihr umdrehte, feststellte. Ein klein wenig verärgert zog sie am Arm sicherlich ihres Mannes, der die Augen verdrehte und Joe einen schelmischen Blick zuwarf. „Den Teich hast du schon tausendmal gesehen, wir müssen heim, das weißt du doch. Es ist Zeit für deine Tabletten.“ Besorgnis mischte sich in die Laute der Frau.

„Die warten auf mich“, erwiderte der Herr knapp.

„Aber du vielleicht nicht auf sie, also bitte, lasse dich nicht länger bitten.“

„Ich komme ja schon“, waren die letzten Worte, die Joe vernehmen konnte, der ihnen lange nachsah und sie irgendwann hinter dem kleinen Hügel aus den Augen verlor.

Er biss sich versonnen auf die Zunge und sah sich und Rick als alte Menschen vor sich, wie sie mit Krückstock händchenhaltend herumliefen. Plötzlich begann er erst leise zu lachen, alsbald lauter, bis es irgendwann amüsiert klang. Er legte seinen Kopf in eine seiner Hände und fuhr sich dann mit dieser durchs Haar. Kleine Freudentränen funkelten in seinen grünen Augen.
 

/Du machst mich glücklich, weißt du das, mein kleiner Romantiker?.../
 


 

Als der Wind aufzufrischen begann, zog sich Rick vorsichtshalber vom Fenster zurück, schließlich wollte er, jetzt wo er Joe näher sein durfte, nicht krank werden. Ein ’Hatschi’ beim Küssen würde wohl eher abschreckend wirken als erregend. Mit leisen Schritten begab er sich in die Küche. Schon beim Betreten des Raumes fiel ihm der gelbe Zettel auf, der an dem Plätzchenteller lehnte. Er lief direkt auf den Tisch zu und nahm ihn in die Hand. Joes Schrift war nicht unbedingt die schönste, doch er schien sich dieses Mal sehr bemüht zu haben, denn die schwarzen Linien waren ausnahmsweise völlig problemlos zu lesen.
 

/Das ’bis bald’ kann ich kaum erwarten und doch stimmst du mich heiter, wenn ich nur an dich denke./
 

Rick griff nach einem seiner Plätzchen und betrachtete sich den Tannenbaum, der beim Backen ein wenig an Form verloren hatte, doch noch sehr gut als Baum erkennbar war. Weihnachten würde nicht mehr lange auf sich warten lassen und er freute sich schon auf das Fest, zumal die Stimmung zu dieser besonderen Zeit immer so herzlich war.
 

/Dieses Weihnachten kann noch viel schöner werden als alle anderen./
 

Beherzt biss er den Stamm des Tannenbaumes ab. Während er es sich schmecken ließ, holte er ein Buch aus seinem Regal und schaute auf den ihm überaus gut bekannten Einband. Es war eines seiner Lieblingsbücher und nur eines von den sieben Bänden, die ihn schon mehr als einmal gebannt hatten und nach mehr verlangen ließen. Mit dem Buch machte er es sich auf dem Sofa gemütlich und versank alsbald in dem Leben von Roland, der gerade einen Jungen namens Jake in seine Welt holte.
 


 

„Hallo Julia, kann ich eben mal bei dir vorbeikommen?“ Joe hörte zwar seine eigene Stimme, doch er vermochte nicht zu sagen, ob er wirklich derjenige war, der sie erzeugte. Lange hatte er sich vor dem Kommenden gefürchtet, denn er tat anderen Menschen nicht gerne weh. Aber da er sich das selbst zuzuschreiben hatte, biss er in den sauren Apfel und wollte Julia von Angesicht zu Angesicht enttäuschen und nicht wie ein Feigling eine Abfuhr übers Telefon oder gar schlimmer über eine SMS erteilen.

„Hast Glück, ich bin zuhause und ich freue mich auf dich“, erwiderte sie neckisch, was Joe überhaupt nicht behagte. Aber er hatte sich das nun in den Kopf gesetzt und da musste er nun wohl oder übel durch. Ausflüchte brachten nichts mehr und besser jetzt als nie.

„Bis gleich“, sprach er leise ins Handy hinein und drückte dann sofort auf ’Auflegen’, um noch ein paar Minuten Vorbereitungszeit zu haben. Tief durchatmend setzte er einen Fuß vor den anderen, näherte sich stetig einer unsichtbaren Mauer, die sich vor ihm auftürmte und ihn daran hindern wollte, eine liebe Person zu verletzen. Mühsam schritt er auf sie zu und blieb vor ihr stehen.
 

/Ich muss!/, dachte er krampfhaft entschlossen und durchbrach alsdann die Wand aus durchsichtigen Steinen und fand sich vor Julias Wohnungstür wieder. Ganz vorsichtig betätigte er die Klingel, glaubte ein sanfter Druck würde nicht das übliche ’Dingdong’ erzeugen, doch als er es doch vernahm, atmete er laut aus und bemühte sich um Fassung. Die Tür wurde zügig geöffnet und die Rothaarige schmiss sich förmlich auf Joe und zog ihn in die Wohnung hinein, wo sie ihm einen leidenschaftlichen Kuss aufdrückte. Zunächst war Joe perplex, doch dann schob er sie sachte von sich. Verwirrt sah Julia ihn an.
 

„Raus mit der Sprache, ich sehe doch, dass dir was auf dem Herzen liegt“, sagte sie bestimmt, hauchte ihm aber einen Kuss auf die Wange, um ihn zu beruhigen, was aber leider genau das falsche war. Joe schob sie erneut von sich und nun zeichnete sich Zorn in ihren Gesichtszügen ab.
 

„Sag’ mal, was hat dich denn geritten?“

„Julia…“, begann er leise, verstummte aber sogleich wieder.

„Ist jemand gestorben?“, fragte sie nun liebevoll und legte eine Hand auf seine Schulter.

„Nein, viel schlimmer.“

„Aber…“, setzte sie an, sprach aufgrund seines ernsten Blickes nicht weiter. Stattdessen bugsierte sie ihn zu einem Stuhl und drückte ihn auf diesen nieder. Joe kam sich mies vor. Er wollte ihr direkt sagen, was ihn bewegte, doch er brachte es nicht übers Herz. Auf dem Weg zu ihr hatte er sich Worte zurecht gelegt, doch nun erschienen sie ihm alle verkehrt. Wie konnte er ihr nur sagen, dass er sie nicht liebte, sondern etwas für einen Mann empfand? Dazu noch für Rick, auf den Julia sowieso schon neidisch war? Stillschweigend ließ er sich eine Tasse Kaffee reichen und nippte an dem bräunlichen Getränk, dessen Geschmack ihm eigentlich überhaupt nicht zusagte. Die heiße Flüssigkeit rann seine Kehle hinunter und er fühlte sich mit jedem Augenblick verabscheuungswürdiger.

„Kannst du mir versprechen, dass du mir erst einmal zuhörst, bevor du was sagst?“, fragte er mit sorgenvollem Unterton und suchte ihren Blick, um in ihren Augen lesen zu können. Unsicher nickte sie und legte eine Hand auf seine, worunter er zusammenzuckte. Es war eine Berührung, die Joe nur noch mehr zusetzte.

„Gut… Du wirst mich gleich hassen-“

„Was?“, rief sie und er bot ihr Einhalt, indem er sie flehend anblickte. Er konnte an ihrer Mimik deutlich erkennen, dass sie Schlimmes ahnte, vermutlich sogar das, was er ihr gleich sagen würde. Nur die Sache mit Rick würde sie niemals mutmaßen und das bereitete ihm die meisten Sorgen. Sollte er völlig ehrlich sein oder einfach nur sagen, dass er keine tieferen Gefühle für sie hegte?

Wenige Sekunden verstrichen, in denen er haderte und sie zunehmend grimmiger wurde.

„Ich habe versucht, dich zu lieben“, begann er letztendlich, „aber ich konnte dieses Gefühl in mir für dich nicht finden.“

Julia sprang auf und lief erhitzt hin und her, schwieg aber, doch nur, weil sie es ihm versprochen hatte.

„Du bist eine tolle Frau und das sage ich nicht leichtfertig daher oder weil ich mich damit in ein besseres Licht rücken möchte. Es ist wahr, dass ich dich gerne habe und das wird auch so bleiben, selbst wenn du mich gleich rausschmeißt und mir sagst, dass du mich nie wieder sehen möchtest… denn damit rechne ich.“

Ein kleiner Moment verging, in dem sich Joe wieder sammeln musste. Das unstete Auf und Ab von Julia machte ihn wahnsinnig, doch er musste das nun mit all seinen Konsequenzen durchziehen. Er hatte Anstand und wollte ihn auch bewahren. Zudem mochte er dieses Mädchen wirklich und es war ihr gegenüber nur gerecht, wenn er sich dazu zwang, weiterzusprechen.

„Bevor du mich gleich des Hauses verweist, möchte ich dir noch den Grund nennen, warum ich dir dies alles gerade antue.“ Es kostete sehr viel Überwindung, doch es musste raus. Joe konnte es nicht verschweigen, selbst schon deshalb, weil er es selbst einmal hören wollte und vielleicht musste. „Du trägst absolut keine Schuld, denn ich empfinde etwas für einen Mann.“

Joe wollte noch hinzufügen, dass Rick derjenige war, der ihm den Verstand raubte, doch dazu kam er nicht mehr. Grob packte ihn Julia am Kragen und schüttelte ihn.

„Wie kannst du mir das antun?“, schrie sie ihn an und trug heiße Tränen in den Augen.

„Es tut mir leid“, flüsterte er.

„Ja sicher tut es das, doch meinst du das auch ernst?“ Ihre Stimme durchdrang alles, selbst die Nachbarn konnten sie wohl hören.

„Ja ist es.“

„Und gleich möchtest du mir noch deine Freundschaft anbieten. Klar, so seid ihr Männer immer. Darauf kann ich verzichten. Geh! Scher’ dich zum Teufel!“

Sie riss ihn hoch und schubste ihn in Richtung Tür.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte Joe noch einmal, erntete aber nur ein grimmiges Lächeln.

„Heuchle mir nichts vor! Verschwinde!“

Joe kam ihrer Aufforderung nach, auch wenn es ihm schwer fiel. Er hatte diese Reaktion kommen sehen und es überraschte ihn nicht, dass sie so aus der Haut fuhr. Schließlich wusste er, dass sie Temperament hatte und das bekam er gerade zu spüren. Seufzend zog er hinter sich die Türe zu, an der etwas Hartes von der anderen Seite landete und hart auf dem Boden aufprallte.
 

/Wenn ich dich nur nicht so gut verstehen könnte…/
 

Die Sonne versteckte sich wieder hinter den Wolken, unter denen Joe den Weg nach Hause nahm. Feiner Nieselregen stob ihm ins Gesicht und er zog seine Jacke zu, hielt mit seinen Händen den Kragen hoch, der das Gemisch aus Kummer und Glück nun hinter sich barg.

Kapitel 23

Kapitel 23:
 

Silbriger Mondschein legte sich über die Dächer und tauchte die Stadt in ein heimeliges Licht. Die Sterne wachten über zwei friedlich schlafende junge Männer, die im Land der Träume den jeweils anderen im Arm hielten und zärtlich berührten. Die Nacht zog dahin und gab bis zum Morgengrauen ein wunderschönes Himmelszelt preis…
 

Gähnend schlug Joe die Augen auf und barg ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Noch immer glaubte er Ricks Hand auf seiner Wange zu spüren, was ihm unendlich angenehm war. Er blinzelte und wünschte sich zurück in den Traum, doch nur solange, bis er realisierte, dass er dies auch in der Wirklichkeit fühlen könnte. Sogleich dachte er an den gestrigen Kuss, nein, eigentlich sogar an den vorgestrigen, denn das war der, der seine wahren Gefühle offenbart hatte. Als er Ricks Lippen förmlich schmecken konnte, wuchs in ihm eine Begierde, die ihm ein wenig Angst bereitete. Ein solches Verlangen nach einer Person hatte er in seinem bisherigen Leben nie verspürt, bis zu diesem Tag… Nicht einmal ein Mädchen hatte diese Leidenschaft in ihm wecken können, was ihn durchaus irritierte. Vorsichtig legte er eine Hand auf seine Brust und wog sie im Gleichklang mit seinem Herzen auf und ab. Kurz hielt er die Luft an und stieß sie dann kräftig aus.
 

/Selbst wenn es nur ein Traum wäre, würde ich denken müssen, er sei real. Solche Sehnsucht habe ich noch nie nach einem Menschen verspürt und sie wird von Minute zu Minute nachdrücklicher… alles in mir sehnt sich nach dir, mein kleiner Romantiker.../
 

Joe schob die Bettdecke von sich und stand auf. Langsam schritt er ins Bad und stellte sich unter die heiße Dusche. Mit beiden Händen stützte er sich an den blauen Fließen ab und ließ das Wasser über seinen Kopf rauschen. Das Blau erinnerte ihn sogleich an die Augen seines Freundes und er begann zu lächeln.
 

/Den Namen habe ich dir schon vor einer Ewigkeit gegeben. Ständig meintest du zu Filmen, die wir im Fernsehen gesehen haben, zu Szenen, die sich draußen vor unseren Augen abgespielt haben, zu prächtigen Naturkulissen, dass sie romantisch seien und dabei trugst du einen verträumten Ausdruck in deinem Gesicht… Nun möchte ich diesen sehen, wenn du mich vor dir siehst… schon irgendwie seltsam. Solange kenne ich dich schon und nun genügt mir unsere zwar besondere, aber dennoch rein platonische, Beziehung nicht mehr… Ich will mehr!... viel mehr…/
 

Feine Tropfen liefen ihm über die Wangen, sammelten sich am Kinn und flossen von dort gen Boden. Mit einem ganz sanften Blick schaute er auf die quadratischen Fließen und wog sich im blauen Meer Ricks Augen, die er vor der Wand sich abzeichnen sah.
 


 

Ricks Wecker klingelte, den er am liebsten genommen und zum Fenster hinaus geschmissen hätte, denn er hatte seinem Traum nicht entschwinden wollen. Seufzend ließ er sich zurück ins Kissen sinken und schaute an die weiße Decke, die seine Blicke nur allzu gut kannte. Gerade eben noch hatte er Joes Wange unter seinen Lippen gespürt und nun stob ihm die kühle Luft entgegen, die durch das gekippte Fenster hereindrang. Die Wärme, die der Traum innegehabt hatte, war mit einem Mal weg und kam anscheinend auch nicht mehr zurück. Warum nur musste sein Urlaub vorüber sein? Grummelnd drehte er sich auf die Seite und spielte mit dem Gedanken, sich krank zu melden.
 

Liebeskrank…
 

Er runzelte die Stirn und wünschte sich, dass die Nacht zurückkäme und ihre Arme sachte über seine Augen legte. Sehr zu seinem Leidwesen drang zunehmend Tageslicht in sein Zimmer, ebenso reger Vogelgesang, der bald für den Rest des Jahres ausbleiben würde. Wie so oft biss er sich auf die Unterlippe und schloss krampfhaft die Lider wieder. Dann verlor er eben seinen Job! Ein bitteres Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
 

/Dann verlier ich die Wohnung und finde hier vielleicht keine Stelle mehr, so dass ich von Joe getrennt werde…/
 

Wehmütig entfloh er dem kuschlig warmen Bett und lief eilig ins Bad, um der Kälte der Jahreszeit zu entkommen. Er besah kurz sein Spiegelbild und warf sich einen verdrießlichen Blick zu. Er hoffte so sehr, dass Joe ihn nicht einfach fallen lasse, denn das könnte er niemals verschmerzen. Eben noch hatte er sich in seinen Armen wiedergefunden, doch es war nur ein Traum gewesen. Er vermochte nicht zu sagen, was sein Freund heute fühlte und was die Zukunft für sie beide parat hielt. Befallen von leichter Melancholie stieg er unter die Dusche und genoss das warme Wasser, das sich auf seine Haut legte und ihm einen Teil der Wärme des Traumes zurückbrachte. Genießerisch schloss er die Lider und rief sich ein Bild von Joe vor Augen, das ihn laut ausatmen ließ.
 


 

Nach einer ganzen Weile erst stellte Joe das Wasser ab und wischte mit seiner Rechten über die blauen Fließen. Gedankenverloren sah er dabei zu, wie sich der feine feuchte Film auf ihnen immer mehr zusammenzog und am Ende eine glänzende Stelle hinterließ. Langsam band er sich ein Handtuch um die Hüften und ein weiteres hängte er sich über die Schultern. Anschließend stieg er aus der Dusche und ging barfuß ins Schlafzimmer zurück, wo er sich aufs Bett legte und die Arme hinterm Kopf verschränkte. Die Szene, wie Rick mit seiner Zunge über sein Ohr gestrichen hatte, spielte sich immer und immer wieder vor seinem inneren Auge ab, ebenso wie er sich danach von ihm zurückgezogen hatte.
 

/Ich kann froh sein, dass du so verständnisvoll bist… Julia hingegen wäre total wütend geworden, wenn ich bei einer intimen Berührung derart zurückgeschreckt wäre… Nun ist sie wirklich aufgebracht und daran trage ich allein die Schuld. Sie wird mir das vielleicht nie verzeihen können… Vermutlich habe ich es auch nicht anders verdient, schließlich habe ich ihre Gefühle verletzt./
 

Leicht öffnete er seinen Mund und atmete leise und lange aus.
 

„Wie konnte ich denn ahnen, dass mir mein Herz keinen Streich spielte?“, hauchte er in die Luft, die seine Worte mitnahm und das Zimmer wieder zum Verstummen brachte.
 


 

Lange hielt Rick sein Handy in den Händen, besah es sich von oben bis unten und legte es letzenendes doch wieder auf den Schreibtisch, ohne es benutzt zu haben. Seit drei Stunden hatte er seine Arbeit wieder aufgenommen und hatte sich dabei nicht einmal annähernd in sie zurückgefunden. All seine Gedanken verweilten bei seinem Freund. Er konnte einfach keine Konzentration auf für ihn momentan belanglose Mails verwenden. Sollten seine Kunden doch ihre Präsentationen selbst entwerfen. Wer brauchte ihn schon, wenn man selbst ein wenig Kreativität in sich trug? Seufzend schweifte sein Blick abermals vom Monitor ab und haftete sich auf das schwarze Gerät, das verlockend dalag und förmlich seinen Namen schrie. Alles in ihm wollte Joe eine Nachricht zukommen lassen, doch so sehr er das auch begehrte, ließ er es sein. Er konnte seinen Freund jetzt doch nicht mit Liebesnachrichten bombardieren, das würde nur verkehrt sein. Schon das kleinste Liebesgeständnis könnte Joe in die entgegengesetzte Richtung drängen. Leise seufzte Rick.

Die Minuten dehnten sich verzweifelt lange und gaben das Ende des Achtstundentages einfach nicht preis. Immer wieder wurde der Dunkelhaarige von einem Arbeitskollegen angestupst, holte ihn immer wieder aufs Neue zurück in die Realität, in der er aber gerade nicht sein wollte. Der Traum der Nacht war einfach anreizender, so schwer er ihm auch auf dem Herzen lastete. Rick gestand Joe die Zeit, die er brauchte, zu, das stand außer Frage, doch dass es dermaßen schwer sein würde, hätte er nicht erwartet. Warum konnte sich die Welt nicht schneller drehen und ihm verkünden, dass sich Joe für ihn entschieden hatte? Kläglich lächelte Rick den Computer vor ihm an, der gerade einen warmen orangenen Hintergrund zeigte, auf dem ein prachtvolles Schloss zu sehen war. All die kleinen Türme ragten in Erhabenheit empor zum Himmel und verliehen dem Gemäuer ein edles und würdevolles Aussehen.
 

„Ein tolles Bild“, meinte eine Frauenstimme hinter ihm.
 

Rick schrak auf und sah seine Chefin freundlich an. Es war ihm unangenehm, dass sie plötzlich hinter ihm stand, zumal er seine Arbeit heute nicht gewissenhaft erledigte. Unsicher besah er sich das Layout der Seite und ein großer Stein fiel ihm vom Herzen, dass alles irgendwie zueinander passte und sich keine schweren Fehler hineingeschlichen hatten.
 

„Erstaunlich was die Menschen früher ohne die heutigen Hilfsmittel errichtet haben“, sprach Rick und vermied, sich erneut zu der großen schwarzhaarigen Frau umzudrehen, obwohl sie ihm von Anfang an sehr sympathisch gewesen war und ihre Angestellten sehr kollegial behandelte.
 

„Es ist beinahe unmöglich, sich vorzustellen, wie man solch Werke allein mit Körperkraft und den Einsatz von Tieren geschaffen hat.“
 

Rick nickte zustimmend und begutachtete die aufwendigen Verzierungen um die Fenster. Die maßgefertigte Handarbeit hatte ihn schon von klein auf sehr beeindruckt.
 

„Heute werden allein schon beim Bau einer Garage Bagger und Mischmaschinen eingesetzt“, meinte Rick ohne recht zu wissen, was er überhaupt von sich gab.
 

Dann spürte er eine Hand auf seine Schulter klopfen. „Machen Sie weiter so.“
 

Er hörte das laute Klacken der hohen Schuhe seiner Chefin, wie sie sich allmählich in der Weite des Raumes verloren. Erneut griff er nach seinem Handy, steckte es dann aber in seine Tasche, die unterm Schreibtisch lag.
 


 

Während Joe durch die Straßen lief, dachte er darüber nach, ob er noch einmal zu Julia sollte. Vielleicht konnte er sie tatsächlich dazu bringen, dass sie Freunde blieben. Als er ganz in der Nähe ihrer Wohnung war, mied er es dann doch zu ihr zu gehen, denn er hatte ihr wütendes Gesicht vor Augen. Seichter Schmerz legte sich auf sein Herz und er konnte nicht verhindern, dass sein Blick ein wenig mehr an Heiterkeit verlor. Hatte Ricks Nähe am Vortag sie noch hervorgerufen, war sie bald nur noch ein Schatten ihrer selbst. Warum musste das Leben auch dermaßen kompliziert sein?

Mit langsamen Schritten steuerte er auf ein neues Geschäft zu, das er nach kurzem Zögern betrat. Die Glocke über ihm ließ seine Ankunft verlauten, doch trotz aller elenden Erwartungen, dass sofort eine Verkäuferin oder ein Verkäufer auf ihn zugestürmt käme, trat dies nicht ein. Der Laden war ziemlich gefüllt mit strahlenden Leuten, die eifrig von den Ständern ein Kleidungsstück nach dem anderen entnahmen, sie entweder zurückhingen oder sie über einen schon voll beladenen Arm legten. Ein wenig verloren sah Joe hin und her und wusste nicht recht, warum er überhaupt hineingegangen war. Irgendwie hatte ihn plötzlich das Gefühl übermannt, er könne Rick eine Kleinigkeit kaufen, doch nun kam ihm diese Idee absurd vor. Vor nicht einmal zwei Tagen hatten sich ihre Lippen das erste Mal berührt und nun wollte er ihn schon mit Geschenken überhäufen? Über sich selbst schüttelte der Blonde den Kopf und er wand den geschäftig wirkenden Menschen den Rücken zu und legte eine Hand auf die Klinke der Ladentüre. Er fühlte das kühle Metall unter seiner Hand und wollte sie drücken, zweifelte aber, ob er wirklich einfach wieder gehen sollte. Schließlich gab er sich einen Ruck und begab sich doch auf die Suche nach etwas Passendes für Rick. Nach was er Ausschau halten sollte, war ihm dabei überhaupt nicht klar, doch wenn er das Richtige sah, dann würde er es schon wissen. Schwarze, blaue und graue Jeans zogen an ihm vorüber, ebenso weiße, rote und hellblaue Hemden. Immer weiter tastete er sich nach hinten und fand sich alsbald am Ende des Ladens wieder, ohne dass ihm etwas ins Auge gestochen war.
 

/Dann wohl doch nicht…/
 

Der Trubel um ihm herum schien stetig zuzunehmen und er fühlte sich allmählich eingeengt und wünschte sich zurück an die frische Luft, um dem Gemisch aus Parfum und anderen Mittelchen zu entfliehen. Rücksichtsvoll schob er sich zwischen jüngeren und älteren Menschen hindurch, hauchte hier und da ein ’Entschuldigung’ oder ’Dürfte ich bitte’, bekam dabei sogar einmal ein herzliches Lächeln einer Dame geschenkt. Als er fast an der Kasse direkt neben dem Eingang angekommen war, blieb er abrupt stehen und war gebannt von dem Anblick, der sich ihm darbot.
 

„Kann ich Ihnen helfen?“ Ein Junge etwa in Joes Alter sah ihn freundlich an und erwartete sichtlich eine Antwort.
 

„Ich denke schon.“
 

„Der hat es Ihnen wohl angetan, was?“, meinte der Angestellte spitzbübisch und bedachte Joe mit einem sehr anzüglichen Blick.

Endlich wich aus dem Gesicht des Blonden die Bitterkeit und er begann überlegen zu grinsen. „Mein Freund soll für mich schließlich sexy aussehen“, hauchte er dem anderen entgegen und freute sich darüber, wie dieser ein wenig enttäuscht wirkte.

„Welche Größe?“, fragte er seinen Kunden zwar immer noch mit einem Lächeln, aber nun weniger beherzt.

„Ich denke S.“

Die Augen des Braunhaarigen glimmten nun wieder auf. „Ach so genau weiß es der Geliebte wohl nicht?“

„Liegt wohl daran, dass ich ihm lieber die Kleider vom Leib reiße als sie ihm anzulegen.“

„Er ist wirklich zu beneiden“, meinte der Angestellte beiläufig, während er nach dem richtigen Pullover suchte. Joe freute sich in der Tat darauf, das weiße Strick an Rick zu sehen, da es zumal recht eng anlag.
 


 

„Schönen Abend“, wünschte Rick liebevoll der Putzfrau, die bereits damit begonnen hatte, den Boden des großen Büros zu kehren. Da er seine Arbeit nicht in der vorgeschriebenen Zeit erledigt hatte, musste er eine Überstunde in Kauf nehmen und konnte erst jetzt das Haus verlassen, das er seit gut zwei Jahren fast tagtäglich aufsuchte. Er hatte in Gedanken einfach zu viel bei Joe verweilt und hatte sich am Ende regelrecht dazu gezwungen, den blonden jungen Mann aus seinem Verstand zu verbannen, um überhaupt noch vor dem Schlafengehen fertig zu werden. In der Tat war er der letzte aller dreiunddreißig Mitarbeiter, der nun in die Abenddämmerung trat. Wohlwollend streckte er sich und lief die ersten Schritte, seit er am Morgen hergekommen war. Sein Rücken strafte ihn aber und er zuckte bei jedem Schritt zusammen. Hatte er sich denn so auf seinem Stuhl verkrampft gehabt?
 

/Eine Massage wäre nun genau das Richtige…/
 

Er kickte einen Stein an, der an die nächste Hauswand prallte und nach einem Überschlag liegen blieb.
 

„So abwesend heute?“
 

War er das oder hatte er sich das eben nur eingebildet?
 

„Tock tock, aufwachen!“
 

Joe klang wie früher, so unbeschwert und heiter…

Kapitel 24

Kapitel 24:
 

Ein freundliches und aufrichtiges Lächeln empfing Rick von seinem besten Freund, als er sich endlich nach diesem umdrehte. Der bedeckte Himmel sandte ein paar Regentropfen zu ihnen hinab und einer landete auf Joes Stirn, den Rick behutsam mit seinem rechten Zeigefinger wegwischte, was ihm eigens und wohl auch Joe eine Gänsehaut bescherte.
 

„Bin wach“, erwiderte der Dunkelhaarige und sah Joe dabei in die Augen, von denen er nicht mehr ablassen konnte.
 

Joe bemühte sich sehr um seine Fassung und lächelte aufgrund dessen noch ein wenig breiter. „Rate mal, was ich für dich habe!“
 

Ricks Augen weiteten sich. Wie konnte Joe nur so lässig wirken, wenn sich sein Herz doch überschlug und er nichts anderes wollte als ihn küssen?
 

„Keine Ahnung.“

„Versuch’s doch wenigstens einmal“, meinte Joe mit einem gespielten Schmollmund.
 

/Du siehst gerade einfach zum Anbeißen aus… aber ich darf nicht… Halte dich im Zaum, Rick!/ Der Dunkelhaarige zitterte beinahe vor Anstrengung, nicht über Joe herzufallen. Der vorherige Abend hatte eine Mauer eingerissen, die er um sich errichtet hatte, um Joe, wenn er bei ihm war, nur als besten Freund zu sehen. So hatte er die Finger von ihm lassen können, so sehr es auch weh getan hatte. Doch nun? Nun hatte ihn der Blonde aus eigenem Antrieb geküsst…
 

„Ein Spielzeugauto, damit ich nicht mehr heim laufen muss.“
 

Ricks Stimme war leise, denn er hatte eigentlich gar nicht die Macht über sie inne. Zu groß war das Verlangen in ihm, als dass er noch klar denken konnte. Den ganzen Tag schon hatte er an ihn gedacht gehabt und nun stand er vor ihm und durfte nicht berührt werden. Durfte nicht? Wie kam er eigentlich darauf, dass er nicht durfte? Rick hob eine Hand und näherte sie Joes Schulter, wollte sie auf sie legen und ihn dann an sich ziehen. Doch dazu kam es nicht, denn der Blonde ging einen Schritt zurück und wedelte plötzlich mit einer Tüte vor Ricks Gesicht herum.
 

„Falsch, versuch’s noch mal.“
 

So rein gar keine Lust hatte Rick auf dieses Spielchen, doch er atmete tief ein und versuchte auf diesem Weg, wieder Herr über seine Sprache zu werden.
 

„Eine Lichterkette.“
 

Verdutzt sah ihn Joe nun an. „Wie kommst du denn auf so was?“
 

„Naja, bald ist Weihnachten… und ich dachte, du möchtest vielleicht meine Wohnung ein wenig heimeliger gestalten.“
 

Rick spürte Joes Finger, wie er auf seine Stirn tippte. „Das können wir noch irgendwann nachholen, doch erst einmal ist dies hier dran.“
 

Erneut schwang er die rötliche Plastiktüte vor Ricks Augen hin und her. Rick griff nach ihr, aber im selben Moment zog Joe sie zurück.
 

„Na na, doch nicht hier. Der Regen würde deinem Geschenk nicht unbedingt gut tun.“
 

„Joe, das ist kindisch“, entfuhr es Rick nun. Nicht weil er es so meinte, sondern weil er es vor Begierde nicht mehr aushielt. Joe war einfach zu anziehend, wenn er eine dermaßen lockere Art hatte. Und dieses Funkeln in den grünen Augen machte den Dunkelhaarigen ganz wirr.
 

„Wen stört’s?“
 

„Keinen“, sagte Rick kleinlaut und trabte dann seinem Freund hinterher, der den Weg zu seiner Wohnung angesteuert hatte.
 

„Wir gehen zu dir, weil ich keine Zeit zum Aufräumen hatte.“ Neckisch strahlte Joe Rick an, der nur nickte und keinen blassen Schimmer hatte, was Joe eigentlich gerade gesagt hatte.
 

/Du wirkst niedergeschlagen, mein kleiner Romantiker. Was war heute auf der Arbeit nur los, dass du dermaßen bedrückt wirkst? Oder ist etwas anderes vorgefallen?/
 

Heimlich beobachtete Joe seinen Freund, während sie gemeinsam durch die Straßen liefen. Rick hatte seinen Blick fest auf den Boden gerichtet und schwieg pausenlos.
 

/Ich weiß, wie schlimm der erste Arbeitstag nach einem erholsamen Urlaub sein kann, darum wollte ich dir doch den Abend versüßen und ich war auch noch so dumm zu glauben, ich sei dazu in der Lage…/
 

„Wohnungsschlüssel?“, fragte er den Dunkelhaarigen, nachdem sie bereits seit einer Minute vor der verschlossenen Tür standen.
 

Verwirrt sah Rick auf. „Wo sind wir?“
 

„Bei dir, wo sonst?“
 

„Oh… ja.“
 

/Was ist der Grund für deine Lethargie?/
 

Sie traten ein und Joe begab sich sofort in die Küche, um Wasser für einen Tee aufzusetzen. Nichts lag ihm näher als Rick Gutes zu tun. Gerade als er zwei Tassen aus dem Schrank holen wollte, spürte er eine Hand auf seinem Rücken, was ihn in seiner Bewegung innehalten ließ. Er hielt die Luft an und wagte nicht, sich umzudrehen.
 

„Was ist es nun?“, hauchte Rick beinahe Joe ins Ohr.
 

Leichte Röte zierte seine Wangen, als er Rick nun doch ansah. „Zieh dein Hemd aus.“
 

Ricks Gesichtszüge entgleisten ein wenig.
 

„Sonst kannst du dein Geschenk nicht anziehen“, fügte Joe hinzu, nicht nur um Rick die Spannung zu nehmen, sondern vor allem, um sich selbst ein wenig zu beruhigen.
 

Langsam öffnete Rick die Knöpfe seines Hemdes, wobei Joe es nicht fertig brachte wegzusehen. Rick fixierte ihn und nahm ihn fest in den Blick. Das Herz des Größeren pochte zunehmend schneller und leichte Hitze machte sich in ihm breit.
 

/Wie oft habe ich schon deinen bloßen Oberkörper gesehen und dabei keine Regung in mir gespürt. Aber heute… schlägt mir mein Herz bis zum Hals…/
 

Rick wollte das Hemd galant über seine Schultern gleiten lassen, doch zuckte mit einem Mal total zusammen. Mit zusammengekniffenen Augen und fest aufeinander gepressten Lippen verharrte er.
 

„Rick?“
 

„Schon gut, habe mir wohl einen Nerv eingeklemmt.“
 

„So wie du ausschaust, scheint damit nicht zu spaßen zu sein.“
 

„Halb so wild“, keuchte der Kleinere ein wenig gequält und wandte sich von Joe ab.
 

Der Größere legte seine Hände an den weißen Stoff und zog ihn vorsichtig von Rick. „Lege dich aufs Sofa, aber auf den Bauch.“
 

„Davon wird’s auch nicht besser“, meinte Rick gepresst und vermied nun jedweden Blickkontakt. Der Schmerz in seinem Rücken hatte die ganze Atmosphäre zerstört und er verfluchte ihn im Stillen. Er war sich sicher, dass Joe bald nicht mehr hätte umhin können ihn zu berühren. Und nun das! Laut aufstöhnend legte er sich aufs Sofa und hörte Joe zu, wie er Schränke und Türen auf- und wieder zumachte.
 

/Mein Rücken hat alles zunichte gemacht…/
 

Die Dunkelheit legte sich allmählich über die Stadt und Rick lag nun im Halbdunkel auf dem hellblauen Sofa, fragte sich, womit er das verdient hatte.
 

/Er hatte seine Augen nicht von mir nehmen können…/
 

Grummelnd ließ er einen Arm hinunter zum Boden baumeln, auf dem unerwartet ein paar Lichter tanzten. Irritiert sah er auf und erblickte zwei brennende Kerzen, die Joe auf dem Tisch neben ihm platzierte. Die gelb-orangenen Flammen wogen ein paar Mal hin und her, bis sie ihre Ruhe wieder fanden.
 

„Es wird gleich ein wenig feucht werden, also erschrick nicht.“
 

Joes Stimme drang an Ricks Ohren und der Dunkelhaarige traute ihr kaum. Was hatte er vor?

Plötzlich spürte er etwas Warmes auf seinem Rücken und er zuckte zusammen.
 

„Ich habe dich vorgewarnt“, meinte Joe amüsiert. „Nicht den Kopf heben.“ Sachte drückte Joe das Haupt seines Freundes zurück auf den hellblauen Stoff.
 

/Ich kann nur deine Silhouette sehen, wie sie sich als Schatten über mich beugt…/
 

„Es kann ein wenig weh tun, versuch’ einfach an was schönes zu denken, ja?“
 

Joe legte seine Hände auf Ricks Rücken und begann sie über die Haut kreisen zu lassen, von den Hüften hinauf bis zu den Schultern. Die warme zähe Flüssigkeit verteilte sich zunehmend über Ricks Körper und der Kleinere schloss die Augen
 

/Deine Finger sind so weich… und sorgsam… /
 

und verlor allmählich die Besinnung.
 

Bevor Joe das Massieren begann, sah er auf die unter ihm liegende Gestalt. Der Kerzenschein auf Ricks Gesicht ließ ihn so unendlich friedlich erscheinen. Wenn jemand ein Engel auf Erden verkörperte, dann er und kein anderer.

Sanft drückte er seine Finger auf die Haut des anderen und begann damit, sie fest von unten nach oben gleiten zu lassen. Als er knapp unter den Schulterblättern angelangt war, entwich dem niedlichen Bündel unter ihm ein knurrender Laut.
 

„Stell dir vor, du fährst mit dem Tretboot über einen ruhigen See, der durch seine anmutende Landschaft, die ihn umgibt, Freiheit verkörpert“, flüsterte Joe Rick ins Ohr und fuhr dann mit seinen Händen fort, den Schmerz aus Rick heraus zu massieren.
 

„Unendliche Weite des Himmels zu deiner Höhe,… tiefer Abgrund zu deinen Füßen… nichts als Ferne… von der Natur gegeben…“
 

Joe sprach immer weiter, wollte Rick auf die Art ablenken, damit das nun schmerzverzerrte Gesicht wieder sanft wurde.
 

„Warmer Sonnenschein auf deiner gebräunten Haut… Lass dich im stimmungsvollen Meer treiben, das in diesem Moment nur dir gehört… dir ganz allein…“
 

Seine Hände kneteten unablässig die empfindliche Stelle auf Ricks Rücken…
 


 

/… im stimmungsvollen Meer treiben… es umgibt mich von allen Seiten, birgt mich in seiner Mitte… /
 

Ganz duselig war Rick mittlerweile geworden und vernahm Joes Stimme nur noch vage. Wie in Trance spürte er etwas Weiches seinen Rücken auf und ab fahren und sah einen großen See um sich, auf dem er gerade in einem Boot saß.
 

/… eine kleine Strömung steuert mich auf eine saftig grüne Wiese zu, auf der mit Blüten behangene Bäume stehen… weiße Kirschblüten… die im sachten Wind hin und her wiegen… /
 

Vor seinen Augen formte sich unter einem der Bäume eine Decke, auf der ein Picknickkorb stand. Langsam erschienen immer mehr Accessoires wie Kissen und ein Eiskühler.
 

/… ich laufe auf die Decke zu und mache es mir auf ihr gemütlich, genieße die warmen Strahlen…/
 


 

„Und nun erscheint ein Hund neben dir, der auf das leckere Essen sabbert.“
 

Joe unterdrückte sich ein Lachen. Rick indes runzelte die Stirn und schlug die Augen auf.
 

„Ähhh!“
 

Nun konnte sich Joe das Lachen nicht mehr verkneifen. Er nahm seine Hände vom Kleineren und lief vor Erheiterung ums Sofa herum. Verwirrt richtete sich Rick auf und sah seinen Freund pikiert an.
 

„Das war eben einfach zu göttlich süß“, grinste Joe ihn an.
 

Noch immer konnte Rick nicht ganz begreifen, was er eben erlebt hatte. Er spürte, wie sein ganzer Körper kribbelte und bemerkte nun die Kerzen und die kleine Schale, in der sich noch ein wenig zähe Flüssigkeit befand. Benommen dehnte er sich und das fühlte sich einfach nur gut an.
 

„Hör’ auf zu lachen, damit ich dir danken kann.“
 

Mit einem kleinen Sprung setzte sich Joe neben Rick. „Dann mal los.“
 

„Danke.“
 

„War das alles?“
 

Nun zierte Ricks Lippen ein schelmisches Lächeln und er bettete seine Hände um Joes Wangen. „Ich danke dir aufrichtig“, hauchte er halb auf die Lippen des anderen.
 

„Küss’ mich endlich!“, knurrte Joe erwartungsvoll.
 

„Für eine Massage?“
 

Joe nickte. „Habe ich doch auch verdient, nicht?“
 

Ricks Lippen küssten flüchtig die von Joe. „Das war für deine Aufopferung. Und das, was jetzt kommt, ist für das, was du mir wert bist.“
 

Bestimmend presste er seinen Mund auf Joes und bat sogleich mit seiner Zunge um Einlass, den der andere trotz seiner Überwältigung nicht verwehrte.
 

Schlag für Schlag pocht das Organ,

Herz genannt, in der Brust.

Ein Beben gleich einem Vulkan

schon bei dem kleinsten Kuss.
 

Laut keuchend ließen sie voneinander ab und rangen nach Luft, den der jeweils andere genommen hatte.
 

„Geht doch“, grinste Joe und drückte Rick an sich, so dass dieser sein Gesicht in seine Halsbeuge betten konnte. Voller Glücksgefühl spürte er den warmen Atem seines besten Freundes.
 

So sanft jedwede Berührung

und doch begierig nach mehr,

gleicht reinster Beglückung

im Herzen so sehr.
 

„Ich möchte nun gerne das Geschenk an dir sehen“, bat Joe leise.

„Lass mir noch einen Moment…“
 

/Heißt das, dass ich dich nun immer unter meinen Lippen spüren darf?... Wenn dem so wäre, dann würde ich vor Glück weinen…/
 

Langsam löste sich Rick von seinem Freund. „Jetzt bin ich bereit.“
 

Joe erhob sich und suchte die Tüte, von der er nicht wirklich wusste, wo er sie abgestellt hatte. Nach kurzem Suchen drückte er sie dem Kleineren in die Hand.
 

/Eigentlich schade, dass du gleich deinen Oberkörper wieder bedeckst, doch es ist besser so…/
 

„Der ist echt toll“, meinte Rick, als er den weißen Pullover mit blauen Streifen auf den Ärmeln vor sich hielt. Er stand auf und streifte sich ihn drüber.
 

„Zum Glück passt er.“ Joe klopfte sich gedanklich auf die Schulter.
 

Mit einem seligen Lächeln lief Rick um das Sofa herum und blieb vor dem Größeren stehen. „Gib zu, du willst dafür noch einen Kuss.“
 

„Naja, also, ich würde nicht nein-“
 

Und schon spürte er Ricks Lippen auf seinen und genießerisch fuhr er ihm über den weißen Strick, der sich tatsächlich eng an seine Haut schmiegte.
 

„So sehr ich es bedauere“, hauchte er mitten im Kuss.
 

„Ja?“, fragte Rick, als ihre Gesichter heiß glühend ein wenig Abstand voneinander hatten.
 

„Ich werde nun gehen müssen.“
 

Schweigend nickte Rick. Er wollte Joe nicht schon wieder gehen lassen, sagte es ihm aber nicht und verharrte stattdessen stumm an Ort und Stelle.
 

Mit seiner Rechten fuhr der Blonde Rick durchs Haar. „Morgen hole ich dich wieder ab.“
 

„Schlaf gut.“ Das war das einzige, was Rick seiner Kehle entlocken konnte.
 

„Du auch“, er zog ihn noch mal an sich und küsste ihn auf die Stirn, „mein kleiner Romantiker.“
 


 

Während Rick allein auf dem Sofa lag und sich vom Fernseher berieseln ließ, schmolz er noch halb durch Joes letzte Berührungen dahin. Seine Lippen hatten sich ganz sachte auf seine Stirn gelegt gehabt, wodurch er die stärkste Gänsehaut seines bisherigen Lebens bekommen hatte. Auch jetzt noch kribbelte alles in ihm und sein Magen fühlte sich dermaßen belebt an, dass er rein gar nichts essen konnte. Wirklich gerne hätte er Joe festgehalten, so dass er nicht hätte gehen können, doch er hatte sich nicht getraut, ein solches Unternehmen auch nur annähernd durchzuziehen. Wie Joe reagiert hätte, konnte Rick lediglich erahnen.
 

/Vermutlich hätte ich ihn zu etwas gezwungen, was er nicht wollte. Meine Finger hätte ich sicher nicht mehr unter Kontrolle gehabt, wenn er über Nacht hier geblieben wäre… Vor wenigen Wochen noch haben wir des Öfteren die Nächte miteinander verlebt, doch eben als beste Freunde… Da war ich noch völlig verzweifelt ob der festen Überzeugung, dass er niemals solche Gefühle für mich hegen könnte… Und nun küsst er mich mit einer Intensität, die mir wackelige Beine beschert und ich Gefahr laufe vor lauter Emotionen verrückt zu werden…/
 

Rick schaltete das Programm um und sah nun zwei Kinder, die einen Streich ausheckten. Mit einem Eimer Wasser in der einen und einem Kübel Farbe in der anderen Hand kletterten sie gerade eine Leiter hoch. Auf dem Gesicht des Dunkelhaarigen legte sich etwas Sehnsuchtsvolles.
 

/Nur mit Müh und Not hatte deine Mom uns das mit den Käfern verziehen. Aber wir haben so einige verrückte Dinge angestellt und es war immer wieder schön, sie mit dir zusammen auszutüfteln und in die Tat umzusetzen… Da waren wir noch Kinder, die die Konsequenzen des Lebens noch nicht kannten und ihre Zeit einfach nur genossen. Nun sind wir erwachsen… zumindest sollten wir das sein…/
 

Mit dem Kopf auf einem Kissen suchte sich Rick erneut einen anderen Sender. Unzufrieden stellte er nach einer Weile den Fernseher ab und besah sich in dem spiegelnden Glas. Der weiße Strickpullover leuchtete förmlich auf dem schwarzen Hintergrund.
 

/Wird die Zukunft uns weiterhin zusammenhalten?/
 

Joe war der Mensch, der Rick am Herzen lag. Er war der Halt in seinem Leben, seine positive Aura, sein Licht. Der Dunkelhaarige hatte niemals begriffen, warum sein Freund damals mit von zu Hause fort gegangen war, weshalb er für ihn alles stehen und liegen gelassen hatte. Waren die gelegentlichen Besuche bei seiner Familie denn überhaupt genug für ihn? Immer wenn er Joe darauf angesprochen hatte, hatte er ein Lächeln geschenkt bekommen und ein lässiges Schulterzucken. ’Es genügt doch, dass ich sie in meinem Herzen trage und sie einmal im Monat sehe.’ Eigentlich hatte Joe immer etwas in dieser Richtung gesagt und jedes Mal hatte Rick noch was erwidern wollen und war nie dazu gekommen, weil der Größere es nicht zugelassen hatte. Ja, Joe war immer bei ihm gewesen, hatte ihn aus dem Sumpf des Schmerzes zurückgeholt und dafür war Rick unendlich dankbar. Konnte er sich denn nun endlich einmal für alles, was er für ihn getan hatte, revanchieren? War die Zeit gekommen, in der e-r ihm zeigen konnte, wie schön das Leben sein konnte?
 

Innig und wunderbar

und rein, nie genüge,

werde ihr gewahr,

der tiefsten Liebe.
 

/Ich möchte dich in eine Welt führen, in der ich dir zeigen kann, wie viel du mir bedeutest. Wenn du so weit bist, dann eröffnet sich mir die Möglichkeit, nicht nur ein ’Danke’ zu sagen, sondern dir deine Aufopferung in Form von Taten zurückzugeben./
 

Ein wenig verlegen biss sich Rick auf die Unterlippe und kämpfte gegen die Röte an, die sich partout auf seine Wangen legen wollte. Er liebte Joe und wollte ihm das unbedingt bald beweisen.
 

Irgendwie wollte er sich von den heißen Wogen, die durch seinen Körper strömten, ablenken. Lesen würde ihm wohl heute nicht weiterhelfen, denn meist beinhalteten Bücher zu viel Romantik und diese würde nur das Gegenteil von dem bewirken, was er beabsichtigte. Joe hatte es geschafft, dass er glühend auf seinem Sofa saß und mit feurig glänzenden Augen Szenen durchlebte, wovon die meisten gewiss nicht mehr jugendfrei waren. Heftig schüttelte er sich. Es musste doch einen Weg geben, auf andere Gedanken zu kommen! Leise lachte Rick auf, denn ganz sicher war er sich nicht, ob er dies auch tatsächlich wollte. Denn es war auf gewisse Weise wunderschön, sich den Blonden keuchend im Bett vorzustellen, wie er sich wand und nach mehr bettelte. Es barg einen heimlichen Reiz in sich, der nach mehr verlangte.

Sich räuspernd stand Rick auf und blies die Kerzen aus. Sie waren sowieso fast abgebrannt, aber so konnte er einen Teil des Abends hinter sich lassen. Eines Abends, den er niemals vergessen würde. Hingebungsvoll hob er die Arme über den Kopf und streckte sich nach allen Seiten. Sein Rücken fühlte sich völlig entspannt an, versetzte ihm keinen Stich mehr, unter dem man nur zusammenzucken konnte.
 

„Mh, was mache ich denn nun?“, fragte er sich leise.
 

Ein Blick auf die Uhr verriet, dass er noch ein Stündchen aufbleiben sollte, damit er nicht vor seinem Wecker am nächsten Morgen wach war. Er kannte das Bedürfnis seines Körpers nach Schlaf sehr gut. Mehr als sieben Stunden brauchte er einfach nicht, egal wie anstrengend oder aufregend der Tag gewesen sein mochte. Nur, wenn er zutiefst deprimiert war, konnte er ganztägig im Bett liegen und schlafen, aber das war er momentan nicht. Wie auch bei so vielen freudigen Empfindungen auf einmal. Selbstverständlich konnte alles noch besser werden, doch Rick befand, dass der Weg dorthin geebnet war. Er zog seinen neuen Pullover wieder dahin, wo er hingehörte, und hatte ihn bereits sehr lieb gewonnen. Ein Geschenk von Joe war für ihn mit das teuerste, was es auf der Welt gab. Dabei war es vollkommen gleich, was es gekostet oder ob er es auf dem Flohmarkt erstanden hatte.

Ein Bild von einem Mädchen mischte sich mit einem Mal in seine Gedanken. Unverkennbar war es eines von Amelia. Das rundliche Gesicht und der blasse Teint waren ihm nach zwei Begegnungen vertraut genug, um sie zu identifizieren. Hin- und hergerissen zwischen Joe und Einsame Seele warf Rick einen Blick in den Kühlschrank. Viel befand sich nicht mehr darin und er entnahm auch nichts von den restlichen Lebensmitteln. Er schloss die Türe wieder und betrachtete sich ein Bild, das mit einem Magneten auf ihr hing. Es zeigte ihn und seinen besten Freund, als sie etwa zwölf Jahre alt waren. Joe hatte einen Arm um ihn gelegt und sie grinsten frech in die Kamera, im Hintergrund war seine Mutter zu sehen. Das war nun neun Jahre her. Eine lange Zeit, wenn man bedachte, dass er da noch in einer intakten Familie gelebt hatte.
 

/Ob sie in den letzten Monaten jemals an mich gedacht haben? Kontakt haben sie niemals zu mir gesucht, kein Brief, kein Anruf, einfach nichts. Als ob ich niemals ihr Sohn gewesen wäre./
 

Schwer schluckte er und griff nach dem Foto, riss es grob unterm Magneten hervor und hielt es sich anschließend vors Gesicht. Sollte er ihnen dankbar sein, weil er durch sie realisiert hat, wie sehr Joe ihn mochte? Ohne jedwede Gegenleistung hatte er sich um ihn gekümmert, nie wollte er, dass der Dunkelhaarige ihm was schenkte oder sich sonstige Dankeschöns ausdachte.
 

/Immer war er genügsam und stellte mich auf höchste Priorität. Erst nach den ersten Monaten ließ er zu, dass ich ihm eine Freude machen durfte. Ich kann heute noch sein strahlendes Gesicht vor mir sehen, in das ich mich sofort verliebt hätte, wenn ich es nicht bereits gewesen wäre… Oh Joe, du bist für mich die Welt und noch erahnst du dieses Ausmaß nicht…/
 

War er denn nun insgeheim seinen Eltern dafür dankbar, dass sie ihn des Hauses verwiesen hatten? – Bestimmt nicht! Solche Schmerzen, wie er erlitten hatte, wünschte er wirklich keinem auf dieser Welt. Nicht einmal dem Jungen aus seinem Abschlussjahr, der ihn, immer wenn es ging, beschimpft hatte. Selbst sein schlimmster Widersacher hatte solche Qualen nicht verdient. Rick verbarg das tiefe Blau vor dem Foto, das er krampfhaft in der Hand hielt. Er hätte es schon gerne einfach zerrissen, weil seine Mom darauf zu sehen war, doch in erster Linie zeigte es ja Joe. Und Joe konnte er nicht einfach in kleine Stücke reißen, das war strikt unmöglich.
 

„Ein Wort von euch hätte schon gereicht…“
 

Kleine funkelnde Perlen sammelten sich unter seinen geschlossenen Lidern und er kniff deshalb seine Augen fester zusammen.
 

Er war doch darüber hinweg,… oder doch nicht?
 

Jetzt hatte er doch Joe näher bei sich, war das denn nicht genug?
 

Selbst der beste Freund vermochte es nicht, die leiblichen Eltern zu ersetzen. Neunzehn schöne Jahre konnte man nicht dauerhaft hinter sich lassen. Sie hinterließen Spuren, die nun durch die neuen gewaltigen Emotionen wieder tiefer wurden. Nichts in Rick wollte die alten Erfahrungen zurück ins Gedächtnis rufen und doch dachte er nun immer stärker an seinen Vater, mit dem er die Hütte im Garten gebaut hatte, mit dem er unterm Weihnachtsbaum Lieder gesungen hatte. All das war Jahre her und damit Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die keiner für ihn zurückholen konnte.
 

„Ich möchte nicht an sie denken!“, schrie Rick seinen Kühlschrank an und ergoss dabei kleine Tropfen salziges Nass, deren er überdrüssig war. So oft hatte er schon wegen seinen Eltern geweint und er hatte sich geschworen, dies nicht mehr zu tun. Und nun konnte er sich dennoch nicht gegen die Tränen wehren. „Lasst mich endlich in Ruhe…“, seufzte er und wurde dabei von niemandem erhört.

Kapitel 25

Kapitel 25
 

„Warum gönnt ihr mir meinen Frieden nicht?“
 

Aufgebracht hielt Rick das Foto in seinen zittrigen Händen, das unter den Tränen in seinen Augen glänzte. Er sah darauf nicht mehr Joe und sich, sondern nur noch seine Mutter, die ihn von sich weggestoßen hat wie eine Ratte, vor der sie sich ekelte. Warum alles in der Welt konnte eine Mutter dazu überhaupt fähig sein? Nur weil er auf Männer stand und nicht auf Frauen? Das ist doch kein Grund, ihn zu ächten und sich zwei lange Jahre nicht bei ihm zu melden.
 

/Warum nur…?/
 

Sein Mund öffnete und schloss sich wieder, ohne etwas von sich gegeben zu haben. Viele Fragen lagen ihm auf den Lippen, Fragen, die er schon seit Ewigkeiten seinen Eltern stellen wollte, es aber nie getan hatte. Das pure Glück, was ihn durchjagt hatte, als sich Joes Lippen auf die seinigen gelegt hatten, war die reinste Antithese zu den Gefühlen, die es aus seinem tiefsten Inneren ausgegraben hatte. Liebe und Hass lagen wahrlich sehr nah beieinander. Die Liebe zu dem blonden Geschöpf, das sein Licht verkörperte, und der Hass, den er seinen Eltern gegenüber hegte. Immer mehr Bilder tauchten in seinem Gedächtnis auf, die idyllische Szenen aus seinem vergangenen Familienleben zeigten. Bilder von Geburtstagen, von Zoobesuchen, von gemeinsamen Radtouren und von atmosphärischen Spieleabenden. Das einst sympathische Lachen seines Vaters drang wie aus dem Nichts an seine Ohren, das für ihn nun einfach nur noch verächtlich und spöttisch klang. Das Wort ’unmenschlich’ träfe es vielleicht sogar am besten. Bebend hielt sich Rick die Hände an die Ohren, wollte diesen Klang loswerden, doch er hallte ununterbrochen nach; er wollte partout nicht zum Verstummen gebracht werden. Seine Finger krallten sich krampfhaft in das dunkle Haar und er spürte plötzlich wieder das Foto, das nun zwischen Hand und Kopf eingeklemmt war. Widerwillig führte er es sich ein letztes Mal vor Augen.
 

„Du…!“, presste er erbost hervor, brachte aber kein weiteres Wort über die Lippen, biss stattdessen auf sie.
 

Er musste hier raus! An die Luft oder sonst wohin, das war ihm egal, Hauptsache weg. Achtlos schmiss er das Foto auf den Kühlschrank und flüchtete aus der Wohnung. Hinter sich riss er die Tür zu und das laute Knallen war einfach nur eine Genugtuung. Als die Nachtluft in sein Gesicht stob, begann er ziellos durch die Straßen zu rennen, die überall und nirgends zugleich hinführten. Bekannte Läden zogen ungeachtet an ihm vorüber, Menschen sahen ihm verwirrt nach, und das alles kümmerte ihn herzlich wenig. Er lief und lief und fühlte nach endlosen Minuten voller irrationaler Zufriedenheit, wie seine linke Seite wild stach. Doch anstatt stehen zu bleiben und seiner Lunge eine Auszeit zu gönnen, rannte er weiter und labte sich an dem Schmerz, den sein Körper erzeugte. Groben, ungehobelten Nadelstichen gleich sandte seine Brust Signale aus, denen er keine Beachtung schenken wollte. Physisches Leid war doch allemal leichter zu ertragen als psychischer und ja vielleicht konnte das eine das andere irgendwann übersteigen, so dass er sich nicht mehr an früher erinnern musste, weil er von den Leiden seines Körpers zu abgelenkt dafür war.

Obwohl er all seine Kraft aufwandte, wurde er irgendwann langsamer und stützte sich alsbald keuchend mit einem Arm an einer Mauer ab. Seine Lunge brannte, seine Beine schmerzten, sein Gesicht war purpurrot, doch er dachte noch immer an das Foto. Mit Sicherheit hätte er es nun doch zerrissen, wenn er es noch in den Händen gehalten hätte. Vielleicht war er insgeheim froh darüber, dass es beschützt zuhause lag, aber falls ja, dann würde er dies nicht zugeben wollen. Die Frau, die lediglich im Hintergrund zu sehen war, hatte sein Herz zerfetzt und das konnte er ihr nicht verzeihen. So sehr er immer gedacht hatte, er könne es, es ging nicht. Kraftlos sank Rick auf die Knie und landete nicht viel später auf allen vieren. Unter seinen Händen fühlte er feuchten Asphalt, dessen Kälte sich sofort unter seine Haut fraß. Kleine Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn und tropften zu Boden, glänzten dort kurz im Schein der Laternen, bis sie sich mit dem rauen Untergrund vereinigten. Rick bohrte seine Fingernägel ins harte Fundament, glaubte so, das Bild von seinen Eltern vor seinem inneren Auge zerstören zu können. Das dunkelblonde Haar seiner Mutter und der braune Bartansatz seines Vaters waren ihm einfach zuwider. Er wünschte, er hätte vergessen, wie sie zuletzt ausgesehen haben.
 

/Schert euch zum Teufel! Ihr braucht mich nicht, dann brauch ich euch auch nicht!/
 


 

Wer weiß schon, wie viel Zeit vergangen war, bis sich Rick endlich wieder aufrappelte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck voller Wehmut und Trauer. Halbherzig strich er seinen Pullover glatt, fuhr mit seinen Händen über das weiße Strick, als ob es nichts unbedeutenderes gäbe. Als er den Stoff unter seinen Fingern irgendwann wahrnahm, hielt er in seiner Bewegung inne. Er schluckte und sah dann an sich hinab. Viel konnte er in dem wenigen Licht, das die Laternen, die die Straße säumten, spendeten, nicht erkennen, aber es reichte aus, um ihn tief ausatmen zu lassen. Seine Miene wurde noch schwermütiger. Joe… Alles in ihm sehnte sich nach ihm, nach den starken Armen, die sich um ihn schlangen und ihm Geborgenheit vermittelten. Unbewusst begann Rick einen Fuß vor den anderen zu setzen. Erst nach etwa einem Dutzend Schritten realisierte er, dass er sich fortbewegte und nicht mehr an der Mauer stand, die durch das Grau der Nacht seelenlos gewirkt hatte. Die Häuser zogen als dunkle Schatten an ihm vorüber, deren Fenster, wenn sie denn einmal von innen beleuchtet waren, teuflischen Augen glichen, die nach ihm lechzten, als wollten sie ihn mit sich in die Hölle voller Feuer ziehen. Nur zu gut wusste er, wohin seine Füße ihn trugen, und er wehrte sich nicht dagegen. Er würde nicht klingeln, auch nicht klopfen, aber vielleicht würde ihm allein die unüberwindbare Tür reichen, um sich Joe nahe genug zu fühlen. Durch das Holz könnte er vielleicht seine Stimme vernehmen oder durch das Schlüsselloch seinen Duft einatmen? Nur ein kleiner Hauch seines Freundes würde ihm schon genügen, egal welchen Ursprunges. Plötzlich donnerte es und Rick fuhr total in sich zusammen. Ein heller Blitz erleuchtete kurz darauf den gesamten Himmel und sandte dann große schwere Tropfen vom Himmel. Eilig lief der Dunkelhaarige die letzten Meter und zog erleichtert die immer unverschlossene Eingangstüre hinter sich zu. Seufzend lehnte er sich für einen kleinen Moment gegen sie, bevor er sich aufmachte, die vielen Treppenstufen zu Joes Wohnung aufzusteigen. Mit jeder Stufe wurde sein Körper schwerer. Anscheinend wollte er der inneren Stimme Folge leisten, die immer wieder betonte, dass er hier nichts zu suchen hatte. Wie Blei fühlten sich seine Beine an und wehrten sich dagegen, erneut angewinkelt und wieder ausgestreckt zu werden. Viel länger als üblich brauchte er, bis er endlich vor der braunen Tür stand, die friedlich in ihren Angeln verweilte. Ein ungewöhnlich helles Licht legte sich für einen Sekundenbruchteil auf sie. Rick drehte sich nach rechts und steuerte mechanisch auf das Fenster zu, aus dem er unentwegt blickte. Draußen tobte ein zunehmender Wind, brachte die Bäume in Wallung und schob die großen schweren Wolken weiter, die immer wieder lauten Krach erzeugten als würden die Götter wütend aufstampfen. Gewitter waren wirklich etwas herrisches und damit auch etwas einzigartiges. Wie in Trance verfolgte Rick das Schauspiel der Natur und sah irgendwann hinab gen Straße, die gerade das Licht der Laternen einbüßte, es aber hundertfach vom Himmel zurückbekam. Keine Seele hatte sich mehr auf ihr verirrt, alle schienen glücklich zuhause bei ihren Familien zu sein. Verdrisslich legte sich Rick eine Hand auf die Brust und spürte den traurigen Takt seines Herzens. Mit gesenktem Kopf schlurfte er zurück zu Joes Tür und starrte sie an. Mit Tränen in den Augen wandte er sich nach einer ganzen Weile wieder von ihr ab und ging langsam die Treppen wieder hinunter. Er drückte die Klinke der Haustüre und zog sie auf. Sofort fielen ihm Regentropfen ins Gesicht und nässten ebenso seine Kleidung und den Boden des Gebäudes. Ohne weiteres Zögern trat er hinaus ins Gemisch aus Wind und Regen, aus Donner und Blitz. Mit halb geschlossenen Lidern trabte er durch die Nacht, entfernte sich immer weiter von dem Ort der Zuflucht. Eine undefinierbare Silhouette hastete an ihm vorüber und war schon halb aus seinem Blickfeld verschwunden, bis sie abrupt stehen blieb. Unsicher näherte sie sich Rick, der sich dabei überhaupt nicht behaglich fühlte.
 

/Geh weg, ich habe dir nichts getan…!/
 

Rick stolperte über seine eigenen Füße und wäre rücklings auf dem Boden gelandet, wenn ihn ein starker Arm nicht davor bewahrt hätte.
 

„Lass mich los!“, wollte Rick schreien, doch schon das erste Wort blieb ihm im Halse stecken.
 

In nicht enden wollende grüne Tiefen blickte er, die funkelten wie Diamanten. Sein Herz zog sich zusammen und er begann zu schluchzen. Alle Emotionen auf einmal wollten oberste Priorität haben und so überschlugen sich Trauer, Glück, Wut und Freude.
 

„Nicht weinen.“
 

Die Stimme war so sanft und dann legte sich auch noch eine behutsame Hand auf seine Wange. Das war zu viel. Rick konnte nicht mehr. Energisch fiel er seinem Freund um den Hals und krallte sich verzweifelt an ihm fest. Er fühlte, wie seine Umarmung erwidert wurde und vertraute Finger durch sein Haar strichen. Das ließ ihn noch mehr an dem anderen festklammern.
 

„Alles wird gut“, flüsterte Joe, traute sich nicht lauter zu sprechen aus Angst, er könne dem Kleineren damit Furcht einflößen.
 

Der Regen prasselte unaufhaltsam auf sie herab und durchdrang innerhalb kürzester Zeit die schützende Kleidung, legte sich kalt und unangenehm auf die Haut. Rick zitterte in den Armen des Größeren und verbarg sein aschfahles Gesicht in dessen Nacken. Joe spürte die heißen Tränen, wie sie an seinem Hals hinabrannen und bemerkte seine eigenen, wie sie sich in seine Augen stahlen. Sein Magen schürte sich wie von einem unsichtbaren Faden gezogen zusammen und er hielt Rick fest, vermochte ihn kein Stück von sich wegzudrücken. Was bereitete seinem kleinen Romantiker nur solchen Kummer?

Sanft fuhr er mit einer Hand unter Ricks Pullover, ertappte sich selbst erst dabei, als sich bei Rick unter das Schluchzen ein leises Stöhnen mischte. Erschrocken verharrte er und ließ seine Rechte ruhig auf der warmen Haut des Kleineren liegen, hin- und hergerissen zwischen Rückzug und Währen. Die Sekunden verstrichen und ließen ihn gnadenlos in seiner Starre verweilen. In ihm spielten die Gefühle Verstecken, eines suchte das andere und doch gab sich keines preis. Entgegen aller Erwartungen liefen ihm nun selbst kleine Perlen an den Wangen hinab. Wo er doch schon des Öfteren Rick weinen gesehen hatte, hatte er es selbst nie getan… Langsam kroch seine Hand weiter an Ricks Rücken empor und schmiegte sich voller Verlangen an die weiche Haut des anderen. Voller Überwältigung schloss er die Augen und gebot seinem Zeugnis von Anteilnahme Einhalt.
 

„Wir sollten aus dem Regen gehen“, hauchte er dem Kleineren entgegen.
 

Rick machte keine Anstalten, sich von ihm zu lösen, schlang seine Arme vielmehr noch fester um ihn, wenn dies überhaupt möglich war. Vorerst gab sich Joe geschlagen und streichelte mit seiner Rechten weiterhin unter dem weißen durchnässten Strick seinen Freund, der leise Laute von sich gab, die ihm einen wohligen Schauer bescherten. Er lehnte seinen Kopf an den des Dunkelhaarigen und sog den Duft von Shampoo und Eu de Toilette in sich auf. Immer tiefer vergrub er sein Gesicht in dem braunen Haar. Die plötzliche Schwere in seinen Armen ließ Joe auffahren.
 

„Rick?“, fragte er halb benommen, halb besorgt.
 

Keine Antwort.
 

Eilig nahm er seine Hand unter Ricks Pulli hervor, um ihn besser abstützen zu können. Mit aller Kraft hob er den Kleineren hoch und bettete ihn so vorsichtig wie möglich auf seine Arme. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte er einen Fuß von den anderen, wollte keinesfalls in Kauf nehmen, dass sein ohnmächtiger Freund herunterfiel oder er mit ihm zusammen stürzte.
 

/Du warst sicherlich bei mir, bevor wir hier zufällig aufeinander trafen. Doch ich begreife nicht, weshalb du solchen Kummer auf deinem Gesicht trägst… Veranlasst durch… mich?/
 

In Joe pochte es. Konnte er denn wirklich der Grund für den Zustand seines Freundes sein? Nein, das wollte er nicht wahrhaben. Das war unmöglich. Aber was wusste er schon, was in den wenigen Stunden alles passiert war.

Mit schmerzhaft schlagender Brust trug er Rick nach Hause und legte ihn so nass wie er war auf sein Bett. Liebevoll zog er die Decke über ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Bevor er sich von der Gestalt, die ihm den Atem raubte, abwandte, um heißes Wasser in die Badewanne einzulassen, strich er ihr noch einmal zärtlich durchs Haar.
 

Beruhigend lauschte er dem Rauschen des Wassers, wie es stetig in das Keramik floss. Er ließ eine Hand in die Wanne gleiten und fuhr sie durch das heiße Nass, genoss die Wärme, die seine Haut durchflutete. Mit der Linken griff er nach einer cremefarbenen Flasche und kippte ein wenig orangene Flüssigkeit auf den Grund des kleinen Sees, der sich mittlerweile gebildet hatte. Es dauerte nicht lange, bis sich viele kleine Seifenblasen auf der Oberfläche tummelten und in wilder Manier Türmchen bauen spielten. Der Duft von Pfirsich erfüllte alsbald das ganze Bad, roch verlockend frisch und fruchtig. Joe hätte sich gern selbst in die Wanne fallen lassen, denn auch ihn hatte der Regen durchnässt, doch er gewährte seinem besten Freund den Vortritt. Leise begab er sich zurück ins Schlafzimmer, das gleich nebenan war, und setzte sich neben Rick aufs Bett. Zögerlich beugte er sich über ihn und berührte mit seiner Nase die blasse Wange, die viel zu kalt war, um noch als gewöhnliche Temperatur durchzugehen.
 

„Rick?“
 

Der Kleinere rührte sich noch immer nicht, was Joe die aufkeimende Unruhe nicht nahm. Er schwankte zwischen dem Rufen eines Arztes und der heißen Badewanne. Da er die Zeit als knapp bemaß, hievte er sich erneut seinen Freund auf die Arme und trug ihn zur Wanne, die nun fast randvoll gefüllt war. Nach und nach ließ er Rick hineingleiten und hoffte immer stärker, dass die Wärme ihn aus dem Schlummer erwachen ließ, der sich einfach über ihn gelegt hatte. Als er endlich ein Seufzen aus dem Mund des Dunkelhaarigen vernehmen durfte, atmete er erleichtert auf. Er tauchte mit einer Hand ins Wasser, um sie wenig später über das Gesicht von Rick gleiten zu lassen. Verwirrt schauten ihn zwei dunkelblaue Augen an.
 

„Du bist bei mir“, sagte Joe gleich, um aus der Unklarheit Verständnis werden zu lassen.
 

„K-komm rein.“
 

Ricks Stimme war kaum ein Flüstern und doch jagte sie Joe einen Schauer über den Rücken. Kraftlos, und dennoch sehr bestimmend, zogen die Hände des anderen an seinem Hemd. Er schluckte, wollte das Trocken seiner Kehle besänftigen, doch es war vergebens. Krächzend entkam seinem Mund ein „Aber“, wurde aber sogleich von weichen Lippen abgewehrt. Die sanfte Berührung hielt Sekunde um Sekunde an und mit jedem Moment entschwand jedweder Widerstand in ihm. Sein Körper horchte immer weniger seinem Verstand und ehe er sich versah lag er neben Rick im Wasser. Ihre Münder umschlossen sich unablässig und er spürte eine Hand, die gewiss nicht seine eigene war, wie sie sich unter sein Hemd stahl und über seinen Bauchnabel in kreisenden Bewegungen fuhr. Atemlos wich er zurück, sah mit hochroten Wangen Rick an, dessen verlangender Blick seinen Verstand endgültig aussetzen ließ. Ungehindert ließ er zu, wie sein Hemd geöffnet wurde und wie sich Ricks Lippenpaar auf seine Brust legte. Als die Zunge seines Freundes begann, seine Brustwarze zu umspielen, entfuhr ihm ein Stöhnen, das das Entsteifen seines Körpers zur Folge hatte. Wie in Trance glitten seine Hände unter Ricks Pullover und zogen ihn rücksichtsvoll über dessen Kopf. Leidenschaftlich sahen sie sich nun an und als Joe dem Blick nicht mehr standhalten konnte, drückte er den Kleineren zurück und presste sanft seine Lippen auf dessen, spürte wie sich ihre nackten Oberkörper dabei trafen und verlor sich in dem ewig zu sein scheinenden Kuss, der ihre Berührung begleitete.

Alles um sie herum schien zu vibrieren, die Luft, das Wasser, jedes noch so kleine Molekül. Wohlig schmiegte sich die warme Flüssigkeit an ihre Körper, benetzte ihre erhitzte Haut. Feiner Dampf umspielte ihre Lippen, die den jeweils anderen begehrten, bildete einen seichten Film und mischte sich mit dem Schweiß der Erregung. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten, so voller Lust und Hingabe. Joe gab sich seinen Gefühlen hin; in ihm kreiste nur noch eine Person: Rick… er wollte jedes noch so winzige Detail von ihm in sich aufsaugen. Mit seiner Zungenspitze ertastete er ganz vorsichtig Ricks Schlüsselbein, erst das eine und nach einem genießerischen Seufzen das andere. Er fühlte die Hände des anderen, wie sie seinen Kopf ergriffen, sich in seinen Haaren verfingen und ihn ein wenig tiefer drückten. Widerstandslos leistete er dem unausgesprochenen Befehl Folge und streifte nun mit seiner Wange Ricks wohldefinierten Bauch. Die Hüfte des Kleineren hob sich für einen Moment und senkte sich im nächsten wieder, presste sich zurück an die Wanne.
 

„Ahhh…“
 

Unter dem leisen Ausruf legte sich ein Grinsen in die Mundwinkel des Größeren, mit denen er sanft über den Bauch des anderen fuhr.
 

Was tat er hier eigentlich?
 

Wie konnte er einen Mann derart berühren und dabei nichts als Wonne empfinden?
 

- Lust? -
 

- Leidenschaft? -
 

- LIEBE? -
 

… vermutlich alles in sich vereinigt…
 

… vielleicht das eine mehr als das andere…
 

… im Grunde war es doch vollkommen gleichgültig… Rick lächelte, Joe lächelte und ihre Münder fanden sich zu einem weiteren lang anwährenden Kuss.
 


 

„Klebt deine Hose auch so an dir?“
 

Eine Frage, die Joe völlig irritierte. Mitten in der Berührung Ricks Bauchnabels hielt er inne und hob seinen Kopf an, um in die blauen Augen sehen zu können, die nicht weniger glänzten als die roten Wangen unter ihnen. Mit einem Mal ließ er sich neben den Kleineren ins Wasser zurückfallen und legte einen Arm um Ricks Hüfte.
 

„Du bist süß, weißt du das?“
 

„Bin ich gar nicht.“
 

„Na und ob.“
 

„Nein.“
 

„Doch.“
 

Stumm drückte Rick seine Lippen auf Joes Wange und führte sie anschließend an sein Ohr. „DU bist süß.“
 

Joe schob ihn sachte von sich weg. „Sag’ das noch einmal und ich küsse dich nie wieder“, meinte er aber mit einem breiten Grinsen, das dennoch ein wenig Ernsthaftigkeit in sich trug.
 

„Mhh, darf ich dich dann niedlich nennen?“
 

Gleich darauf spürte der Dunkelhaarige zwei Finger, die in seine Seite knufften. „Goldig?“ Er lachte.
 

„Pass auf, was du sagst.“
 

„Entzückend?“
 

Joe wand sich auf ihn und hielt seine Hände mit seinen eigenen fest, drückte sie von innen an die Wanne. „Noch solch ein verherrlichendes Wort von dir und ich tauche dich unter.“
 

„Zauberhaft“, meinte Rick und lächelte neckisch.
 

„Du hast es nicht anders gewollt.“
 

Tatsächlich drückte er den Kleineren unter Wasser, gab ihm aber nach wenigen Sekunden schon den nötigen Sauerstoff zum Atmen, indem er seinen Mund auf Ricks legte und hinein blies. Kleine Bläschen stiegen auf, vereinigten sich auf der Wasseroberfläche, bis einzelne von ihnen zerplatzten.

Laut keuchend tauchten sie wieder auf und blieben eng umschlungen nebeneinander tatenlos liegen. Das Streicheln ihrer Hände an dem Kopf des einen oder an dem Bauch des anderen war nun die einzige Bewegung, die sie noch ausübten.
 

„Ich hoffe, du hast nicht wegen mir gelitten“, meinte Joe irgendwann mit halb geschlossenen Augen.
 

Ricks Kopf auf der Brust des Größeren drehte sich leicht hin und her. „Du bist für mich kein Grund zum Leiden.“
 

War es das, was Joe hören wollte? Wäre es ihm vielleicht doch lieber gewesen, dass er es gewesen wäre? Denn falls ja, dann hätte er alles wieder gut machen können. Doch so hatte er immer noch keine Ahnung, was Rick in Ohnmacht versetzen ließ.
 

„Magst du darüber reden?“
 

„Ich weiß nicht.“
 

Besinnlich streifte er ein paar dunkle Haarsträhnen aus dem Gesicht des Kleineren. „Wenn du es irgendwann möchtest, dann bin ich für dich da.“
 

„Das weiß ich doch“, Rick hielt inne und sah kurz in die grünen Tiefen, die ihn verträumt anblickten. „Darum wollte ich ja vorhin zu dir.“ Er bettete seinen Kopf wieder auf Joes Brust und fuhr mit seiner Hand über die feinen Muskelpartien dessen Bauches.
 

Stumm genoss Joe die weichen Finger des anderen. Er wollte Rick nicht drängen, denn er kannte ihn seit einer Ewigkeit und vermochte mit Recht zu sagen, dass er ihm bald mehr erzählen würde.
 

Draußen von beiden unbemerkt schoben sich die Gewitterwolken weiter und sandten nur noch ganz vereinzelt Regentropfen gen Boden. Ab und an grollte der Himmel in seinen letzten Zügen und erleuchtete die Stadt unter sich nur noch aus weiter Ferne. Fast alle Lichter waren erloschen, das im Badezimmer von Joe war mitunter das einzige, was noch zu dieser Stunde brannte.
 

„Meine…“
 

Rick stockte. Konnte er wirklich ’Meine Liebe zu dir’ sagen?
 

„Unser Kuss hat irgendwie die Erinnerungen an meine Eltern zurück ins Gedächtnis gerufen…“
 


 

„Deine Finger müssen sich nicht verkrampfen, denn du bist wirklich schuldlos. Ich habe mir wohl immer vorgemacht, ich sei über die ganze Situation hinweg…“
 

„D-das tut mir-“
 

„Sshhh, das muss dir nicht leid tun. Du tust doch alles für mich… wirklich alles. Wer liegt denn nun neben mir hier in der Wanne? Du! Meine Eltern haben mich… Du kennst die Geschichte ja.“
 

„Hey, spüre ich da wieder heiße Perlen auf meinem Bauch? Sieh mich mal an.“
 

Zögerlich gehorchte Rick.
 

„Wenn einer weinen muss, dann sind es deine Eltern und nicht du. Sie meiden das wertvollste Geschöpf dieser Welt und wissen nicht, was dich wirklich ausmacht.“
 

Unter Tränen schmiegte sich Rick wieder an Joe, der ihn fest drückte.
 

/Ich kann nicht mehr zusehen, wie sie dein Herz zerstören…!/
 

„Die Vergangenheit ist vergangen, daran kannst du nichts mehr ändern… Nun steht dir die Zukunft bevor und ich hoffe… mit mir.“
 

„Ist das… dein Ernst?“, hauchte Rick erstickt auf Joes Körper.
 

„Ja… ist es.“

Kapitel 26

Kapitel 26
 

„Guten Morgen, Schlafmütze“, meinte Rick, als Joe mit noch kleinen Augen neben ihm am Küchentisch Platz nahm.
 

„Mooor-gen“, gähnte der Größere.
 

„Hier probier den mal.“
 

Eine hellgrüne Tasse mit dampfendem Inhalt wurde ihm unter die Nase geschoben. Herber Duft verbreitete sich überall.
 

„Kräutertee?“
 

„Mit einer besonderen Zutat.“
 

„Ich vertraue dir einfach mal.“
 

Mit einem Grinsen beobachtete Rick, wie Joe die Tasse an seine Lippen anlegte und an ihr nippte.
 

„Ähh, das ist doch nicht etwa Pfeffer?“
 

„Doch.“
 

„Was hat denn der in Tee zu suchen?“
 

„Beschwer dich nicht, sondern trink ihn, er belebt dich, was du auch nötig hast, wenn man dich so betrachtet.“
 

„Kaum wach und schon vorlaut.“
 

„Im Gegensatz zu dir bin ich schon lange auf.“
 

„Echt?“ Das Bett hatte sich doch die ganze Zeit kuschlig angefühlt. Hatte sein kleiner Romantiker wirklich länger nicht neben ihm gelegen?
 

„Ja, warte hier schon seit einer Stunde auf dich.“
 

„Oh…“
 

Rick küsste ihn flüchtig auf die Wange. „War einsam ohne dich hier.“
 

„Warum bist du dann ohne mich aus dem Bett gekrabbelt?“
 

„Wollte deinen friedlichen Schlaf nicht stören.“
 

Einen weiteren Schluck verleibte sich Joe von dem für ihn merkwürdig schmeckenden Tee ein, von dem er aber zugeben musste, dass er seinen Körper ein wenig auf Touren brachte. Leichte Röte begann, seine Wange zu zieren, und er mied die Blicke des Kleineren.
 

„Ich… habe das heute Nacht… wirklich so gemeint.“
 

Warum schlug sein Herz schon wieder so schnell? Konnte es sich denn nicht einmal wieder beruhigen? Bei seinen Exfreundinnen war er doch auch nie so nervös gewesen, warum dann bei Rick?

Der Dunkelhaarige nahm eine von Joes Händen in seine, weil er kein einziges Wort über seine Lippen brachte. Und irgendwie wollte er bekunden, dass er sich darüber freute.
 

„Also der Tee schmeckt scheußlich.“
 

„Ähh,.. dachte ich mir schon fast, dass du ihn nicht magst. Doch er wurde mir empfohlen und selbst finde ich ihn gar nicht mal übel. Und das mit dem Pfeffer ist eben momentan Mode, was soll’s. Immerhin hast du probiert.“
 

„Kennst mich doch, dass ich alle Lebensmittel koste.“
 

„Vor allem die, die gar nicht für dich bestimmt sind“, grinste Rick.
 

„Nur geringfügig.“
 

„Weißt du noch, als du die Geburtstagstorte deiner Schwester eine Stunde vor ihrer Feier angeschnitten hast? Als sie dich mit dem Teller in der Hand gesehen hatte, hätte sie dir den Hals umgedreht, wenn eure Mutter nicht eingeschritten wäre.“
 

Lächelnd fuhr sich der Blonde durchs Haar. „Ich würd’s aber wieder tun.“
 

„Vielfraß.“
 

„Und? Hat’s mir geschadet?“
 

Auffordernd sah er Rick an, der seine Augen über den Oberkörper seines Freundes schweifen ließ.
 

„Nö, fühlte sich in der Wanne wirklich gut an.“
 

Dass seine Stimme nicht ganz so fest klang wie gewollt, überspielte er geflissentlich mit einem anzüglichen Funkeln in seinen dunkelblauen Tiefen.
 

„Seit wann bist du eigentlich dermaßen frech?“
 

„Rat mal.“
 

Joe zog eine Augenbraue nach oben und verschränkte seine Arme hinterm Kopf. „Seitdem dich Herbstregen größenwahnsinnig werden ließ?“
 

„Hä?“
 

Grinsend streckte Joe ihm die Zunge raus. „Ist noch zu früh für mich heute, da ist mir nichts besseres eingefallen.“
 

„Soll ich es dir verraten?“
 

„Tu dir keinen Zwang an.“
 

„So nicht.“ Lachend erhob sich Rick und stellte seine eigene Tasse ins Spülbecken.
 

„Dir geht’s heute zu gut.“
 

Langsam ließ Rick seine Arme von hinten um Joe gleiten, bettete seine Hände auf seiner Brust. „Seit ich dich küssen darf“, hauchte er ihm leise ins Ohr und spürte voller Befriedigung die Gänsehaut, die den Blonden befiel. „Dann verrate du mir“, flüsterte er weiter, „seit wann du so empfindlich bist.“
 

Joes Hände wanderten blind über Ricks Arme bis hin zu dem anmutigen Gesicht und legte sie auf die vom Tee gewärmten Wangen. Mit seiner Rechten klopfte er sanft auf sie. „Du schuld.“
 

„Welch ein grammatikalisch korrekter Satz.“
 

„Hey, übernimm hier nicht gleich meine Rolle. Noch habe ich die Hosen an, damit du es dir gleich in dein süßes Hirn hämmerst.“
 

„Lag die Betonung auf ’noch’?“
 

Flink wand sich Joe aus Ricks Umarmung. „Lauf!“, meinte er scherzhaft, erreichte damit aber wirklich, dass der Kleinere ein paar Schritte zurücktrat.
 

„Ich habe wohl ins Schwarze getroffen.“
 

„Mein frecher, kleiner Romantiker. Komm her, dann zeige ich dir, wer hier was ins Schwarze trifft.“
 

Da Rick regungslos vorm Kühlschrank verweilte, trat Joe auf ihn zu, legte eine Hand um sein Kinn und hob es an. Neckisch strahlten ihn die zwei blauen Augen an, was ihn in seiner nächsten Handlung nur bestärkte. Bestimmend drückte er seine Lippen auf die von Rick und küsste ihn mit einer Intensität, die Rick unter seinen Fingern erzittern ließ. „Na überzeugt?“, fragte Joe, als er von seinem Freund wieder abgelassen hatte.
 

„Das war fies…“, meinte der Kleinere leise mit abgewandtem Gesicht.
 

/… und doch das Schönste auf Erden!/
 

„Soll ich vielleicht noch ein wenig gemeiner sein?“
 

Sofort errötete Rick, sah Joe aber ein klein wenig sehnsüchtig an. Dieser kehrte ihm nur den Rücken zu und nahm Anlauf, um mit einem gekonnten Sprung auf dem Sofa zu landen. „Du bleibst in deinem heißgeliebten Küchenabschnitt und machst mir was Leckeres zu essen“, meinte er beiläufig, als er nach der Fernbedienung griff.
 

Rick hatte mit ganz anderen Worten beziehungsweise Taten gerechnet. Oder vielmehr auf sie gehofft. Zuerst krampfte sich sein Herz ein wenig zusammen, doch dann schlich sich ein sanftes Lächeln in seine Mundwinkel. Mit einem seligen Gesichtsausdruck sah er auf Joe.
 

/Danke, dass du so bist, wie du bist!/
 


 

Was war nur mit ihm los? Was war eigentlich mit ihm geschehen? Es war kaum drei Tage her, da hatte er Rick das erste Mal geküsst und nun mimte er schon seinen Freund? Also seinen ’richtigen’ Freund? Hatte ihn der Dunkelhaarige so in seinen Bann gezogen?

Gedankenverloren fuhr sich Joe durchs Haar, streifte die wenigen Haarsträhnen zurück, die ihm in der Stirn hangen. Er achtete gar nicht auf den Fernseher, der vor seinen Augen lief. Was kümmerte es ihn schon, welche sinnlose Sendung gerade lief, viel wichtiger war doch zu begreifen, was ihn dazu veranlasste, die Situation für dermaßen selbstverständlich zu halten. Allmählich fragte er sich, ob er in seinem Leben schon einmal richtig verliebt gewesen war. Da hatte es einmal ein Mädchen gegeben, das lange Zeit in seinem Herzen verweilt hatte, doch die Gefühle zu ihr waren nichts im Vergleich zu denen, die er seit vergangene Nacht spürte. Sein ganzer Körper hatte auf Rick reagiert gehabt, als dessen Fingerkuppen über seinen Bauch gestrichen hatten und genau in diesem Moment hatte er sich schweigend geschworen, den jungen Mann nie wieder loszulassen. Wie hatte er sich so etwas schwören können?
 

/Habe ich alles stehen und liegen gelassen und ihn hierher begleitet, weil…? Nein, das ist unmöglich, das geht nicht, das kann nicht wahr sein!... Doch warum habe ich dann das alles für ihn auf mich genommen?/
 

’Er ist dir schon immer wichtig’, schrie eine Stimme in ihm.
 

/Das ist er,… das ist er… Was hätte er denn ohne seine Familie getan, wenn er nicht wenigstens EINEN Freund bei sich gehabt hätte? Ich fühlte mich für ihn verantwortlich… und nun möchte ich ihn an mich ziehen, ihn küssen und-/
 

Wild schüttelte sich Joe. Schon wieder diese Gier nach dem Dunkelhaarigen! War er…
 

/… verliebt?.../
 

Irritiert schaute er über seine Schulter und betrachtete die Gestalt, deren Kopf gerade halb im Kühlschrank verschwunden war. Allein dieser Anblick ließ sein Herz schon bis zum Halse schlagen.
 

/Habe ich mich wirklich total in dich verliebt?/
 

Joe schluckte. Mit einer Hand fasste er sich an die Brust, die sich in schnellen Zügen auf- und abbewegte.
 

/Dass es mich einmal derart erwischt, daran hätte ich im Leben nie gedacht… und dann in dich, mein kleiner Romantiker… wo ich immer versucht habe, dir über die schwierige Zeit hinwegzuhelfen und dabei meine Augen nicht von Frauen lassen konnte…/
 

Mit einem Mal weiteten sich seine Augen und seine grünen Iriden funkelten wie Diamanten.
 

/Du hast dich nicht mal gegen meinen ersten Kuss gewehrt, heißt das, dass du auch in mich…?/
 

„Liebst du mich?“
 

Hatte er eben laut gesprochen? Was war nur mit ihm los? Ja er war direkt, aber in solchem Ausmaß?
 

Rick schlug mit dem Kopf an die harte Schranktür an, wovon kleine Sterne vor seinen Augen das Tanzbein schwangen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich die Beule und schluckte anschließend schwer, als er sich der Frage richtig bewusst wurde. Seine Knie fühlten sich wie Wackelpudding an und er hatte wirklich Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die Frage stand im Raum und bedarf einer Antwort. Die Liebe zwei Jahre gefühlt zu haben erschien ihm nun viel harmloser als jemals gedacht. Gefühle konnten geheim sein und vor allem unausgesprochen.
 

„Was möchtest du hören?“, erwiderte er leise und fixierte unerwartet ruhig seinen Freund.
 

/Was ich hören möchte?.../
 

Es schienen endlose Minuten zu vergehen, in denen sie sich anschauten.
 

/Dein Gesicht sieht so ausdruckslos aus… Habe ich mich etwa getäuscht?/
 

„I-ich weiß selbst nicht, was ich mir von dieser Frage versprochen habe.“
 

Joes Stimme festige sich mit jedem Wort und am Ende hatte sich seine Verwirrtheit in Ernst verwandelt.
 

„Dann bekommst du auch keine Antwort.“
 

Flink drehte sich Rick um hundertachtzig Grad, damit Joe die Enttäuschung in seinen Gesichtszügen nicht sehen konnte. Warum hatte er denn nicht ehrlich geantwortet? Warum hatte er ihm nicht sagen können, dass er ihn liebte?
 

/Deine Stimme klang so kalt. Hast du dich heute Nacht nicht gewehrt, weil du dich einsam fühltest?/
 

Allein der Gedanke ließ Joes Atem aussetzen. Nach ein paar Sekunden fing er laut an zu keuchen und holte sich in zu hastigen Zügen den zuvor verwehrten Sauerstoff zurück. Er verschluckte sich und begann zu husten, nur kurz, aber es reichte, dass seine Kehle brannte. Wortlos stand er auf und ging ein paar Schritte, stand nun direkt neben Rick, der ihn keines Blickes würdigte. Er biss die Zähne zusammen und goss sich Wasser in ein Glas, mit dem er gleich wieder vor dem Fernseher verschwand, der immer noch aller ungeachtet irgendeine Sendung über Tiefseetaucher zeigte. Innerlich wütete er vor Zorn. Zorn über ihn selbst. Wie hatte er das nur fragen können? Konnte man denn in wenig mehr als achtundvierzig Stunden sagen, dass man einen liebte? Ja, vielleicht fühlte er so, mag sein, doch selbiges konnte er doch nicht von Rick erwarten.
 

/Hast du meine Küsse nur erwidert, weil du mich als besten Freund nicht verlieren möchtest?/
 

Die Gedanken kreisten in seinem Kopf. Ständig tauchten derart unkontrollierte Fragen in ihm auf, die ihn um den Verstand bringen wollten. Wo war nur seine Selbstbeherrschung und –kontrolle geblieben?
 

Während sich Ricks Finger in dem harten Holz der Küchenplatte verkrampften, kniff er fest die Augen zu und versuchte nicht daran zu denken, dass Joe nur wenige Meter von ihm entfernt saß und ihn wohl nun verachtete. Es war doch nur eine Frage gewesen,… eine, die er mit einem überzeugten ’Ja!’ hätte beantworten können. Um Himmels Willen, warum hatte er es dann nicht gesagt? Er fühlte sich wie ein Vollidiot. Wäre es denn wirklich so schwer gewesen zu nicken oder dieses kleine bestätigende Wörtchen zu hauchen?
 

„Es tut mir leid…“
 

„Was?“ Joe fuhr herum. „…Schwamm drüber!“
 

„Aber-“
 

„Ich will kein Wort von irgendeiner Entschuldigung hören, meine Frage war leichtfertig. Vergiss sie einfach!“
 

„Aber ich-“
 

„Stop Rick!“ Hastig sprang Joe auf und stürmte auf den Dunkelhaarigen zu, presste ihm eine Hand auf den Mund. „Ich meine es ernst, vergiss es!“
 

„…“
 

„Wenn ich meine Hand jetzt wegnehme, mag ich kein Wort mehr davon hören, okay?“
 

Mit undefinierbarem Blick nickte Rick gezwungenermaßen.
 

„Ich sehe das als Versprechen an.“
 

Langsam nahm Joe den Druck vom Dunkelhaarigen, der wie irgendwie einseitig vereinbart stumm blieb.
 

„Komm wir gehen einkaufen, das, was da liegt reicht doch nie und nimmer.“
 

Kritisch beäugte Joe die liebevoll belegten Brote und griff nach einem.
 

„Das gilt als Wegzehrung. Schau nicht so verlegen, sondern zieh dir was Ordentliches an.“
 

Er zupfte an Ricks Pyjama. „Damit nehme ich dich nicht mit.“
 

Wie in einem Traum schlurfte Rick an seinem Freund vorbei und kam erst dann wieder zu klarem Verstand, als er sich im Schlafzimmer wiederfand.
 

/Ich… verstehe gar nichts mehr…/

Kapitel 27

Kapitel 27
 

Mit einem unguten Gefühl zog sich Rick um und dachte dabei unentwegt an die plötzliche Unbeschwertheit seines Freundes, die ihm einfach nicht behagte. Wie oft hatte er sie beneidet und für sich selbst ersehnt und nun war sie völlig fehl am Platz. Hatte er das letzte Nacht falsch verstanden? War Joe nur so einfühlsam gewesen, weil er sein bester Freund war?... Bester Freund… Er dachte wirklich, er durfte endlich mehr sein als nur ein bester Freund. Wut kroch in seinen Körper und ließ ihn aufstampfen. Was wollte das Leben eigentlich von ihm? Ihn erst die Menschen lieben lassen, damit sie ihm gleich darauf wieder genommen wurden? Von einem ziehenden Schmerz in der Brust begleitet sank Rick auf die Knie und verzerrte das Gesicht.
 

/Er darf mir nicht auch noch genommen werden, das würde ich nicht aushalten!/
 

„Bist du fertig?“
 

Joes Stimme drang wie aus weiter Ferne an seine Ohren und ließ den unsanften Schmerz noch mehr in ihm wallen. Keuchend erhob er sich und wandte den Kopf gen Tür.
 

„Zwei Minuten.“
 

Er musste alle negativen Gedanken abschütteln und das möglichst schnell. Joe durfte nicht merken, wie es ihm dabei erging, anscheinend nur als bester Freund angesehen zu werden. Als er den letzten Knopf seines Hemdes schloss, rang er sich bemüht ein Lächeln ab und als er in den Spiegel neben dem Kleiderschrank gegenüber des Bettes blickte, bemühte er sich darum, dieses Lächeln so ehrlich wie möglich aussehen zu lassen.
 

„Na endlich, was hast du denn da drin getrieben?“, fragte der Größere ungeduldig, als Rick aus dem Schlafzimmer trat.
 

/Sein Lächeln ist so heiter, es scheint ihn nicht zu stören, dass wir unsere Berührungen der letzten Nacht nicht fortführen… Warum nur tut mein Herz dabei so weh?/, dachte der Blonde bitter.
 

„Auf geht’s“, meinte Rick und streifte sich seine Schuhe über.
 

„Dann mal los.“
 

Joe trabte seinem Freund hinterher und zwang sich, die Lethargie, die ihn beim Anblick Ricks plötzlich wieder überfallen hatte, abzulegen. Er wollte für seinen kleinen Romantiker unbeschwert sein, damit dieser sich nicht an die schmerzhafte Vergangenheit erinnerte. Vor ein paar Stunden noch war Rick aufgrund seiner Eltern völlig aufgelöst gewesen, hatte im Regen gestanden und in seinen Armen geweint. Hatte ihn ganz fest umklammert, so als ob er der einzige Halt in seinem Leben sei.
 

/Der einzige Halt?... Verkörpere ich vielleicht wirklich den einzigen Halt für dich?/
 

Mit zusammengepressten Lippen sah Joe auf die vor ihm laufende Gestalt, die gerade in eines der vielen Schaufenster blickte. Die glücklichen Augen, wie sie den Inhalt des Schaufensters fasziniert anblickten, ließen sein Herz schneller schlagen. Rick wirkte so unschuldig, fast einem Kind gleich, das die Neuheiten der Technik voller Aufregung anstarrte in dem Wissen, es sei noch zu klein für Videospiele. Bu-bumm… Joes Brust pochte wild. Dieser unbefleckte Anblick brachte seinen gesamten Körper zum Erbeben. Wie fern gesteuert ging er die wenigen Meter, die ihn von Rick trennten, bis er neben ihm stand und wie in Trance nach einer Hand von dem reinen Wesen ergriff und sie bestimmt in seine bettete.
 

Ricks Züge entgleisten völlig, aus dem erheiterten Funkeln wurde eines der Verwirrung. Das tiefe Blau seiner Augen überzog ein feiner feuchter Film, der über alle Maßen glänzte.
 

„Ich…“, hörte er sich sagen.
 


 


 


 

„Ich liebe dich!“
 

Beide weiteten die Augen und sahen sich benommen an. Hatten sie beide eben dasselbe gesagt? Heißt das, dass ihre Liebe auf Gegenseitigkeit beruhte?
 

„Ich liebe dich“, wiederholte Joe, um sicher zu gehen, streifte dabei mit seiner freien Hand Ricks Wange.
 

„Ich liebe dich“, erwiderte Rick mit Freudentränen hinter seinen Lidern.
 

Keiner konnte ihr Glück fassen. Sie blickten sich an und waren vorerst aller Bewegungsmöglichkeiten beraubt. Ihre Blicke woben sich immer tiefer ineinander und das Funkeln beider Augenpaare war am Ende unermesslich.

Mit zittrigen Fingern fuhr der Größere seinem Freund durchs Haar und zog ihn dann zu einem innigen Kuss an sich. Mit seinen eigenen Lippen berührte er die des anderen, ließ seine Zunge die des anderen umkreisen und genoss dabei jedwede noch so kleine Berührung. Ein wenig außer Atem lösten sie sich voneinander und Joe konnte den Kleineren einfach nicht loslassen.
 

„Rick?“, fragte er auf gewisse Art und Weise abwesend.
 

„Ja?“
 

„Du musst bitte jetzt ehrlich zu mir sein: Seit wann liebst du mich?“
 

„…“
 

Ein seltsames Schweigen befiel die beiden, eine Zeit brach herein, in der Joe Rick ansah, aber dieser einen Punkt fernab von den grünen, ihn fixierenden Augen fokussierte. Betreten und ängstlich zugleich biss er sich auf die Unterlippe und unterdrückte die Tränen, die aus ihm heraussprudeln wollten, ausgelöst durch das Gefühl der innerlichen Zerrissenheit, die sein Herz plagte.
 

Er sollte ehrlich antworten.
 

Ehrlichkeit, keine Lüge.
 

Ihre Liebe war nun endlich entfacht und Rick fühlte sich aufgrund dessen ungemein glücklich. Irgendwie bezweifelte er, dass Joe ihm vergeben würde, wenn er nun gestand, dass er nicht erst seit wenigen Tagen ihm gegenüber Liebe empfand, sondern schon seit Monaten, vielmehr Jahren.
 

/Das kannst du von mir nicht verlangen!/
 

Doch die Frage war bereits ausgesprochen und nicht mehr rückgängig zu machen. Sie lag in der Luft, so schwer wie ein Felsblock, der sich partout nicht rücken lassen wollte.
 

„Mami, schau mal, die zwei Männer umarmen sich!“
 

Der Ausruf eines kleinen Jungen riss Rick aus seiner Starre und er blickte den Jungen an, der mit dem Finger auf sie deutete. Seine Mutter war sehr bemüht, nicht rot zu werden und ihren Sohn weiterzuschieben.
 

„Das gehört sich nicht, Jonas.“
 

Die Stimme der Frau war zu kalt für eine Mutter und doch waren ihre Bewegungen so liebevoll, dass man sie als sympathisch titulieren konnte.
 

„Achte nicht auf die beiden, denn du schuldest mir eine Antwort. Bevor ich nicht einen Laut von dir gehört habe, lasse ich dich nicht los und da könnte eine ganze Armee hier auftauchen, die mit dem Finger auf uns zeigt.“
 

Unwillkürlich musste Rick grinsen und er sah Joe an, der aber nicht mal das kleinste Lächeln in seinen Mundwinkeln barg. Die eher steinerne Miene vertrieb sofort wieder das Zeugnis von Amüsement aus dem Gesicht des Kleineren. Er schluckte schwer und wandte seinen Blick erneut vom blonden jungen Mann ab. Noch immer wusste er nicht recht, was er antworten sollte. Die Wahrheit war meist der beste Weg, doch auch in diesem Fall? Irgendetwas ließ ihn verzagen, wollte ihn von seiner Ehrlichkeit abbringen. Wollte er Joe nicht verletzen, weil er ihn monatelang angelogen hatte und ihm das jetzt nicht einfach ins Gesicht sagen konnte? Dabei war er doch derjenige, der gelitten hatte und nicht Joe…
 

/Er liebt mich… ich kann ihm vertrauen… Auf was warte ich noch?/
 

„Entschuldige Joe…“, setzte der Dunkelhaarige an und brachte es nicht fertig, ihm dabei in die Augen zu sehen. „Ich… liebe… dich… seit…“
 

Was würde Joe hören wollen? Ahnte er etwas?
 

„Ja?“, entfuhr es dem Größeren barsch.
 

„Willst du das wirklich wissen?“, schrie Rick nun beinahe und besah sich in dem spiegelnden Glas des Schaufensters, schaute in sein eigenes wütendes und zugleich verzweifeltes Gesicht.
 

„Ja Rick!“
 

„Seit meinem Outing! Bist du nun zufrieden?“
 

Ricks Stimme überschlug sich fast und als sich seine Worte endlich in der Weite verloren, wand er sich unsanft aus Joes Umklammerung. Viele Leute hatten sich nach ihnen umgedreht, tuschelten miteinander, gingen dann aber nach ein paar Minuten wieder weiter, als die beiden jungen Schauobjekte keine Regung mehr zeigten. Wie angewurzelt standen sie da. Ricks Brustkorb hob und senkte sich in einem schnellen Rhythmus und Joe glich einfach nur einem starren Mast. Unbekannte Stimmen drangen an ihre Ohren, doch die Dinge, um die es in den Gesprächen der Fremden ging, waren für sie belanglos, Nichtigkeiten gleich, die keine Beachtung verdient hatten.

Mit einem Mal stürzte sich Joe auf seinen Freund und erdrückte ihn beinahe, so fest schlang er seine Arme um ihn.
 

„Das heißt, du musstest wegen mir die ganze Zeit leiden!?“
 

Rick stockte der Atem, eine derartige Reaktion hatte er sich niemals ausgemalt. Wie auch, wenn man bedenkt, wie schwer es ist, Gefühle zu unterdrücken. Da glaubt man nicht daran, dass der andere auf das Geständnis hin in solch einer Form handeln könnte.
 

„Wie soll ich sagen…“, begann Rick. Indem er sein Gesicht tief in Joes Kleidung verbarg und die Augen fest zusammenkniff, suchte er verzweifelt nach den richtigen Worten. Nach einiger Zeit hob er seinen Kopf an. „Dich kann man nichts als lieben.“
 

„Ich ahnte nie etwas…“, hauchte Joe in Ricks Nacken. „Warum hast du mir nie etwas gesagt?“
 

„Weil du kein Interesse an Männern hast?“, erwiderte Rick und erschrak dabei über den Sarkasmus, der in seiner Stimme mitschwang.
 

„Hattest würde wohl eher zutreffen… Warum habe ich das nie erkannt?“
 

Die Frage galt wohl eher ihm selbst als Rick. Er machte sich Vorwürfe, denn wenn er eines nicht leiden konnte, dann war es, Rick unglücklich zu sehen. Und sein kleiner Romantiker schien wohl wegen ihm einiges durchgemacht zu haben, wovon er niemals den Hauch einer Ahnung gehabt hatte. Nun drückte er den Dunkelhaarigen noch fester an sich.
 

„Wie kann ich das wieder gut machen?“
 

„Was? Dass meine Liebe unerwidert war? Das hast du doch schon längst wieder gut gemacht.“
 

Irritiert legte Joe seine Hände an Ricks Hüften und brachte wieder ein wenig Abstand zwischen ihm und sich. Mit verständnislosem Ausdruck sah er ihn an.
 

„Wie denn?“
 

Rick lächelte und legte seine Linke auf Joes Gesicht. „Allein deine Nähe macht alles wieder wett.“
 

„Du bist zu gut für diese Welt“, kam tonlos über Joes Lippen, die sich dann auf die von Rick legten.
 

Der wievielte Kuss war das eigentlich? Keiner von beiden konnte es mehr sagen und beiden war das völlig egal. Die Wärme des anderen fühlte sich einfach zu gut an, als sich über solche Bagatellen den Kopf zu zerbrechen.
 

„Weg hier! So was dulde ich vor meinem Laden nicht, ihr verscheucht mir alle Kunden!“
 

Perplex sahen Rick und Joe auf einen Mann, der mit einem Besen in der Hand in der Ladentüre stand und dessen Gesicht vor Wut gänzlich verzerrt war.
 

„Schert euch zum Teufel, ihr perversen Flegel!“
 

„Wir wollten eh gehen“, erwiderte Joe ganz ruhig und warf seinem Freund einen vielsagenden Blick zu. „Oder Rick?“
 

„Ja, denn solche Ignoranz ist uns einfach zuwider.“
 

„Wenn ich einen von euch zwischen die Finger bekomme, dann kann er was erleben!“, zeterte der grauhaarige Mann und stürmte auf sie zu.
 

„Komm!“, meinte Joe und zog Rick hinter sich her.
 

Ihr Vorteil war, dass sie um einiges jünger waren und somit ihre Flucht ohne Schwierigkeiten gesichert war.
 

„Hast du sein Gesicht gesehen?“, fragte er den Dunkelhaarigen mit einem frechen Grinsen.
 

„Wir haben ihn ganz schön verärgert.“
 

„Na und? Können wir was dafür, dass er mit uns nicht klarkommt?“
 

„Joe?“ Rick klammerte sich an Joes Arm fest. „Du bist wundervoll.“
 

„Ich?“
 

„Ja du.“
 

„Solche Worte habe ich gar nicht verdient.“
 

„Und ob!“ Mit strahlenden Augen sah er den Größeren an. „Denn du bekennst dich zu mir.“
 

Diese Worte aus Ricks Mund ließen Joes Herz hüpfen. Hatte er jemals ein solches Kompliment bekommen, insbesondere eines, das an Ernsthaftigkeit nicht zu übertreffen war?
 

„Danke, mein kleiner Romantiker, das bedeutet mir sehr viel.“
 

„Da seid ihr ja!“, fauchte es hinter ihnen.
 

„Was? Der ist uns bis hierher gefolgt?“, meinte der Blonde wirklich verblüfft. „Der hat vielleicht eine Ausdauer.“
 

„Joe, komm’ schon, mit dem ist nicht zu spaßen.“
 

„Mit dem werde ich schon fertig.“
 

„Du magst dir doch deine Hände nicht mit Intoleranz beschmutzen?“
 

„Mhh, nein nicht unbedingt. Okay, gehen wir.“
 

Kurz bevor der ältliche Mann sie erreichen konnte, liefen sie erneut davon und bogen wenig später in eine Seitenstraße ein, die um einiges weniger belebt war.
 

„Da rein“, meinte Joe und zog Rick mit sich in einen kleinen Supermarkt.
 

In dem Laden waren um einiges mehr Menschen als erwartet und die Regale reichten fast bis zur Decke.
 

„Warst du hier schon einmal?“ Joe drehte sich im Kreis.
 

„Nein, nicht das ich wüsste.“
 

„Sieht sehr verlockend aus“, strahlte der blonde junge Mann und schnappte sich einen Einkaufskorb vom Stapel zu seiner Linken. Mit einem „Bau den voll!“ streckte er ihn Rick entgegen, der zu lachen begann.
 

„Muss ich wohl wieder mal meiner Rolle gerecht werden?“
 

„Selbstverständlich, mein werter Herr Magenfüller.“
 

„Dann sollten wir mal keine Zeit verschwenden, wenn ich den Trubel hier so betrachte.“
 

„Zuerst brauchen wir Fleisch“, meinte der Größere und steuerte zielgerecht die Tiefkühltruhen an. Sein Orientierungssinn war erstaunlich gut, vor allem, wenn man bedachte, dass er zuvor noch nie in diesem Supermarkt gewesen war.
 

Als der Korb in Ricks Arm fast überlief, beugte sich Joe verdächtlich nahe an Ricks Ohr.
 

„Bin gleich wieder da“, hauchte er.
 

Blasse Röte zierte Ricks Wangen, während er seinen Freund hinter dem nächsten Regal verschwinden sah.
 

/Mein süßer Vielfraß/, dachte er zufrieden mit sich und der Welt.
 

„Was erblicken meine Augen?“
 

Rick erstarrte…
 

Mit trockener Kehle sah er einen Arm vor seinen Augen, wie er sich an dem Regal neben ihm abstützte. Wenig später spürte er warmen Atem in seinem Nacken.
 

„JOE?“, wollte Rick rufen, doch seine Stimme war wie durch eine unsichtbare Hand genommen kaum noch da, was nur ein ersticktes Krächzen zur Folge hatte.
 

„Na na, wer möchte hier um Hilfe rufen. Wir wurden schon einmal gestört, das lass ich kein zweites Mal zu.“
 

Die raue, tiefe Stimme brannte sich wie eine Stichflamme in Ricks Herz. Er hatte diesen widerlichen Kerl schon einmal in sich gespürt, er konnte und wollte keine Wiederholung zulassen. Vor allem nicht jetzt, wo er endlich Joe bei sich haben durfte.
 

/Beweg dich Rick, beweg dich!/
 

Tatsächlich schaffte er es, wieder Gewalt über seinen Körper zu bekommen und ein paar Schritte von dem Mann wegzulaufen, der ihn amüsiert anblickte, aber nach dem nächsten Wimpernschlag Rick schon am Arm gepackt hatte.
 

„Wie ein kleines Rehkitz, das vor lauter Angst das Weite sucht. Und nun wirst du meines sein!“
 

„Das werde ich nicht!“, erwiderte Rick gepresst und suchte verzweifelt seine Stimme. „Joe?“, wisperte er.
 

„Mhh, du möchtest mir doch nicht damit sagen, dass du deinen Körper einem anderen zur Verfügung stellst.“
 

„Dir gewiss nicht“, würgte er hervor und blickte den Schwarzhaarigen angeekelt an.
 

/Joe, wo steckst du nur?/
 

Voller Antipathie spürte er lange Finger, die sich um seine Hüfte legten und die ihn alsbald an den fremden Körper drückten. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von dem des Mannes entfernt, der ihn lüstern betrachtete. Mit beiden Händen zu Fäusten geballt begann Rick um sich zu schlagen und traf sein Gegenüber hart am Mund, aus dem gleich darauf ein feines Rinnsal Blut herablief.
 

„Nicht schlecht, aber das macht dich noch reizvoller. Ein willenloses Kitz wäre keine angemessene Beute.“
 

Rick wand sich vergebens, er kam nicht frei. So sehr er auch um sich trat, es gab keinen Weg aus den Fängen dieses Mannes, der ihm kräftemäßig weit überlegen war.
 

„Lass mich los!“
 

„Du knurrst ja schon wie ein Kätzchen.“
 

Der Fremde überwand kalt lächelnd die letzten Zentimeter zu Ricks Mund und zwang ihm einen Kuss auf, der einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken des Kleineren jagte. Ricks Augen drückten den ganzen Schmerz aus, den er dabei empfand und seine Lider waren weit aufgerissen.
 

/Neeeeeinnnnn! Joe sieh nicht hin!/
 

Aus dem Augenwinkel konnte Rick seinen Freund sehen, der ihn fassungslos anblickte.
 


 

Mit einem lauten Knall landete die Dose, die Joe eben noch in der Hand gehalten hatte, auf dem Boden, zerprang dabei in zwei Hälften und kam scheppernd nach ein paar Sekunden zum Erliegen. Bestürzt sah er Rick, wie er von einem anderen Mann geküsst wurde. Doch nicht nur diese intime Berührung bohrte ihm eine metaphorische Stange in die Brust, sondern auch das entsetzte Gesicht seines Freundes. Allmählich wandelte sich seine Fassungslosigkeit in Wut und er stürzte sich auf den Kerl, der es wagte, sich an der reinsten Seele, die er kannte, zu vergehen. Mit beiden Händen bekam er den Mann am Hals zu fassen und drückte aller Sinne beraubt so fest zu wie er konnte.
 

„Nimm deine dreckigen Hände von Rick!“, schrie Joe.
 

Keuchend löste sich der Fremde von Rick und schubste ihn von sich weg, so dass der Dunkelhaarige aufs Regal knallte und zu Boden fiel. Wütend drehte er sich im Kreis und schleuderte Joe an die Wand, der hinter Rick auf dem harten Untergrund aufprallte.
 

„Joe?“, fragte Rick besorgt und kroch langsam auf seinen Freund zu, dessen Kleidung sich nach und nach rot tränkte.
 

„Geht schon“, stieß Joe aus und richtete sich mit zusammengekniffenen Augen wieder auf.
 

„Auf bald Rehkitz!“, flüsterte der Schwarzhaarige Rick entgegen und funkelte Joe verächtlich an.
 

„Das wirst du mir büßen!“
 

Abermals hastete Joe übermütig auf den Unbekannten zu, der geschickt auswich und seinen Ellbogen dem Blonden in die Magengrube hieb, worunter dieser aufstöhnte und zu Boden sackte.
 

„Was ist hier los?“ Der Ladenbesitzer erschien, an dem der Fremde mit einem steinernen Lächeln im Gesicht vorbeilief. „Halt!“
 

Unsanft wurde der Kaufmann am Kragen gepackt. „Die sind für alles verantwortlich“, schnaubte er ihn an und deutete auf die beiden Freunde. Anschließend ließ er ihn wieder los und verschwand ungehindert aus dem Supermarkt.
 

„Joe, sag was!“ Rick beugte sich voller Sorge über seinen Freund und hielt sein Gesicht zwischen seinen Händen. „Komm’ zu dir, bitte!“
 

Zuerst blinzelte Joe, dann schlug er die Augen auf. Das erste, was er sah, waren dunkelblaue Tiefen, die kleine Perlen in sich trugen. „Lass’ mich los!“, sagte er mit Zorn bedeckter Stimme.
 

„Aber?“
 

„Heul’ nicht!“
 

Grob riss er Rick mit hoch, als er sich selbst aufrappelte. Er drückte dem Ladenbesitzer ein paar Scheine in die Hand und zog einen völlig aufgelösten Rick hinter sich her.
 

/Wie?... Was war…?/
 

In dem Dunkelhaarigen kreisten zusammenhanglose Worte, die einem vollkommenen Chaos glichen, in das man keine Ordnung zu bringen vermochte. Verunsichert tasteten seine Finger ziellos seine Lippen ab, die wie Feuer brannten. Sie schienen nicht ihm selbst zu gehören und doch waren sie der Auslöser für die höllischen Qualen in seinem Inneren. Prompt tauchte das markante Gesicht des Fremden vor seinen Augen auf, durchsichtig, aber für ihn überaus real. Sein Körper erbebte aufgrund des Schocks, den er erfahren hatte. Undeutlich machte er eine Gestalt aus, die seine Hand festhielt und daran zog. Zu wem gehörte die Silhouette, die sich vor dem grauen Hintergrund abhob? Ricks Kehle schnürte sich zu und er begann noch heftiger zu zittern.
 

/Lass mich-/
 

„Los!!!“
 

Sein Schrei klang verzweifelt und er sackte gleich darauf in sich zusammen, prallte hart mit den Knien auf dem Boden auf und knallte durch den Zug an seinem Arm längs auf dem Untergrund auf. Hörte er eine Stimme? – Wenn ja, dann musste sie einem Engel gehören…
 


 

/Seit einer Stunde möchtest du nicht zu mir zurückkehren, dein Gesicht ist so bleich und ich vermag dir nicht zu helfen… Verdammt, wer war dieser Kerl!!!/
 

Zärtlich strich Joe eine Strähne aus Ricks Stirn und hauchte anschließend einen Kuss auf eben diese. Mit seinem Körper versuchte er seinem Freund die Wärme zurückzugeben, die ihm abhanden gekommen war. Als er Rick in sein Bett gelegt hatte, hatte er die eisige Kälte gespürt, die von ihm ausging.
 

/Du fühlst dich schon wesentlich wärmer an und doch schlägst du die Augen nicht auf./
 

Vorsichtig verlagerte er sein Gewicht, so dass der zerbrechlich wirkenden Gestalt unter ihm der Blutfluss nicht genommen wurde. Sein nackter Oberkörper streifte dabei den von Rick, was ihn halb verrückt werden ließ.
 

/Du hast gesagt, dass du mich liebst, also kehr endlich zu mir zurück!! Verdammt, wie konnte der sich nur an dir vergreifen…!?/
 

Trotz aller Sorgen und Ängste loderte ein weiteres Gefühl in Joe. Er konnte es nicht verdrängen, zumal es immer stärker wurde. Fast schon unermessliche Wut wütete in ihm, Wut gegenüber dem blauäugigen jungen Mann, auf dem er gerade lag. Verbissen betrachtete er das liebliche Gesicht, hin- und hergerissen zwischen Liebe und Zorn.
 

/Ich dachte, dass du mir vertraust!/
 

Kleine silbrige Tropfen sammelten sich in seinen Augen und seine Stirn legte sich in Falten. Es war das zweite Mal innerhalb kürzester Zeit, wo er den Tränen nahe war, eine Eigenschaft, die er nie wirklich gekannt hatte. Selbst bei den schlimmsten Verletzungen in seiner Kindheit hatte er nie geweint, nicht einmal, als er sich das Bein gebrochen hatte, obwohl das damals in der Tat sehr weh getan hatte. Nie hatte er dieses salzige Nass vergossen, ob durch physischen oder psychischen Schmerz bedingt. Und nun war es innerhalb von vierundzwanzig Stunden das zweite Mal so weit. Mit einer Hand zu einer leicht geformten Faust schlug er aufs Kopfkissen, nahe neben Ricks Kopf. Er wollte nicht heulen! Und doch wehrte sich sein Körper nicht gegen die Reaktion von Trauer und Empörung. Die funkelnden Perlen sammelten sich in den Winkeln und liefen alsbald über die heißen Wangen, auf denen sie bereits halb trockneten. Leidend sah er hinunter auf Rick, der immer noch keine Regung zeigte. Lang konnte er den Anblick nicht mehr ertragen, so dass er sein Gesicht in den Nacken seines Freundes bettete.
 

/Komme endlich wieder zu dir…/
 


 

„Wer hat gesagt, dass ich dich lieben würde?“
 

Spöttisch grinste Rick Joe an, der im wehenden Wind auf der weiten Wiese nahe ihres Baumes stand. Das Hemd des Größeren flatterte wild und hätte damit seinen Gefühlszustand ohne weiteres repräsentieren können.
 

„Aber das warst du, erinnerst du dich nicht mehr?“
 

Seine Stimme trug mehr als nur ein wenig Niedergeschlagenheit in sich. Wie konnte sein kleiner Romantiker ihn nur mit so viel Geringschätzung ansehen? In dessen Blick war nichts weiter als Verachtung und Abscheu zu erkennen. Es war, als ob er nach ihm mit Füßen treten würde, auch wenn es nur Worte waren, die ihn schändeten.
 

„Wir haben uns geküsst, das kannst du nicht vergessen haben!“
 

„Ha, ich? Nicht mal, wenn ich dazu gezwungen werden würde, würde ich dich derart berühren.“
 

Kraftlos ging Joe auf Rick zu, der abwehrend eine Hand ausstreckte.
 

„Komme mir nicht zu nah, sonst spürst du meine Faust.“
 

Was war hier nur los? Seit wann war der Dunkelhaarige gemein und drohte ihm sogar? Schwere Wolken schoben sich vor die Sonne und legten die Welt um sie herum in tiefe Schatten. Lautes hämisches Gelächter ging von Rick aus und drang dumpf an die Ohren des Größeren.
 

„Wage noch einen Schritt und dann gnade dir Gott!“
 

Er konnte nicht anders als einen Fuß vor den anderen zu setzen und berührte den Arm des Kleineren benommen mit seiner Hand, die sogleich schmerzhaft gepackt und zu vielen Splittern zerquetscht wurde.
 


 

Schweißgebadet schlug Joe die Augen auf und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, unter denen sein Kopf höllisch weh tat. Er spürte eine Regung unter sich und sah verstört in sanfte Seelen, deren Blau der pure Reiz war.
 

„Was ist passiert?“
 

Ricks Frage lastete auch in Joes Verstand. Was war geschehen?

Kapitel 28

Kapitel 28
 

Die Luft fühlte sich schwer und lastend an, stand wie eine Mauer, die nicht überschritten werden wollte. Wie in Trance erhob sich Joe, gab den jungen Mann unter sich nach endlosen Stunden oder Minuten wieder preis, und schritt zum Fenster, um dieses zu öffnen. Ein frischer Wind stob ihm sogleich entgegen und legte sich wohltuend auf die warme Haut, die durch den kurz zuvor erlebten Traum, wohl eher Alptraum, erhitzt worden war.
 

’Nicht mal, wenn ich dazu gezwungen werden würde, würde ich dich derart berühren.’
 

Es waren nur Worte und doch von solch einem verletzenden Charakter, dass sie Joe selbst im Wachzustand fürchterlich fand. Rick hatte sie nie real von sich gegeben, sie nie in den Mund genommen und doch fühlte Joe diese Worte richtiggehend auf seinem Körper, als ob sie in seine Haut graviert worden wären. Groben, schwarzen Linien gleich, die sich nicht entfernen ließen, selbst wenn man es wie verrückt versuchen würde. Wie in Zeitlupe drehte er sich in Richtung seines Freundes und trug dabei einen bitterlichen Ausdruck in den Augen.
 

’Komme mir nicht zu nah, sonst spürst du meine Faust’
 

Noch solch ein irremachender Satz. Steif ging der Blonde auf Rick zu und sah ihn ernst an. Nach wenigen Sekunden schon senkte er den Blick und horchte auf das stetige Klopfen seines Herzens.
 

„Du kanntest den Mann, habe ich Recht?“
 

Seine Frage war eher rhetorischer Natur und doch schien er eine Antwort zu wollen. Fest kniff er seine Augen zusammen und konzentrierte sich auf das leise Atmen von Rick. Das schwache Hauchen war irgendwie beruhigend, wenn auch nicht tröstlich genug, um über die Enttäuschung hinwegsehen zu können, die ihn tief getroffen hatte, als er die Szene zwischen Rick und diesem Fremden erblickt hatte.
 

Rick indes hätte sich am liebsten unter der Decke verkrochen, noch zu real war für ihn der ungewollte Kuss von dem Schwarzhaarigen, den er aus seinem Gedächtnis verbannt gehabt hatte. Leider waren Erinnerungen nicht gänzlich auslöschbar und kehrten immer dann zurück, wenn man sie am wenigsten gebrauchen konnte. Endlich hatte er zu seinen Gefühlen stehen können und an eine positive Wendung in seinem Leben geglaubt. Wieso passierten immer dann schreckliche Dinge, wenn man nach langer Zeit endlich einmal wieder hätte glücklich werden können? Der fahle Geschmack in seinem Mund war einfach jedwedes Glücksgefühls beraubt; der Empfindungen, die der Dunkelhaarige ersehnt hatte. Ja, er hatte dies bereits einmal durchlebt und war dank Amelia darüber hinweggekommen. Zumindest hatte er die erste Begegnung erfolgreich verdrängen können, so dass er Joe nie davon in Kenntnis gesetzt hatte.
 

„Leider“, erwiderte er bedrückt.
 

Er hoffte sehr, dass Joe nicht weiter nachhaken und das Thema auf sich beruhen lassen würde. Zu schrecklich war die ganze Situation bereits jetzt und er wollte nicht noch mehr Schmerzen erfahren. Sein kleines Herz hat doch schon so viel mitgemacht, ist es denn nicht irgendwann genug?
 

„Und das nennst du Vertrauen?“
 

Joes Stimme war nicht einmal vorwurfsvoll, hörte sich vielmehr betrübt an, ja traurig. Rick hob den Blick an und betrachtete seinen Freund, der mit geschlossenen Augen vor dem Bett stand und sich nicht regte. Seine Arme lagen verschränkt vor seiner Brust, die sich kaum merklich hob und senkte. Fast leblos wirkte die Gestalt neben ihm, was ihn zusätzlich bekümmerte.
 

„Ich hatte ihn aus meinem Gedächtnis gelöscht“, meinte Rick verdrossen, wollte es nicht wie eine Verteidigung klingen lassen, doch es kam wohl bei Joe so an, denn er krallte auf einmal seine Finger in die Oberarme.
 

/Nicht doch!/, schrie es in Rick, der eine Hand nach seinem Freund ausstreckte, sie aber, bevor er ihn berühren konnte, wieder auf die Bettdecke sinken ließ.
 

„Ich glaubte einmal, dass du keine Geheimnisse vor mir hättest.“
 

Betreten zupfte der Dunkelhaarige an der Decke und wandte sein Gesicht ab, sein Blick wurde sowieso nicht erwidert. Er wollte Joe küssen, um ihm zu zeigen, dass er ihn doch liebte und ihm nie etwas Böses wollte, tat es aber nicht. Und nun wurde ihm verdeutlicht, dass er den blonden jungen Mann verärgert hat. Hat denn nicht jeder irgendein Geheimnis? Hat man denn nicht einfach mal zu viel Angst, mit jemandem darüber zu reden?
 

„Einmal habe ich dir von ihm erzählt“, meinte Rick nach einer ganzen Weile der Stille.
 

Joe sagte nichts, vergrub sich stattdessen weiterhin hinter geschlossene Lider.
 

„Das ist der Mann, der mich damals im Café verwirrte… Joe, bitte, ignoriere mich nicht länger auf die Art, denn das tut-“
 

„Weh? Wolltest du das sagen?“
 

Plötzlich hatte der Größere seine Starre aufgegeben und funkelte Rick nun wütend an.
 

„Weißt du, wie es ist, von anderen als dir selbst zu erfahren, dass du schwul bist? Hast du eine Ahnung, wie es ist, herauszufinden, dass du mich seit Jahren liebst, ohne mir ein Sterbenswörtchen davon jemals gesagt zu haben? Ich scheine dich überaus verletzt zu haben, weil ich das nie gewusst hatte! Immerzu schwärmte und redete ich von Mädchen, traf mich mit ihnen, und du? Du bliebst in deiner Wohnung und hast mir wohl jede meiner Verabredungen insgeheim missgönnt!“
 

„Joe, nein, ich…“
 

Zu mehr Worten kam der Kleinere nicht, denn Joe drückte ihn zurück aufs Kissen und stemmte seine Hände zu beiden Seiten seines Kopfes auf den Stoff, kam mit seinem Gesicht gefährlich nahe. Zu sehr fühlte sich Rick an die Situation mit dem Kerl mit der rauen Stimme erinnert und sein Körper erzitterte gegen seinen Willen. Er wollte keine Ablehnung gegenüber Joe zeigen und doch wehrte sich alles in ihm gegen diese unmittelbare Nähe.
 

„Hat er dich schon einmal geküsst?“, fragte der Blonde todernst und durchbohrte Rick mit seinem Blick.
 

Der Dunkelhaarige schluckte, wollte dem Blick des anderen ausweichen, doch brachte es nicht fertig, entweder seine Lider zu schließen oder woanders hinzusehen. Er erkannte Enttäuschung, Wut, Trauer und noch vieles mehr in den grünen Seen, die sich vor ihm auftaten und ihn zu verschlingen drohten. Wie klein er sich doch in diesem Moment vorkam. So hilflos und unnütz. Nicht einmal eine Person auf dieser Welt vermochte er glücklich zu machen. Er wollte ihm keine Floskeln erwidern wie ’Es tut mir leid’ oder ’Entschuldige’, obwohl er sie wirklich so gemeint hätte. Worte schienen viel zu banal zu sein und doch waren sie das einzige Mittel, was ihm zur Verfügung stand. Erneut war er versucht, Joe zu berühren, mit einer Hand über seine Wange zu fahren, ihm seine Zuneigung zu bekunden, aber der direkte Körperkontakt behagte ihm immer noch nicht.
 

„Wie konnte ich nur so dumm sein…“, setzte Joe an und wartete damit nicht länger auf eine Antwort, denn die konnte sich Rick sparen, zu genau kannte er ihn, so dass er wusste, dass ein ’Ja’ folgen würde. Mit gepressten Lippen visierte er seinen Freund noch ein paar Sekunden an, bevor er sich wieder aufrichtete.
 

/Gehe nicht!... Verdammt noch mal, bleibe bei mir…/
 

Seufzend packte Joe eine Jacke und ging zum Fenster, das immer noch offen stand. Er griff langsam nach der Klinke und drückte die Glasscheibe von hellem Holz umrahmt zu. Nach einem letzten Blick hinaus gen Himmel lief er in Richtung Tür und schlüpfte alsbald durch sie hindurch. Er verließ seine eigene Wohnung, in der Rick allein zurückblieb.
 

Regungslos lag Rick da und versuchte zu verarbeiten, was ihm sein Freund an den Kopf geworfen hatte. Joes Stimme war nicht nur wütend gewesen, sondern hatte noch etwas sehr Entscheidendes in sich getragen: tiefe Enttäuschung. Selbst jetzt noch klangen die Laute nach und hallten von allen Seiten her wider. Die Wände wollten ihm nicht verzeihen und echoten unablässig Silbe für Silbe, beendeten das Leid nicht, das ihm damit zugefügt wurde. Ein Erdbeben hätte doch die Mauern zum Einsturz bringen können oder nicht?

Weder konnte der Dunkelhaarige die Augen schließen noch war er mit offenen Lidern vor den schrecklichen Bildern gefeit, die wohl nicht vorhatten, sich in nächster Zeit in Luft aufzulösen. Resigniert entkrampfte er seine Finger und ließ das Laken los, das bereits kleine dunkle Flecken aufwies von dem Schweiß, der über seine Haut rann. Obwohl sich sein Herz eiskalt anfühlte, produzierte sein Körper eine Wärme, die fast schon fiebrigen Stößen glich. Eigentlich war es einfach nur grotesk und doch schaffte es Rick nicht, seinen Adrenalinausstoß zu regulieren. Kleine Perlen bahnten sich ihren Weg empor ans Licht durch die feinen Poren der Epidermis und bildeten schließlich einen feuchten Film, der seiner Aufgabe als Kühlungsfunktion völlig entsagte. Rick glaubte, die gesamte Oberfläche seines Körpers würde brennen und benötige schon einen ganzen Lastzug voller Wasser, um gelöscht zu werden. Trotz dessen vermochte er nicht aufzustehen, um sich eine kalte Dusche zu genehmigen, zu ohnmächtig war er ob der Fähigkeit, über seine Motorik zu herrschen.

Kurze, intensive Atemstöße sandte er gen Decke, die sie gewiss nicht absorbierte. Alles um ihn herum verschwamm zunehmend und nur noch das Bild von dem Mann mit den schwarzen Haaren und dem markanten Gesicht blieb über, auf das Rick gerne verzichtet hätte. Die finsteren, kalten Augen stachen aus der vollkommen abschreckenden Szene heraus und wollten den Dunkelhaarigen förmlich durchlöchern. Wie gern wäre Rick ein Sieb gewesen, der die guten Erlebnisse von den schlechten filtern konnte und nur noch die positiven Seiten im Leben für die Zukunft bewahrte. Aber kein Mensch hatte diese Fähigkeit inne, niemand konnte alles Böse einfach auslöschen und auf das Paket ins Nichts ’Auf nimmer Wiedersehen’ schreiben. Es war schier unmöglich, sich aller Grausamkeiten, die einem widerfahren waren, zu entledigen.

Die fremden, oder vielleicht mittlerweile vertrauten (?), Lippenpaare wollten den letzten ihn in bedenklicher Sicherheit wiegenden Abstand überwinden und sich erneut auf seine pressen. Selbst wenn dies nur einer Halluzination gleichgekommen wäre, konnte Rick das nicht über sich ergehen lassen. Hastig sprang er aus dem Bett und lief ziellos hin und her. Der weiche Teppich schmiegte sich bei jedem Schritt wohlig an seine Füße, wurde aber nicht wissentlich von dem aufgebrachten Wesen auf ihm wahrgenommen. Alles in Rick drehte sich. Er konnte und wollte nicht zulassen, dass er das abtörnendste und ekelerregendste Erlebnis für ihn überhaupt noch einmal durchleben musste. Nie wieder wollte er solch abstoßende Lippen auf den seinigen spüren!
 

/Nie wieder!/
 

Dieser widerwärtige Kerl hatte ihm nichts als Qualen bereitet und war selbst jetzt noch dabei, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Fast spürte Rick bereits die Flammen, die ihn umzingelten und nicht mehr gehen lassen wollten. Ja er gehörte in die Hölle! Er hatte Joe, seinen geliebten Joe, enttäuscht… Das war eine Sünde, keine kleine, nein, sondern die schwerste aller schweren. Sein geliebter Joe irrte womöglich nun draußen in der Kälte herum und hasste ihn vielleicht.

Als Rick an das Wort ’Hass’ dachte, überfiel ihn ein Schauer, der sein Herz stocken ließ. Was war, wenn der Blonde ihn nun wirklich dafür hasste, dass er dieses unabkömmliche Erlebnis verschwiegen hatte?

Wild schüttelte er sich. Allein das zu glauben, war schon unverzeihlich. Joe hatte so viel für ihn getan, so viele Stunden für ihn geopfert, er war sein bester Freund. Eine solch tiefe Freundschaft, die sie beide miteinander verband, konnte doch eine Lüge, wenn sie denn eine für den blonden jungen Mann war, aushalten. Oder etwa nicht? Er musste sich schleunigst etwas einfallen lassen, um eine Vergebung seitens Joes erbeten zu können. Unentwegt schoss Rick durch die Wohnung seines Freundes und hielt sich die Finger seiner Rechten an die Stirn. Es musste doch irgendetwas geben, was Joe besänftigen würde. Verdammt, irgendetwas!
 

Dass er nun nur noch darüber nachdachte, wie er alles bei seinem Freund wieder gut machen konnte und dabei das markante Gesicht und die kalten Lippen einer bestimmten Person völlig vergaß, hätte er als Glück bezeichnen können, wenn er es denn gemerkt hätte. Viel zu sehr war er darauf versteift, eine zündende Idee in seinem wirren Hirn zu erhaschen, als dass er realisieren konnte, dass er auf dem besten Wege war, das an dem Nachmittag Erlebte erfolgreich zu verdrängen. Weiterhin hing die ungewollte Berührung wie eine dunkle Wolke über ihm, legte sein Gesicht in Schatten, das war unabdingbar, aber seine Gedanken kreisten nun nur noch um Joe. Joe, seiner großen Liebe, die er irgendwann wieder zärtlich in den Armen halten und küssen wollte.
 


 

Träge hing Rick auf einem Stuhl und nahm das kleine technische Gerät, das vor ihm auf dem Tisch lag, nicht aus den Augen. Wie viele Nachrichten hatte er Joe bereits zukommen lassen? Fünf? Zehn? Hundert? Es waren jedenfalls sehr, sehr viele gewesen und auf keine einzige hatte der Blonde reagiert. Seit fast zwanzig Stunden war Joe bereits verschwunden und hatte nichts von sich hören lassen. Rick war immer noch in seiner Wohnung und hatte felsenfest daran geglaubt gehabt, dass sein Freund irgendwann in diese zurückkehrte; doch vergebens. Nicht mal einen Fuß hatte er in sie gesetzt. Kein noch so winziges Detail von ihm war hier wieder aufgetaucht. Mürbe stupste Rick sein Handy an, das partout nicht klingeln wollte. Allein die Übertragungsberichte hatten piepsend den Raum mit Leben gefüllt, unter den Lauten war aber nie eine erhoffte Meldung gewesen. Tränen wollten sich in die ausdruckslosen Augen von Rick mischen, wollten das Blau mit einem feinen Glanz überziehen, aber der Dunkelhaarige verzog den Mund und hieb kraftlos mit einer Faust auf den Tisch.
 

„Jetzt weine ich nicht und basta!“, seufzte er entschlossen und resigniert zugleich vor sich hin.
 

Wie er es auch immer bewerkstelligte, seine Augen blieben tatsächlich trocken und entsagten dem Funkeln, das die kleinen Perlen mit sich gebracht hätten. Anstatt sich dem Zeugnis der Trauer, die ihn gebrechlich machte, hinzugeben, biss er sich auf die Unterlippe, um überhaupt mal wieder seinen Körper zu spüren. Wie die ganze Zeit schon wandte er partout den Blick nicht von dem kleinen schwarzen Gerät ab. Wer weiß, vielleicht fängt es ja doch irgendwann an, sich zu bewegen und wenig später einen Ton von sich zu geben?
 

Minute für Minute verstrich, in der der Raum sein Schweigen nicht brach. Nichts als das leise Summen des Kühlschranks war zu vernehmen. Rick hatte sich in die Küche geflüchtet, um wenigstens etwas in seiner Nähe zu haben, das ihn vielleicht einmal im Entferntesten aufbauen könnte. Bis jetzt hatten es weder die Herdplatten noch anderes Küchenequipment getan, aber solange eine Chance bestand, würde er dort nicht weichen. Gerne hätte er etwas gekocht, den wohligen Duft von köchelndem Gemüse und angebratenem Fleisch gerochen, aber für was sollte er Essen zubereiten, wenn keiner da war, der heimlich stiebitzte und dann mit einem kecken Lächeln und einem treuen Blick die Nascherei wieder wettmachte?

Wie sehr Rick das ein wenig kantige und zugleich zuckerweiche Gesicht Joes doch fehlte. Bisher kam es nicht zu ihm zurück und das schmerzte gewaltig in seiner Brust. Müde stöhnte er und fuhr sich durchs dunkle Haar, erinnerte sich an Joes Hand, die das sonst so gerne tat. Was würde er dafür geben, ein weiteres Mal die Hand seines Freundes durch seine Haare wuscheln zu spüren…

Eigentlich müsste er an diesem Tag mit strahlenden Augen durch die Gegend rennen, die Arme in der Luft herumschwingen und auf der Stelle auf und ab hüpfen. Normalerweise müsste er die Welt vor Glück umarmen und das Leben hoch in den Himmel preisen. Nichts von alle dem lag ihm auf dem Gemüt. Da hatte ihm Joe seine Liebe gestanden und er saß niedergeschlagen auf seinem Stuhl und hasste sich bald selbst. Ihm war weder nach Lachen noch nach kitschigem Im-siebten-Himmel-Schweben.
 

Ich liebe dich.
 

Das hatte er gesagt.
 

Und nun war er weg und Rick wusste nicht, wann er wieder käme. Wenigstens musste er nicht arbeiten, da er von Joe am Vortag krank gemeldet worden war. Es blieben ihm also noch achtundvierzig Stunden, um in der Wohnung seines Freundes vor sich hin zu siechen und auf die Rückkehr des blonden Jünglings zu hoffen. Allmählich war er aber das tatenlose Herumsitzen leid, er wollte irgendwas tun, entweder um sich abzulenken oder seinen Geliebten zurückzuholen.
 

/Wo magst du nur stecken? Bist du etwa zu deinen Eltern geflüchtet?/
 

Mit einem lauten Seufzer streckte er sich nach seinem Handy und öffnete sogleich seine Kontaktliste. Da stand ’Yera’ samt Telefonnummer und Rick zögerte, auf ’Wählen’ zu drücken. Lange sah er Joes Nachnamen an und überlegte sich, was er der Mutter von ihm, die todsicher ans Telefon gehen würde, sagen könnte. Irgendwann rang er sich dazu durch, die entsprechende Taste zu drücken und hörte alsbald das Tuten. Nicht mal drei Mal ertönte es, bevor sich eine hohe Frauenstimme meldete.
 

„Yera.“
 

„Hallo Veronica, hier ist Rick.“ Obwohl er sie schon seit einer halben Ewigkeit duzen durfte, kam es ihm gerade ein wenig komisch vor, denn er hatte bestimmt seit einem Jahr nicht mehr mit ihr Kontakt gehabt. Er hatte des Öfteren von ihr eine Einladung über Joe erhalten, doch er war nie mit seinem Freund mit zurück in seinen Heimatort gefahren. Schließlich hatte er nicht gewollt, seinen eigenen Eltern zufällig über den Weg zu laufen.
 

„Hallo, mein Junge. Das ist ja schön, mal wieder deine Stimme hören zu dürfen. Ich hoffe, dir geht es gut, ja?“
 

Gut???
 

/Schlecht, miserabel, jämmerlich!/
 

„Ja, danke der Nachfrage. Und selbst?“
 

„Unsere Rebecca ist vor drei Wochen ausgezogen und wir sind gerade am Renovieren, aber trotz all der Arbeit, die wir auch unter anderem wegen dem Umzug hatten, können wir uns bester Gesundheit erfreuen und das ist für uns das Wichtigste.“
 

Ein leichtes Lächeln schlich sich auf die Lippen des Dunkelhaarigen; es tat wahrlich gut, mit einer lieben Person zu reden. Er mochte Joes Mutter schon von Beginn an. Sie war ein guter Mensch und ihre ehrliche Freude über seinen Anruf nahm ihm ein wenig die Schwere vom Körper.
 

„Dann wünsche ich euch weiterhin Wohlaufsein. Der Grund, warum ich anrufe, ist folgender.“ Kurz stockte er, fuhr aber dann sogleich fort, um Veronica keine Chance zu geben, ihn entweder zuzureden, wie sie es ab und an gern tat, oder ihn nach seinen eigenen Eltern zu fragen. „Ich würde gerne wissen, ob Joe bei euch ist.“
 

In der Leitung war es still. Nur noch leises Rauschen, kaum hörbar, war zu vernehmen.
 

„Nein, er hat sich erst für den ersten Adventssonntag angekündigt“, drang dann doch die Stimme von Joes Mutter an Ricks Ohren, „und der lässt ja noch ein wenig auf sich warten. Tut mir leid, ich musste eben kurz nachdenken, wann er kommt.“
 

Irgendwie beruhigte der letzte Satz Rick, denn er hatte beinahe vermutet, Joe würde im Hintergrund mit Zeichensprache seiner Mutter deutlich machen, dass sie ihn anlügen solle. Doch der Dunkelhaarige war sich sicher, dass sie das gerade nicht getan hatte.
 

„Rick, mein Junge, wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Ich möchte dich zwar nicht nötigen, aber begleite meinen Sohn doch dieses Mal. Jeff würde sich sicher auch über einen Besuch von dir freuen.“
 

„Danke für die Einladung, ich überleg’s mir, okay?“ Er konnte ihr keine Zusage erteilen, denn, wenn er dann doch nicht mitkommen würde, würde sie ihm das auf ewig übel nehmen.
 

„Ach, warum hast du eigentlich gefragt, ob Joe hier sei?“
 

Zum Glück hatte er sich überlegt, was er auf diese Frage antworten würde, wenn sie ihm denn gestellt würde. „Ich stehe gerade vor seiner Wohnung, wollte ihn überraschen, doch auf mein Klingeln reagierte keiner. Er wird sicher bald auftauchen.“ So lässig wie möglich versuchte er zu klingen und hoffte inständig, Mrs. Yera würde ihm diese kleine Notlüge abnehmen.
 

„Ja, da mache dir mal keine Gedanken. Dir würde er allemal Bescheid geben, wenn er vorhat wegzufahren.“
 

Wenn sie wüsste…
 

„War wirklich nett, mit dir zu reden, doch ich habe hier frische Lebensmittel und die benötigen einen Kühlschrank. Und ja versprochen, ich überleg es mir“, fügte er noch schnell an, da er genau wusste, dass sie ihn sonst noch einmal darauf angesprochen hätte.
 

„Passe auf dich auf und grüß mir Joe, wenn du ihn wieder siehst.“
 

„Mache ich, tschüs.“
 

„Auf bald.“
 

Es klickte und um Rick kehrte die nagende Stille zurück.
 

WO STECKTE JOE?

Kapitel 29

Kapitel 29
 

Noch ein ganzer Tag verrann, an dem sich Joe nicht bei Rick meldete. Es waren bestimmt weit mehr als zwanzig Nachrichten bei ihm eingegangen, auf die er sich allesamt nicht rührte. Einsam lag Rick in dem großen Bett seines Freundes und wünschte sich den blonden jungen Mann sehnlichst zurück an seine Seite. Wie seine Lippen schmeckten, konnte sich der Dunkelhaarige nur noch vage vorstellen. Es war eindeutig an der Zeit, dass er sie erneut auf seinen spüren durfte. Die Ruhe um ihn herum stimmte ihn ganz melancholisch, die Stille trug wesentlich dazu bei, dass er sich tiefer ins Kissen kuschelte und dieses umarmte statt den Körper seines Freundes, der ihm lieber gewesen wäre. Wie sehr er ihm fehlte war eindeutig: unendlich! Er fühlte sich nicht nur allein, sondern irgendwie unvollständig. Ein wichtiger Teil seines Lebens galt für ihn als vermisst und egal, welche Bemühungen er unternommen hatte, er war nicht aufzufinden.
 

/Ich hab’ dich so lieb, komm’ doch zu mir zurück…/
 

Leise seufzte er ins Kissen und bekam seinen eigenen warmen Atem ab, als er zwischen seinem Mund und dem Stoff entwich. Mehr als ihn per Handy anzufunken vermochte er nicht zu tun, auch wenn es eigentlich zu wenig war, doch er war einfach ratlos, was er anderes unternehmen könnte. Selbst seine Mutter hatte keine Ahnung, wo ihr Sohn steckte, eher hatte sie geglaubt, Rick müsse es wissen, aber er wusste es nicht. Verdammt, er kannte Joes Aufenthaltsort nicht!
 

„Wo bist du?“, klagte er leise, wurde einzig von Joes Schlafzimmer erhört, das sich nicht darum scherte, wie es ihm erging.
 

Draußen fiel heftiger Regen und prasselte stetig auf die Regenrinne, die unter dem immer stärker werdenden Gewicht des Wassers im Wind ächzte. Das Haus, in dem Joes Wohnung lag, war erst kürzlich grundsaniert worden, doch das Dach hatte nicht die Restauration erhalten, das es nötig gehabt hätte. Glücklicherweise gab es noch ein Stockwerk über der Wohnung des Blonden, so dass Rick vor einer etwaigen Überraschung gefeit war. Es war bereits einmal vorgekommen, dass der Regen durch die Dachziegel drang und trotz dessen wurden wieder einmal die Gelder zurückgehalten, ganz nach dem Motto, dass die Mieter doch zusehen sollten, wie sie ihr Mobiliar trocken hielten.
 

Lautes Geklapper ließ den Dunkelhaarigen hochfahren. Verwirrt blickte er um sich und versuchte, das unbekannte Geräusch zu orten. Es schien von über ihm zu stammen, also lehnte er sich enttäuscht wieder zurück. Wäre auch zu schön gewesen, wenn das Joe gewesen wäre, der endlich heimgekehrt war.

Resigniert schloss er die Augen, verbarg das tiefe Blau, das einst vollkommen erstrahlte und fiel alsbald in einen traumlosen Schlaf.

Es war früher Nachmittag und Rick flüchtete vor der Realität. Friedlich lag er in Joes Bett und weilte dort fast regungslos. Nur ein sachtes Auf und Ab seiner Brust brachte die Decke in leichte Bewegung. Nach etwa einer Stunde blinzelte er und wünschte sich sofort zurück in den Schlaf, der allemal besser war als einsam zu wachen. Tief sog er den Geruch ein, der ihn umgab. Alles duftete nach dem Größeren, was seine Unlust, den Tag doch noch sinnvoll anzugehen, bestärkte.
 

Eine kleine Stimme in seinem Ohr ließ seine Augen weiten.
 

„Das hat er nicht!“, gab Rick Widerbatt.
 

Nie und nimmer glaubte er daran, dass Joe zu Julia gegangen war. Warum sollte er auch; und dennoch breitete sich in seinem Magen Unwohlsein aus. Mit gerunzelter Stirn schob er die Decke von sich und stand wenig später am geschlossenen Fenster, sah hinaus auf die schweren Wolken, die sich über der Stadt festzubeißen schienen. Große Tropfen fielen dumpf auf die Fensterbank und zerplatzten sofort beim Aufprall.
 

Er entschied sich dafür, sich zu vergewissern, ob ihn sein Gefühl betrog oder nicht. Obwohl er nach dem gefassten Entschluss sofort hinaus stürmen wollte, bewegte er sich langsam und nahm erst einmal eine heiße Dusche. Mit geschlossenen Lidern genoss er das sanfte Rasseln des Wassers, das sich vor dem Abguss zusammen mit dem schäumenden Duschgel sammelte. Wohliger Duft von Tiaré-Blume verbreitete sich im Bad und hüllte ihn in ein tropisches Aroma. Er liebte es, sich in den Gerüchen, die das Duschen gewöhnlich mit sich brachte, zu wiegen und verharrte ein paar Minütchen länger als nötig unter dem Hahn, der stetig das erquickliche Nass auf ihn herab sandte. Anschließend trocknete er sich mit dem größten Badetuch ab, das er finden konnte. Bald sein gesamter Körper konnte darin verborgen werden, was er natürlich ausprobierte. Mit einem kleinen Tuch wischte er den Beschlag vom Spiegel und sah hinein. Ihm gefiel nicht, was er erblickte, so dass er sich gleich wieder von seinem Spiegelbild abwandte und… Da gab es ein Problem. Er hatte ja gar keine frische Kleidung mehr hier. Dann musste eben Joes Kleiderschrank herhalten! Barfüßig schlich er ins Schlafzimmer zurück. Warum er sich wie ein Dieb fortbewegte, konnte er nicht beantworten, doch irgendwie kam er sich wie eine Elster vor, die nach etwas Glänzendem spähte. Nur dass der Glanz nun die Gewissheit war, sich bald ein Teil von Joe überzustreifen. Um sich blickend, was eigentlich vollkommen irrational war, tapste er leise in den Schlafraum und öffnete so geräuschlos wie möglich erst die rechte, dann die linke Schranktüre. Ein Meer von Hemden, Pullovern, Hosen und Jacken fiel ihm beinahe entgegen. Der ordentlichste Mensch war Joe nicht und das sah Rick nun ganz deutlich vor sich. Aber es grämte ihn nicht, ganz im Gegenteil, es rief ein kleines Schmunzeln auf seine Lippen. Die erste fröhliche Regung seit mehr als zweiundsiebzig Stunden. Lächelnd besah er sich das Chaos und mit beiden Händen wühlte er alsbald wohl bedacht darin herum. Ein schwarzer Wollpullover hatte es ihm irgendwie angetan und er zog erst ein T-Shirt an, bevor er sich jenen überstreifte. Kritisch beäugte er seine nackten Beine und zog letztenendes seine eigene Jeans vor, da er für Joes zu klein war, auch wenn es reizvoll gewesen wäre, eine anzuprobieren, aber für so dreist befand er sich dann doch nicht.

Neu gestylt warf er einen kurzen Blick in den Schrankspiegel und nickte sich selbst zu.
 

„Auf geht’s“, meinte er und schloss die Kleiderschranktüren wieder.
 


 

Da Rick absolut keine Ahnung hatte, wie Julia mit Nachnamen hieß, geschweige denn, wo sie wohnte, trabte er mit einem dunkelblauen Regenschirm in Richtung des kleinen Italieners, wo das Mädchen arbeitete. Vielleicht hatte er ja Glück und sie hatte gerade Schicht. Und wenn nicht, konnte er sich ja immer noch dort nach ihrer Adresse erkundigen. Wenn er einen verzweifelten Blick und ein aufrichtiges Flehen simulieren würde, würde der Chef schon mit Straße und Hausnummer rausrücken; hoffte er, auch wenn er dazu kein gekonntes Schauspiel brauchen würde.

Mit einem suchenden Blick betrat er das Restaurant und als er sogleich die rothaarige Kellnerin erblickte, begann mit einem Mal sein Herz wie wild zu pochen. Zielstrebig ging er auf sie zu und gleich als sie ihn bemerkte, wandte sie ihm den Rücken zu und verzog sich erst hinter den Tresen und verschwand dann hinter einer Schwingtüre. Verdutzt stand Rick da und sah das Holz, wie es noch leicht hin und her schwang.
 

„Hier entlang bitte“, meinte eine tiefe Stimme neben ihm.
 

Beinahe hätte er ein ’Hä?’ erwidert, konnte sich aber der Schmach noch gerade so erwehren. Stattdessen würgte er ein „Bitte?“ hervor, weshalb ihn der hagere Mann mit gerunzelter Stirn anblickte.
 

„Erwarten Sie wohl noch jemanden? Also ein Tisch für zwei oder gar drei?“
 

„Nein, ich bin allein.“ Wie sehr das letzte Wort doch schmerzte…
 

„Folgen Sie mir bitte.“
 

Rick leistete keinen Widerstand, er wusste sowieso nichts mit sich anzustellen und nach mitten im Weg Herumstehen war ihm auch nicht. Mit einem „Danke“ ließ er sich an einem kleinen runden Tisch in der, wie es ihm schien, hintersten Ecke des Italieners nieder und spielte sogleich mit der Karte, die vor ihm lag, drehte sie wild im Kreis, wobei er gar nicht auf sie achtete, sondern immer nur die Schwingtüre im Visier hatte, durch die Julia ja irgendwann wieder treten musste. Minuten vergingen, in denen der Kellner von eben zweimal bei ihm aufkreuzte und erfragte, was er denn trinken wolle. Beim dritten Mal erbarmte sich Rick dann doch und bestellte ein Wasser. Als ihm dieses gebracht wurde, winkte er den recht kleinen Mann nahe an sein Gesicht.
 

„Wäre es möglich, Julia zu mir zu schicken?“
 

Der Ober blickte sich um und sah ihn dann verwundert an. Vermutlich fragte er sich, wo sie geblieben war. „Ich denke schon“, erwiderte er und nickte Rick freundlich zu.
 

/Wäre doch gelacht, wenn ich sie nicht dazu bringen würde, mit mir zu reden./ Irgendwie schlich sich plötzlich ein unbändiger Tatendrang in Ricks Gemütszustand und seine Augen begannen feurig zu funkeln. Das Blau glitzerte wie ein Meer, das die Sonne reflektierte.

/Komm’ her, dann werde ich die Informationen nur so aus dir herausquetschen!/

Leise begann er zu lachen ob seiner eigenen Gedanken. Er war an sich harmlos wie eine Fliege und könnte nie einem Menschen Furcht einjagen, und dass er dermaßen barsch dachte, amüsierte ihn. Vielleicht konnte er ja doch irgendwann einmal ein Mann werden, der von allen respektiert und angehimmelt wurde.
 

„Was willst du?“, fragte eine Frauenstimme hart.
 

„Bitte setz’ dich kurz“, bat Rick und deutete mit einer Hand auf den freien Stuhl ihm gegenüber.
 

Widerwillig leistete sie folge, aber ihre ganze Körperhaltung verriet, wie unangenehm ihr das war. Ihre Mimik verhieß nichts Gutes und der Dunkelhaarige blickte sie betont freundlich an.
 

„Wie geht’s dir?“
 

„Ach, rede hier nicht um den heißen Brei, Rick. Es interessiert dich doch sowieso nicht ernsthaft, was ich tue oder lasse, geschweige denn, wie es mir geht. Joe hat mich nur wegen dir verlassen und das werde ich dir nie verzeihen!“
 

Als sie aufstehen wollte, legte er eine Hand auf ihren Unterarm. „Warte bitte. Hast du Joe in den letzten zwei Tagen mal gesehen?“
 

„Ha, kaum ein Paar und schon läuft dir der Geliebte davon?“
 

Hatte sich Rick nicht eben ausgemalt, wie er Julia derart anfahren und einschüchtern würde? Und nun war er es, der klein auf seinem Stuhl saß. Der Sarkasmus hatte ihn tief getroffen, denn irgendwie hatten ihre Worte einen wahren Charakter.
 

„Also, hast du?“, presste er gequält hervor.
 

„Nein, habe ich nicht. Nun lasse mich endlich zufrieden!“
 

Verärgert rückte sie ihren Stuhl zurück und erhob sich. „Und lass’ dich hier nie wieder blicken!“, fügte sie zischend hinzu und ging ihrer Arbeit wieder nach.
 

„Was hätte er auch von dir wollen können!“ Ob seiner lauten Stimme erschrak Rick und realisierte erst, als es zu spät war, was er hinter Julia hergerufen hatte. War er denn nun total übermütig oder so verzweifelt, dass er seine gute Erziehung völlig vergaß? Schnaubend kehrte die Kellnerin zurück, griff nach dem noch unberührten Wasserglas und kippte es Rick über den Kopf. Ein paar Gäste lachten, andere tuschelten eifrig und nahmen ihre Blicke nicht von der Szene, die sich direkt vor ihren Augen darbot.
 

„Mrs. Henry! Das ist ein Gast!“, rief eine zornige Stimme hinter ihr.
 

Mit nassen Haaren stand der Dunkelhaarige auf und ging geradewegs an Julia vorbei, die ihn immer noch wütend anfunkelte, auf den Inhaber des Restaurants zu.
 

„Das war meine eigene Schuld, nehmen sie ihr das nicht übel.“ Er legte einen Geldschein auf den Tresen und verließ den kleinen Italiener ohne sich noch einmal umzudrehen oder was zu sagen.
 

Aufgrund der ganzen Aufregung hatte er den Schirm drinnen stehen gelassen und lief nun ungeschützt durch den dichten Regen. Noch einmal würde er keinen Fuß in das Restaurant setzen, vor allem jetzt nicht, wo er die, wie er fand, berechtigte Wut der Kellnerin zu spüren bekommen und sich selbst unbeherrscht reden gehört hatte. Sie hatte Recht, er hatte ihr Joe ausgespannt, wenn man das so sagen konnte, aber weder war er gerade glücklich darüber noch war der blonde junge Mann anwesend, um ihm durch eine Umarmung den Kummer zu nehmen, der schwer auf seinem Herzen lastete.
 

Patschnass betrat er Joes Wohnung und hinterließ eine dunkle Spur hinter sich, während er ins Bad schlurfte. Er war nicht gewillt, zu sich nach Hause zu gehen und daher war er wieder hierher zurückgekommen. Betrübt pellte er sich aus der triefenden Kleidung und ließ sie achtlos auf die weißen Fließen gleiten. Splitterfasernackt sah er in den Spiegel zu seiner Linken und sah dabei mehr oder minder durch seine eigene Silhouette hindurch. Mit einer Hand fuhr er sich durchs Haar und seufzte. Den Blick von sich abwendend beugte er sich nach vorne und drehte den Wasserhahn der Badewanne an. Sofort schoss klares Wasser aus ihm heraus, das sich nicht viel später dampfend in der Wanne sammelte. Um die vielen kleinen Seifenblasen zu erzeugen, die er so gerne hatte, versetzte er es mit einem grünlichen Mittel, das herrlich nach Orange und Apfel roch. Als sich genug Schaum gebildet hatte, tauchte er erst einen Fuß, dann den anderen ins heiße Nass, das sich gierig um seine Haut legte. Die Stellen, die es berührte, begannen leicht zu kribbeln und während er immer mehr Details seines Körpers dem Wasser preisgab, wuchs das Prickeln und war am Ende so enorm, dass er für einen Moment alles um sich herum vergaß und sich allein dem physischen Befinden hingab.

Rötliche Stellen zeichneten sich auf seiner Haut ab und selbst seine Wangen leuchteten voller Inbrunst. Wenn man sich ihn so betrachtete, sah er wirklich kerngesund aus, aber sein Äußeres stellte einen krassen Gegensatz zu seinem Inneren dar. Er wollte vergessen… Vergessen, dass er alles zunichte gemacht hatte… Vergessen, dass er die Schuld an allem trug… Vergessen, dass Joe wegen ihm… gegangen war.
 

Vergiss der Liebe Schmerz,

verweilt in deiner Brust.

Horch’, die traur’ge Terz

spielt des Liedes Frust.

Vergiss die Taten,

vergiss die Worte,

vergiss den Ursprung

all der Seelenmorde.

Verdräng’ das Leid

und den Kummer gar,

Heil ist die Zeit,

wie immer dar.
 

Mit geschlossenen Lidern atmete Rick stetig und flach, wog das Wasser im sachten Rhythmus zur traurigen Sinfonie seines Herzens. Feiner Nebel umgab sein Gesicht, das darunter glänzte und das tiefe Blau vor all der Trübsal verbarg. Wenn er wirklich einfach nur vergessen könnte…
 

Eine geschlagene Stunde lang blieb er regungslos im Wasser liegen. Als er allmählich zu frieren begann, schlug er die Augen auf und blickte in ein Gemisch aus Nebel und weißen Fließen. Er atmete tief aus und stand auf.

Rasch griff er nach dem überdimensional großen Handtuch, das zwar vom Nachmittag noch ein wenig klamm war, aber er kuschelte sich dennoch hinein. Bald jede Facette seines Körpers, bis auf die Füße und das Gesicht waren nun in roten Stoff gehüllt. Bald einer Mumie gleich trottete er ins Schlafzimmer, denn er brauchte abermals frische Kleidung. Der Abend war bereits fortgeschritten und überdeckte den Raum mit dunklen Schatten. Langsam tastete sich Rick bis zum Schrank vor. Ihm war gerade nicht nach elektrisch erzeugtem Licht zumute. Wenn er etwas anhatte, egal was, würde er sich ein paar Kerzen suchen, doch nun musste es ausnahmsweise ohne Glühbirnen gehen, die manchmal lästig auf ihn wirkten. Mit einem leisen Knarren öffnete er die Schranktür und griff sofort überlegt hinein, schließlich wusste er noch, wo was in etwa liegen musste.
 

„Wer ist da?“, ertönte es schlaftrunken, aber streng hinter ihm.
 

Vor Schreck wirbelte Rick herum und stieß dabei mit dem Ellbogen am harten Holz an.
 

„Au, verflucht!“, stöhnte er auf und sah sich alsbald in einem Licht wieder, das von der bläulich leuchtenden Nachttischlampe ausging, die rechts neben dem Bett hing.
 

Starre Sekunden sahen sich die beiden Personen einander an ohne den kleinsten Laut von sich zu geben.
 

„Deine Freude mich wiederzusehen, muss ja gigantisch sein, wenn du dafür alle Hüllen fallen lässt“, meinte Joe irgendwann neckisch und verkniff sich ein breites Grinsen dabei in keinster Weise.
 

Verworren blickte Rick an sich herab und sah das Handtuch zu seinen Füßen liegen. Augenblicklich schoss ihm das Blut in die Wangen und zierte sie mit einem kräftigen Rot. Er griff nach dem Stoff und hielt es sich provisorisch vor den Körper, selbst wenn er dies nicht mehr nötig hatte.
 

„Seit wann bist du wieder hier?“, fragte der Dunkelhaarige mit einem Anflug von Hast.
 

„Halbe Stunde würde ich sagen und ich muss gestehen, ich wusste nicht einmal, dass du auch hier bist.“
 

Joes Lässigkeit bewirkte, dass sich Rick noch mehr verhaspelte. Er fühlte sich ihm irgendwie ausgeliefert, was ihm gar nicht behagte. Dabei wusste er nicht einmal warum. Aber die Coolness, ob echt oder nicht, war ihm einfach unbegreiflich, da sich seine Emotionen im Gegenzug überschlugen. Und obendrein der undeutbare Blick machte das Chaos in ihm perfekt.
 

„Kannst du mir sagen, wo du warst? Ich habe mir Sorgen gemacht, konnte nicht mehr schlafen, habe kaum gegessen, habe sogar Julia nach dir gefragt, habe deine Mutter angerufen und-“
 

„Hole mal Luft!“, warf der Blonde ein und rollte sich aus dem Bett.
 

Mitten im Satz verstummte Rick und wandte sein Gesicht von seinem Freund ab. Wenig später legten sich warme Finger um sein Kinn und drehten es zurück.
 

„Ich war bei deinen Eltern“, meinte Joe nun ohne jedwedes Lächeln auf den Lippen.
 

Instinktiv trat Rick einen Schritt zurück und befreite sich dabei aus Joes Griff.
 

„Wo warst du?“, erfragte er scharf die bereits gegebene Antwort.
 

Die Distanz hatte der Größere schnell wieder getilgt und legte nun seine Arme um Ricks Hüfte. Zornig wollte dieser sich erneut von ihm loslösen, schaffte es aber dieses Mal nicht.
 

„Soll ich mir denn dein durch sie ausgelöstes Leid noch länger anschauen, ohne mein bestmögliches zu geben, dich wieder glücklich zu sehen?“
 

Er fixierte Rick und sah ihn sehr ernst an. Dieser schluckte erst einmal nur, denn die Nähe beraubte ihn aller Sinne und die Wut nahm ihm den letzten Funken Verstand. Plötzlich wurde er ganz fest an Joes Körper gedrückt, wobei er seinem Geruch mit einem Mal vollkommen ausgesetzt war. Er schloss die Augen und verlor sich in dem Gemisch aus Aftershave und Deodorant. Insbesondere die Nuance des Eigengeruchs war schuld daran, dass er laut aufstöhnte.
 

„Du hast mir gefehlt“, hauchte Joe halb in Ricks Haar hinein.
 

Das sagte der Richtige. Wusste Joe überhaupt, welche Gefühlsschwankungen er durchgemacht hatte ob der Tatsache, dass er keine Ahnung gehabt hatte, wo er gesteckt hatte!?
 

„Du hast leicht reden“, seufzte der Kleinere leise vor sich hin.
 

„Ich konnte nicht anders… ich musste gehen, damit ich wieder einen klaren Verstand bekomme. Die Gefühle für dich haben mich übermannt… Weißt du, Rick, ich…“
 

Eine lange Pause entstand, in der Joe mit sich rang und den Dunkelhaarigen dabei immer fester an sich drückte.
 

„Ich habe einen Menschen noch nie so sehr geliebt und das macht mir Angst.“
 

Dass Rick den Gehalt der Worte in diesem Moment wirklich begriff, kam einer wagemutigen Behauptung gleich, aber eines stand fest: Er war froh, Joe zu spüren, seine Hände auf seinem Körper zu fühlen, die Wärme, die von ihm ausging, wahrzunehmen und zu wissen, dass es kein Traum war…

Kapitel 30

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 31

Kapitel 31
 

„Was ist das?“
 

„Wonach schaut es denn aus?“
 

„Haha, sehr witzig. Ein Brief natürlich. Die Frage galt eher der Herkunft.“
 

Rick wedelte mit einem cremefarbenen Umschlag in der Hand vor Joes Augen herum. Dieser zog eine unschuldige Miene und zuckte mit den Schultern. Plötzlich schweigend ließ der Größere seinen Freund stehen und setzte sich auf die Bettkante. Von dort aus fokussierte er den Dunkelhaarigen, dessen blaue Tiefen zornig funkelten.
 

„Mache ihn auf, dann beantworten sich all deine Fragen von alleine.“
 

„Und was ist, wenn ich das nicht möchte?“
 

„Dann kann ich dir auch nicht mehr helfen.“
 

„Du hast mir versprochen, nichts mehr über sie zu verlieren.“
 

„Und ich habe mein Versprechen nicht gebrochen.“
 

„Grr und was halte ich dann in meinen Händen?“
 

„Jetzt beruhige dich doch mal und hör’ auf, mich zu beschuldigen. Ich habe dir mein Wort gegeben, dass ich über alles, was meinen Besuch bei deinen Eltern angeht, schweige. Und? Habe ich dein Vertrauen etwa missbraucht?“
 

„Ja!“, schrie Rick und verstummte im selben Moment wieder. Schockiert sah er seinen Freund an, denn er begriff sogleich, dass er ihm Unrecht tat. „Es tut mir leid“, fügte er kleinlaut hinzu und schalt sich innerlich für seine unberechtigte Wut ihm gegenüber. Kraftlos sank er auf die Knie und hielt den Brief krampfhaft zwischen seinen Fingern. Seine Augen füllten sich mit kleinen heißen Perlen, nahmen ihm die klare Sicht und hätten ihm halb den Verstand vernebelt, wenn dies nicht schon eine andere Sache getan hätte. Er hatte kein Recht dazu, Joe dermaßen anzufahren und doch schnürte sich sein Herz zusammen, wenn er daran dachte, dass er einfach zu ihnen gefahren war. Wie hatte er nur so etwas tun können; ganz ohne sein Einverständnis?
 

„Atme tief durch.“
 

Die Stimme, die nun zu ihm durchdrang, war ruhig und bedachte ihn mit keinem Vorwurf oder dergleichen. Sanft strich eine Hand durch sein Haar und schenkte ihm Zärtlichkeiten, die er nicht verdient hatte.
 

„Lass das“, presste der Kleinere hervor. Mit einer Faust stieß er Joe weg.
 

/All deine Fürsorge lässt mich noch undankbarer erscheinen und rückt mich in ein Licht, das finsterer und düsterer nicht sein könnte… Ich bin es nicht wert, von dir geliebt zu werden. Verstehst du denn nicht, dass du mir zuwider gehandelt hast? Anstatt dir dafür zu danken, verstoße ich dich… Was bin ich nur für ein Mensch…/
 

Seufzend legte sich Joe rücklings aufs Bett und ließ Rick allein auf dem kalten Boden verweilen. Noch ein Annäherungsversuch würde keine Besserung bringen, zu gut und lange kannte er die Eigenheiten des Kleineren. Er wusste, dass sich Rick nichts sehnlicher wünschte, als Nähe und Geborgenheit zu bekommen, doch aufgrund seines eigens errichteten Selbstschutzes ließ er sie nicht zu. Viel zu streng war er mit sich selbst, aber er vermochte nichts dagegen zu tun. Unbeholfen musste er dabei zusehen, wie der Kleinere sich fertig machte für nichts und wieder nichts.
 

/Man kann die Vergangenheit nicht vergessen, aber man sollte versuchen, sie ruhen zu lassen. Vielleicht ist verzeihen manchmal der bessere Weg, um sein Glück zu finden… Rick, begreife doch, dass du zugrunde gehst, wenn du deinen Eltern niemals vergibst!/
 

Mit zusammengekniffenen Augen kauerte der Dunkelhaarige auf dem Boden und unterdrückte gewaltsam die Tränen, die sich ans Tageslicht schleichen wollten. Warum hatte Joe nicht warten können? Vor wenigen Stunden war alles so schön gewesen und er hatte gedacht, dass ihn nun nichts mehr auf dieser Welt entzwei reißen könnte. Von wegen!... Seine unermessliche Freude, die ihm durch Joes Berührungen widerfahren war, hatte ihn verletzlich gemacht, empfänglich für Gefühle jedweder Art. Und nun durfte er sie erneut spüren: diese Wut, diesen Zorn, hervorgerufen durch sein eigen Fleisch und Blut, geschaffen durch die Menschen, die ihm einst so viel bedeutet hatten.
 

/Einst waren wir eine Familie, die zusammenhielt und eins war. Ich kann mich kaum noch an die Harmonie erinnern, die bei uns herrschte. Ihr habt alles zerstört! Ihr seid schuld daran, dass unsere gemeinsame Zukunft zerstört wurde! Ihr! Nur ihr! Und warum? - Weil ich einen Mann liebe!/
 

„Ha, und das soll ein Grund sein?“, rief Rick in die Stille des Raumes hinein und riss die Augen dabei weit auf. „Warum könnt ihr mich nie in Frieden lassen?“
 

Erschrocken fuhr Joe auf und sah auf das Bündel, das elendig zitterte. Nach einer Decke greifend stand er auf und legte sie um Rick, der mit in Nacken gelegtem Kopf und bebendem Leib dakniete. Als er seinen Freund wohlig wusste, schlang er seine Arme um ihn und drückte ihn vorsichtig an sich.
 

„Lies den Brief, vielleicht kannst du ihnen dann dein Herz wieder ein Stück öffnen“, hauchte er leise in sein Ohr und spürte dabei leider, wie sich der Körper des Kleineren immer mehr verhärtete.
 

„Hast du einmal darüber nachgedacht, ob ich das möchte?“
 

Stille trat ein und brach sich alsbald stumm an den Wänden.
 

„Bald zwei Jahre habe ich dich leiden sehen und ich will, dass du glücklich bist. Nur deshalb habe ich in Kauf genommen, dass du nun all deinen Hass auf mich projizierst.“
 

„Ich… könnte dich nie hassen“, erwiderte Rick erstickt.
 

/Und doch spüre ich nichts als Erbitterung in mir. Wo ist das angenehme Gefühl geblieben, das mich durchjagte, als ich dich endlich wieder in meinen Armen halten durfte?/
 

„Wie kommt es, dass du mir trotz all meiner Worte so nah bist?“
 

„Weil ich dich liebe, Rick. Ich habe zwar lange gebraucht, um dem gewahr zu werden, aber nun gibt es für mich kein Zurück mehr. Mit all meiner Kraft möchte ich dich beschützen, doch ich kann dies nur, wenn du deinen inneren Frieden wieder findest.“
 

/Innerer Frieden? Brauche ich dazu die Erlösung durch meine Eltern? Dass ich nicht lache!... Und doch ist Unbedarftheit keineswegs das, was deine Worte in sich tragen. Halte mich fest, halte mich ganz sehr fest…!/
 

Voller Liebreiz strich der Blonde seinem Freund über die feuchten Wangen, wischte damit ein paar Perlen weg, die Ricks Zustand allzu deutlich widerspiegelten.
 

„Du bist ganz kalt.“
 

Einen Arm ließ er unter Ricks Hintern gleiten, den anderen legte er in dessen Nacken. Mit einem Ruck hob er ihn hoch und bettete ihn auf die weiche Matratze, deckte ihn sogleich mit der Federdecke zu.
 

„Damit du dich nicht erkältest“, dachte der Blonde laut und legte sich neben den Dunkelhaarigen, der aus halbgeöffneten Augen seinen Blick suchte.
 

„Ich liebe dich, ich liebe dich, ich-“
 

„Sshhh, ich weiß mein kleiner Romantiker; ich dich auch. Ruh’ dich ein wenig aus und denke darüber nach, ob du ihnen und damit vor allem dir eine Chance geben möchtest.“
 

Joes Finger auf seinem Mund spürend nickte Rick und kuschelte sich dann an die Brust seines Freundes, hielt sich mit einer Hand an dem Stoff seiner Kleidung fest, in der Hoffnung, auf diese Weise könne der Blonde niemals mehr entschwinden.
 

/Immer wieder verfalle ich vor deinen Augen den Tränen und immer von Neuem trocknest du sie. Selbst bei der schlimmsten Trauer lässt du mich nicht im Stich und nun gestehst du mir sogar deine Liebe… Du bist das Einzige, was ich in meinem Leben brauche…/
 

Unentwegt sah der Blonde das Bündel Mensch in seinen Armen an, sog den Duft seines Haares tief in sich ein und wagte es kaum auszuatmen. Tief saß die Trauer in seinem Freund und er vermochte sie immer noch nicht zu nehmen. Als er ihn nach seiner Heimkehr erblickt hatte, hatte ihn ein Blitz durchzuckt, der ihn gänzlich erzittern gelassen hatte. Es hatte sich um das Zeichen der innigsten Zuneigung gehandelt, dessen war er sich mittlerweile sicher. Alles in ihm wollte Rick beherbergen, vor den lauernden Gefahren der grausamen Welt beschützen und ihn nie mehr der Realität preisgeben, die ihn zu vernichten drohte. Alles in ihm wollte ihn berühren, das warme Fleisch unter seinen Fingern spüren, ihn mit Haut und Haaren verschlingen… er genoss die Schwere, die Ricks Körper auf seiner Brust mit sich brachte. All die Monate fernab vom früheren Leben hatte er ihn getröstet, war ihm nah gewesen und erst jetzt wusste er, dass der Mann in seinen Armen das war, was ihm immer bestimmt gewesen war. Liebe war mehr als nur Schmetterlinge im Bauch zu fühlen, sie bedeutete, sich gänzlich einem Wesen zu verschreiben, Mann hin oder her. Es war doch völlig gleichgültig, welches Geschlecht sie verkörperte, viel wichtiger war doch, dass es sie gab und bei ihm war.
 

„Dein Körper wird immer heißer.“
 

Ricks dumpfe Stimme riss Joe aus seinen Gedanken. Ein wenig verlegen schluckte er, ließ sich davon aber nicht allzu sehr irritieren und fuhr mit den Streicheleinheiten fort, die er seinem Freund schenkte.
 

„Mhh, das kommt ganz allein durch dich.“
 

„Es ist angenehm.“
 

„Hast du’s dir überlegt?“, fragte der Blonde bestimmt, achtete aber darauf, dass er sanft genug klang, um den Kleineren nicht zu verprellen.
 

„Eigentlich haben sie alles zunichte gemacht…“
 

„Heißt dieses ’eigentlich’, dass du den Brief liest?“
 

„Gib mir noch ein wenig Zeit.“
 

„Warte aber nicht zu lange.“
 

„Allmählich fängst du an wie ein Mädchen zu klingen.“
 

Joe verschluckte sich und seine Brust wog in schnellen Zügen auf und ab.
 

„Das sollte…“, fuhr Rick fort und hob dabei seinen Kopf an, um den Blonden ansehen zu können. „… nicht negativ klingen. Du sorgst dich um mich, du bist für mich da, selbst wenn ich mich aufführe wie ein Idiot; selbst wenn ich dir egoistisch gegenübertrete.“
 

„Egoistisch?“
 

Resigniert bestätigte dies Rick mit einem Nicken. „Ich habe dich immerzu in Anspruch genommen ohne darüber nachzudenken, wie du dich dabei fühlst. Ich habe dich unerwidert geliebt und dir die Frauen missgönnt ohne darauf Rücksicht zu nehmen, was du möchtest. Das macht mich zum Egoisten, der…“
 

/… deine Liebe nicht verdient hat…/
 

„Hör’ auf damit, dich selbst nieder zu machen. Du bist die reinste Seele, die mir je im Leben begegnet ist. Selbst wenn du dich eigens als selbstsüchtig betrachtest, für mich bist du es nicht. Was habe ich dir schon geben können als eine flüchtige Hand, die durch dein Haar streicht, als Worte, die nichts weiter waren als eine leere Hülle? Stets hast du für mich gekocht und warst mir ein Freund. Aus deinem Mund möchte ich nicht hören, dass du egoistisch seiest, denn es entspricht nicht der Wahrheit. Freundschaft ist ein Geben und ein Nehmen und du gibst mehr als du dir eingestehen kannst.“
 

Als er zuende gesprochen hatte, zog er den Dunkelhaarigen sogleich hinunter und küsste ihn. Mit seiner Zunge bat er um Einlass und spürte voller Wonne die warme Höhle, die nun für immer sein werden wollte. Intensivst erwiderte Rick den Kuss; er wollte mit Joe verschmelzen und die Zuflucht, die er ihm gewährte, einfach nicht mehr preisgeben. Doch nachdem seine Lunge irgendwann nach Luft schrie, musste er sich von den weichen Lippen lösen, die er am liebsten bis an sein Ende unablässig gefühlt hätte.
 

„Schön, dann lass es mich hinter mich bringen“, meinte Rick nicht gerade froh darüber und begab sich ans Ende des Bettes, von wo aus er nach dem Brief, der leicht zerknittert am Boden lag, greifen konnte. Ohne irgendwelche besondere Rücksicht öffnete er ihn und zog ein pastell-violettes Papier heraus. Seine Augen schweiften eilig über die geschriebenen Zeilen.
 

„Rick?“ Joe beobachtete, wie sein Freund gänzlich erstarrte. „Hey, Rick.“ Über dessen Schulter lugend las er die mit größter Sorgfalt geschriebenen Worte.
 

’Rick,
 

was soll ich dir groß schreiben. Dein Vater und ich haben in den letzten Monaten Männer gesehen, wie sie andere Männer küssten. Es kam uns immer noch befremdend vor. Etwaigen können wir uns an die Tatsache gewöhnen, dass du keine Frau heiraten wirst, mit der du uns Enkelkinder bescherst.
 

Mom’
 

Nicht nur einmal schluckte Joe schwer, sondern unzählige Male. Der Brief widersprach völlig der Reue und dem Wehmut, mittels denen Dea ihm gegenüber gestikuliert hatte. Immer wieder hatte sie betont, dass es ihr leid tue, wie alles verlaufen war, dass sie nie Kontakt zu ihrem Sohn aufgenommen hatte, dass… Sein Herz begann wie wild zu schlagen und Wut keimte in ihm auf. Unbewusst formten sich seine Hände zu Fäusten, mit denen er nun eigentlich Rick hätte trösten sollen.
 

„Wie kann sie sich erdreisten, dermaßen gefühllos zu klingen?“, würgte der Blonde hervor und bemerkte nicht, wie Rick unter seinen Worten zusammenzuckte. „Sie hat ganz anders geredet, als ich bei ihr war. ’Göttin’ bedeutet ihr Name und das ist einzig und allein eine Schande! Nicht einmal rot wurde sie während ihrer Lügen und ihrer Heuchlerei!“
 

Erzürnt erhob sich der Größere vom Bett und lief im Zimmer auf und ab, fixierte einen kleinen dunklen Punkt vor seinen Augen, den er feurig anfunkelte. „Solch ein Verhalten hätte ich ihr niemals zugetraut. Als Kind und auch vor zwei Tagen wirkte sie auf mich ehrlich, verlässlich, ja redlich. Ich fass’ es nicht! So eine Unverschämtheit! Diese widerwärtige, elendige-“
 

„JOE!!!!“, schrie Rick ihn an, visierte ihn mit einem Blick, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Rede nicht so über sie. Hast du es denn nicht gesehen?“
 

Verdutzt sah Joe ihn an und verstand nicht, warum Rick Dea nun verteidigte.
 

„Sie hat mit ’Mom’ unterschrieben, mit ’Mom’…!“ Fest drückte Rick den Brief an seine Brust und ein kleines Lächeln zierte seine Lippen. „Mit MOM!“ Er blickte erneut auf zu seinem Freund.
 

Irgendwie war der Größere aller Worte verlegen und schämte sich ob seines Ausbruches. Wankend näherte er sich seinem Freund und legte seine Hände auf dessen Schultern. Was sollte er sagen? Sollte er überhaupt noch etwas von sich geben?
 

„Sie war sehr bekümmert aufgrund ihrer Ignoranz, die sie dir zuteil werden ließ“, begann er dann doch leise. „Mehrere Male entschuldigte sie sich, sprach eher zu dir als zu mir, bis ihr bewusst wurde, dass ich vor ihr stand und nicht du.“
 

„Ich vermisse sie wirklich schrecklich… und wollte das nie wahrhaben, da sie mich nicht mehr wollten…“
 

Trotz der brüchigen Stimme behielt sich Rick das leichte Lächeln, das als Zeichen für seine Freude diente. Joe sah ihn fest an und verliebte sich in diesem Moment ein weiteres Mal in seinen Freund. Dass ein einzelner Mensch dermaßen reagieren konnte, wo er sich sicherlich mehr von dem Brief erhofft hatte, beeindruckte ihn völlig; er war erstaunt und insbesondere stolz auf Rick.
 

„Sag’ mir, Joe, vermissen sie mich auch?“
 

„Ja, das tun sie“, erwiderte der Blonde und grinste dabei voller Liebe.
 

Rick senkte den Blick und strich behutsam mit dem rechten Zeigefinger über das letzte Wort, das in feinen schwarzen Linien auf dem zartvioletten Papier geschrieben stand.
 

„Ich gehe duschen“, meinte Joe und wollte seinen Freund damit einen Augenblick allein mit seinen Gefühlen lassen. Er wollte ihm Zeit geben, über alles Weitere nachdenken zu können; wollte ihn in keinster Weise beeinflussen. Ein letztes Mal wuschelte er ihm durchs Haar und verließ dann das Schlafzimmer.
 

/Eine Ewigkeit haben sie mich leiden lassen ohne auch nur mit der Wimper zu zucken… dachte ich zumindest immer oder habe es mir felsenfest eingeredet… und habe damit den Schmerz in mir nur verstärkt… Hätte ich etwa den ersten Schritt tun sollen, auf sie zugehen sollen,… sie zur Rede stellen sollen? Ihnen noch einmal gegenübertreten sollen?... Hätten sie damals ihren Rausschmiss rückgängig gemacht?/
 

Mit dem Brief in der Hand ging Rick zum Fenster und sah hinaus. Er nahm nicht wahr, wie die Sonne auf den Dächern funkelte oder wie die Menschen unten auf der Straße voller Vitalität zu sein schienen. Das Wetter hatte sich über Nacht beruhigt und lockte immer mehr Seelen aus ihren Häusern heraus.
 

/Ich möchte die Vergangenheit endlich ablegen können…/
 

Wie in Trance schritt er gen Badezimmer und hörte das Wasser stetig lauter rauschen. Erst legte er sein rechtes Ohr an das Holz der Tür und horchte auf das gleichmäßige Plätschern, dann drückte er aber die Klinke und trat dem feinen Nebel entgegen, der sich bereits im ganzen Raum verbreitete. Die Duschwand war verschleiert, so dass er Joes Gestalt lediglich schemenhaft sehen konnte, doch schon allein dieser Anblick ließ ihn nach ihr greifen. Langsam öffnete er sie und stieg mitsamt Kleidung hinein unter Beobachtung eines verwirrten, aber nicht abgeneigten blonden jungen Mannes. Wohlig schmiegte sich Rick an seinen nassen, nackten Freund und genoss sowohl das heiße Wasser, das von oben auf ihn herabströmte, als auch die starken Hände, die sich nicht zurückhalten konnten, sich unter seine Hose auf seinen Hintern zu stehlen.
 

„Deine Mutter hat mich für den ersten Advent eingeladen“, murmelte Rick nach einer Weile.
 

Während Joe inzwischen dabei war, das Hemd von Rick zu öffnen und dabei seine Finger ab und an zärtlich über die Haut fahren zu lassen, küsste er ihn auf die Stirn.
 

„Möchtest du die Einladung annehmen?“, fragte er ihn voller Hoffnung.
 

„Es ist an der Zeit, in unsere Heimat zurückzukehren.“
 

Das Hemd fiel achtlos zu Boden ins schaumige Nass. Mit begehrenden Lippen streichelte Joe Ricks Hals.
 

„Du wirst nicht enttäuscht werden, mein kleiner Romantiker“, hauchte er auf die wohlriechende Haut seines Freundes.
 

Rick erwiderte die Berührungen nicht, sondern stand einfach nur da und genoss jede einzelne Zärtlichkeit, die ihm der Größere zukommen ließ. Joe war immer für ihn da gewesen so wie jetzt… nur mit dem kleinen Unterschied, dass er ihm nicht mehr nur durchs Haar wuschelte, sondern jedes Detail seines Körpers berührte. Jeder Kuss, jede Liebkosung brachte ihn zum Beben.
 

/Wie sehr ich dich immer wollte…/
 

Irgendwann hörten die Küsse auf seiner Haut auf und wichen einer Tortur aus federleichter Nähe und kaum wahrnehmbaren Händen auf seinem Rücken.
 

/Schwebend verliere ich mich unter deinen Fingern, auch wenn sie lediglich regungslos auf mir ruhen…/
 

„Während du weg warst, habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich es wieder gut machen kann, dass ich dir alles verschwiegen habe.“
 

„Als ich das Haus deiner Eltern betrat, ist mir klar geworden, weshalb du mir nie etwas sagtest. Du wolltest nicht auf Ablehnung stoßen, denn das hätte dich noch mehr geschmerzt als mit einer ungewissen Liebe zu leben.“
 

„Ich hatte Angst davor, dich als meinen besten Freund zu verlieren. Die Befürchtung war groß, dass du dich von mir in jedweder Hinsicht loslöst. Unsere Gespräche, deine Anwesenheit, dein freches Grinsen hätten mir gefehlt.“
 

Von beiden unbeachtet floss das Wasser weiterhin über ihre Körper und sammelte sich in der Wanne, um bald in den Tiefen der unterirdischen Rohre zu verschwinden.
 

„Vielleicht wäre ich tatsächlich zurückgewichen“, entgegnete Joe, „obgleich du mir schon immer sehr wichtig warst. Aber ich bin heilfroh, dass wir das niemals erfahren werden, denn mein Herz bebt, wenn ich dich nur sehe, allein wenn ich an dich denke.“
 

„Dass du jemals meine Gefühle erwidern würdest, habe ich nicht für möglich gehalten. Ich wollte es immer und doch warst du für mich nicht greifbar,… unnahbar.“
 

„Während ich von dir wegfuhr und die Distanz zwischen uns wuchs, schnürte sich mein Herz immer weiter zusammen. Jede Faser meines Körpers wünschte sich zu dir zurück und doch konnte mein Verstand nicht gehorchen. Er brauchte Klarheit… Als dann meine Hand unseren Baum berührte, tat sich ein Bild auf, das mich nicht mehr losließ. Selbst jetzt kann ich es noch sehen…“
 


 


 

„Mein Knie war blutübersät… Die Verletzung hatte ich mir bei einer Prügelei zugetragen…“
 

Nach einer weiteren langen Pause erhob Rick die Stimme, die fast im dumpfen Rauschen des Wassers unterging: „Du hattest den seltsamen Baumschnitt meiner Eltern verteidigt. Selbst wenn wir beide über die kuriose Gestalt, die mein Vater aus dem Apfelbaum gemacht hatte, lachten, konntest du das verächtliche Gerede der anderen Kinder nicht ertragen.“
 

„Die beiden haben sich nie wieder getraut, auch nur ein Wort gegen deine Eltern und deren dubiosem Zeitvertreib zu richten.“
 

„Auch sonst keiner, als sie sahen, wie du die beiden zugerichtet hattest.“
 

„Selbst wirkte ich wohl ebenfalls derart abschreckend, meine Kleidung war total zerrissen und sowohl mit meinem Blut als auch mit dem der anderen durchtränkt. Als Strafe bekam ich eine Woche Hausarrest, doch das war es mir wert.“
 

„Und ich bekam eine Ausnahmeregelung von deiner Mom.“
 

„Sie vergöttert dich. Schon als du das erste Mal bei mir warst, war sie völlig entzückt von dir und bettelte mich an, dich öfter einzuladen.“
 

Leise begann Rick zu lachen. „Das hast du mir immer unter die Nase reiben müssen. Aber immerhin durfte ich dich während deines Arrestes besuchen.“
 

„Als ich zerschlissen heimkehrte, fragte mich meine Mutter, wer mein Bein verarztet hätte. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass du meinen Retter in der Not gemimt hattest, adoptierte sie dich insgeheim als zweiten Sohn… Ja, ich glaube, dass sie dich wirklich als diesen ansieht.“
 

„Ich kann es kaum erwarten, Veronica wiederzusehen… Aber wie wird sie darauf reagieren, dass wir…“
 

„… zusammen sind? Das wolltest du doch sagen, hoffe ich!“
 

Ricks Herz sprang hoch,… sehr hoch.
 

„Ja…“
 

„Nun, die Geschichte mit dir und deinen Eltern ging auch an ihr nicht spurlos vorüber. Sie meinte irgendwann einmal, dass sie jede Person, die ich ihr als meine Freundin oder meinen Freund vorstellen würde, akzeptieren würde.“
 

„Aber da standest du ausschließlich auf Frauen!“
 

„Wir werden ja sehen, wie sie auf uns reagiert.“ Ein keckes Grinsen umspielte Joes Lippen. Auf das Gesicht seiner Mutter war er wirklich gespannt, denn als sie ihm damals ihre Akzeptanz zusicherte, hatte sie sicherlich niemals daran geglaubt, dass er wirklich mal mit einem Freund heimkehren würde.
 

/Oh ihr Himmelsbewohner, lasst sie sich an das erinnern, was sie einst zu ihrem Sohn sprach…!/
 

„Und nun zu dem, was ich mir für dich überlegt habe.“ Plötzlich voller Energie drehte Rick den Duschhahn ab und legte anschließend seine Hände auf die Wangen seines Freundes. Nach einem leidenschaftlichen Kuss zog er den perplexen jungen Mann aus der Dusche und drückte ihm ein Handtuch an die Brust.
 

„Trockne dich gut ab und zieh dich warm an.“
 

Mit glitzernden Augen nahm sich der Dunkelhaarige selbst ein Frotteetuch und schlüpfte aus dem Badezimmer.
 

Vollkommen benommen stand Joe erst einmal da und starrte auf die halb offene Türe, durch die ein kalter Hauch drang und ihn frösteln ließ. Eben hatten sie sich noch in der wohlig warmen Dusche befunden, waren in einem Gespräch aus ihren Kindheitserinnerungen versunken, und plötzlich war er aus der angenehmen, vertrauten Atmosphäre herausgerissen worden. Mit leicht geöffnetem Mund sah er auf die Maserungen der Tür, die gerade nicht von Handtüchern verdeckt war, nahm sie aber nicht alle wahr, sondern erkannte nur die kleinen dunkelbraunen Linien, die sich vertikal am Türgriff entlang wanden. Die Gänsehaut, die sein Körper bedeckte, ließ ihn das Handtuch in seinen Händen um sich schlingen und allmählich kehrte das Leben in seine Glieder zurück. Die Frage, was Rick mit ihm vorhatte, löste all die anderen Gedanken in seinem Verstand ab und wirbelte freudig herum, da sie unbedingt beantwortet werden wollte. Mit einem Zipfel des Handtuchs wischte er über den Spiegel zu seiner Rechten und betrachtete kurz sein Gesicht. Seine Wangen waren rot, seine Augen strahlten über alle Maßen – Waren das die Zeichen des Verliebtseins?
 

/Wohin wir gleich auch gehen mögen, ich folge dir, selbst wenn wir dabei von der Erde fallen…/
 

Rick steckte den Kopf zur Tür herein und schenkte seinem Freund ein bald schon unverschämtes Lächeln. „Muss ich mich zukünftig daran gewöhnen, dass du im Bad so lange wie eine Frau brauchst?“
 

Der Dunkelhaarige zog schnell die Tür hinter sich zu, als er ein großes, weißes Handtuch auf sich zufliegen kommen sah. Es hinterließ lediglich ein schleifendes Geräusch, als es das Holz traf, an dem es herabglitt, und nicht ihn, für den es bestimmt gewesen war. Immer noch verschmitzt grinste Rick und zog sich seine Schuhe an. Mit starken Armen, die sich um seine Hüfte schlangen, hatte er dabei nicht gerechnet und fiel rücklings auf seinen Freund, der ihm leicht ins Ohr biss. „Noch solch ein Satz und du avancierst zu meinem persönlichen Sklaven.“
 

„Ich bekoche dich doch eh schon“, erwiderte der Kleinere mit klopfendem Herzen. Mit dieser Attacke hatte er wirklich nicht gerechnet.
 

„Mein werter Herr Magenfüller, es gibt noch so vieles mehr, was mich glücklich machen würde.“ Theatralisch hob Joe die Arme von sich und baute sich vor Rick auf. „Spontan fiele mir da Wäsche waschen und putzen ein. Ach, du könntest mir auch das Essen hinterher tragen oder mir die Füße küssen.“
 

„Denk’ nicht mal im Traum daran.“
 

Mit Schmollmund griff Joe nach seiner Jacke. „Würde mir aber gefallen, wenn du nackt all deine Pflichten als mein Hausjunge erledigen würdest.“
 

„Komm, mein Träumer, wir haben noch was vor.“ Rick hielt die Tür auf und winkte seinen Freund hindurch.
 

Während Joe an ihm vorbeiging, hauchte er ihm einen leichten Kuss auf die Lippen. „Es wäre wirklich erregend, wenn du mir hüllenlos das Essen bringen würdest.“
 

„Deine Fantasie grenzt an Absurdheit.“
 

Flink legte Joe eine Hand um Ricks Kinn und sah ihn fest an. „Probieren wir es doch mal aus, vielleicht hältst du sie dann nicht mehr für grotesk.“
 

Anstatt noch mal etwas zu erwidern, schob er mit einem Augenverdrehen den Größeren von sich weg und schloss die Tür hinter sich. „Du fängst an“, meinte er anzüglich, als er Joe vor der Wohnung stehen ließ und die ersten Stufen der Treppe hinabstieg.
 

„Abgemacht“, entgegnete der Blonde, als er seinen Freund eingeholt hatte, „aber wehe, du wirst dann nicht heiß auf mich.“
 

„Zum Glück sind wir gleich an der frischen Luft, du brauchst unbedingt eine Abkühlung.“ Joe wusste genau, dass Rick das nicht ernst meinte; nicht nur, weil er dessen gieriges Funkeln in den meerblauen Tiefen sah…
 

Eine kalte Prise umspielte sogleich ihre Gesichter, als sie das Haus verließen. Der Tag erstreckte sich in vollen Zügen; die Bäume rankten zwar kahl, aber erhaben gen Himmel, lächelnde Passanten streiften an ihnen vorüber und der Himmel ergötzte sich an einem Blau, das klarer und reiner nicht sein konnte.
 

„Wirkt sie bereits?“, fragte Rick und drehte seinen Kopf in Richtung seines Freundes.
 

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Unnatürlich weit legte Joe sein Haupt in den Nacken und zuckte dabei mit den Schultern.
 

/Gut so/, dachte Rick und blies verräterisch in Joes Ohr hinein, wodurch dieser zusammenzuckte. Als sich der Blonde wieder bei Sinnen wusste, schürzte er kurz die Lippen. „Sollen wir gleich wieder hineingehen und es austesten?“, lachte er schließlich.
 

„Lass mich überlegen: Nein!“ Rick schüttelte den Kopf. „Wir haben was Besseres vor.“
 

„Und du verrätst mir nicht was, habe ich Recht?“
 

„Wie kommst du darauf?“
 

„Na, sonst hättest du schon lange damit rausgerückt.“
 

„Wer sagt das?“ Herausfordernd suchte Rick den Blick des anderen. „Du siehst süß aus, wenn du verwirrt bist.“
 

„DIESES Wort passt nicht zu mir“, presste Joe zwischen seinen Lippen hervor.
 

„Jaja, das kränkt deine Ehre als Mann, ich weiß. Hey, rück mir nicht gleich so auf die Pelle.“ Joes Mund traf seine Wange. „Nun zu Teil Nummer Eins - aber wenn du lieber mein Kinn mit deiner Zunge abtasten möchtest, dann bitte, ich stehe dir zur Verfügung. Komme mir dann aber nicht, du möchtest wissen, was-“ Weiche Lippen brachten ihn zum Schweigen. Erst als er halb zu ersticken drohte, ließen sie wieder von ihm ab. Keuchend setzte Rick seinen Satz fort: „es gewesen wäre.“
 

Ergebend seufzte Joe und nahm eine von Ricks Händen in seine. „Jetzt schwinge hier keine ausschweifenden Reden, sondern leite mich hinein in die Sphären meines Glückes.“
 

„Öhm“, entkam es Ricks Kehle. „Du hast dir Teil Eins eben selbst erfüllt.“
 

Bevor Joe ihn überhaupt auch nur fragend anblicken konnte, drückte Rick Joes Hand ein paar Mal kurz hintereinander. „Ich wollte mit dir händchenhaltend durch die Stadt laufen, eben wie ein Pärchen, wenn du verstehst.“
 

„Okay, mit Eins wäre ich schon mal einverstanden, was ist die Zwei?“
 

/Obwohl uns einige Menschen verachtende Blicke zuwerfen, löst sich deine Hand kein bisschen von meiner. Vielmehr graben sich deine Finger in meine Haut hinein, ganz als ob du ihnen damit zeigen möchtest, dass sie ihre Intoleranz sonst wo heraushängen lassen können nur nicht uns gegenüber. Dass dich die Engstirnigkeit anderer dermaßen in deinem Handeln bestärkt, sehe ich als eine begnadigte Eigenschaft an, der ich mich auch öfter gern erfreuen würde. Wie in meinen kühnsten Träumen laufen wir gemeinsam durch die Straßen, nicht nur als beste Freunde, sondern als ein Paar. Ein paar Frauen begutachten uns sogar neidisch, in den Augen der ein oder anderen meine ich tatsächlich ein williges Funkeln zu erkennen. Aber kein weibliches Wesen wird mehr Hand an dich legen, denn nun darf ich die Person sein, die die intimsten Stellen deines Körpers erkundet und dich zum Stöhnen bringt. Einzig ich darf dich zukünftig zum Wallen bringen, wie selbstsüchtig das auch klingen mag; ich gebe dich nicht mehr her!/
 

„… in sich zu tragen?“

„Was? Entschuldige, bitte?“

„Scheinen deine Gedanken möglicherweise Erotik in sich zu tragen?“, wiederholte Joe und bedachte den Kleineren mit einem frechen Grinsen. „Kein Grund, noch mehr Blut in deine Wangen schießen zu lassen. Ich finde das keineswegs abstoßend, ich würde nur zu gern an ihnen teilhaben.“
 

Ein Räuspern drang aus Ricks Kehle. „Keine Ahnung, was du schon wieder denkst, aber ich hege keine erotischen Gedanken.“
 

„D-a-r-u-m zittert deine Stimme so, verstehe.“
 

„Tut sie gar nicht.“
 

„Da! Das Schaufenster dort bebte sogar mit.“
 

Verdutzt folgte Rick dem Finger seines Freundes und murrte anschließend. „Ich dachte nur, dass ich der einzige sein will, der dich zum Stöhnen bringt! Zufrieden?“, entgegnete Rick wohl ein wenig zu laut, denn eine Frau ganz in seiner Nähe piepste plötzlich auf und sah in seine Richtung. Verlegen und nun in der Tat ziemlich rot senkte Rick den Kopf und wünschte sich, ein wenig leiser gesprochen zu haben.
 

„Das kannst du haben, wenn wir wieder zuhause sind“, flüsterte Joe ihm ins Ohr und ließ seine freie Hand kurz, aber energisch über seinen Hintern gleiten.
 

In einem Zustand zwischen Dahinschmelzen und Scham verharrte Rick auf seinem verlorenen Posten. Bis Joe ihn an eine kalte Wand drückte, rührte er sich wirklich nicht, doch dann riss er mit einem Mal die Augen weit auf. „Doch nicht hier!“, äußerte er entrüstet.
 

„Da haben wir es. Du denkst an nichts anderes mehr, dabei wollte ich nur den zweien dort aus dem Weg gehen.“ Joe deutete auf zwei Männer, die sich wild gestikulierend von ihnen entfernten. „Dabei warst du doch immer der Anständigere von uns beiden.“
 

Als er Joes Worte Revue passieren ließ, musste er zugeben, dass er mit allem Recht hatte, aber schon allein ein Gedanke an die schaulustige Öffentlichkeit reichte, um der Hitze in seinem Körper ein wenig Einhalt zu gebieten. „Ja.. also… gehen wir weiter!“, bestimmte Rick und unterdrückte das wilde Klopfen seines Herzens.
 

Gehorsam trabte der Blonde neben seinem Freund her, der keine Anstalten machte, wieder einen gesunden Teint anzunehmen. „Bevor du mir hier noch platzt, kannst du mir gerne verraten, was Nummer Zwei ist.“
 

„Hast du Hunger?“
 

„Das fragst du MICH?“
 

Rick grinste. „Um unser beider Willen gehen wir aber nicht zum kleinen Italiener.“ Geflissentlich überging er die plötzliche Feuchtigkeit, die sich zwischen ihren Händen bildete. „Für dich habe ich mir ein ganz besonderes Restaurant ausgesucht.“
 

„Kennen wir nicht schon alle?“
 

„Erstens wünsche ich mir ein wenig mehr Begeisterung von dir und zweitens nein, dieses Auserwählte kennst du bestimmt nicht.“
 

„Du lockst mich nun aber in keine Bar, wo nur Männer sind, oder so?“
 

„Und die Romantik ward dahin. Gelobet feierlich, ihr holden Herren, dass mein Geliebter seine Worte ungeschehen macht“, Rick knuffte ihm in die Seite, „oder sich die Zunge abbeißt!“, fügte er laut hinzu.
 

„Da mein Blut nicht so gut schmeckt im Zusammensein mit Eurer begehrlichen Haut, ziehe ich dann doch eine Rücknahme meiner Worte vor, mein werter Herr.“
 

„Gepriesen sei dein Antlitz, das sich bei Weitem über deine Taten erhebt. Lerne, deine Zunge zu zügeln.“
 

„Dann gebt mir preis, wohin es uns verschlagen wird.“
 

Ehe Rick wieder ansetzen konnte, übermannte es den Blonden und er zog seinen Freund hinter die nächste Straßenecke, um sich einen Kuss zu stehlen. „Wenn du weiterhin ein auf ehrwürdig machst, stelle ich auf offener Straße noch ganz andere Sachen mit dir an.“ Leidenschaftlich blickte er Rick an, der noch nach Luft rang.

„Gingst du bei deinen Frauen auch so ran?“, fragte der Kleinere mit belegter Stimme.

„Dieses Feuer in mir hast erst du entfacht, mein kleiner Romantiker“, säuselte der Gefragte und holte sich einen weiteren innigen Kuss ein.

„Und nun bekommst du was Ordentliches zu essen, damit du nicht weiter an mir herumknabberst.“

„Von Luft und Liebe kann man wirklich nicht ewig leben, mein Magen grummelt in der Tat vor sich hin.“

„Wenn du nicht endlich von meinem Ohr ablässt, lass ich dich verhungern.“

„Erregt das dich denn gar nicht?“, hauchte Joe ihm in das momentan leicht gerötete Organ hinein.
 

/Natürlich!!! Alles in mir kribbelt und ich würde dich am liebsten sofort zu Boden drücken und d-i-r den Verstand rauben…!/
 

Langsam tastete Joes Hand Ricks Brust ab, schlich sich heimlich weiter hinunter als ihr auf offener Straße gestattet war.
 

„I-ich w-will erst mal was ess-ssen.“ Sichtlich hatte der Dunkelhaarige Mühe, gelassen zu klingen.

„Das hier“, die Hand des Blonden fühlte sich wie ein Gebirge an, das ihn unter sich begraben wollte, obwohl sie nur leicht zwischen seinen Beinen ruhte,
 

/Wohin sie hier gewiss nicht gehört!!! Und doch bin ich dein…/
 

„verrät dich, mein kleiner Romantiker.“

„Willst du, dass ich in einer Gasse deinen Namen schreie?“, presste Rick gequält hervor.

Die Hand wich endlich von ihm und er spürte plötzliche Kälte überall dort, wo Joe eben noch verweilt hatte.

„Du schwörst wirklich noch irgendwann einen Polizeiauflauf herauf“, meinte der Größere mit einem Seufzen und lief in Richtung des wilden Treibens, das die Fußgängerzone gewöhnlicherweise mit sich brachte.
 

/Hätte ich geahnt, dass du mich allein mit deiner Hand fast zum Überkochen bringst, hätte ich niemals auf dich verzichten können. Vielleicht kann ich von Glück reden, dass ich solch eine Intensität, solch ein prickelndes Ausmaß nicht für möglich gehalten hatte… /

Kapitel 32

Kapitel 32
 

„Wie kommt das denn hierher?“ Verblüfft ließ Joe immer wieder seinen Blick über das gläserne Gebäude schweifen, durch dessen weitläufige Fenster ein reges Treiben zu erkennen war. Eigentlich bestand das gesamte Haus aus gläsernen Wänden und die Rahmen um die Fenster waren mehr zur Zierde da, erfüllten aber ihren Zweck, dass die Leute dachten, es seien tatsächlich welche. „’Veritatis lux’ … Seit wann gibt es denn das?“, fragte der Blonde an Rick gewandt.
 

„Seitdem du dich heimlich davonstiehlst“, erwiderte der Kleinere mit einem Schulterzucken, konnte es sich aber nicht nehmen lassen, seinem Freund ein spitzbübisches Grinsen zuzuwerfen.
 

„In drei Tagen können noch nicht einmal Menschen mit zu viel Kleingeld dieses Gebäude errichten lassen.“
 

„Das steht ja auch schon länger hier.“
 

Erstaunt beugte sich Joe die wenigen Zentimeter hinab zu seinem Freund und blickte ihn fest an. „Überall wo es was zu essen gibt, bin ich schon einmal gewesen.“
 

„Das Restaurant hat gestern ja erst neu eröffnet.“
 

„Aber das hätte in der Zeitung stehen müssen!“ Joe klang unüberhörbar empört, was Rick schmunzeln ließ. Dass der Größere erpicht auf Essbares war, war gemeinhin bekannt, doch dass er derart an sich und der Welt zu zweifeln schien, amüsierte den Dunkelhaarigen.
 

„Liest du jeden Tag Zeitung?“, meinte Rick gelassen.
 

„Nein, aber-“
 

„Siehst du“, fiel ihm ausnahmsweise der Kleinere ins Wort. „Dann konntest du das nicht wissen.“
 

„Und warum stehen wir hier noch rum?“
 

Ricks Mund klappte auf, schloss sich aber bald wieder, als er Joes freches Lächeln sah. Dreist hielt der Größere seinen Kopf an Ricks Bauch und nickte, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, voller Überzeugung. „Der hat dringend was zum Beißen nötig.“
 

„Du bist albern“, kommentierte der Dunkelhaarige und schob lachend seinen Freund in Richtung des ’Veritatis lux’.
 

/Dank dir vergesse ich all meine Sorgen und kann den herrlichen Herbsttag in vollen Zügen genießen. Die Sonne schleicht sich in unsere Herzen und wärmt uns von innen heraus, zumal sie sich mit der Liebe vereint, die uns innewohnt. Dein unbeschwertes Gemüt adaptiert mein bisheriges sorgenvolles Dasein… In feierlicher Manier erstrahlen deine grünen Seen, die mich unbekümmert und glücklich anblicken./
 

Plötzlich fiel Rick dem Größeren um den Hals und drückte ihn ganz fest an sich. Konsterniert blinzelte Joe gegen die Sonne, die nun ungehindert in sein Gesicht strahlte und fühlte die Schwere, die der Körper des anderen mit sich brachte. „Ist was passiert?“, fragte er wirr.
 

„Ganz im Gegenteil“, murmelte Rick. Dann ließ er wieder von Joe ab und ergriff eine seiner Hände. „Jetzt bekommst du das beste Essen, was du dir vorstellen kannst.“
 

„Ich wusste gar nicht, dass du dort als Koch arbeitest.“
 

„Spiele dich hier nicht als Charmeur auf, sondern folge mir zu unserem ersten Date.“
 

Wortlos sah Joe seinem Freund nach, wie er ohne ihn weiterlief. Hatte er eben richtig gehört? Ihr erstes Date… Das hörte sich gut an, wirklich gut.
 

/Dir steht ins Gesicht geschrieben, dass du sichtlich überrascht bist. Genauso hatte ich mir das vorgestellt und mir fällt ein Stein vom Herzen, dass dich die Tatsache, dass wir unsere erste Verabredung haben, nicht pikiert oder in anderer Weise missfällt./
 

„Komm schon!“, rief Rick an der Eingangstür wartend.
 

Nun mit schnellen Schritten kam Joe auf ihn zugelaufen und küsste ihn kurz auf die Wange. Danach hielt er ihm die Türe auf und winkte ihn hindurch.
 

Gemeinsam betraten sie eine große Vorhalle, die durch Prunk und wertvolle Gemälde ausgezeichnet war. Bilder berühmter Maler wie DaVinci, Van Gogh oder Monet hingen an den Wänden, die in der Mitte wie von selbst zu stehen schienen. Sie waren keineswegs mit der Decke verschmolzen, denn diese war viel zu hoch, als dass Mauern dorthin reichen könnten. Die Wände entsprangen dem glänzenden Boden, in dem man sein Spiegelbild sah, wenn der Blick denn einmal dorthin schweifte; viel zu mächtig waren die Schätze, die die beiden von überall her umgaben. Über ihnen schwebten seidene Tücher in gediegenen Farben; ein dunkles Rot, ein samtenes Grün. Feine Strukturen waren in ihnen eingearbeitet, die hier eine kleine Landkarte und dort einen Drachen formten. Seitlich rankten die gläsernen Wände, durch die das sanfte Sonnenlicht fiel.
 

„Das ist gigantisch“, entkam es dem Mund des blonden jungen Mannes, der Halt an seinem Freund suchte. Mit einer Hand hielt er sich an dessen Schulter fest. Rick geriet ebenso ins Schwanken, denn auch ihn überwältigte der Anblick. Zwar hatte er das Gebäude von außen gesehen, doch als er es am Vortag erblickt hatte, hatte er lediglich das Schild draußen vor der Türe wirklich wahrgenommen gehabt. Er war auf dem Weg zu Julia gewesen und mit seinen Gedanken hatte er ganz woanders verweilt als bei dem, was sich hinter den gläsernen Fassaden verbergen könnte.
 

/Ich wusste nur, dass dir ein neues Restaurant gefallen würde. Und die Worte ’Ein unvergessliches Erlebnis’ klangen einfach perfekt… Aber dass sich solch ein Werk dahinter verbergen würde, konnte ich nicht erahnen. Es übersteigt meine größten Erwartungen…

Dir, Joe, kann es nicht das Wasser reichen, obgleich es an Wert immens zu sein scheint. Im Gegensatz zu dir ist es mit Geld bezahlbar…/
 

„Ein wahres Wunder“, bestätigte Rick.
 

„Wenn die Herren mir bitte folgen mögen.“

Ein stattlicher Mann stand plötzlich vor ihnen und verbeugte sich tief. Sein dunkles Haar fiel dabei nicht nach vorne, denn es war durch einen Hut fixiert. Während er ihnen ein höfliches Zunicken gewährte, war seine Haltung weiterhin graziös und gleichzeitig vollkommen stramm. Der schwarze Anzug, der an Makellosigkeit kaum zu übertreffen war, glänzte aufgrund der weichen Strahlen, die von draußen hereindrangen. „Wünschen Sie einen Tisch mit Aussicht auf die Kathedrale oder einen mit Kerzenschein?“

Mit seinen braunen Augen sah er seine Gäste freundlich an, trug kein Lächeln auf den Lippen, vielmehr einen Ausdruck von Hochachtung und Grazilität.
 

Vorsichtig drückte Joe seine Finger in die Schulter seines Freundes. Er wollte Rick entscheiden lassen.
 

„Mit Aussicht auf die Kirche, bitte“, entgegnete der Dunkelhaarige unentschlossen.
 

Benommen liefen sie hinter dem Angestellten her und wurden über eine weitläufige Treppe, auf der rotener Samt ausgelegt war, in die obere Etage geführt. Von dort konnte man hinunter blicken in die Vorhalle und auf die Gemälde, deren Echtheit dadurch sichergestellt war, dass sie hinter durchsichtigen Kästen prangten, die mit Sensoren ausgestattet waren, die bei der kleinsten Berührung in halsbrecherischen Alarm ausbrechen würden.
 

„Ist dieser Platz genehm?“
 

Rick und Joe sahen sich kurz um, sich an und dann nickten sie beide, wenn auch sie zu bewegt waren, um die Pracht gänzlich wahrnehmen zu können, die sie mit ihrer Präsenz fast schon erschlug.
 

„Danke“, sprachen sie wie aus einem Munde, als sich der Mann von ihnen entfernte.
 

Nachdem sie sich auf die golden schimmernden Stühle gesetzt hatten, folgte Ricks Joes Blick hinaus gen Osten, wo der Glockenturm weit in den Himmel ragte. Man konnte nicht nur die Turmuhr sehen, sondern das gesamte Kirchengebäude, das selbst für Veneawer, eine Stadt von etwa fünfhunderttausend Einwohnern, ziemlich groß war.
 

„Man hat das Gefühl, man befände sich am heil’gen Ort.“
 

„Veritatis lux, der Wahrheit Licht“, meinte Rick nach einem Moment der Stille.
 

„Meinst du, sie haben das Restaurant aufgrund des Blickes auf die Kathedrale so genannt?“
 

„Dessen bin ich mir sogar sicher, denn sieh nur, wie sie dort erhaben verweilt. In der Kirche legen die Menschen ihre Sünden ab und beten zu Gott. In ihren Gebeten suchen sie die Wahrheit, der sie sich nicht mehr gewahr sind und sie verzweifelt erhoffen.“
 

„Ich war schon ewig in keinem Gottesdienst mehr.“
 

„Wenn man nach den schönen Dingen im Leben sucht, braucht man keine Predigten, die einen auf den rechten Weg führen. Oft enthalten die Reden der Pfarrer nicht den Inhalt, den man sich ersehnt, darum sollte man selbst nach den Worten suchen, die einem weiterhelfen.“
 

/Und wie ich sie gesucht habe in dem Chaos meines Herzens… Anstatt sie zu ergreifen, habe ich sie zurückgestoßen wie eine Hand, die mir nicht behagt… Aber nun tauchen sie wieder auf aus dem Nichts, in die ich sie verbannt hatte, dank des heilenden Wortes, das meine Seele berührt…/
 

„Wie ich meine Mutter kenne, besucht sie täglich die kleine Kapelle am Fuß des Berges“, fuhr Rick in Gedanken fort und realisierte nicht, dass ihn der Größere anschaute. „Ob ihre Beichte nun bewirkt, dass ich mich nach meinem Zuhause sehne!?...

Es ist wirklich schön hier.“

Rick wandte den Kopf und sah sogleich in hellgrüne Augen, die ihn traurig anblickten.

„Mir geht’s gut, sorge dich nicht länger um mich.“
 


 

Nach einigen Minuten saßen sie vor herrlich duftendem Essen und Joes Miene wurde endlich wieder weich und verlor die Besorgnis, die er immer noch ob seines Freundes hegte. Der Duft von gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase und er wiegte sich für einen Moment darin.
 

Rick lachte herzhaft. „Kaum siehst du Essen, schon vergisst du dein Benehmen.“
 

„Was meinst du?“
 

„Bewahre ein wenig Haltung und sinke nicht gleich mit der Nase in den Teller.“
 

„Bevor du mich weiter maßregelst“, der Blonde erhob das Weinglas, „auf uns!“
 

Mit einem Lächeln auf den Lippen stieß Rick an und trank einen Schluck von dem Merlot, den sie sich für den Anlass, weshalb sie hier sind, ausgesucht hatten. Ihre Verabredung war besiegelt und die rote Flüssigkeit rann wohlig seine Kehle hinab.
 

Das Essen schmeckte so herrlich wie es roch. Dass sie dafür tief in die Tasche greifen mussten, ließ sie kalt, denn solch einen Augenblick gab es nur einmal im Leben und der musste gebührend verbracht werden. Nicht der Prunk um sie herum machte die Atmosphäre behaglich und wunderschön, sondern der Fakt, dass sie einander in die Augen sehen konnten, wenn sie wollten, dass sie einander hatten… dass sie sich liebten.
 

Im gelblichen Licht der Sonne speisten sie.
 

Unbehelligt redeten sie.
 

Tief verflochten sich ihre Blicke.
 


 

„Ich muss meine Meinung revidieren, so leid mir das tut.“ Entschuldigend hob Joe die Hände. „Das Essen konkurriert mit deinen Kochkünsten und ich weiß ehrlich nicht, wem ich den Vorrang geben soll.“
 

„Das Restaurant hat fünf Sterne, wie soll ich denn da heranreichen?“
 

„Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, doch ich muss zugeben, dass du hier noch ein wenig lernen könntest.“
 

„Ein wenig, sagst du“, lachte Rick. „Nett umschrieben.“
 

„Ich meine das aber so, wie ich es sage.“
 

„Solange ich dir das nicht abnehmen muss, ist das okay.“
 

„Zweifelst du an meiner Glaubwürdigkeit?“
 

„In diesem Falle schon.“
 

„Wie grausam von dir.“
 

„Weißt du, was fünf Sterne sind? Ein, zwei, drei“, Rick zählte die Finger seiner Linken ab, „vier, fünf!“ und wedelte mit ihnen vor Joes Augen herum.
 

„Behandle mich nicht wie ein Kleinkind.“
 

„Wenn du dich aber so verhältst.“
 

„Schreie ich nach einem Lutscher?“, entgegnete der Blonde liebevoll sarkastisch.
 

„Du u-m-s-c-h-m-e-i-c-h-e-l-s-t mich, um i-h-n zu bekommen.“
 

Joe hielt eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten. Mit hoch gezogener Augenbraue sah Rick ihn an.
 

„Was?“, wollte er fragen, doch die Belustigung in Joes Gesicht ließ ihm das Wort im Halse stecken bleiben. Statt sich doch noch um eine Erwiderung zu kümmern, verschränkte er die Arme vor der Brust.
 

„Es leben die Zweideutigkeiten!“ Für einen Moment hatte der Größere die Hand vom Mund weggenommen, doch schon weilte sie wieder dort.
 

Rick dachte nach, was sein Freund meinen könnte und mit einem Mal konnte er dem Blick des Blonden nicht mehr standhalten. Verlegen sah er in Richtung Kathedrale, die nun nur noch halb im Schein der Sonne stand. Jetzt konnte Joe doch nicht mehr an sich halten und lachte herzhaft. „Welchen Lutscher hätten Sie denn gerne? Na DEINEN, welchen sonst“, scherzte er mit Freudentränen in den Augen.
 

„Der bleibt dir von nun an verwehrt.“
 

„Ich dachte nur kleine Kinder sind trotzig.“
 

„Immerhin hast du deinen Part wieder übernommen“, meinte Rick mit einem Anflug von Süffisanz.
 

„Konnte ja auch nicht angehen, dass du der Unanständigere von uns beiden bist.“
 

„Aller guten Dinge sind drei, oder?“
 

Der plötzliche Themenwechsel ließ Joe erst einmal stutzen. Dann sah er seinen Freund neugierig an.
 

„Das war etwa noch nicht alles?“
 

Rick langte in die Tasche seiner schwarzen Hose und holte ein kleines, flaches Schmuckkästchen hervor. „Nein kein Ring, denke es erst gar nicht!“
 

„Den Antrag müsste schon ich machen.“
 

„Wie?“ Entgeistert fiel Rick beinahe das Kästchen aus der Hand. Vorsichtshalber legte er es auf dem Tisch ab.
 

„Nichts. Also weiter im Text?“
 

„Ja also,… ich suchte nach einer Kleinigkeit, die wir beide bei uns tragen könnten und die den einen an den jeweils anderen denken lässt.“
 

„Und was ist da drin?“
 

Rick schob das Kästchen vor seinen Freund und wartete ab, dass er es öffnete. Wenig später hielt der Blonde zwei silberne, dreiblättrige Kleeblätter in seiner Hand.
 

„Normalerweise sollen Kleeblätter Glück bringen, wenn sie vier Blätter haben, doch ich finde, man sollte den dreiblättrigen ebenso viel Respekt gebühren… Findest du die kindisch?“
 

„Wie kommst du darauf?“
 

„Dein kritischer Blick!?“
 

„Du bist nun mal heillos romantisch“, erwiderte Joe lächelnd, drückte eines der Kleeblätter Rick in die Hand und steckte sich das andere in die Brusttasche seines Hemdes, wo es nah an seinem Herzen liegen konnte.

Kapitel 33

Kapitel 33
 

Mit gläsernem Blick sah Rick aus dem Fenster und bedachte die Dächer der Stadt mit Geringschätzung. Vor Stunden war er aus dem Schlaf gerissen worden und starrte nun schon seit einer ganzen Weile mürbe durch das Glas, das ihn vor der schwarzen Nacht abschirmte. Die Laternen waren bisweilen erloschen und sollten erst zum Morgengrauen wieder erstrahlen, der zwar nicht mehr in weiter Ferne lag, dennoch noch ein wenig auf sich warten ließ. Die Welt schien still zu stehen, keinerlei Regung zeichnete sich draußen ab, nicht einmal der sachteste Wind schien vorzuherrschen, denn selbst die Bäume verharrten ruhig in ihrem tristen Sein. Der Herbst hatte ihnen alle Blätter genommen und ihre Pracht sollten sie erst zum Frühling, wenn die Tage wieder länger und heller wurden, zurückerhalten.

Die Melancholie, die ihn beschlich, verurteilte Rick mit einem lauten Seufzen. Joe lag hinter ihm im Bett und schlief in Frieden und er? Er stand hier auf dem kalten Boden, allein, dem Schutz und der Geborgenheit entrissen. Seine erste, offizielle Verabredung lag nur wenige Augenblicke zurück, schien aber ihren Glanz verloren zu haben. Und das alles wegen einem Traum… wegen einem armseligen Traum, der ihm dazu gänzlich paradox vorkam. Jedes einzelne Wort, jede einzelne Tat waren nur Hirngespinste gewesen und doch fühlte er ein stechendes Ziehen in seiner Brust.
 

Der Tod hatte sich in sein Denken geschlichen…
 

Noch immer erzitterte der Dunkelhaarige, wenn er an die verzweifelten Schreie dachte, die an ihn gerichtet gewesen waren. Kreischende Töne, die von überall her widergehallt waren und dies wohl noch immer taten, denn seine Hände ballten sich unbewusst zu Fäusten und sein Körper war völlig stramm. Sein leicht geöffneter Mund sog keuchend das Gemisch aus Stickstoff, Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid ein und stieß es hart und unkontrolliert wieder aus. Das wenige Licht, das die Sterne am Himmel von sich gaben, ließen seinen blassen Teint für niemanden erahnen, gab die Leere in seinen Augen keinem preis.
 

„Ahhhhhhhhhhhh! Riiiiiiiick, duuu-“
 

Die Schreie sollten endlich aufhören! Er konnte sie nicht länger ertragen, aber sie verebbten nicht. Nichts brachte sie zum Verstummen, so sehr er den Wunsch auch hegen mochte. Ebenso wollte er das weiche Gesicht nicht mehr vor sich sehen, wie es schmerzverzerrt nach Hilfe schrie und ihn dabei merklich fokussierte.
 

/Dein Blick, der sich tief in mich einprägen möchte, verurteilt mich bis aufs Letzte. Dabei kannst du die Schuld doch nicht allein auf mich abwälzen,… Dass mir mein Verstand solch einen Traum beschert, begreife ich nicht, vor allem nicht nach diesem Brief, aber ich fühle noch immer diesen Stich im Herzen, der mich übermannte, als ich sah, wie sich ihre Augen das allerletzte Mal öffneten und das Licht der Welt erblickten und dann für immer schlossen… Jetzt, wo ich beschlossen habe, nach Hause zurückzukehren, wird mir der Tod meiner Mutter prophezeit…/
 

„Ein Traum“, entwich seinen Lippen. „Nur ein wahnsinniger Traum, der…“
 

/… mich zum Weinen bringt…/
 

Kleine Perlen flossen nun an seinen Wangen hinab. Als er allmählich realisierte, dass ihn der Verlust seiner Mutter tief traf, konnte er sich dem salzigen Nass nicht mehr verwehren. Er hatte ihren Brief in den Händen gehalten und nun trauerte er über ihren Tod, der nicht real war,… lediglich ein Trugbild seines inneren Ichs. Warum um alles in der Welt träumte er so etwas? Insbesondere jetzt, wo er doch seine Eltern bald besuchen wollte…
 

/Mir ist das Glück einfach nicht vergönnt. Immer wieder stellen sich mir ganze Gebirge in den Weg, die ich nicht zu erklimmen vermag. Durch was habe ich das verdient? Sag’ mir, weshalb mich immer von neuem Dinge plagen müssen…!/
 

Eine unerwartete Wärme ließ ihn seine Augen weit aufreißen.
 

/Sieh’ weg! Du sollst mich nicht schon wieder tränenüberströmt sehen…/
 

„Was stehst du mitten in der Nacht hier am Fenster?“, hauchte Joe sanft ganz nah an seinem Ohr.
 

/Er kann sie nicht sehen…!/
 

„Ich konnte nicht mehr schlafen“, erwiderte er, um eine ruhige Tonlage bemüht. Hatte der Blonde dennoch sein Beben in der Stimme bemerkt? Eigentlich war es nicht zu überhören gewesen.
 

„Mhh, dein Haar riecht gut, mein kleiner Romantiker.“
 

Starke Arme legten sich zärtlich um seine Hüften. Die Berührung war so wunderschön, so wohlig, und dennoch wollte Rick sich sofort wieder aus ihr befreien. Joe hatte schon oft genug seine Tränen getrocknet, es war an der Zeit, ihnen selbst Einhalt zu gewähren, sie nicht dem Wesen aufzubürden, das ihm so viel bedeutete.
 

„Ich…“ Mehr Worte brachte der Dunkelhaarige nicht über die Lippen. Stattdessen streifte er Joes Arme sachte von sich und ging stumm an dem Größeren vorüber. Mit weiteren silbrigen Perlen auf den Wangen legte er sich ins Bett, vergrub sich in die hinterste Ecke, presste sich an die Wand, die sich kalt auf seiner Haut anfühlte.
 

„Rick?“ Mit einer einzelnen Handbewegung schaltete der Blonde das bläuliche Licht an, das das Zimmer in einen fahlen Schein tauchte. Er besah sich nicht lange das unruhige Auf und Ab der Zudecke, schlüpfte alsbald selbst unter diese. Das Bett war noch warm und daher viel angenehmer als die Kälte an nackten Füßen.
 

/Nein, lass deine Hand nicht durch mein Haar streichen, ich muss endlich lernen, alleine mit meinen Ängsten fertig zu werden… Deine Finger sind so unendlich liebevoll und lassen mich nach mehr ersehnen… Nicht, Joe, näher dich nicht meinem Gesicht, sonst erkennst du doch noch, dass ich-/
 

„Tränen?“
 

Eiserne Stille trat ein und Joes Hand ruhte auf Ricks feuchter Wange. Keiner von beiden regte sich mehr und ihr Atem war das einzige Geräusch, das noch von Leben zeugte.
 

/Ja Tränen… meiner Bestürzung… Nun gibt es wohl kein Zurück mehr… Ich weiß sehr genau, was du von mir erwartest; ob ich dir gerecht werden kann, weiß ich nicht…/
 

„Ich…“ Wieder brach Rick ab. Für einen Moment schloss er die Augen und hörte auf das gleichmäßige Atmen seines Freundes. „Ich habe gesehen, wie meine Mom… starb.“
 

/Nun drückst du mich fest an dich und spendest mir Trost. Aber das war nicht die einzige Last, die meinen Traum begleitete… Möchtest du ernsthaft wissen, welche Vorwürfe sie mir vor ihrem Tod machte?/
 


 

„Bevor der Tod sie mit sich nahm, hat sie mir die Schuld dafür gegeben, dass ihrer beider Leben von Kummer und Elend geprägt gewesen waren. Dass die Lippen meines Vaters kein Lächeln mehr geziert hatte, dass sie sich aufgrund des Geredes der Nachbarn aus dem öffentlichen Leben zurückziehen hatten müssen… Ich sei der Grund gewesen, weshalb sie krank geworden war… Wegen mir ist sie gestorben.“
 

/Ich bin ein Sünder… Möchtest du mit einem Übeltäter wie mir zusammen sein?/
 

Eine ganze Weile lang beherrschte wieder vollkommene Stille den Raum. Irgendwann legte Joe dann seine Lippen an sein Ohr und hauchte hinein:
 

„Du hast nur geträumt, Rick.“
 

/Habe ich das tatsächlich? – Vielleicht hätte ich ihnen niemals Vorwürfe machen dürfen. Schließlich bin ich es, der missraten ist…/
 

In Ricks Herz kehrte der Schmerz zurück, den er für einen Tag ablegen hatte dürfen. Sanft, zärtlich, warm waren die Stunden mit Joe gewesen, die ihn all das vergessen haben lassen, was ihn quälte.

All die Verzweiflung begrüßte ihn nun, die ihn bald wahnsinnig gemacht hatte. Nur bestand sie plötzlich nicht mehr aus der Wut und dem Zorn, den er gegenüber seinen Eltern gehegt hatte, nein… er setzte sich auf einmal aus Scham und Selbstanklagen zusammen. Es war schon grotesk. All die Monate hatte er geglaubt, dass er nie verzeihen könnte, dass er nie vergeben könnte.
 

/Und dann sehe ich den Tod meiner eigenen Mutter…/
 

Waren ihre Verurteilungen gerecht gewesen?
 

/Ich bin nicht der Sohn, den sie sich immer erhofft haben. Ich wurde ihren Erwartungen nicht gerecht, die sie insgeheim hatten… /
 

Hatte er denn selbst versagt?
 

Schwere und Unmut begleiteten das verzagte Schlagen seines Herzens.
 

/Hätte ich versuchen müssen, eine Frau zu lieben?/
 

Ein hohles Lachen entwich mit einem Mal Ricks Kehle, was die Frage, was mit ihm los sei, zur Folge hatte. Doch der Dunkelhaarige blieb eine Antwort schuldig.
 

/Nie hätte ich sie so lieben können wie Joe. Alles in mir verzehrt sich nach ihm…/
 

„Und nun denke ich darüber nach, dass es falsch sei?“, fragte er höhnisch die Wand, die ihm nur leblos entgegenblickte.
 

„Was?“ Joe klang besorgt.
 

„Dass ich dich liebe“, entgegnete der Kleinere verächtlich.
 

Rick hörte, wie Joe schluckte und wohl nach Worten suchte. Irgendwann atmete der Blonde dann tief ein und erhob doch seine Stimme: „Die Gesellschaft möchte uns in ein Modell pressen und wenn wir den geforderten Ansprüchen nicht genügen, werden wir ausgemustert und für misslungen erklärt… Als Fehlerware landen wir dann auf der Müllhalde.“
 

/Fehlerware…!/
 

Ricks Körper versteifte sich merklich und er hätte am liebsten um sich geschlagen, um die Emotionen, die gerade in diesem Moment in ihm wüteten, herauszuwinden, doch er fühlte sich so unendlich taub.
 

„Du hast nur geträumt, Rick…“
 

Da war wieder dieser Satz! Nur ein Traum! Nichts weiter!
 

„Deine Mutter lebt und wünscht sich, dich zu sehen und dich in ihre Arme zu schließen.“ Zum Ende hin verebbte Joes Stimme.
 

Wild bebten Ricks Lippen, die ein einziges Wort formten: ’Fehler’…
 

Allmählich stahlen sich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durchs Fenster und schimmerten golden an der Wand, auf die Rick noch immer blickte. Das Tageslicht vertrieb die finstere Nacht, wies die Dunkelheit in ihre Schranken. Vermochte es dies auch mit seinem Gemüt zu tun?

Gleichmäßiges Atmen drang an sein Ohr, Joe schien wieder eingeschlafen zu sein. Er konnte es ihm nicht verdenken, denn er hatte nichts mehr gesprochen und das Schweigen in der zuvor bläulichen Färbung hatte anscheinend die Müdigkeit verstärkt. Lange lauschte er dem stetigen Ein und Aus.
 

/Wahrlich habe ich den gestrigen Tag mit dir genossen. Die Sorglosigkeit durfte mir endlich einmal wieder zuteil werden, wofür ich dir gerne im Gegenzug Glauben schenken möchte. Es war untrüglich nur ein Traum, der nicht der Realität entspricht. Aber er hat mir gezeigt, dass ich endlich ein ’Ja!’ geben kann… Ja, ich kann euch vergeben! Ich mag euren Vorstellungen nicht genügen, aber ihr bereut wohl ebenso wie ich. Wenn Joe mir keine Lügen aufgetischt hat und das wird er sicherlich nicht getan haben, dann möchte ich euch unter die Augen treten, um mich davon zu überzeugen, dass ich für euch kein Fehler bin… keine Fehlerware, der er euch auf immer entledigen wolltet…!/
 

Fest presste er seine Lippen aufeinander und sog die Luft streng ein, um sie dann nach und nach wieder auszustoßen. Er fühlte sich schwach, die Nacht hatte keinen erholsamen Schlaf mit sich gebracht.
 

/Euer Stolz hat euch dazu getrieben, mich nicht zu kontaktieren…/
 

Seine Lider wurden immer schwerer und sein Blick trübte sich mehr und mehr.
 

/… ihr ward nicht besser als diese verdammte Gesellschaft…/
 

Ein Gähnen begleitete seine Gedankengänge und ließ ihn sich nah an Joe kuscheln.
 

/… ihr seid meine Familie, die…/
 

Ohne seinen Gedanken zuende führen zu können, schlief er ein.
 


 

Durch den Traum hatte Rick begriffen, dass er seine Eltern unwiderruflich liebte. Ohne ihnen noch einmal gegenüber getreten zu sein, konnte er keinen von ihnen sterben lassen. Er wollte weder seine Mutter noch seinen Vater verlieren ohne sich je mit ihnen ausgesprochen zu haben. Der Tod bedeutete, sie nicht mehr zur Rede stellen zu können… sie nicht mehr sehen zu können. Ebenfalls würde er verlauten, dass er nie wieder die Möglichkeit bekäme, in Frieden von ihnen Abschied zu nehmen, wenn es denn einmal so weit sei. Mit Hass auf sie wollte er keinen von ihnen aus dieser Welt gehen lassen. Das oblag gänzlich seinen Vorstellungen.

Daran, dass seine Eltern einmal starben, hatte er nie gedacht. Erst sein Traum verdeutlichte ihm, dass alles endlich war und sich an keinem ewigen Leben ergötzte. Er würde sich nie verzeihen, sie zu begraben ohne sie ein letztes Mal in den Armen gehalten zu haben. Lieber verzieh er ihnen…

Kapitel 34

Kapitel 34
 

„So gern ich dich habe, Rick, mich schmerzt es, dass du mir immer ausweichst. Selbst heute Nacht hast du mir wieder nicht gleich vertraut.“
 

Mit einem Mal brach Joes Stimme ab und seine Worte wurden von traurigen Blicken abgelöst, die er aus dem Fenster zu seiner Rechten warf. Die Sonne schien hell ins Zimmer und tauchte den Tisch in ein sanftes Licht, das dieser leicht reflektierte. Während Rick auf einem der Stühle saß, die Arme um den Körper geschlungen, stand der Blonde hinter der Lehne eines anderen Stuhls und fuhr mit seinen Fingern über das Holz. Seine Mimik verhieß Leid und sein Herz rief nach Besänftigung. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass ihn Rick vor den Kopf gestoßen hat, und allmählich war er es leid, von ihm nicht als absolute Vertrauensperson angesehen zu werden. Sie verband eine tiefe Freundschaft und nun Liebe, doch anscheinend bedeutete das nicht, dass er an Ricks Innerem teilhaben durfte; zumindest nicht dann, wenn er nicht immer wieder darauf bestünde, dass er es erfahre.
 

„Du verschweigst mir immer wieder Fakten, die dir vielleicht nicht entscheidend vorkommen mögen, für mich aber genau d-a-s sind. Ich dachte, ich könne darüber hinwegsehen, dass du mir den Kuss des Kerls aus dem Supermarkt vorenthalten hast, ebenso deine Liebe zu mir. Es tat weh, von dir getrennt zu sein, weshalb ich dir verziehen hatte und das Thema ruhen lassen wollte, doch dass du mir heute erneut aus dem Weg gehen wolltest, reißt noch eine tiefere Wunde in mein Herz.“
 

Die ganze Zeit über hatte Joe weiterhin aus dem Fenster gesehen, doch nun fixierte er den Dunkelhaarigen mit seinen grünen Augen, die nicht vor Wut glänzten, sondern aufgrund der salzigen Nässe, die sich heimlich hineingeschlichen hatte. Er mochte diese Sensibilität nicht, die sich in den letzten Tagen zu seinem Repertoire von Emotionen gesellt hatte, und hätte sie gerne alsbald wieder aus ihm gestrichen. Alles in ihm verkrampfte sich und er spürte die Feuchtigkeit, die sich in seinen Augen sammelte, und dafür verfluchte er Ricks Schweigsamkeit. Tränen gehörten partout nicht zu seinem Auftreten. Vielleicht vermochte er sie stets bei dem Kleineren zu trocknen, doch eigene hielt er für überflüssig.
 

/Weshalb sagst du nichts? Lässt mich hier stehen und meidest mich anzusehen…/
 

„Der gestrige Tag war wunderschön und ich behalte ihn in guter Erinnerung, egal, was war oder noch kommen mag… Dass du durch deinen Traum geschockt warst, kann ich dir sehr gut nachempfinden, aber ich begreife nicht, warum du mich immer wieder von dir stößt. Den Tod der eigenen Mutter zu sehen“, er sah, wie Rick zusammenzuckte und wollte eigentlich sofort zu ihm gehen, eine Hand auf seine Wange legen, unterließ es aber und verharrte an Ort und Stelle, „insbesondere direkt nach unserer ersten Verabredung, die einen glücklich stimmen sollte“, seine Stimme klang mit einem Mal belegt, „ist wie ein Messer, das sich gewaltsam in die Brust bohrt… Verdammt, Rick, ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst, aber du verletzt mich mit deiner Zugeknöpftheit!“
 

/Noch immer erwiderst du nichts. Dein Mund bleibt geschlossen und ich darf dir dabei zusehen, wie sich deine Hände in deiner Kleidung verhaken. Deine Gesichtszüge zeugen von Unwohlsein, dabei möchte ich, dass du lächelst, denn ein Lächeln bringt das Blau deiner Augen zum Leuchten… Wegen mir leuchten sie nicht, aber ich kann nicht anders… Ich brauche dein Vertrauen, um…/
 

Nachdem er laut ausgeatmet hatte, legte er sein gesamtes Gewicht auf die Stuhllehne und schloss die Lider.
 

„Ich würde gerne dein vollstes Vertrauen genießen, um mich von dir gebraucht zu fühlen.“
 

/Vielleicht wirke ich für dich immer wie jemand, der seine Gefühle im Griff hat, der stark ist und anderen wie dir hilft. Aber ich bin selbst nur ein Mensch, der von jemandem gebraucht werden möchte und sich unnütz fühlt, wenn er dies für keinen auf dieser Welt verkörpern kann. Darum verletzt es mich so, wenn du deinen Schmerz nicht mit mir teilen möchtest,… wenn du dich mir entwindest, um allein zu sein, oder dir ein falsches Lächeln auf die Lippen legst, um mir weis zu machen, dass alles in Ordnung sei./
 

Joe hatte nicht die Nerven, das Gespräch, wohl eher den Monolog, weiterzuführen, weshalb er den Kleineren nicht mehr ansah, als er die Lider wieder aufschlug. Kleine Perlen schimmerten in seinen Augenwinkeln, was ihn sichtlich störte, denn er wischte sie sich sogleich mit dem Ärmel seines weinroten Pullovers beiseite. Zermürbt rückte er seinen Stuhl nach hinten und ließ sich darauf nieder. Mit einem lauten Seufzen streckte er die Beine von sich und bettete sein Kinn in seine Rechte, deren Ellenbogen er auf dem Tisch abstützte.

Bangende Stille erfüllte den Raum und hüllte sie beide in ein Netz, das sich immer enger spann. Keine Silbe durchbrach mehr die durchsichtige Wand, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Die unsichtbaren Fäden woben sich in immer kleineren Kreisen um sie und drohten ihnen die Luft abzuschnüren, wenn sie sich nicht bald aus der Lethargie befreiten, die sie befallen hatte.

Rick blickte auf seinen Freund, der die Zimmerwand anstarrte, war aber dermaßen in Gedanken versunken, dass er das Antlitz des Blonden nur verschwommen wahrnahm. In ihm kreisten die Worte, die Joe von sich gegeben hatte, und er war im Augenblick alles andere als glücklich. Obwohl er erkannt hatte, dass er es vermag, seinen Eltern vergeben zu können, obwohl er den schönsten Tag seines Lebens hatte genießen dürfen, vermochte sein Herz gerade nicht, freudig zu schlagen oder sich auch nur ein wenig frei anzufühlen. Es war genau das eingetreten, wovor er sich immer gefürchtet hatte, wovor er am liebsten auf immer aus dem Weg gegangen wäre. Eine Konfrontation mit Joe war immer das gewesen, was ihn am meisten auf der Welt geängstigt hatte. Es übertraf alles, selbst all das Leid, das er durch seine Eltern oder durch den Fremden durchlebt hatte. Wie oft hatte er gedacht, er sei dem Blonden eine Last, der er sich irgendwann entledigen würde. Wie oft hatte er das Gefühl gehabt, dass er Joe nur behindere, ihm sein eigenes Leben stehlen würde, wenn er sich für ihn aufopferte. Unzählige Male hatte er sich selbst vorgeworfen, dass er endlich allein mit sich und der Welt fertig werden müsse, ohne ständig Joe mit seinen Problemen zu belästigen. Er hatte schlicht und einfach Angst gehabt, Joe verlieren zu können. Die Liebe, die ihn immer zu Joe hin gezogen hatte, war stetig größer geworden und hatte ihn somit immer abhängiger von ihm gemacht. Und was hatte er nun davon? – Joe war enttäuscht…
 

/… Wie hätte ich ahnen können, dass du dich von mir gebraucht fühlen möchtest. Niemals hast du mir den Anschein dafür gegeben, denn deine Lippen umspielte stets ein frohes oder amüsiertes Grinsen, deine hellen Augen strahlten Lebensmut und Zufriedenheit aus. Meine Angst hat dich sichtlich verletzt, obwohl ich mit meinem Verhalten genau das Gegenteil bezwecken wollte… Dass du mir den Kuss des Widerlings doch noch böse nehmen würdest, wusste ich tief in meinem Inneren, wollte mir dies seit vorgestern aber nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Und dann ist es nicht mal der Kuss, wie du mir eben klar gemacht hast, sondern die Tatsache, dass ich dir nichts von ihm erzählte. Aber wie hätte ich das denn gekonnt? Gerade als du mir näher gekommen bist, hätte ich dir doch nicht ins Gesicht sagen können, dass mich ein anderer Mann küsste, selbst wenn dies gegen meinen Willen geschah! Und dass ich dich liebe schon gar nicht… Ich befürchtete, dich zu erschrecken oder dich damit wieder von mir zu distanzieren… Und was wäre gewesen, wenn ich dir früher meine Liebe gestanden hätte? Verflucht, du standest auf Frauen! Wie hätte ich da eine Chance haben können…!/
 

Allmählich drang lautes Kindergeschrei von der Straße auch an Ricks Ohren. Joe hatte das unbeschwerte Lachen schon eine Weile lang missmutig vernommen, weshalb er seine Lippen immer fester aufeinanderpresste. Das Glück, das ihn von oben bis unten erfüllt hatte, als er mit dem Dunkelhaarigen durch die Straßen von Veneawer gelaufen war und im Restaurant einen wundervollen Abend verbracht hatte, schien in weiter Ferne zu liegen und ihm nun abhanden gekommen zu sein. Er wollte es erneut spüren, aber das vermochte er nicht, ehe Rick ihm nicht den Schmerz in seiner Brust nahm. Wie sehr hatte er daran geglaubt, dass sein Freund ihm nun endlich bedingungsloses Vertrauen entgegenbringen könnte, einige Stunden zuvor jedoch war ihm dieser Glaube genommen worden.

Rick haderte noch immer mit sich. Die Laute der Kinder hallten nun zusätzlich in seinem Verstand und mischten sich sowohl mit Joes Worten als auch mit seinen eigenen unausgesprochenen Gedanken. Wild pochten sie in seinem Kopf, zumal sie begannen, herumzuwirbeln und ihre Klarheit und ihren Sinn zu verlieren. Bald waren sie nur noch zusammenhanglose Fetzen, die ein einziges Ziel verfolgten, nämlich ihm stechende Schmerzen zu bereiten. Unbewusst griff er sich an die Schläfen und rieb in kreisenden Bewegungen über sie. Trotz langer Kur wollten seine Finger keine Linderung bringen. Sein Haupt fühlte sich immer mehr danach an, gleich platzen zu wollen. Gequält hielt er inne und versuchte angestrengt das Chaos in seinem Verstand zu beseitigen. Doch umso mehr er sich darum bemühte, umso schlimmer wurde das Pulsieren in seinem Kopf. Ruckartig erhob er sich von seinem Stuhl, der unter der Schnelligkeit, mit der er das tat, wankte und letztendlich scheppernd umfiel. Mit den Händen über den Ohren stürmte Rick aus dem Zimmer und ins Bad, wo er kaltes Wasser im Waschbecken aufdrehte und sogleich seinen Kopf darunter hielt. Das erfrischende Nass besänftigte das Hämmern, das ihn ansonsten noch völlig irre gemacht hätte. Nach einigen Minuten hob er vorsichtig seinen Kopf an, löste ihn auf diese Weise aus dem Wasserstrahl und sah in den Spiegel, aus dem ihm sein Abbild entgegenblickte. Bekümmert waren die Augen, die ihn ansahen. Auch wenn ihm sein Anblick völlig missfiel, war er dennoch erleichtert, dass das Pochen mehr oder minder ein Ende gefunden hatte. Ohne sich weiter im Badezimmer aufzuhalten, schlurfte er zurück zu Joe, der noch immer teilnahmslos, aber mürrisch
 

/Und doch ein wenig besorgt?/
 

dasaß und die Wand begutachtete.
 

„Ich kann nichts ungeschehen machen…“, begann der Kleinere leise und kniete sich vor Joe auf den Boden. Ein paar Strähnen seines durch die Nässe noch dunkleren Haares hingen ihm wild in der Stirn und feine Rinnsale farblosen Wassers suchten sich ihren Weg über seine Wangen. Während er sein Gesicht seinem Freund zugewandt hielt, schloss er für einen Moment die Lider, um in Ruhe die nächsten Worte finden zu können, die er dem Größeren zukommen lassen wollte. Die nächsten Sätze wollte er mit Bedacht sprechen, denn hastig Dahergesagtes konnte meist noch verletzender sein. Und Joe weiter weh zu tun oblag ihm vollkommen. Mit dem Meeresblau seiner Iriden suchte er das helle Grün seines besten Freundes. Zurecht entsagte das Grün, in dem er mühelos versinken konnte, dem sonstigen Funkeln.

„Kannst du dich an den Basketball erinnern, mit dem wir andauernd gespielt haben?“, fragte er bald flüsternd. „Zuletzt war er vollkommen geschunden von den vielen Spielen, die wir gegeneinander ausgetragen haben, und doch wollte ich ihn nicht gegen einen anderen tauschen. Mein Vater hatte ihn mir zum vierzehnten Geburtstag geschenkt und am selben Tag noch hast du mich zu einem Zweikampf herausgefordert. Danach haben wir uns so oft duelliert, bis…“ Mitten im Satz brach Rick ab und ein kleines Schmunzeln legte sich mit einem Mal auf seine Lippen. Unter der freudigen Erregung begannen seine Augen ein wenig zu strahlen und er fuhr sich grotesk amüsiert durchs Haar, das er sich dadurch unbewusst nach hinten strich. „Du hattest mir den Ball gerade abgeluchst und bist mit ihm in Richtung Korb gedrippelt, als es plötzlich einen leisen Knall gab und du voller Entgeisterung auf das, was vom Ball übrig geblieben war, starrtest.“
 

/Es tut so gut, dass du mich endlich wieder anlächelst, auch wenn dein Mund nur ein schwaches Lächeln ziert. Ich danke dir dafür, dass du mir zuhörst und mir Zeit lässt, dir zu erklären, was in mir vorgeht. Noch immer habe ich keine Ahnung, wie ich dich verdient habe, aber ich weiß, dass ich dich niemals verlieren möchte…/
 

„Ich war dermaßen vernarrt in diesen Ball gewesen, dass ich dich dafür sogar angeraunt hatte. Und du hattest mir das nicht einmal übel genommen… Mit dir ist es für mich irgendwie dasselbe, selbst wenn man solch einen Vergleich nicht ziehen sollte. Ich möchte dich nicht hergeben, ich möchte dich immer bei mir haben und deine Nähe spüren dürfen. Aber ich habe Angst, dich durch meinen Wahn zu verlieren. Obwohl ich nichts lieber möchte als dir meine tiefsten Gefühle mitzuteilen, dir auf irgendeinem Wege zu vermitteln, was in mir vorgeht, habe ich das für falsch gehalten. Immer war ich dir eine Last gewesen und wollte es endlich fertig bringen, allein meine Probleme zu bewältigen,… um dich bei mir halten zu können… Und nun sagst du mir, dass du dich gebraucht fühlen möchtest, dabei dachte ich immer, dass ich dich schon viel zu sehr in Anspruch nehme… Ich… Es…Ich meine… Du…“
 

Verstummend wandte Rick den Blick ab und sein Kinn sank auf seine Brust, die sich in einem langsamen Rhythmus auf und ab bewegte. Sein Kopf fühlte sich unnatürlich leer an, kein einziger Gedanke schien mehr präsent zu sein, der ihm hätte helfen können, entscheiden zu können, ob Joe das, was er gesagt hatte, verstanden hatte oder nicht. Warum musste immer solch eine bedrückende Stille einkehren, wenn man auf eine Reaktion wartete? Warum musste einem die Geräuschlosigkeit immer derart grausam vorkommen?

Kapitel 35

Kapitel 35
 

Noch immer brach sich die Stille an den Wänden, die selbst ihre Atemstöße zu verschlucken schien. Alles um sie herum war ruhig, in ein Schweigen getaucht, das die Luft schwer machte. Rick hoffte sehnsüchtig auf irgendeine Art von Reaktion des blonden jungen Mannes, entweder auf ein Wort oder auf ein Seufzen oder eine Berührung. Es war ihm völlig egal was, Hauptsache er würde sich überhaupt einmal regen.
 

/Was mag in dir gerade vorgehen?... In mir wütet ein Nichts, das immer größer zu werden scheint. Schwarze Leere, die mich verschlucken möchte… Ich brauche Erlösung, aber du rührst dich nicht. Selbst wenn ich dich nicht ansehen kann, weiß ich, dass deine Augen auf mich gerichtet sind. Ich spüre deine Blicke auf mir, kann sie aber nicht deuten… Bitte erlöse mich von meiner Ungewissheit! Ich fürchte immer mehr, dich zu verlieren… Hab ich dich denn bereits… verloren?/
 

Keinerlei Geräusche drangen von draußen ins hell erleuchtete Zimmer. Die Sonne flutete den Raum weiterhin mit einem warmen, sanften Ton, der so paradox wirkte, wenn man sich im Gegenzug die gezeichneten Gesichter der beiden Freunde betrachtete. Rick kniete demütig auf dem Boden und Joe hing halb auf seinem Stuhl, das Kinn in seine Hand gebettet.

Kleine weiße Schleierwolken zogen am Himmel entlang, nur langsam, aber mit einer friedlichen Stetigkeit. Das Wetter weckte bei vielen Bewohnern von Veneawer Frühlingsgefühle, selbst wenn die Temperaturen einen warmen Mantel erforderten. Doch in Joes Wohnung herrschte eine beklemmende Atmosphäre, die sich gegen die Gesetze der Natur auflehnte. Auf den knapp fünfzig Quadratmetern waltete bisweilen Kummer, dem tiefsten Inneren entsprungen.
 

/Anscheinend habe ich dich in einem solchen Ausmaß verletzt, dass du nun darüber nachdenkst, wie du mich jetzt von dir stoßen kannst… Mein Herz sticht… Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, es blute… Siehst du das dunkle Rot, das sich unter meinem Herzen sammelt?... Warme, zähe Flüssigkeit, die uns Menschen am Leben halten sollte…/
 

Tief sog Rick die Luft ein und hielt sie für eine ganze Weile an. Als er den Druck in seinem Körper spürte, den die Atemnot mit sich brachte, nahm er das gleichmäßige Atmen wieder auf. Die fleischliche Hülle zeigte ihm, dass er noch am Leben war, doch er hatte das Gefühl, dass sein Herz an Kraft verlor. Mit jedem Tropfen, das sich aus ihm ergoss, schien es schwächer zu werden. Es versinnbildlichte lediglich das, was in ihm vorging, aber es beschrieb dafür seine Situation sehr gut. Allein schon der Gedanke, Joe nun in der Tat von sich entfernt zu haben, war an Grausamkeit nur schwerlich zu überbieten.
 

/Sogar meine Augen entbehren schon den kleinen Perlen, die sich sonst immer ihren Weg aus mir heraus bahnen, wenn ich vor Leid bald zerbreche… Alles in mir zerschellt, wenn du von mir gehst… Bitte,… bitte bleibe bei mir!/
 

„Vor wenigen Wochen habe ich dich in eine Ruine geführt.“ Joes Stimme brannte sich in Ricks Verstand, signierte sein Denken für die Ewigkeit. „Es kommt mir wie in weiter Ferne vor und doch ist es erst kürzlich gewesen. Oben in den alten Gemäuern habe ich dir ein Versprechen abgenommen und ich hoffte die ganze Zeit, dass du seine Bedeutung verstehen würdest.“
 

Das Versprechen? Seine Bedeutung?
 

In Rick begann es zu arbeiten. Deutlich konnte er den staubigen, verwahrlosten Raum vor sich sehen, bedeckt mit Spinnweben und den Folgen vieler Jahre Einsamkeit.
 

’Wenn dir was wirklich wichtig im Leben ist, dann versprich mir, dass du es mit aller Kraft bei dir hältst.’
 

Joes ganze Erscheinung hatte in diesem Moment so unwahrscheinlich geheimnisvoll gewirkt und Rick hatte ohne großes Zögern sein Wort gegeben.
 

/Ich versprach damit, dich bei mir zu halten./
 

Kaum hatte der Dunkelhaarige seinen Gedanken zuende gesponnen, schon hob er die Augenbrauen an und anschließend seinen Kopf. Voller Fassungslosigkeit fing er sofort die Blicke seines Freundes ein.
 

„Wusstest du, dass…“ Seine Stimme versagte und er räusperte sich, um seine Frage doch noch beenden zu können. „… dass ich dich damit meinen würde?“
 

Plötzlich umspielte Joes Lippen ein federleichtes Lächeln. „Nein, nun, vielleicht habe ich es mir gedacht, ja, aber das tut nichts zur Sache.“
 

Mit verworrenem Gesichtsausdruck starrte Rick nun sein Gegenüber an. Er konnte ihm nicht mehr folgen.
 

„Was du mir versprachst, war eigentlich etwas ganz anderes, Rick.“
 

Für den Kleineren sprach Joe in Rätseln. Die Puzzleteile fügten sich nicht zusammen. Lauter ungleiche Teile, die sich einfach nicht aneinanderbauen lassen wollten.
 

In Joes Augen hob sich ein Funkeln ab, das der Überlegenheit oder lediglich der Anteilnahme entsprungen war. Rick kam sich vollkommen hilflos vor. Zum einen wusste er nicht, auf was der Blonde hinauswollte, zum anderen kauerte er hier vor ihm und fühlte sich ein klein wenig erniedrigt.
 

/Auf was wartest du? Möchtest du dich an meiner Unterlegenheit laben?... Das entspräche zwar nicht deinem Wesen, doch momentan weiß ich einfach nicht mehr, was überhaupt noch richtig und was falsch ist… Führe mich in das Licht zurück, das mich aus der Finsternis befreit… Die Schatten werden größer und wollen mich in die Tiefe stürzen… Möchtest du, dass ich ihr verfalle? – Nein, das würdest du nicht wollen… oder doch?... Wie kann ich nur so was denken!... Aber diese vielen Fragen, auf die ich keine Antworten finde, machen mich ganz wahnsinnig… Ich weiß wirklich nicht mehr, was Wahrheit und was Lüge ist… Verkrampfe ich mich zu sehr? Was ist es, was mich dermaßen durcheinander bringt? Sag’ mir, was ist der Ursprung für all das Chaos in mir!?.../
 

„Was ist dir wichtig?“
 

Warum stellte Joe mit einem Mal diese Frage?
 

’Du!’, schrie es in Rick. ’Du, verdammt noch mal!’
 

„Was mir wichtig ist?“, wiederholte der Dunkelhaarige jedoch flüsternd die Frage.
 

Die Verwirrung wurde nur noch schlimmer. Die Ratlosigkeit spiegelte sich in seiner gesamten Körperhaltung wider. Seine Finger vergruben sich in dem Stoff seiner Jeans, das Weiß ihrer Knöchel unterstrich die Bleiche in seinem Gesicht. Ebenso fahl wirkte das Meeresblau seiner Augen.
 

„Du hast etwas Entscheidendes in deiner Argumentation vergessen.“
 

Viele Fragezeichen beherrschten sein Denken. Eigentlich waren es abertausende, doch sie verschmolzen alsbald zu einem einzigen, das auf seine Stirn graviert stand.
 

„Hast du nie daran gedacht, dass du dir selbst wichtig sein solltest?“
 

/Ich… mir?.../
 


 

„Du hast mir das Versprechen gegeben, dass du auf dich selbst achtest, dass du dich selbst beschützt, dass du dir dein Herz behältst, nicht nur für jemand anderen, sondern insbesondere auch für dich selbst. Mein kleiner Romantiker,… es macht mich traurig zu sehen, dass du auf dich selbst gar keine Rücksicht nimmst. Dich an mich zu klammern kann dich nicht glücklich machen. Wahres Glück kann dich erst erfüllen, wenn du dich und dein Handeln akzeptierst. Wenn du mit dir selbst klar kommst. Dein ganzes Denken ist von den Ängsten, dass dich andere nicht lieben könnten, geprägt. Ob dies nun deine Eltern sind oder ich.“
 

Mit jedem Satz, den Joe von sich gab, sackte Rick weiter in sich zusammen. Das Organ in seiner Brust pochte wild und rief Wogen wallenden Blutes hervor, die immens waren. Er fühlte seinen Herzschlag in den Ohren und griff irgendwann nach seinem Hemd, in das er sich verkrallte.
 

„Bevor du dir Gedanken darum machst, wie ich auf deine Gefühle reagieren könnte, solltest du sie erst einmal aussprechen. Vielleicht kommen sie dir dann nicht mehr so beängstigend vor, weil du dich von ihnen befreien kannst. Du solltest nach all der schweren Zeit wissen, dass ich für dich da bin und hinter dir stehe.“
 

Joe beugte sich vor und legte seine Hände behutsam auf Ricks Schultern. Mit sanftem Druck zog er den Kleineren an sich.
 

„Ich liebe dich“, fügte er dann leise an.
 

Zitternd lehnte Rick bereitwillig seinen Kopf an Joes Beine und spürte die warmen Hände, die über ihn strichen. Gewiss musste er erst noch begreifen, was sein Freund gerade gesagt hatte, doch eine Tatsache wusste er bereits: Joe würde bei ihm bleiben! Und das nahm ihm all die Anspannung, wodurch er sich nun vollkommen erschöpft fühlte. Mit halb geschlossenen Lidern genoss er die Streicheleinheiten, die ihm zuteil wurden.
 

War er sich denn selbst wichtig? – Oft hatte er versucht, Kraft auch aus anderen Dingen zu schöpfen, Dingen, die nichts mit Joe zu tun hatten. Er wollte glücklich sein, ganz ohne Beteiligung des blonden jungen Mannes. Aber umso stärker seine Liebe wurde, umso schwerer fiel es ihm. Denn immer wieder waren seine Gedanken zu dem einzigartigen Wesen zurückgekehrt, das sein Herz mit Wärme füllte.
 

/Habe ich mich darauf versteift, dass ich nur glücklich werden kann, wenn du an meiner Seite bist?... /
 

„Deine Sensibilität verstärkt deine Gefühle und lenkt dich sogar ab und an in eine Richtung, die dich der Realität entzieht. Ich meine, du denkst meist gänzlich mit deinem Herzen und verlierst die Objektivität in mancherlei Hinsicht. Ja, wir sehen dennoch alles subjektiv, aber du hast einzig und allein d-e-i-n-e-n Blickwinkel… Rick, du solltest versuchen, dich zu schätzen, damit du mir gegenüber das Vertrauen haben kannst, das uns miteinander verbindet und das ich brauche.“
 

/Auf diese Weise hast du bisher nie mit mir gesprochen. Dein Auftreten zeugt oft nicht von viel Erwachsenheit, aber heute bist du für mich mein Freund, mein Zuhörer, mein Zuredner, mein Kumpel,… Und alles, was du sagst, passt zu mir… Das bin wirklich ich, von dem du sprichst und das ist wie ein Schock… Du kennst all meine Schwächen und ich knie wie entblößt vor dir…/
 

„Ich vertraue dir ja…“ kam es über seine Lippen, ohne dass er die Worte überhaupt gedacht hatte.
 

„Aber du versteckst dich hinter einer Mauer, gezeugt durch deine Angst“, erwiderte Joe leise. Danach hauchte er dem Dunkelhaarigen einen Kuss auf die Stirn. Seine Lippen streiften kaum die warme Haut seines Freundes und doch spürte der Kleinere sie, als ob sie mit ihm verschmelzen wollten. Die Stelle an seinem Kopf begann zu kribbeln und brachte ein wenig von der Lebendigkeit zurück, die ihm abhanden gekommen war. Vorsichtig hob Rick seinen Kopf an, um den Blonden ansehen zu können.
 

„Ich möchte dir vollends vertrauen.“ Obwohl er seine Stimme kaum fand, nickte sein Gegenüber mit einem nun völlig barmherzigen Gesichtsausdruck. Fest nahm Rick ihn nun in den Blick und griff nach einer seiner Hände, um die er seine beide schloss. „Aber ich brauche deine Hilfe.“
 

Des Herzens einz’ger Wunsch

sollt’ die Mauer brechen.
 

Abhanden einer Kund’

gab es ein Versprechen.
 

Des Inhalts wahrer Worte

war’n nur allzu fern.
 

Gedanken einer Horde

und doch noch viel zu lern’n.
 

/Du siehst mich so verständnisvoll an und in mir beginnen die Emotionen wieder zu wallen.
 

Freude darüber, dass du mich nicht allein lässt.
 

Entgeisterung bezüglich der plötzlichen Transparenz meines Seins… du sprachst all das aus, was ich nicht wahrhaben wollte und nun sehe ich all meine Schattenseiten mit einer Klarheit vor mir, die mich… schockiert.
 

Angst, mich mir selbst zu stellen.
 

Unendliche Liebe.
 

Dein Blick hält mich fest und fordert mich auf, meine Bitte ernst zu meinen. Deine Hand in meiner ist warm und ich spüre die Kraft, die dir innewohnt. Das Grün deiner Augen umgibt mich, hüllt mich ein in ein seidenes Tuch, das sich beschützend um mich spinnt. Wenn du mich so ansiehst, würde ich am liebsten meine Lider nie wieder schließen noch meinen Blick je von dir abwenden. Du leuchtest wie das Meer im Sonnenschein, birgst ebenso die Weite und die Tiefe.
 

Mit deiner Kraft werde ich meiner gewahr werden und sie für dich… nein für mich wachsen lassen.
 

Tief in mir weiß ich, dass ich es kann.
 

Ich weiß, dass ich es kann.
 

All mein zukünftiges Sein wird sich spalten und doch eins ein./
 

Wie in Trance führte er Joes Hand an sein Gesicht und strich ihre Finger über seine Lippen. Anschließend legte er sie auf seine Wange, legte seine eigene Hand darüber.
 

„Darf ich dir erneut mein Versprechen geben?“
 

„Das ist nicht nötig, weshalb du aber nicht enttäuscht sein musst, denn nun hast du verstanden, was ich von dir fordere.“
 

Nun übernahm Joe die Bewegungen seiner Hand wieder und führte sie zu dem Kinn des Kleineren. Sein Gesicht näherte sich immer weiter dem von Rick und wenig später berührte sein Mund den seinigen. Zuerst war die Berührung hauchzart, wurde aber schon bald intensiver und leidenschaftlicher. Hitze breitete sich in ihrer beider Körper aus, als ihre Zungen begannen, einen kleinen Kampf auszufechten, bei dem Joe die Oberhand behielt. Immer wieder stupste er mit der Zungenspitze gegen die von Rick, um sie gleich darauf gänzlich zu umwerben. Ihre Münder verschmolzen miteinander und ihre Lungen schrieen alsbald nach Sauerstoff. Keuchend ließ Joe nach einer kleinen Ewigkeit von seinem Freund ab und suchte sofort seinen Blick auf. Fast schon hypnotisierend sah er ihn an.
 

„Die Welt verändert sich, wir verändern uns. Du hast mich verändert. Und nun ist es an der Zeit, dass du dich veränderst. Lege deine Zweifel ab und habe Vertrauen in mich und in dich selbst. Unsere Liebe ist stark und sie wird uns helfen, das Kommende zu überstehen.“ Bestimmt griff Joe nach Ricks Rechter und legte sie sich auf die Brust. „Fühl’ meinen Herzschlag, er wird zu einem mit deinem. Wenn du es möchtest, wird uns nichts auseinander bringen.“

Kapitel 36

Kapitel 36
 

/Drei Tage sind nun vergangen, in denen du mir Zeit gabst, über mich und meine Ängste nachzudenken. Die Arbeit brachte mir ein wenig Ablenkung, bewerkstelligte, dass ich wieder einmal etwas anderes sah als dich und mich… Ein wenig Abstand, auch wenn dieser nur für einen Moment unseres ganzen Lebens war, war vielleicht das, was ich gebraucht habe, selbst wenn ich dies nicht für möglich gehalten hatte. Mein ganzes Denken richtete sich auf das neue Projekt unserer Firma und ständig kamen neue Ideen und Änderungen herein, die ich umsetzen sollte. Es machte Spaß, mich in meine Aufgabe zu vertiefen, insbesondere weil ich die zufriedenen Gesichter sah, die meiner Arbeit Respekt zollten. Mein Tun wurde gewürdigt und ich selbst bin ebenfalls zufrieden mit mir. Ich kann stolz auf das sein, was ich geleistet habe…

Am Samstag ist bereits der erste Advent und ich möchte voller Selbstachtung meinen Eltern gegenübertreten. Sie sollen sehen, dass ich mich auch ohne ihre Unterstützung in der Welt zurechtfinde. Dir, mein Liebster, habe ich dies alles zu verdanken. Du hast mir die Augen geöffnet und dafür werde ich dich auf ewig lieben. Aber am meisten freue ich mich darüber, dass dein Gesicht wieder dieses freche Grinsen ziert, das dich einfach zu dem Menschen macht, den ich seit unserer ersten Begegnung schätze. Damals waren wir noch Kinder, doch an meiner Achtung dir gegenüber hat sich nichts geändert. Ich möchte ebenso stark werden, damit ich etwas auf dieser Welt bewirken kann.

Vielleicht kann ich meine Eltern davon überzeugen, dass die Liebe zu einem Mann keineswegs absurd und widerlich, sondern genauso rein ist wie ihre eigene. Vielleicht vermag ich einen kleinen Schritt zu tun, der die Menschen dazu veranlasst, toleranter zu sein und einmal von ihren starren Vorstellungen abzusehen. Vielleicht bin ich ja wirklich der Schlüssel zu der kleinen Tür in ihrem Denken, die sie fest verschlossen halten und bei der sie sich partout dagegen wehren, ihr zu nahe zu kommen.

Ich bin euer Sohn und wenn es einer schafft, euch von der Echtheit unserer Liebe zu überzeugen, dann bin ich es. Ich habe euch bereits vergeben, denn das Leben ist zu kurz, um euch auf ewig anzuklagen. Ein letztes Mal, oder sogar das erste Mal als akzeptierter homosexueller Sohn möchte ich eure Liebe spüren.

Es ist ein harter Weg, den es zu beschreiten gilt, aber ich werde mich mit den Steinen messen, die sich vor mir auftun werden. Ich bin in meinem Denken so weit gekommen, jetzt werde ich nicht mehr kehrtmachen und mich vor den neuen Hindernissen verstecken.

Es gibt eine Person, die mich in allem unterstützt, und das ist mehr als viele von sich behaupten können. Dies ist der Grund, weshalb ich kämpfe. Um seinet- und um meinetwillen!/
 

Durch das spiegelnde Glas des Fensters beobachtete Rick den blonden jungen Mann, der wild mit einer Rolle Geschenkpapier kämpfte. Immer wieder flogen missvergnügte Worte durch den Raum mit anschließenden Seufzern, durch das sich der silberne Kerzenständer auch nicht einpacken ließ. Ein amüsiertes Schmunzeln legte sich auf die Lippen des Dunkelhaarigen, der noch einen letzten Blick aus dem Fenster warf und sich dann Joe zuwandte.
 

„Hätte ich nicht was nehmen können, das mehr einem Quader gleicht?“, fluchte der Größere weiter munter vor sich hin.
 

„Stop! Nicht bewegen! Behalte dir genau diesen grimmigen Gesichtsausdruck, bis ich…“ Rick griff sich in die Hosentasche und zog ein kleines schwarzes Gerät hervor. Flink drückte er zwei, drei Tasten, bevor er das kleine Objektiv der Camera, die in sein Handy integriert war, auf seinen Freund hielt. Bevor er ihn ablichten konnte, stöhnte er laut auf. „Ich sagte doch, du sollst stillhalten.“
 

„Anstatt sich über mich lustig zu machen, könnte sich der feine Herr einmal dazu herablassen, mir zu helfen“, brummte Joe.
 

Ein leises Klicken begleitete das mürrische Grummeln des Größeren.
 

„Komm’ sofort her!“
 

Lächelnd schob Rick sein Handy zurück in seine Tasche und funkelte seinen Freund an. „Und dann?“, fragte er betont ernst.
 

„Dann benetze ich deine Haut mit Küssen und entführe dich in eine Sphäre, der du nicht mehr entfliehen möchtest.“
 

„Jaja und nebenbei sucht deine Hand nach meinem Handy, um das Bild zu löschen. Kommt gar nicht in Frage.“
 

Resigniert ließ sich Joe ins Sofa sinken. „Hilfst du mir endlich oder nicht?“
 

„Ich frage mich, warum du solche Schwierigkeiten damit hast.“ Während Rick den bösen Blick gekonnt übersah, der an seiner Gestalt haftete, kniete er sich auf den Boden und begann abzumessen, wie groß in etwa das Stück Geschenkpapier zu sein hat, um den Kerzenhalter gerecht zu verpacken.
 

„Kann ja nicht jeder so geschickt sein wie du“, knurrte Joe doch noch.
 

„Wenn man dich so hört und betrachtet, sieht man rein gar nichts mehr von dem Joe, der mir den Kopf gewaschen hat.“ Rick hielt im Zerschneiden des Papiers inne und sah seinen Freund an. „Du magst vielleicht keine Geschenke einpacken können, doch du hast andere Qualitäten.“
 

Aus dem verdrießlichen Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal ein süffisanter. Indem er sich mit beiden Armen abstützte, richtete sich Joe auf und erwiderte den Blick mit einem Glanz, der pures Feuer und wildes Wasser zugleich zu sein schien. Als sich in Ricks Körper die erste Regung bemerkbar machte, wandte er seine Augen von seinem Freund ab und widmete sich angestrengt der Arbeit, die ihm ’höflich’ aufgetragen worden war. Mit einer Hand strich er das Papier glatt und hielt es fest, dass es sich nicht wieder zusammenrollen konnte, mit der anderen griff er nach dem Kerzenhalter und legte ihn behutsam darauf. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Joe immer näher kam und die Wärme in ihm wurde allmählich gewaltiger. Der Blonde vermochte eine Leidenschaft in ihm zu wecken, die einfach alles Erdenkliche überstieg. Die Finger des anderen berührten ihn noch nicht einmal und doch spürte er sie schon auf seiner Haut. Wie sehr er diesen Menschen liebte… konnte gar nicht in Worten ausgedrückt werden. Sein gesamtes Sein wollte von ihm berührt werden, von ihm liebkost und verwöhnt werden.
 

/Man hegt bald den Anschein, als ob zwischen uns nichts vorgefallen sei; dass nie ein tiefgründiges Gespräch stattgefunden habe, das eine ganz andere Seite an dir gezeigt hat. Du wirst nur vollkommen ernst, wenn es die Lage erfordert, ansonsten lebst du lieber ein wenig unbeschwerter in den Tag hinein, womit du deine Gefühle besser unter Kontrolle hast als ich. Trotz der Leichtigkeit, die du des Öfteren innehast, bist du beherzt und trägst Sanftmut und Einfühlvermögen in dir…

Ich spüre deinen Atem in meinem Nacken und obwohl du merkst, wie angespannt mein Körper ist, berührst du mich nicht. Das ist wie eine besinnliche Qual, die du mir aufbürdest. Dich hinter mir zu wissen erlöst mich teils von meiner Angst, die mir noch immer innewohnt. Ich glaube, es wird noch viel geschehen, was unsere Liebe herausfordert… Aber nun kniest du hinter mir und wartest darauf, dass ich mich geschlagen gebe./
 

„Du kannst noch eine Stunde so verharren und doch werde ich mein Handy nicht herausrücken“, meinte Rick ohne mehr als seine Kiefer zu bewegen. Es war wirklich nicht leicht, dem Drang zu widerstehen, sich an Joe anzulehnen und somit endlich die geringfügige Distanz zu eliminieren, die in der Tat eine quälende Note hatte.
 

„Wir werden sehen, wer von uns beiden gewinnt.“
 

Bei jeder Silbe streifte Joes Atem Ricks Hals wie eine scharfe Klinge, die sich genüsslich in die Haut grub. Die feinen Härchen an dieser Stelle richteten sich nach und nach auf und zeugten von der Erregung, die er bemüht unterdrückte. Er wollte Kontrolle über seine Gefühle erlangen und dazu gehörte auch, nicht dem kleinsten emotionalen Anstoß nachzugeben.
 

/Ich nehme die Herausforderung an, auch wenn ich dabei halb verrückt werde. Dich mir so nah zu wissen und doch nicht mehr spüren zu dürfen als deinen warmen Atem ist eine Tortur. Breitet sich in deinem Körper die Hitze ebenso schnell aus wie in meinem? Ersehnst du genauso deine Hände über mich gleiten zu lassen wie ich es mit meinen bei dir gerne tun würde? Würdest du deine Lippen auch gerne auf meine pressen? – Gott, wie ich das jetzt gerne tun würde! Deine sanften Lippen unter meinen spüren, die sich immer fordernder um mich bemühen… /
 

Ricks Atmung beschleunigte sich und er kniff seine Augen fest zusammen, um seine Position nicht aufzugeben. Immer wilder pochte sein Herz und er vermochte es nicht zu besänftigen. Joe war keine fünf Zentimeter von ihm entfernt und doch schien der Abstand folternd wie tausende von Kilometern zu sein. Allmählich glaubte Rick, die Luft begänne zu vibrieren und vor Spannung elektrisierend zu werden.
 

/So nah… du bist mir so nah… Wie lange kann das ein Mensch nur ertragen?... Ich spüre, wie mein Körper selbständig werden möchte, um dem Drang in mir endlich nachzugeben, aber solange ich noch wenigstens teils Herr meiner Gedanken bin, werde ich dies nicht zulassen! Nicht noch einmal werde ich dermaßen schwach sein, nein, ich kämpfe!/
 

„Du lernst ziemlich schnell“, kam es gebrechlich über Joes Lippen.
 

/Du hast ebenso Mühe dich zurückzuhalten wie ich und das macht mich stark, so wie du es möchtest… Die Wellen, die in mir tosen, werden immer höher, aber ich muss sie im Zaum halten… ich muss…/
 

„Deine Lehren sind eben sehr effektiv“, presste Rick hervor, die Augen lediglich zu schmalen Schlitzen geöffnet. Der Raum vor ihm glich einer verschwommenen Silhouette, die ständig ihre Form veränderte. Sein gesamtes Umfeld schien mit ihm zu beben.
 

„Der Meister sollte sie nur selbst einhalten können“, meinte der Blonde, während seine Finger bereits zitternd nach Rick tasteten. Bevor sie jedoch mit dem jungen Mann vor ihm in Berührung kamen, wurden sie wieder zurückgezogen.
 


 


 

„Ich kann nicht mehr, ich halte das nicht aus!“ Er hatte seinen Satz nicht einmal beendet, da schlang er seine Arme bereits um den Kleineren und zog ihn fest an sich und vergrub sein Gesicht in dessen Nacken. Sofort hauchte er ein paar wilde Küsse auf Ricks Hals und sog anschließend den Duft, den dieser verströmte tief in sich ein. „So ist’s viel besser“, fügte er leise an ohne dabei seine Lippen von der erhitzten Haut unter ihnen zu nehmen.
 

Die Wellen peitschten an die Felsen, die Rick gedanklich errichtet hatte; die steinigen Brocken wurden unter einer meterhohen Welle begraben und sein Drang, Joe intensiver zu spüren, war mit einem Mal unwiderstehlich. Seine ganze Gegenwehr wurde mit einem Schlag unschädlich gemacht, so groß sie gerade noch gewesen sein mochte. Nichts auf der Welt konnte ihn jetzt noch aufhalten, sich seinem Instinkt hinzugeben und in dem Rauschen des Meeres zu versinken.
 

„Der Sieg ist mein“, lächelte Rick und drehte seinen Kopf, um Joe in die Augen sehen zu können, die vor Leidenschaft funkelten. Der Blonde schloss langsam seine Lider und brachte dabei seine Lippen ganz nahe an die von Rick. Noch immer lächelnd umschloss der Dunkelhaarige sie und forderte seinen Gewinn ein, der ihm in keinster Weise verwehrt wurde.
 

/Derart schön könnte das Leben immer sein. Wir küssen uns, wir schmecken einander und nichts stört unser Beisammensein…/
 

„Und nun packst du fertig ein“, keuchte Joe irgendwann an Ricks Mund. Frech zwickte er ihm in die Seite, so dass der Dunkelhaarige ein wenig auffuhr.
 

„Du hast hohe Ansprüche“, hauchte er zurück und holte sich noch einen kurzen Kuss ein, bevor er sich abwandte und die Bescherung anblickte, die der Blonde bei seinen vergeblichen Einpackversuchen hinterlassen hatte. Überall lagen Papierfetzen herum oder sogar große Stücke, die aber mehr zerknittert waren als alles andere. An einer Seite des Tisches, nämlich genau vor ihm, lag das Stück, das er feinsäuberlich abgeschnitten hatte, noch immer brav da mit dem Halter darauf. Behände faltete er es links und rechts, riss nebenbei ein paar Tesastreifen von der Rolle und nach wenigen Augenblicken schon war er fertig.
 

„Genau deshalb habe ich schon immer dich die ganzen Geschenke einpacken lassen. Hehe, weißt du noch, wie entsetzt du warst, als ich dir das zu deinem achtzehnten Geburtstag überreicht habe? Ich konnte ja dich schwer das verpacken lassen, was du bekommen solltest. Als du den Haufen Klebeband sahst, der das blaue Papier kaum noch vorlugen ließ, schütteltest du nur noch den Kopf. Doch irgendwann begannst du zu grinsen und meintest, dass ich mir eine Freundin zule-“

Mit einem Mal verstummte der Größere.
 

Hatte Rick ihn denn da bereits geliebt?
 

Darauf wusste er keine Antwort. Sanft strich er dem Menschen vor sich durchs Haar.

„Es tut mir leid, manchmal rede ich schneller als ich denke.“
 

„Stimmt, ich wünschte dir eine Frau, damit sie dir zeigt, wie man Geschenke gerecht einpackt, vor allem ansehnlich.“ Rick lehnte sich zurück an die Brust seines Freundes. „Bei mir wolltest du das nie lernen, obwohl ich dir alles haarbreit erklärte… immer und immer wieder, bis es mir selbst zuwider war.“ Leise lachte er auf. „Irgendwann nahm ich dein Bitten und Flehen, ich solle dir ein weiteres Mal helfen, stumm hin und tat wie mir geheißen. Ich nahm sogar all deine Anweisungen ohne Widerbatt in Kauf und ich sage dir, manchmal hätte ich dir dein Befehlsgehabe gerne heimgezahlt.“
 

„Wir haben wirklich schon viel erlebt.“
 

„Ja, das haben wir.“
 

„Dass wir mal zusammen sein werden, hätte ich niemals vermutet.“
 

„Manchmal hält das Schicksal eben anderes parat als man denkt.“
 

„Seit wann empfindest du eigentlich mehr für mich?“
 

Immer wieder fuhr Joe mit seiner Hand durch Ricks Haar. Eine Eigenart, die er schon seit einigen Jahren vollführte und von der er nicht sagen konnte, wann sie zu einem Teil von ihm geworden war. Er liebte die Weichheit der haselnussbraunen Strähnen einfach, so dass seine Finger bald schon selbständig durch sie hindurch glitten.
 

„Ich saß einsam in einer Hütte am See in der Nähe des Waldes und dann kam ein junger Mann von neunzehn Jahren daher. Voller Ehrlichkeit sah er mir in die Augen und beteuerte, dass es ihm egal sei, auf wen ich stünde, ihm bedeute unsere Freundschaft viel mehr. Und genau in diesem Augenblick wusste ich, dass mein Herz viel mehr für diesen Mann empfindet.“
 

Langsam und stetig hob sich Ricks Brust, in einem vertrauten Gleichklang mit Joes. Sehr genau sah er seinen Freund vor sich, wie er seine Hand nach seinem Kopf ausstreckte, wie seine Finger durch sein Haar wuschelten genau so wie sie es jetzt taten.
 

„Dir stand die Trauer ins Gesicht geschrieben… Als ich von meiner Mutter erfahren hatte, was vorgefallen war, lief ich gleich los, um dich zu suchen. Niemand wusste, wo du stecktest,
 

/Deinen Eltern war das völlig gleichgültig…/
 

aber ich hatte zwei Orte parat, wo du sein könntest. Ich rannte den ganzen Weg nach Histerian zu unserem Baum, doch dort konnte ich dich nirgends finden. Obwohl ich völlig außer Atem war, rannte ich weiter zum See und dort sah ich dich schon aus der Ferne sitzen. Ich brauchte eine Weile, bis ich die letzten Meter zu dir schritt, denn erst zu diesem Zeitpunkt dachte ich darüber nach, weshalb du dort saßt, so ganz allein… Irgendwie hatte ich immer geahnt, dass du nicht auf Frauen stehst, doch ich dachte dennoch, dass dir einfach noch nicht die Richtige über den Weg gelaufen war… Als ich zu dir in die Hütte stieg begriff ich, dass ich mir dieses Denken immer nur eingeredet hatte, da ich tief in meinem Inneren wusste, dass du Männern den Vortritt gabst. Du hast es nie erwähnt, doch allein schon deine heimlichen Blicke, die du den Jungs beim Basketball spielen zugeworfen hast, hatten dich verraten… Gewiss habe ich das registriert, doch schon damals war es mir egal gewesen. Ich sah nie etwas Ungewöhnliches dabei… Und in dem Moment, wo ich dir in der Hütte gegenüberstand, wusste ich, dass es mir auch zukünftig einerlei sein würde, auf welches Geschlecht du stehst.“
 

„Dass ich auf dich stehe, kam dir dabei nie in den Sinn?“
 

Für ein paar Minuten blieb der Blonde stumm, schloss währenddessen die Augen und legte seinen Kopf auf den seines Freundes. „Seltsam, nicht wahr?...

Ich bin dir hierher gefolgt, wollte dir ein guter Freund sein, aber an Liebe habe ich dabei nie gedacht. Bis auf Julia hatte ich in dieser Zeit auch keine Beziehung, wobei man bei ihr auch von keiner sprechen kann, weil du da bereits einzig in meinem Verstand vertreten warst… und doch hatte ich in den zwei Jahren unsere Verbindung zwar für eine tiefe, aber dennoch ’einfache’ Freundschaft gehalten.“
 

„Es war für dich ein Schock… Als du mich an die Wand drücktest und mich das erste Mal küsstest, konnte ich die Verzweiflung in deinen Augen lesen.“
 

„Solche Gefühle waren mir fremd und ich hatte kein Ventil für sie… Ich musste deine Lippen spüren, denn alles in mir sehnte sich nach ihnen. Dieser Drang wurde in mir so stark, dass ich mir einfach nahm, was ich begehrte…“
 

„Und dann dachtest du, dass ich nicht dasselbe empfinden würde, obwohl ich mir solch eine Berührung schon so lange gewünscht hatte… Manchmal ist das Leben schon paradox.“
 

Darauf erwiderte Joe nichts mehr, sondern hielt Rick einfach weiter in seinen Armen. Er genoss die Unbeschwertheit, die nicht alltäglich war, und war sich indes durchaus bewusst, dass sie nicht ewig währen würde. Das Wochenende würde ihnen zeigen, welche Barrieren es zu überwinden galt. Aber nicht nur Ricks Eltern würden ein Hindernis darstellen, wobei er dabei insbesondere an Ricks Vater dachte, sondern es würde immer wieder Anfeindungen durch die Gesellschaft geben.
 

Es gibt Normen und unausgesprochene Gesetze, von denen manche Menschen einfach nicht abweichen können. Und solange Intoleranz und Verschlossenheit gegenüber Neuem und gleichzeitig Altem auf der Erde waltet, werden sie sich immer wieder Konfrontationen gegenübersehen.

Kapitel 37

Kapitel 37
 

Unruhig lief Rick vor seinem Computer auf und ab. Allmählich bereitete es ihm Sorgen, dass sich Amelia nicht meldete. Seit sie ihn nach dem Kino angeschrieen hatte, hatte er kein Lebenszeichen mehr von ihr vernommen. Und auf seine Mail wenige Tage darauf hatte sie bisher auch nicht geantwortet. Mit nervösen Blicken begutachtete er immer und immer wieder den Monitor, der aber partout keine neue Meldung anzeigen wollte.

Hinzu kam zudem die Tatsache, dass das Wochenende zunehmend näher rückte. Es hieß nur noch zweimal schlafen und schon würde der Tag anbrechen, an dem er seinen Eltern seit fast zwei Jahren erneut gegenüber stünde. Es bereitete ihm einfach alles Kopfzerbrechen.

Die einen würde er bald treffen und die andere ließ nichts von sich hören. Und beides erschien ihm auf seine eigene Art und Weise unerträglich.

Rastlos setzte er einen Fuß vor den anderen, begann sogar bereits damit, seine Wohnung abzulaufen. Hier und da griff er sich ein Kleidungsstück oder einen Gegenstand, um es wieder an den Ort zu legen oder zu stellen, wo es hingehörte. Er war derart aufgewühlt, dass er seine Finger beschäftigen musste, er brauchte einen Weg, um sich seiner Anspannung zu entledigen. Und lieber ließ er dies auf nützliche Weise geschehen als am Ende auf der Titelseite zu prangen: ’Selbstmassakrierung!’ – Vorhin hatte er noch auf seinem Schreibtischstuhl gesessen und den Brieföffner ständig durch seine Finger gleiten lassen oder ihn sogar zwischen ihnen auf einen Block gestochen. Und solch ein Gerät war bekanntlich scharf.
 

/Der Boden unter mir müsste bereits die ersten Schäden davon getragen haben. Ich spüre schon regelrecht die tiefen Spuren, die ich in ihn hinein getreten habe. Und doch vermag ich es nicht, meine Glieder still zu halten. Die Unruhe in mir wächst von Tag zu Tag und wenn das so weiter geht, bin ich am Samstag ein psychisches Wrack… Oh ja, ich sollte meine Gedanken auf etwas anderes lenken, ansonsten bleibe ich meinem Versprechen nicht treu und das kann ich Joe und mir nicht antun. Die Zeit mit ihm ist so wunderschön, ich will sie nicht zerstören. Es reicht, dass uns andere Dinge plagen, da muss nicht schon wieder ein Zwist zwischen uns sein, zumal ich einen solchen gewiss nicht heraufbeschwören möchte… Er fungiert nicht nur als mein Licht, sondern verkörpert einstweilen den Generator für das Licht in mir… Es mag seltsam klingen, aber ich empfinde eben so und kann nichts dagegen machen…/
 

Geschäftig wischte er gerade seine Vitrine aus und wunderte sich dabei gar nicht mehr über die Maßen an Staub, die sich schon wieder angesammelt hatten; diese Verwunderung oder besser dieses Ärgernis hatte er schon lange als vergeblich abgestempelt. Nach Beendigung dieser Tätigkeit ging er zum Fenster, öffnete es und schüttelte das Tuch aus, so dass viele Flusen durch die Luft wirbelten. Mitten in seiner Bewegung hielt er auf einmal inne.
 

/Nein! – Ich empfinde nicht einmal so… Das Licht in mir selbst wird mitunter durch so viel anderes entfacht. Es sind nur Kleinigkeiten, aber davon gibt es dafür reichlich viele… Der ältere Herr, dem ich seine Einkaufstaschen getragen habe, zum Beispiel hat mir väterliche Worte zugesprochen, die mich ungemein aufgemuntert haben… Oder die Dame in dem kleinen Laden mit ihrer sympathischen Ader rief Wohlwollen in mir hervor… Es sind die kleinen, aber schönen Dinge im Leben, die einen zum Strahlen bringen, ob rein äußerlich oder eben auch innerlich…/
 

Mit einem abwesenden Lächeln auf den Lippen lehnte Rick aus dem Fenster, das Staubtuch noch immer in einer Hand haltend und die frische Luft unbewusst einatmend. Ein kleiner Windhauch stob durch seine Haare und spielte mit den Strähnen, die halb in seiner Stirn hingen. Das Blau seiner Augen überzog ein Glanz, der bei Weitem nicht von Trauer oder dergleichen stammte.
 

/In meinem Herzen bewahre ich all die angenehmen Erlebnisse auf und denke an sie, wenn ich Kraft brauche. Natürlich weilt darunter Joe, doch er ist eben nicht allein der Ausschlag für das Licht in mir… Sollte ich das erkennen?... Tief in mir habe ich es immer gewusst und dennoch habe ich rein aus dir meine Lebenskraft schöpfen wollen… Aber ich weiß trotz dessen, dass ich dich immer brauchen werde…!/
 

Feine Gänsehaut stahl sich auf seinen Körper, der mit der Zeit die Kälte wahrnahm, die draußen vorherrschte. Es hatte vielleicht zwei Grad über Null, eindeutig zu kalt, um sich mit bloßem T-Shirt aus dem Fenster zu lehnen. Rick hatte sich vor einer ganzen Weile schon des Pullovers entledigt aufgrund der Unruhe, die unnatürliche Hitze in seinen Körper getrieben hatte. Doch nun musste er einsehen, dass es leichtsinnig war, sich derart der kühlen Jahreszeit auszusetzen. Eine Erkältung oder gar ein grippaler Infekt würde ihm gerade noch fehlen! Dennoch schloss er das Fenster mit einer Gemächlichkeit, die überhaupt nicht zu seiner Verfassung passte. Aber kaum hatte er die frische Luft wieder des Zimmers verbannt, schon begann er erneut durch die Gegend zu wuseln.

Als er allmählich zu einem Sauberkeitsfanatiker mutierte, klingelte glücklicherweise sein Handy. Mitten im Schränke Abwischen hielt er inne und kramte nach dem kleinen schwarzen Gerät in seiner Hosentasche, das dort neben dem Lied ’O fortuna’ Vibrationsstöße von sich gab. Kurz besah er sich das Display, bevor er das Gespräch entgegennahm.
 

„Hallo Joe.“ Beinahe hätte er mit ’Hallo Schatz’ abgehoben, doch er verkniff es sich, um nicht die Missgunst des blonden jungen Mannes zu ernten, die ihm indirekt angedroht worden war, bevor er sich am Vortag von ihm verabschiedet hatte. Joe hatte es nicht gerne, wenn man ihn mit ’Liebster’, ’Schatz’ oder dergleichen ansprach. Zwar wurde er von ihm ’mein kleiner Romantiker’ genannt, was Joes Ansicht nach aber etwas völlig anderes war. Laut dem Größeren würde diese Bezeichnung nichts mit Liebesbekundungen zu tun haben, da er ihn ihm schon vor einer kleinen Ewigkeit gegeben habe. Mit einem Schulterzucken hatte Rick Joes Erklärung abgetan; er hatte sowieso keine andere Wahl als es zu akzeptieren. Vielleicht würde es ja einmal eine Situation geben, in der er sich darüber hinwegsetzen könne, doch bis dahin würde er sich zusammenreißen und Joe eben den Gefallen tun, solche Kosenamen nicht von sich zu geben.

„Hi Rick, ich weiß, es ist bereits sehr spät.“
 

/Ist es?/ Ein Blick auf die Uhr genügte, um erschrocken über diese Tatsache zu sein. Er hatte in den letzten Stunden anscheinend jedwedes Zeitgefühl verloren.
 

„Aber ich soll dir was von meiner Mom ausrichten.“
 

/Seine Mom… stimmt ja…/
 

„Erstens freut sie sich, dass du mitkommst, und zweitens möchte sie wissen, ob du auch bei ihnen übernachten möchtest. Sie weiß ja noch nichts von uns, weshalb sie dir das Gästezimmer zurecht machen würde.“
 

/… sie weiß es noch nicht…/
 

„Bist du noch da?“

Während der Dunkelhaarige sachte den Kopf schüttelte, um vorerst alle Gedanken beiseite zu schieben, räusperte er sich und antwortete dann ein „Ja, bin ich.“

„Es ist ein wenig grotesk, aber wärst du damit einverstanden?“ Unüberhörbar war das Flehen in Joes Stimme.

„Ja, ja,… kein Problem.“

„Ist das auch wirklich okay für dich?“

„Keine Sorge, das geht tatsächlich so in Ordnung.“

„Sie wird das schon gut aufnehmen,… Aber ich muss dich nun wieder aus der Leitung werfen, du weißt ja über meinen Stress morgen Bescheid. Ich liebe dich, schlaf gut.“

Rick konnte kaum ein ’Danke, ich dich auch’ erwidern, da klickte es bereits in seinem Handy und bodenlose Stille löste mit einem Mal den angenehmen Ton, den Joe erzeugt hatte, ab. Es schien, als ob er unzählige Minuten benötigte, um das kleine schwarze Gerät wieder aus der Hand zu legen, aber irgendwann tat er es dann doch. Ein wenig desillusioniert schaute er das Hightech-Produkt an, das nun auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank verweilte. Vor lauter Einsame Seele und Eltern hatte er ganz vergessen, dass es am Samstag eine weitere Aufgabe hinter sich zu bringen galt. Vielleicht war sie ihm zu nebensächlich erschienen, so dass sie ihm nicht mehr in den Sinn gekommen war, doch nun trug sie dazu bei, dass noch mehr Nervosität in seinen Körper schlich. Seine Lippen fingen an leicht zu beben und seine Hände formte er vorsichtshalber zu Fäusten, bevor er ihr Zittern nicht mehr unterdrücken konnte. Solange er Joe bei sich gehabt hatte schienen alle Vorhaben machbar zu sein oder zumindest in irgendeiner Form überwindbar, doch nun schienen sie etwas Unbezwingbares an sich zu haben. Derart, dass man sie selbst mit größter Anstrengung oder der stärksten Hoffnung nicht obsiegen konnte. Warum kamen einem Absichten, selbst wenn sie einen guten Charakter hatten, immer dann so aussichtslos vor, wenn man alleine war? – Es war einfach alles zum Scheitern verurteilt!
 

Amelia…
 

Veronica…
 

Die eigenen Eltern…
 

Schlug das Leben denn auch einmal eine Richtung ein, die nicht rauh und schroff war?
 

„Joe liebt mich und ich ihn…! Das ist doch das Beste, was mir passieren konnte!“, redete er sich selbst gut zu. Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne und doch echote sie wie von kräftigen, unsichtbaren Mauern verstärkt wider.
 

Aber weshalb bereitete ihm dann die bevorstehende Zukunft solche Sorgen?
 

Bestimmt verging noch eine Stunde, bevor er den verzweifelten Versuch aufgab, sich durch irgendwelche Putzaktionen abzulenken respektive abzureagieren. All die Unruhe in ihm musste einen Weg aus seinem Körper finden, aber allmählich fühlte er sich nur noch erschöpft. Gähnend streifte er sich seinen Pyjama über und legte sich ins Bett, das ihm seltsam leer vorkam. Warum hatte Joe ihn überhaupt diesen Abend allein gelassen? Er hätte doch wissen müssen, dass er diese Warterei auf Samstag kaum aushielt! Und diese Unstete in seinen Gliedern und insbesondere in seinem Denken hatte in der Tat etwas Verrücktmachendes an sich.
 

/Ich kann ihm das aber nicht zum Vorwurf machen. Schließlich hat er nicht darauf bestanden, heute und morgen die Kunden zu betreuen. Er hat seinen Job und ich habe meinen und der jeweilige ist uns wichtig… Und doch hätte ich ihn am liebsten dazu gezwungen, die Nacht bei mir zu verbringen. Er meinte, dass es sehr spät werden könne, bevor er nach Hause komme, und sehr früh wieder raus müsse und er würde mich ungern aufwecken… Das war auch der Grund, weshalb er vorhin auf dem Handy anrief und nicht auf der Festnetznummer… Er ist wirklich sehr bedacht… Ich wünschte, ich könnte jetzt in seinen Armen liegen und den sanften Rhythmus seines Herzens spüren… Das gäbe mir vielleicht die Ruhe zurück… Ich drehe mich von einer Seite zur anderen und ersehne die Schwärze, die einen in das Reich der Träume schickt… Wenn ich Joe schon entbehren muss, möchte ich wenigstens ein wenig schlafen, um den Gedanken an Samstag zu entfliehen… Komm’ Dunkelheit, komm’ wieg mich in deinen Armen… komm’ zu mir und hole mich in dein Reich der Schatten… wiege mich…wiege mich…/
 

„Das kann doch nicht wahr sein!“, fluchte er, als er sich zum bestimmt tausendsten Mal im Bett gedreht hatte. Obwohl er starke Müdigkeitserscheinungen hatte, vermochte er es nicht einzuschlafen. Viel zu sehr kreisten die Gedanken in seinem Kopf und er schaffte es nicht abzuschalten. Immer dann, wenn er glaubte, endlich ins Land der Träume entschwinden zu können, wurde ihm zu sehr bewusst, dass er ja noch wachte. Und damit war es endgültig mit dem Schlummern vorbei. Und dass er überhaupt noch dachte, wenn der Schlaf doch eigentlich greifbar war, machte ihn fast rasend. Wie konnte er nur übers Schlafen nachdenken! Das war einfach nur hirnrissig!... Oder nicht?

Ja das war es tatsächlich. Aber umso mehr er glaubte, alles hinter sich zu lassen, desto mehr meinte sein Verstand ’hier bin ich’.
 

/Ich will doch einfach nur schlafen…!/
 

All das Einreden führte zu nichts. Brummend schaltete Rick das Licht an und griff nach dem Buch neben dem Bett. Lesen war meist die beste Medizin und ein Versuch war es schließlich wert. Allemal besser als sich noch öfter im Bett zu winden, mal die Decke von sich zu stoßen, sie dann wieder über sich zu ziehen und die ganze Prozedur von Neuem zu beginnen. Die kleinen schwarzen Druckbuchstaben forderten seine Konzentration beträchtlich, aber er quälte sich tapfer durch ein paar Seiten. Nicht nur, weil er eben das Wälzen im Bett als sinnlos erachtete, sondern auch, weil das Buch es wirklich vermochte, Spannung aufzubauen und einen in seinen Bann zu ziehen. Ehe er sich versah, hatte er um die dreißig Seiten verschlungen. Als dann aber das Kapitel endete, bemerkte er, wie er seine Lider nur noch krampfhaft offen halten konnte. Deshalb legte er das Buch wieder beiseite, schaltete das Licht aus und es überkam ihn tatsächlich endlich der Schlaf, den er so bitter nötig hatte.
 


 

Der nächste Morgen bat eine Überraschung, die Rick rein gar nicht erwartet hatte. Nachdem er seinen Wecker am liebsten an die Wand geworfen hätte und sich aus dem kuschlig warmen Bett gequält hatte, genügte ein einziger Blick aus dem Fenster, um seine Laune um einiges anzuheben. Noch immer blickte er durch das Glas auf die kleinen weißen Flocken, die der Himmel sandte. Die Dächer in der umliegenden Umgebung waren bereits mit einer feinen Schicht dieser herrlichen Eiskristalle bedeckt, ebenso die Straßen und die Gärten. Schnee war einfach etwas wundervolles und weckte in einem ein angenehmes Gefühl. Die Reinheit des Weißes strahlte unschuldig und erhellte die Stadt ungemein. Alles erschien mit einem Mal freundlicher und wohlgesinnter. Und das machte sich auch in Ricks Herz bemerkbar. Die Nervosität, die ihn noch vor ein paar Stunden nicht einmal schlafen gelassen hatte, kam ihm plötzlich nicht mehr so ausgeprägt vor. Dies lag gewiss nicht nur daran, dass er eben erst aufgestanden war, sondern Schnee hatte schon immer diese heilende Wirkung auf ihn. Sobald er die Flocken, die durch die Luft wirbelten, sah, legte sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen und er wollte sich ebenso von einem kleinen Windhauch davontragen lassen. Es konnte ihn nichts mehr davon abhalten, das Fenster zu öffnen und die frische, kühle Luft, die der Schnee mit sich brachte, einzuatmen. Er nahm mindestens dreimal tief Luft, bevor er das Fenster wieder schloss und sich ins Bad begab. Um möglichst schnell nach draußen zu kommen, beeilte er sich und ließ sogar das Frühstück aus. Als er sich die Stiefel geschnürt hatte, trat er auch schon aus seiner Wohnung und zog seinen Mantel zu, während er bereits durch das Schneegestöber lief. Mit seiner Rechten versuchte er ein paar der Flocken aufzufangen und es gelang ihm mühelos. Als sich ein paar auf seiner Hand tummelten, führte er sie nah an seine Augen und besah sich die besondere Struktur der Wassermoleküle. Er hatte sie schon so oft gesehen, doch wie jedes Jahr war eben der erste Schnee der schönste und der die meiste Aufmerksamkeit gebührendste. Durch die Körperwärme schmolzen die Kristalle alsbald und hinterließen kühle Feuchtigkeit, die seine Haut zum Kribbeln brachte. Die ersten Kinder kamen ihm bereits auch gut gelaunt entgegen, sie schienen sich ebenso über den Wetterumschwung zu freuen wie er. Selbst wenn der Himmel momentan kein strahlendes Blau erstrahlen ließ, waren die Flocken in dem seichten Grau doch gerade das, was Leichtigkeit ins Gemüt lockte. Rick fühlte sich annähernd frei, während er durch das Gewirbel der kleinen Kristalle lief. Die Belastung des Vortages hatte enorm an Intensität verloren, wofür er dankbar war. Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen blickte er mit halb geschlossenen Lidern direkt ins Schneetreiben hinein.
 

/Euch schickt in der Tat der Himmel…/
 

Nach etwa einer halben Stunde saß er mit geröteten Wangen an seinem Arbeitsplatz und erledigte voller Hingabe seine Aufgaben. Ein wenig Nässe verfing sich noch in seinen Haaren, die sich aber nach geraumer Zeit verflüchtigte. Die Stunden flogen nur so dahin und er dachte während der ganzen Zeit kein einziges Mal über die bevorstehenden Zusammentreffen nach, was ihn lediglich zurück in Unruhe versetzt hätte. Erst als es allmählich immer ruhiger um ihn herum wurde, realisierte er, dass er selbst bald wieder gehen durfte. Gewohnheitsmäßig vergewisserte er sich noch einmal, ob er alle Daten gesichert hatte, und räumte dann die restlichen Sachen von seinem Schreibtisch, schloss sie in die Schublade rechts neben ihm sorgsam ein.

„Schönes Wochenende“, rief ihm ein Kollege zu, als dieser gerade durch die Tür aus dem Büro heraustrat und bevor das Holz seinen Blick versperrte.

„Danke, dir auch“, rief Rick noch hinterher, war sich aber nicht sicher, ob das Kev noch gehört hatte oder nicht.
 

/Wenn nicht, dann ist das halb so wild. Wie ich ihn kenne, steht seine Frau unten und erwartet ihn schon. Da ist es ihm doch eh egal, was seine Kollegen noch von ihm wollen könnten./
 

Rick schmunzelte. Es war schon wirklich etwas wunderbares, wenn die Liebste oder der Liebste auf einen wartete. Aber alsbald wich das Lächeln aus seinem Gesicht, denn sein Gedächtnis verkündete ihm laut, zu laut, dass Joe erst spät abends nach Hause kommen würde.

/Warum müssen die eventuellen Vertragspartner auch gerade diese Woche hier sein?/, fragte er sich selbst und seine Stimmung resignierte mit einem Mal.

Draußen erhellte das letzte Tageslicht die Straßen und Rick sah hinaus in der Hoffnung, die kleinen Flocken vom Morgen würden noch immer das triste Sein der Stadt unter sich begraben. Er wurde nicht enttäuscht, denn er blickte auf eine weiße Schicht, die ihn förmlich einlud, endlich selbst das Büro zu verlassen. Mit einem leisen Seufzer zog er den Reißverschluss seines Mantels zu und griff nach der Klinke, die sich warm anfühlte. Als er hinaustrat, beschlich ihn die Sehnsucht. Wie schön es doch gewesen wäre, sofort in das Gesicht von Joe zu blicken und die heißen, begehrenden Lippen zu spüren…

Tief sog Rick die kalte Luft ein. Er wollte nicht schon wieder voller bedrückender Emotionen sein. Das Wetter zeigte eine seiner attraktivsten Facetten und das wollte er auskosten, ohne dabei seine Sehnsucht mit noch mehr Sehnsucht zu ertränken. Darum beschloss er, einen ausgiebigen Spaziergang zu machen, schließlich war der erste Schnee der Saison auch immer der, der am schnellsten wieder weggetaut war. Und bevor sich dieser wieder verflüssigte, wollte er sich sicher sein, ihn auch genügend genossen zu haben. Mit langsamen Schritten durchquerte er den Park ganz in der Nähe von Joes Wohnung. Da de Gehwege bereits geräumt waren, lief Rick über die Wiese, auf der er nicht als erster und gewiss nicht als letzter seine Spuren hinterließ. Mehrere Familien mit Kindern, einige ältere Eheleute oder einzelne Personen durchzogen sein Blickfeld, waren Teil der idyllischen Landschaft, die ihn umgab. Der Park war groß genug, um die Zivilisation in Form von Bürogebäuden, Blechlawinen und lärmenden Geräuschen auszuschließen. Die Ruhe wurde einstweilen nur durch Kinderlachen und Hundegebell durchbrochen, aber die erzeugten Laute woben sich angenehm in die natürliche Kulisse ein, so dass sie Rick keineswegs störten.

Die Minuten verrannen und allmählich siegte die Dunkelheit, legte die Umgebung des Dunkelhaarigen in Schatten und brachte einen kühlen Wind mit sich, der ihn dazu trieb, ein wenig schneller zu gehen und sich ins nächstgelegene Café zu flüchten. Es war ziemlich voll, weswegen er einen älteren Herrn fragte, ob bei ihm noch Platz sei. Zwar entgegnete dieser nur ein unfreundliches Nicken, aber Rick ignorierte es mit einem dankbaren Lächeln und gesellte sich zu dem graumelierten Mann, der eine weiße Porzellantasse an seinen Mund ansetzte und sie wie es aussah gänzlich leerte. Danach erhob er sich sofort von seinem Stuhl, drückte dem Kellner einen Schein in die Hand und verschwand in der Finsternis des Abends. Verdutzt blickte Rick auf den leeren Stuhl, der sich direkt vor seinen Augen darbot. Er hatte den Mann keineswegs vergraulen wollen und für einen Moment schalt er sich dafür, sich erdreistet zu haben, sich dazugesetzt zu haben, doch schon im nächsten Moment kam ihm dies völlig schwachsinnig vor, denn an seinem Handeln war nichts Aufsässiges gewesen. Mit einem Schulterzucken begutachtete er die Karte, um dem Kellner, der gerade den Geldschein verstaut und an ihn herangetreten war, sagen zu können, was er haben wolle.

„Einen Pfefferminztee, bitte.“

„Sehr gern.“

Als er sich wieder allein wusste, zog er sein Handy aus seiner Hosentasche und schrieb Joe eine kleine Nachricht:
 

’Ich wäre gerne gemeinsam mit dir durch den Schnee gelaufen… Mich hat es in das Café nahe deiner Wohnung verschlagen. Wir sehen uns heute Nacht. Ich liebe dich.’
 

Vorsichtig tastete er mit seiner Linken nach seinem Mantel und seufzte wohlig, als er den Schlüsselbund spürte, an dem sich unter anderem nun einer zu Joes Wohnung befand. Er würde später schon einmal dorthin gehen und dort auf Joe warten.

„Bitte sehr.“ Die freundliche Stimme des Kellners riss ihn aus seinen Gedanken und er erwiderte ein leises ’Danke’. Feiner Dampf erhob sich aus der Tasse, die nun vor ihm stand, und trug den intensiven Kräutergeruch in seine Nase. Nachdem er sich die ersten Schlücke aus ihr gegönnt hatte, nahm er vage eine Gestalt aus seinen Augenwinkeln wahr.

„Haben Sie noch einen Wunsch?“, fragte diese gleich darauf.

„Nein, dan…“

Kapitel 38

Kapitel 38
 

Obwohl seine Lippen das kleine Wörtchen ’danke’ formten, konnte man die zweite Silbe nicht hören. Wie versteinert sah Rick auf und fühlte sich mit einem Mal seiner Stimme beraubt. Ein Schauer nach dem anderen jagte über seinen Rücken und ließ seine Haare zu Berge stehen. Vor ihm stand kein Kellner, wie er angenommen hatte, sondern er sah direkt in dunkle Augen, die ihn kalt und lüstern zugleich anblickten. Sie brachten die Finsternis des Abends ins Café, die ihn sogleich zu verschlucken drohte. Er schluckte ein paar Mal, wollte diesen widerlichen Mann, zu dem diese noch widerlicheren Augen gehörten, aus seinem Blickfeld bannen, und wenn dies nur durch laute Schreie gelänge, doch er brachte einfach kein einziges Wort hervor. Und einfach aufstehen und gehen war auch nicht möglich. Nicht nur, weil ihm seine Beine nicht gehorchen würden, sondern auch, weil ihm der Fremde mit seinem Körper den Weg versperrte. Die große Gestalt verdeckte ihn, so dass er auch keine Möglichkeit hatte, per Augenkontakt Hilfe bei einem der Kellner zu erbeten. Plötzlich fühlte er sich wieder klein und schutzlos, genau die Eigenschaften, die er für ein und allemal hatte ablegen wollen. Dank diesem Kerl spürte er Angst; Angst vor diesen durchdringenden Augen, Angst vor dessen Berührungen, insbesondere vor dessen abscheulicher Zunge. Angst, nicht wie die anderen Male entkommen zu können.

Die Trockenheit in seinem Mund hätte Rick am liebsten durch den Tee, mit dem die Tasse vor ihm noch halb gefüllt war, beseitigt, aber er traute sich nicht sich zu bewegen. Schon die kleinste Regung könnte diesen Widerling vielleicht dazu bringen, sich sofort auf ihn zu stürzen. Wer weiß, zu was er noch fähig war. Schon allein der Gedanke daran genügte, dass Rick noch unbehaglicher zumute war. Was er in seinem Herzen neben der Furcht außerdem fühlte, war schwer zu sagen. Vielleicht war es Ekel, der auf seinen Magen schlug. Jedenfalls überkam ihn eine Übelkeit, die seinen Körper und seine Sinne schwächte. Der Drang wegzulaufen war mächtig, doch er fand keinen Weg an dem Menschen vorbei, der ihm bereits zweimal einen Kuss gestohlen hatte, einen, der keine andere Bezeichnung als ’abartig’ verdient hatte.

„Welch Ehre dich hier zu sehen“, meinte der Fremde nach endlosen Minuten sichtlich erfreut, behielt sich dabei aber eine Distanz, die seinen Stand die Oberhand zu haben auszeichnete. Wie gern sich Rick übergeben hätte, um endlich diese Taubheit in seinen Gliedern loszuwerden und seinen Verstand wieder zu schärfen, um letztendlich vielleicht doch eine Fluchtmöglichkeit finden zu können. Aber sein Körper machte ihm auch dieses Mal einen Strich durch die Rechnung. Er wollte partout nicht gehorchen, so sehr er es sich einzureden vermochte. Man konnte so vieles durch reine Willenskraft erreichen, seine war jedoch beträchtlich ermattet. Zumindest das hatte dieser Kerl schon einmal geschafft.

Kleine Perlen der aufkeimenden Verzweiflung wollten sich in seine Augen schleichen und das Meeresblau mit einem zarten Schimmer überdecken. So sehr ihm nach Weinen zumute war, er ließ diese Schmach nicht zu. Hartnäckig wehrte er sich gegen das Zeugnis der unabdingbaren Unterlegenheit und bisher setzte er dies erfolgreich in die Tat um. Keine einzige Träne benetzte seine Augen mit salziger Flüssigkeit, aber wie lange sein Kampf noch siegreich sein würde, konnte er nicht einschätzen. Darum wollte er nichts als weg; weg von diesem Mann, der sogar die Schuld daran mittrug, dass er eine Zeit lang befürchtet hatte, Joe zu verlieren.

„Du siehst erholt aus, mein Kleiner. Dein Freund ist mir anscheinend zuvorgekommen.“ Den letzten Satz sprach er mit einer Strenge, die Rick beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. Derart kalt konnte sich ein Mensch doch nicht anhören, aber er wurde gerade vom Gegenteil überzeugt. Herzlos und völlig gefühllos. Nein, ein Gefühl steckte eventuell doch in seinen Worten: Bosheit! Blanke Bosheit!

Mut… war das, was Rick nun brauchte. Er haderte mich sich und seiner Übelkeit. Wann wachte er denn endlich auf aus diesem Alptraum? Schon allein diese bedrückende Nähe zu dem Fremden bestätigte ihm leidvollerweise, dass das gerade real war und er nicht gleich schweißgebadet aufwachen würde und sich allein oder mit Joe im Schlafzimmer wiederfände. Nein, weder träumte er noch würde er gleich aufwachen.

Aber wo sollte er den Mut so plötzlich herbekommen? Sein Gegenüber war ihm an Kraft weit überlegen, war vermutlich sogar schneller als er. Also, was brachte es, an ihm etwaigen vorbei zu kommen, wenn er ihn am Ende wieder schnappte?

Nach und nach wich auch noch das letzte bisschen Farbe aus seinem Gesicht, wodurch er mit den hellen Wänden des Cafés konkurrierte. Die Bleiche seiner Wangen war wirklich vergleichbar mit den weißen Mauern, die lediglich mit einem rauen Putz versehen waren. Nur die Bilder, die attraktive Landschaften zeigten, durchbrachen die Blässe der Wände. Solch erhebende Farbelemente ersehnte Rick momentan; er suchte sie, sah jedoch keinen Ausweg aus seiner Misere. Unweigerlich war er diesem Mistkerl ausgeliefert, der sich nun auch noch ganz nah zu ihm hinabbeugte.

„Du gehörst mir“, wurde dem Dunkelhaarigen ins Ohr gehaucht. „Und wenn du dich wehrst, werde ich dir gerne verraten, was dir dann blüht.“

Als Rick glaubte, er könne keine Luft mehr bekommen, richtete sich der Fremde wieder auf, nur um sich kurz darauf auf dem Stuhl ihm gegenüber niederzulassen. Das war die Chance, ihm zu entkommen, oder nicht? Die eben gesprochenen Worte pochten in seinem Kopf, wiederholten sich immer und immer wieder. Dieser Mann war krank! Völlig gestört! Er musste hier raus und zwar augenblicklich. Krampfhaft stützte er sich an der Tischkante ab und riss sich hoch. Er musste sich beeilen, Zeit zum Nachdenken hatte er nicht. Sobald er draußen an der frischen Luft war, konnte er sich Gedanken darum machen, wie er dem Fremden am besten für den Rest seines Lebens entkommen konnte, doch nun hieß es erst einmal, dorthin zu gelangen. Kaum hatte er sich zwei Schritte entfernt, brannten sich zwei Worte in seinen Verstand. Zwei, die ihn sofort in allem innehalten ließen.

„Joe Yera!“, war ihm hinterher gerufen worden. Nein die Stimme hatte vielmehr etwas Durchdringenderes und Penetranteres an sich gehabt als Lautstärke. Und etwas Höhnisches.

Fassungslos verharrte Rick an Ort und Stelle.
 

/Er kennt seinen Namen… Wie zum Teufel kann er ihn kennen?... Damit… Damit kann er ihn…/
 

Schwer fühlte sich mit einem Mal sein ganzer Körper an. Er hatte nichts mehr Taubes an sich, sondern seine Glieder schienen nun aus Blei gegossen worden zu sein. Insbesondere schienen sie ebenso nachgiebig zu sein, denn er hatte Mühe sich weiterhin auf den Beinen halten zu können.
 

/Damit kann er ihn ausfindig machen und ihm…/
 

Mit hohem Puls und beschleunigtem Herzschlag ließ sich Rick wieder auf dem Stuhl nieder und versuchte dabei das überlegene, völlig gefühlskalte Lächeln zu ignorieren, das auf den Lippen des Fremden ruhte.
 

/Verdammt, wie es das nur möglich!?/
 

Vergeblich bemühte er sich darum, seinen Atem wieder abzuflachen und seinen Körper zur Ruhe zu bringen. All die Sorgen um den nächsten Tag waren den gegenwärtigen gewichen.
 

„Ich habe immer gewusst, dass wir uns wiedersehen würden und dass du mir nicht wieder entwischen würdest. Man muss dir nur zeigen, wer die Macht hat.“
 

Konnte dieser Kerl nicht einmal den Mund halten? Diese Überheblichkeit war einfach widerwärtig. Der ganze Mann war schlicht und einfach widerlich!

Mit zusammengekniffenen Augen und –gepressten Lippen hob Rick seinen Blick an und visierte den Fremden. Noch wusste er nicht, was er ihm entgegensetzen sollte, doch nicht völlig klein beizugeben war doch bereits ein Anfang. Zumindest redete er sich das ein. Kampflos würde er das Café nicht verlassen und da der Mann seine Machtposition deutlich untermauert hatte, musste er sich etwas anderes einfallen lassen als bloße Flucht. Denn Weglaufen bedeutete nun keinen Ausweg mehr. Diese Option war ihm mit einem Schlag genommen worden.
 

/Denk nach, Rick,… denk nach…!/
 

Aber was blieb ihm noch? Was hatte er denn als Konfrontation zu bieten?
 

Die Sekunden verrannen und hinterließen nichts als unbrauchbares Gedankengut. Ricks Herz überschlug sich beinahe, während sein Hirn auf Hochtouren arbeitete und seine Augen feurig blitzten. Er hatte genug Fantasie und darum fragte er sich, warum ihm gerade jetzt nichts einfallen wollte. Gab es denn wirklich nichts, was diesen Mann seiner Herrschaft beraubte?

Rick sah kurz durch das spiegelnde Glas hinaus in die Dunkelheit, die ebenso finster war wie sein Befinden. Nur mit Mühe sah man den Schnee entlang des Gehweges, der dort aufgetürmt lag. In der Nacht verlor er sein Strahlen und das reine Weiß, welches er jetzt gerne gesehen hätte, um wenigstens ein Detail zu finden, das Frohmut in seine Situation brachte. Gut, von Frohmut hätte man kaum sprechen können, doch es hätte zumindest etwas Schönes gegeben, woran er seine Blicke hätte heften können.
 

„Es war leicht, deinen Freund ausfindig zu machen“, meinte Ricks Gegenüber nach einer Weile. Er hatte Rick die ganze Zeit über für keinen Moment aus den Augen gelassen. Er schien sich förmlich an dessen feurigen Iriden zu laben. In der Tat funkelte der Dunkelhaarige den Mann erneut an. Allein schon seine Stimme mit dem kühlen Unterton brachte ihn zum Beben, und nachdem er obendrein von Joe sprach war die Bescherung in Ricks Innerem perfekt. Wenn es etwas gab, was es in seinem Leben zu beschützen galt, dann war es der blonde junge Mann, der tief in seinem Herzen verweilte. Doch wie sollte er das anstellen? Gegen diesen Kerl konnte er sich selbst nicht einmal schützen, wie dann Joe?

„Was habe ich Ihnen denn getan?“, presste Rick zwischen seinen Lippen hervor.

„Die Frage sollte lauten, was dein Freund mir getan hat.“

Mit in Falten gelegter Stirn blickte der Kleinere irritiert über den Tisch hinweg. Er dachte nach, was der Fremde meinen könnte, doch egal, was ihm in den Sinn kam, war vollkommen absurd. Es gab einfach nichts, was zu einer Verärgerung seitens des Kerls hätte führen können.

„Nun blickst du wieder wie das scheue Rehkitz aus dem Supermarkt, das sich über sein Beutedasein im Klaren ist.“ Spöttisches Gelächter folgte, das zwar nicht lange andauerte, dafür aber umso bösartiger klang. „Sei dir gewiss, dass dein Freund aber keine Gelegenheit mehr dazu bekommt.“

„Sie sind krank!“, erwiderte Rick und unterdrückte angestrengt das Zittern seiner Hände. Obwohl in seinem Kopf ein Chaos herrschte, in dem sich keine Antwort auf die Bedeutung der Worte des Fremden zusammenspann, hatte er seine Meinung nicht länger verschweigen können. Es wäre besser gewesen, wenn er es versucht hätte, denn nun umgriff eine warme Hand die Seinige, woraufhin der Mann erneut die Distanz zwischen ihm und sich überbrückte. Rick konnte heißen Atem auf seinem Gesicht spüren, der unangenehm nach Zigaretten roch, wodurch die Übelkeit in ihm intensiviert wurde. Ein würgendes Gefühl beschlich seine Kehle.

„Zügle deine Zunge, ansonsten wirst du die Konsequenzen tragen müssen.“ Mit seinen Lippen streifte er kurz Ricks Wange und sog dabei die Luft ganz tief ein. Mit ganz leiser, aber fester Stimme fuhr er fort: „Für jedes Wort deines Widerbatts wird dein kleiner Freund leiden müssen.“
 

/Mein gesamter Körper bebt und ist von einer Gänsehaut befallen, die wohl jedes einzelne Haar an mir aufrichtet. Mein Herz klopft wie wild, ein hoher Adrenalinausstoß durchflutet mich, aber mir möchte partout keine rettende Lösung einfallen. Diese dunklen Tiefen begutachten mich begierig und ich habe keine andere Wahl als mich ihnen auszusetzen… Verdammt, wie konnte er nur an Joes Namen kommen!? Das macht meine Situationen prekär und ich weiß mich nicht aus ihr herauszuwinden. Weshalb kann ein Mensch derart grausam sein, was habe ich ihm denn getan geschweige denn Joe? Ich begreife das nicht!... Ich begreife nicht, warum mir das passiert… Überall geschehen schlimme Dinge, doch erst, wenn einem selbst etwas Derartiges widerfährt, versteht man die völlige Verzweiflung und Trauer, die man in den Augen derer sieht, über die in den Medien berichtet werden… Ich trage all diese Emotionen gerade in mir und sie sind gewaltig. Man glaubt an ihnen ersticken zu müssen, da sie für einen allein einfach zu massiv sind…

Merkt hier denn keiner, dass dieser Mann mich zu unterdrücken versucht? Kann mir denn keiner zu Hilfe eilen? Wie oft habe ich gelesen, dass die Leute unbeteiligt an Verletzten vorbeigegangen sind ohne wenigstens einen Krankenwagen zu rufen, dass sie einen Überfall mit angesehen haben, aber nicht einmal die Polizei verständigten,… Und nun darf ich am eigenen Leib erfahren, wie es ist von anderen nicht als wichtig erachtet zu werden… Man sieht doch, dass hier etwas nicht stimmt, dass dieser Kerl mich gegen meinen Willen bedrängt… Warum interessiert das niemanden?... Warum?/
 

Fordernde Lippen benetzten seinen rechten Mundwinkel mit einem feuchten Film, was Rick erstens aus seinen Gedanken riss und ihn zweitens nach hinten fahren ließ. Ruckartig warf er seinen Kopf in den Nacken und entfernte sein Gesicht somit von dem des Mannes.

Plötzliches lautes Scheppern hatte zur Folge, dass sich sogar der Fremde nach dem Geräusch umwandte. Nach nicht einmal einer Sekunde schon schlich sich das überhebliche, kalte Lächeln zurück auf seine Lippen. „Sieh’, dein Freund gesellt sich zu uns. Aufbrausend wie immer.“

Rick sprang auf und fiel Joe um den Hals. Fest schlang er seine Arme um den Größeren und erdrückte ihn bald aufgrund der Angst, die er im Inneren noch immer verspürte. Über die Schulter des Dunkelhaarigen hinweg warf Joe dem Fremden einen vielsagenden Blick zu, der lediglich mit einem einmaligen Lidschlag erwidert wurde, drückte nebenbei seinen Freund ebenfalls. Der zerbrochene Teller zu seinen Füßen knirschte unter Ricks Füßen und ein wütender Kellner stand bereits neben ihnen.

„Was ist in Sie gefahren?“, zeterte dieser.

„Sahen Sie denn nicht, dass mein Freund hier in Gefahr war?“, fauchte Joe zurück.

Verdutzt sah der Kellner von einem zum anderen.

„Ich ersetze Ihnen den Schaden, aber Sie sollten Ihre Augen in Zukunft ein wenig offener halten oder sie nicht vor Dingen verschließen, die Ihnen Ärger einbringen könnten.“ Der Blonde klang deutlich aufgebracht und fixierte den Mann, in ein weites weißes Hemd gehüllt, scharf. „Sorgen Sie dafür, dass dieser Mann“, Joe deutete auf den Fremden, der wie nicht anders zu erwarten war genüsslich vor sich hin grinste, „dieses Café nie wieder betritt.“

Der Kellner schluckte, als er auf die große Gestalt und in dessen kalte Augen sah. „Machen Sie sich keine Gedanken um den Teller“, meinte er wieder an Joe gewandt. „Bringen Sie Ihren Freund nach Hause, er scheint ziemlich aufgelöst zu sein.“

Mit einem letzten Blick auf den noch immer am Tisch sitzenden Fremden schob Joe Rick nach draußen, der sich aber bei jedem Schritt wehrte. „Wir können nicht gehen“, wiederholte der Kleinere immer und immer wieder. Doch Joe hörte nicht auf ihn und ehe sie sich versahen, umspielte die Nachtluft ihre Gesichter, Joes erhitztes und Ricks aschfahles.

„Du verstehst nicht, Joe! Wir können nicht gehen!!“

„Jetzt hole erst mal tief Luft.“

„Nein!“ Rick funkelte Joe an. „Er kann uns ausfindig machen, er wird uns jagen, bis er mich hat!“ Verkrampft hielt er sich an seinem Freund fest, drückte seine Finger tief in Joes Kleidung und dessen Schultern.

„Solange ich bei dir bin, wird er dir nichts tun.“

„Glaubst du das denn überhaupt selbst?“, erwiderte Rick und vergrub sein Gesicht in dessen Halsbeuge. „Er ist uns überlegen und ist sich dessen bewusst“, seufzte er.
 

/Er spielt mit mir und empfindet dabei scheinbar reines Vergnügen… Nachdem er gezwungen war, mich im Supermarkt gehen zu lassen, hat er nun einen Weg gefunden, ihm vollkommen ausgeliefert zu sein… Joe, ich muss dich da raus halten, ich könnte es mir niemals vergeben, wenn dir etwas meinetwegen zustößt!/
 

Ein letztes Mal atmete Rick Joes Geruch ein und löste sich anschließend aus seiner Umarmung. „Geh’ allein nach Hause.“ Seine Stimme war ihm mit einem Mal selbst fremd geworden, aber er sah keinen anderen Ausweg. Wie sollte er denn sonst Joe beschützen? Wie?

Sanft berührten seine Lippen die von dem blonden jungen Mann, bevor er sich von ihm abwandte und die wenigen Schritte zurück zum Café lief, durch dessen Fenster er den Fremden sitzend sah, der seine Augen geradewegs auf ihn gerichtet hielt.
 

/Verzeih’ mir, aber ich kann nicht anders.../

Kapitel 39

Kapitel 39
 

„Falls du glaubst, dass ich dich da wieder reingehen lasse, dann täuschst du dich gewaltig. Ich lasse dich nicht zu diesem Wahnsinnigen zurück. Merkst du denn nicht, wie dein gesamter Körper zittert?“

Joes Arme hatten sich um Ricks Taille geschlungen und hielten ihn auf diese Weise davon zurück, ins Café zurückzukehren. Kräftemäßig war der Kleinere unterlegen, selbst wenn er versucht hätte, sich aus der Berührung zu winden. Doch er unternahm diesen Versuch nicht einmal, denn er wollte nicht wieder in die Nähe des Fremden. Alles in ihm sträubte sich gegen diesen Mann, der nichts als ungute Gefühle in ihm weckte. Und dennoch zog es ihn zu ihm, einzig aus dem Grund heraus, den liebsten Menschen auf Erden zu beschützen.

„Ich bin so froh, dass du mir vorhin geschrieben hast, wo du bist“, hauchte Joe ihm ins Ohr. „Wenn ich mir vorstelle, dass ich die werten Herren nicht dazu hätte überreden können, ins ’Veritatis lux’ zu gehen, wird mir ganz anders zumute. Hätte ich mich nicht von ihnen lösen können, um dich hier zu überraschen, würdest du noch immer dort verweilen.“ Joe deutete versteckt auf den Fremden, der sie unablässig beobachtete. „Ich kann dich nicht zu ihm lassen, dafür bedeutest du mir zu viel. Rick, ich liebe dich und möchte nicht, dass du da jetzt wieder rein gehst.“

Nun stahlen sich kleine silbrige Perlen in Ricks Augen und flossen alsbald über seine blassen Wangen.

„Wie soll ich dich denn dann beschützen?“, entkam es tränenerstickt seinem Mund.

„Wer weiß, vielleicht braucht er einfach ein wenig absurde Unterhaltung und seine Worte sind nichts weiter als eine leere Hülle. Dann würdest du dir völlig umsonst Sorgen um mich machen. Außerdem kann ich auf mich aufpassen.“

Ein Gemisch aus Lachen und Schluchzen drang aus Ricks Kehle. „Um am Ende finde ich dich verletzt in deiner Wohnung liegend, weil du alles nicht ernst genommen hast… Es ist das dritte Mal, dass wir aufeinander treffen und er kommt mir bei jedem Male herrschsüchtiger vor. Joe, es wird… irgendwas geschehen, das fühle ich… So wie der Schnee in der Nacht an Reinheit verliert, büßt mein Herz an Hoffnung ein, wenn ich ihn sehe…“
 

/Ich frage mich, was die Menschen dazu veranlasst, andere in Angst zu versetzen, und was sie dabei empfinden. Lust? Amüsement? Oder wollen sie sich einfach nur dafür rächen, was ihnen selbst angetan wurde? Oder wissen sie einfach nicht zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, weil es ihnen nie einer beigebracht hat?

Deine Tränen hat dieser Mann zu verschulden und er sieht in der Tat nicht so aus, als ob er nicht wüsste, was er tut. Zweifellos geht Gefahr von ihm aus, deren Ausmaß ich nicht abzuwägen vermag.

Nur um meine Haut zu retten, werde ich dich sicherlich nicht opfern. Denn du wärst nichts weiter als ein Opfer, vermutlich sogar eines von vielen.../
 

„Das ist unsere Chance“, zischte Joe Rick ins Ohr. „Er ist abgelenkt, komm’ mit!“ Überstürzt packte er ihn am Arm und zog ihn rennend hinter sich her. Benommen setzte der Dunkelhaarige einen Fuß vor den anderen, kam zwischendurch ins Straucheln, wurde von seinem Freund aber rechtzeitig abgefangen.

„Joe!?“

„Wir fahren sofort zu meinen Eltern“, rief der Größere atemlos über seine Schulter.

„Was ist, wenn er uns dort findet?“, erwiderte Rick ebenso nach Luft ringend.

„’Yera’ gibt es nicht nur einmal in diesem Land und ich bezweifle, dass er sich die Mühe machen wird.“
 

/Er wird auf unsere Rückkunft warten/, fügte Joe in Gedanken an. Trotz dieser Überzeugung war er erleichtert, dass sich der Chef des Restaurants dem Fremden angenommen hatte, wodurch er seinen persistenten Blickkontakt zwangsweise hatte aufgeben müssen. Eine Gelegenheit, die ihnen wahrscheinlich nicht mehr so schnell geboten worden wäre.
 

Schweigen umgab die beiden jungen Männer, als sie im Zug nebeneinandersaßen und ihre Blicke an die vielen kleinen Lichter geheftet waren, die in rauschender Geschwindigkeit an ihnen vorbeizogen und nur Belanglosigkeiten waren, die gar nicht ernsthaft ihre Sinne streiften. Sie waren geradewegs zu Joes Wohnung gerannt, wo sie ein paar Habseligkeiten in einen Koffer geworfen hatten, der nun über ihren Köpfen verweilte. Lange hatten sie sich dort nicht aufgehalten, da Rick immer wieder betont hatte, dass er hinter ihnen her sei und sicher bald auftauchen würde.
 

/Nun rennen wir vor einem Phantom davon, welches sich in unsere Gedanken eingenistet hat und welchem wir uns wohl so schnell nicht mehr entledigen können. Ein Mann, dessen Herkunft und Intention uns vollkommen schleierhaft ist, macht uns zu Gejagten. Zur gehetzten Beute, die sich lediglich Freiheit und Frieden ersehnt…

In wenigen Stunden erreichen wir zusammen unsere Heimat, die wir damals gemeinsam hinter uns gelassen haben. Ich kehrte zwar allein ab und an dorthin zurück, doch es kam mir jedes Mal so vor, wie wenn ich einen Teil in Veneawer zurückgelassen hätte…

Auch dort werden wir diejenigen sein, die von allen Seiten streng gemustert werden. Wir werden den kritischen Augen derer ausgesetzt sein, die wir lieben…

Wie werdet ihr wirklich reagieren? Werdet ihr meinen Hoffnungen gerecht werden oder mich ebenfalls verstoßen?/
 

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Joes Magen aus, das sich zu all der Sorge um Ricks Zustand gesellte. Noch fester, als er es eh die ganze Zeit über getan hatte, drückte er den Kleineren an seine Brust und strich ihm sanft durchs Haar. Mit jeder Facette seines Körpers genoss er die betörende Nähe zu seinem Freund, obwohl ihm das Beben missfiel, das dieser scheinbar nicht ablegen konnte. Unstetig war der Atem, den Rick verströmte.
 

/Nicht einmal ich kann dich gerade beruhigen. Die Begegnung mit diesem Kerl hat dir sehr zugesetzt und ich finde keine Worte, die sie harmloser erscheinen lässt als sie in Wahrheit ist. Insbesondere du glaubst immer an die guten Seiten eines Menschen, doch an ihm konntest du keine entdecken… Hinzu kommen seine Berührungen, die er gegen deinen Willen ausübte. Und doch steckt nicht deshalb der Schock in deinen Gliedern…

Dir ist mein Wohlergehen wichtiger als dein eigenes…wie es schon immer war. Für jede Aufmerksamkeit, die ich dir zuteil werden ließ, sah ich den Vorwurf in deinen Augen über deine Unfähigkeit, dich nicht selbst trösten zu können. Oft fragtest du nach, ob ich es denn bereuen würde, mit dir gekommen zu sein und ob ich nicht lieber doch zurückgehen solle. Aber deine Frage entsprach niemals deinem Inneren. Du wärst vollends zerbrochen, wenn ich dich allein gelassen hätte. Ich wusste es, selbst wenn ich da noch nicht von begehrender, sehnsüchtiger, schmerzvoller Liebe sprechen konnte…

Noch immer werfe ich mir vor, dass ich deine Liebe zu mir nicht erkannt habe. Wäre dann alles anders verlaufen?...

Die Vergangenheit kann man nicht ändern und ich könnte auch nicht sagen, wie sie sonst gewesen wäre…

Die Gegenwart frisst an unseren Kräften…

Und die Zukunft?/
 

Während er seine Hand weiterhin über Ricks Kopf gleiten ließ, rauschten die verschwommenen Bilder der Nacht an ihnen vorbei. Matt spiegelte das Fensterglas ihre Silhouetten wider, die sich in den Hintergrund mühelos einzufügen schienen und doch das einzige Stete an seinem Blickfeld waren.

„Danke“, hauchte irgendwann das Wesen in seinen Armen.

„Ich könnte den Gedanken, dich in den Fängen eines anderen zu wissen, nicht ertragen“, erwiderte er flüsternd und doch kamen ihm seine Worte viel zu schallend vor; als könnten sie die Ohren desjenigen erreichen, der sie dazu getrieben hatte, mitten in der Nacht zu flüchten.

„Halte mich heute Nacht einfach nur fest, ja?“
 

/Ich werde dich nicht loslassen, egal was kommen mag…/
 

Ihre Lider schlossen sich und der sanfte Rhythmus, in den das Fahren des Zuges sie wiegte, versetzte sie in Schlaf, der ihnen ein wenig von dem Frieden brachte, den sie beide ersehnten.
 


 

Der Morgen war noch nicht angebrochen, als sie die Bahnhofshalle durchquerten, in der sich kaum Menschen aufhielten. Nur vereinzelt durchbrachen Stimmen oder Schritte ihre eigenen, die sich aber in der Weite des Raumes sofort verloren. Die Finger ihrer Hände flochten sich fest ineinander, während sie die letzten Meter im Schutz des Bahnhofes zurücklegten. Wenn sie gleich den Teer der Straßen von Luminis beträten, würde ihr kommendes Schicksal besiegelt sein. Es würde dann kein Zurück mehr geben.

„Bereit?“, fragte Joe an Rick gewandt und veranlasste ihn stehen zu bleiben, um ihm in die Augen blicken zu können. Das Meeresblau wirkte ein wenig farblos im Gegensatz zum sonstigen Schein, doch der Dunkelhaarige atmete sichtlich tief ein und aus und nickte anschließend.

„Lass uns gehen.“

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen drückte Joe sie sachte auf die von Rick; es war nur eine kurze Berührung, aber dafür umso gefühlvoller.

„Dann auf in den Kampf!“

Seite an Seite ließen sie das große steinerne Gebäude mit den vielen Anzeigetafeln hinter sich und gingen in einvernehmlichem Schweigen ihren Wurzeln entgegen. Es war schon eine beachtliche Zeit vergangen, als sie zuletzt gemeinsam durch Luminis gelaufen waren. Zwei Jahre mochten schnell vergehen und dennoch eine Spanne darstellen, die einem ewig vorkam. Sowohl Joe als auch Rick erschien die Kleinstadt an diesem Tag dunkler und schattenreicher. In den Ritzen der Mauern, in den kleinen Gassen zu ihrer Rechten und in dem Kirchturm verfing sich die Finsternis und verschluckte das wenige Licht, das der Himmel bereits herab zur Erde sandte. Wie von selbst fanden ihre Füße den richtigen Weg, denn ihre Blicke waren verschleiert.

„Es hat sich nichts verändert“, meinte der Kleinere, als sie sich Joes Elternhaus stetig näherten und sich das Gebäude immer deutlicher vor dem grauen Hintergrund abhob. „Selbst die Bäume sehen aus wie früher, als ob sie mit Wachsen auf mich gewartet hätten… Tut mir leid, ich rede ohne irgendeine Vernunft.“
 

/Denn ich fühle mich wie ein Geist, der zurückgekehrt ist, um das zu vollenden, wozu er als Lebender nicht mehr in der Lage war…

Nur mit dem Unterschied, dass ich immer gelebt habe…/
 

Allmählich gab es die ersten richtigen Anzeichen der Morgendämmerung, unter anderem zeichneten sich am Himmel die ersten bläulichen Farbnuancen ab. Dicke Wolken zogen vereinzelt über sie hinweg und trugen den Schnee in sich, der in wenigen Stunden mit Sicherheit herabrieseln würde.

„Sorg’ dich nicht um deine Worte, denn ich habe bei meinem letzten Besuch ähnliches gedacht.“ Mit einer Hand schob Joe das Gartentürchen auf und ließ Rick den Vortritt hindurchzugehen. Seine Schritte wurden immer langsamer, bis er irgendwann gänzlich in seinen Bewegungen stoppte. Liebevoll legte Joe sein Gesicht an das seines Freundes, so dass sie Wange an Wange vor der vom Lichtschein der plötzlich aufflackernden Laternen erhellten Tür standen, die ins Innere des Hauses führte.

„Glaube einfach an unsere Liebe, dann wird alles gut werden.“
 

/Sie ist unser einziges Mittel, andere von uns zu überzeugen…/
 

Als die das Haus betraten, umhüllte sie gläserne Stille. Leise schlichen sie in Joes Zimmer, das er trotz seines Auszuges immer noch für sich beanspruchen durfte, wenn er zu Besuch war, und auch einzig für ihn genutzt wurde. Mit jedem Schritt hofften sie, niemanden aufzuwecken, denn sie brauchten erst ein wenig Ruhe, bevor sie sich den vielen Fragen seiner Eltern stellten. Erschöpft sanken sie auf das große Bett und kuschelten sich aneinander. Jetzt die Nähe des anderen spüren zu können, ließ all die letzten Stunden der Aufregung und Emotionen fast vergessen. Sachte schenkten sie sich gegenseitig Berührungen, ab und an küssten sie sich, doch redeten dabei kein einziges Wort. Immer stärkeres Licht fiel durch die zwei Fenster auf ihre Gesichter, die alsbald friedlich aussahen aufgrund des Schlafes, der sie übermannte.
 


 

Nach ein paar Stunden knarrte die Zimmertür und Veronica trat mit einem Stapel Bettwäsche über die Schwelle. Als sie die zwei jungen Männer im Bett liegen sah, ließ sie vor Schreck alles fallen. Indessen entwich ihr sogar ein kleiner Schrei, der die beiden sofort hochfahren ließ. Drei Augenpaare blickten von einem zum anderen, bis Joe irgendwann seine Stimme gefunden hatte: „Guten Morgen, Mom.“ Er lächelte ihr herzlich zu.

„Gu-guten Morgen, ihr zwei, schön euch zu sehen, aber was macht ihr schon hier?“ Veronica zwang sich zu einem entspannten Grinsen, das doch ein wenig zu aufgesetzt aussah. Sie hatte genau gesehen, wo Joes Hände im Schlaf verweilt hatten, und dieses Bild schwebte noch immer vor ihren Augen herum, wollte unablässig auf sich aufmerksam machen.

„Können wir dir das beim Frühstück erklären?“, bat der Blonde und stand dabei auf, um die Bettwäsche vom Boden aufzuheben. Vor seiner Mutter kniend griff er nach dem blauen Laken und faltete es wieder einigermaßen zusammen.

„Ja… natürlich, bis gleich.“

Zögernd wand sie den beiden den Rücken zu und entfernte sich. Joe konnte ihre Schritte auf der Treppe hinab zur Küche hören und als er sie dort angelangt wusste, drehte er sich zu Rick um.

„Alles okay?“

Doch der Dunkelhaarige antwortete nicht, starrte stattdessen wie versteinert auf die Tür, die halb offen stand. Joe legte die Bettwäsche auf den Tisch zu seiner Rechten und setzte sich dann neben seinen Freund. „Sie wird es verstehen, denn sonst säßen wir nun nicht quicklebendig hier und würden unnötigerweise auf diese alte Tür starren.“ Ein kleines Schmunzeln zierte seine Lippen und er knuffte Rick aufbauend in die Seite, ehe er mit einer Hand durch dessen Haar wuschelte. „Kommst du mit runter?“

„Bist du nicht ein wenig zu optimistisch?“, erwiderte der Kleinere zweifelnd.
 

/Gerade verarbeitet sie das, was sie gesehen hat… Ihr Sohn hat neben einem Mann geschlafen, ihn in seinen Armen gehalten und das aus freien Stücken… Was denkt sie nun über uns, vor allem über Joe?... Was mag ihr in diesem Moment durch den Kopf gehen? – Dieselbe Ungewissheit wie mir?/
 

„Einer von uns beiden sollte es sein, findest du nicht auch? Die letzten zwei Tage hatten es in sich und ich möchte meiner Mom eine Chance geben.“
 

/Sie ist immer nett zu mir gewesen und hat mich immer gemocht… Das allein schon räumt ihr diese Chance ein, auch wenn ich Angst davor habe, ihr gleich unter die Augen zu treten…/
 

Besänftigend blickte Rick seinen Freund an und forderte einen intensiven Kuss ein, der Hitze in seinen Körper trieb und die Kälte vertrieb, die sich beim Anblick von Veronica in seine Glieder geschlichen hatte. „An mir soll es nicht scheitern.“

Dankbar strich Joe dem Dunkelhaarigen eine Strähne aus der Stirn und drückte anschließend seine Lippen kurz auf diese.

„Das weiß ich zu schätzen“, hauchte er ihm zu.
 

Nach einer warmen Dusche stiegen sie hintereinander die Treppe hinab und sogleich umgab sie wohlriechendes Teearoma und der Duft von getoastetem Brot. Joes Eltern saßen schweigend am Frühstückstisch und blickten sie neugierig an. Tief atmete Joe durch und nickte seinem Vater zu. „Hi Dad.“

„Hallo Steven“, meinte Rick höflich und schaute ihn unsicher an, konnte seinen Blicken aber nicht lange standhalten. Sein Herz begann immer schneller zu schlagen und er schämte sich ob seiner fehlenden Haltung. So sehr er sich vorgenommen hatte, standhaft den beiden gegenüberzutreten, so unbeholfener kam er sich gerade vor.

„Wollt ihr euch denn nicht zu uns setzen?“ Veronicas Stimme durchbrach die Spannung, die sich mit jeder verstreichenden Sekunde intensivierte.

„Gerne“, entgegnete Rick und zog einen Stuhl vorsichtig zurück, auf dem er sich dann niederließ.

Joe tat es ihm gleich und eine seltsame Stille kehrte ein, als das letzte Klappern von Stuhlbeinen auf zartgelben Fließen verebbte.

„Wie geht es denn Rebecca?“, fragte Joe, um einerseits das Schweigen zu brechen und andererseits die Blicke von Rick zu nehmen, die ihm sichtlich zusetzten. Wie gerne er ihm einen aufmunternden Kuss auf die Lippen gehaucht hätte, doch das war in ihrer Situation nicht angebracht und daher beschränkte er seine Unterstützung auf eine einfache, aber ehrlich gemeinte Frage.

„Sie kommt morgen ebenfalls hierher und sie freut sich auf dich. Gestern am Telefon klang sie zwar ein wenig müde, doch ich glaube, dass es ihr sehr gut geht. Wahrlich hat sie sich schnell eingelebt und scheint gut damit zurecht zu kommen, auf eigenen Beinen zu stehen.“ Es war Veronica, die Joe geantwortet hatte.

Steven beäugte Rick, den er schon sehr lange kannte, mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck, was den Dunkelhaarigen zu dem Gedanken verleitete, wieder nach oben zu gehen zurück in Joes Bett, um dort dessen Geruch in sich aufzusaugen, der ihm in der Küche vor dessen Eltern vorenthalten wurde. Wie nah Joe doch war und doch so fern. Wie in Trance hörte er die Stimmen von dem Blonden und dessen Mutter, die sich alsbald in einem angeregten Gespräch verloren. Aber Steven gab weder ein Wort von sich noch nahm er seine Augen von ihm. Und mit jedem Satz seiner Frau schien er noch weniger Lidschläge zu brauchen, um seine Hornhaut mit Feuchtigkeit zu benetzen. Ab und an suchte sich Rick einen Punkt hinter Joes Vater, den er visieren konnte, aber im Endeffekt landete sein Blick doch wieder bei dem groß gewachsenen Mann mit dem für sein Alter noch recht fülligem Haar. Mehr und mehr Adrenalin wurde in Ricks Körper freigesetzt und er schaffte es nicht, sich dagegen zu wehren, denn allmählich bildeten sich die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn. Ebenso seine Hände überzog ein feuchter Film. Die Reaktionen in ihm schlossen auf sein Unwohlsein, das er in dieser beklemmenden Atmosphäre verspürte, welches Joes Vater mit Sicherheit und zu seiner Bestürzung wahrnehmen konnte.
 

/Wie lange möchte er mich noch derart sezieren? Sieht er denn nicht, dass ich zu keiner Gegenwehr in der Lage bin?... /
 

„Steven!“, drang es mit einem Mal laut durch den Raum und Veronica sah ihn ernst an. „Dein Sohn möchte wissen, ob du in letzter Zeit die Nachrichten verfolgt hast.“

Endlich wurde Rick von dem lastenden Starren erlöst und er schnappte nach Luft, die er anscheinend angehalten hatte, als Veronicas Stimme durch die Küche gehallt war. Sein eigener Blick klärte sich und er konnte sehen, wie interessiert Joe zu seinem Vater spähte. Weshalb konnte Rick sich nicht erklären, doch den Grund dafür sollte er schon bald erfahren.

„Die Frage beantwortet sich von selbst oder nicht, Joe?“, entgegnete Steven mit einer Sanftheit, die Rick irgendwie absurd vorkam, aber eigentlich den Charakter widerspiegelte, den er seit jeher von ihm kannte.

„Hast du irgendwas von einem Mann gehört, der sich an Jungs zu schaffen macht?“

Irritiert weiteten sich Ricks Augen. Er hatte vom Gespräch zwischen Joe und Veronica nicht wirklich viel mitbekommen, aber nach den gerade gesprochenen Worten zu urteilen anscheinend überhaupt nichts. Was hatte Joe seiner Mutter alles erzählt?
 

/Wenn ich dein Bein nicht auf- und abwiegen sehen würde, würde ich meinen, du trügest absolut keine Nervosität in dir. Aber sag’, was leitet dich zu dieser Frage? Allein schon der Gedanke an diesen Mann schnürt mir die Kehle zu und trübt meine Sinne…

Ich kann förmlich seinen Atem auf meiner Haut spüren, ich sehe seine Lippen zu einem kalten Lächeln verzogen, wie sie sich den meinigen nähern und…

wie sie sich nach mir zehren, die Bosheit aber nicht im Geringsten verbergen…

Seine Hand hält mein Kinn, ich kann mich nicht wehren… Die Überlegenheit in seinen dunklen Augen…

das überhebliche Grinsen in seinem Gesicht…

Gänsehaut…

Ich spüre nichts als Gänsehaut!/
 

Fest verkrallten sich seine Hände in dem Stoff seines Hemdes und kalkweiß traten seine Knöchel hervor. Wirre Laute drangen an seine Ohren, die keinen Sinn zu tragen schienen. Silben, die aus jedwedem Zusammenhang gerissen waren. Er hörte seinen Namen… er klang seltsam fremd… Bedrohliche Schwärze überzog plötzlich die Silhouetten in seinem Blickfeld, verfinsterte den Tag, umgarnte das Licht, um es letztendlich gänzlich zu verschlucken…
 

„Rick?“, rief Joe alarmiert aus und nahm dessen Kopf fest in seine Hände, unter denen er sofort den kalten Schweiß spürte, den dieser verströmte.

Wie ein lebloser Stein sank der Dunkelhaarige zur Seite.
 


 

/Es war für dich zu viel und ich habe es nicht bemerkt… Ich dachte, ich könne durch das lockere Gespräch mit meiner Mom die Last von deinen Schultern nehmen… Doch dabei habe ich dich aus den Augen gelassen… Wenn ich nur gewusst hätte, wie sehr du noch unter Schock stehst, hätte ich dich nicht darum gebeten… Die Schuld liegt bei mir, bitte vergib mir, ich war unbedacht …/
 

Mit einem feuchten Tuch tupfte Joe über die Stirn seines Freundes. Immer wieder traten auf ihr kleine glitzernde Perlen hervor aufgrund der Unruhe, die den Körper des Dunkelhaarigen befallen hatte. Verschwitzt lag er in Joes Bett und neben ihm saß der Blonde, Kummer und Trauer in den grünen Augen.
 

/Deine Ohnmacht währte zum Glück nur kurz, doch nun scheinst du einem Schlaf verfallen zu sein, der dir die Bilder der vergangenen Nacht erneut offenbart… Der Vorfall vor zwei Jahren hat dich geprägt und ist mitverantwortlich für deine emotionale Empfänglichkeit… Das dritte Zusammentreffen mit diesem Kerl scheint tiefer in dir zu sitzen als ich vermutet hatte und ich hätte es dennoch wissen müssen. Wir sind zusammen aufgewachsen, ich habe all deine Gefühle gesehen: Glück, Schmerz, Trauer, Wut, Freude, Enttäuschung, Zufriedenheit. Und als dein Freund war ich nicht in der Lage zu erkennen, dass du dem Bewusstseinsverlust nahe warst… dass du mich brauchtest./
 

Enttäuscht von sich selbst nahm er Ricks Hand in seine und drückte sie fest. „Es tut mir leid“, flüsterte er und hoffte auf diese Weise, einen Teil seiner Schuldgefühle ablegen zu können.

„Wie geht es ihm?“, fragte Veronica besorgt, als sie leise das Zimmer betrat.

„Er braucht ein wenig Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten.“

Mit kleinen Schritten kam Joes Mutter näher und legte eine Hand auf seine Schulter.

„Du liebst ihn wirklich.“

„Ja das tue ich.“

Joe konnte den Atem seiner Mutter hören, aber nicht seinen eigenen, denn es schien ihm, als hätte er gerade keinen. Die Welt schien für einen Moment still zu stehen, zumindest für ihn…

„Dann möchte ich eurem Glück nicht im Wege stehen“, meinte seine Mutter nach einer ganzen Weile oder doch direkt im Anschluss? Joe wusste es nicht, aber die Worte hallten in seinem Verstand tausendfach wider.

Mit Tränen der Freude und des Leids in den Augen blickte er Veronica an und wollte irgendein Wort des Dankes sagen, aber es drang keines über seine Lippen.

„Ich hab’ dich lieb, Joe, und Rick auch. Er ist ein guter Junge und ich glaube, dass er dich glücklich machen kann, wenn er einmal den Schmerz überwunden hat, der schwer auf seiner Seele lastet.“

Blinzelnd erhob er sich und nahm seine Mutter in den Arm und ergoss die Tränen, die einst einzig zu Rick gehörten.

Kapitel 40

Kapitel 40
 

„Und das sagst du mir nicht nur so?“ Ungläubig blickte Rick zu seinem Freund, der am Fuß des Bettes mit einem ernsten und zugleich erfreuten Gesichtsausdruck stand.

„Nein, es entspricht der Wahrheit.“

„Ich weiß gar nicht recht, ob ich weinen oder lachen soll.“

„Entscheide dich für letzteres“, meinte Joe nun grinsend und legte sich längs neben den Dunkelhaarigen. Mit einer Hand spielte er mit der Decke über Ricks Brust, zog sie Stück für Stück von dieser zurück. Allmählich näherte er sich mit seinem Gesicht dem Kinn seines Freundes und begann es mit leichten Küssen zu benetzen, währenddessen sich seine Hand unter sein Hemd stahl und dort sanft mit seinen Fingern Berührungen ausübte. Wohlig seufzte der Kleinere auf, drückte ihn im nächsten Moment aber von sich.
 

/Das sind zu viele Eindrücke und Emotionen auf einmal. Es scheint keinen Anfang und kein Ende zu geben… Du nickst verständnisvoll und bettest deinen Kopf auf meine Brust, obwohl ich dir noch nicht einmal gesagt habe, weshalb mir gerade nicht nach diesen unvorstellbaren Gefühlen, die du in mir auslöst, zumute ist… Ich habe Angst, ich könne mit ihnen in diesem Moment nicht umgehen und mich in einem Rausch verlieren, in dem sich all das Schlechte mischt und ich… dich nicht genießen kann…/
 

„Ich schätze mich glücklich, auf gewisse Weise zu deiner Familie zu gehören.“

„Was heißt hier, ’auf gewisse Weise’? Spätestens seit heute bist du vollkommen integriert.“ Der Nachdruck in Joes Stimme ließ Rick die Augen schließen.
 

/Hätte mir jemand gesagt, dass ich mit offenen Armen empfangen werde, hätte ich es niemals geglaubt… Selbst die undefinierbaren Blicke von Steven haben sich aufgeklärt und als großes Missverständnis meinerseits herausgestellt. Er akzeptiert mich als der Freund seines Sohnes… Die Freude im Herzen darüber ist groß und ich bin glücklich, aber andererseits… wallen in mir diese abscheulichen Bilder, die mich einfach nicht loslassen können…/
 

Abwesend streichelte er die Wange des Blonden, dessen ebenmäßiger Atem seine Hand ab und an streifte.
 

/Ein Traum jagt den nächsten, der eine schöner als der andere, der andere grausamer als der eine… /
 

„Nachdem ich nun eine Familie habe, brauche ich meine eigene nicht mehr.“

„Was redest du da?“ Joe fuhr auf und sah entsetzt in die meerblauen Tiefen seines Freundes. „Rick,…“ Obgleich so viele Widerreden auf seiner Zunge lagen, verstummte er, denn der Schmerz in den Augen des Kleineren schnürte ihm die Kehle zu.
 

Wieg’ mich, oh Schrecken der Nacht,

in meinem Bette ganz sacht,

dass mir der Atem vergeht

und das Scheusal erlegt.
 

Komm’, komm’ doch

zu mir

in mein Bettelein

komm’, komm’ doch

raub’ mir

mein Herzelein.
 

Nimm die Qual,

nun nimm sie doch!

Nimm das Leid,

oh nimm es doch!
 

Komm’, komm’ doch

zu mir

im Morgengrauen

komm’, komm’ doch

reiß ein

die hoh’n Mauern.
 

Wieg’ mich, oh Schrecken der Nacht,

in meinem Bette ganz sacht,

dass mir der Atem vergeht

und das Scheusal erlegt.
 

„Mit jeder Sekunde, die verstrich, wünschte ich mir drängender, von ihm entschwinden zu können“, begann Rick bewegt. „Allein seine bloße Anwesenheit reichte schon aus, um meinem Körper eine Schwere aufzuerlegen, die mir all meine Kraft nahm. Und als er dann deinen Namen sagte, gefror alles in mir, zog sich mein Herz so sehr zusammen, als ob es im nächsten Moment in Stücke zerreißen wolle. Ich werde diese verdammten Bilder und diese verdammte raue Stimme nicht los, die überhaupt nicht würdig ist, deinen Namen zu sprechen! Und nun könnte ich glücklich sein, glücklich! Und? Ich bin es nicht! Obgleich ich es bin… In mir dreht sich alles und im Endeffekt möchte der Schmerz die Herrschaft über mich erlangen. Aber ich möchte doch endlich glücklich sein! Deine Eltern sind wundervoll und ich sitze hier und werde vor Sorgen verrückt. Schrecklich ist die Angst, dass er dir was antun könnte, und ich habe keine Mittel dich vor ihm zu wahren…“ Immer leiser drangen die Worte aus seinem Mund. „Ich möchte dich doch einfach nur vor ihm bewahren.“

Joe schluckte und wollte eine Hand auf Ricks Schulter legen, zog sie beim ersten Versuch jedoch zurück. In den letzten Tagen hatte er darum gekämpft, dass Rick seine Gefühle preisgab, und nun hatte er es getan und das war wie ein Schock für den blonden jungen Mann. Die Gewaltigkeit seiner Worte war enorm gewesen und er brauchte erst einmal ein wenig Zeit, ihren Inhalt zu verarbeiten. Nach einem erneuten fehlgeschlagenen Versuch bekam er endlich die Schulter des Kleineren zu fassen und zog sie zu sich. Still fiel Rick in seine Arme und regte sich nicht mehr. Mit all seinen Emotionen schien all die Lebendigkeit aus ihm gewichen zu sein.

„Es wird schon… alles gut werden…“ Bedächtig senkte er die Lider. „Solange wir zusammen sind, wird uns nichts geschehen… Vertraue auf das Gute… Ich liebe dich… so sehr…mein kleiner Romantiker…“

„Die Welt dreht sich unaufhörlich und das Glück möchte nach mir greifen, aber ich bekomme es nicht zu fassen… obwohl ich dich spüren kann… mit jeder Facette meines Körpers kann ich dich fühlen, deinen Herzschlag vernehmen… Es schlägt schnell, so wie meines…“

„Wir sind eins und nichts kann uns spalten…“
 


 

Einen letzten Kuss hauchte Rick auf Joes Lippen, bevor er seinen Mantel zuzog und über die Türschwelle trat.

„Soll ich dich nicht doch begleiten?“

Der Kleinere schüttelte mit dem Kopf und hob die Hand zum Abschied. „Das muss ich alleine machen.“

Lange sah der Blonde seinem Freund nach und stand noch immer ungeschützt in der kalten Luft, als dieser bereits eine ganze Weile aus seinem Blickfeld verschwunden war.
 

/Wenn du dich unwohl fühlst, dann komm’ zurück zu mir…/
 

Irgendwann löste sich Joe aus seiner Starre und kehrte zurück ins Haus, in dem er sich mit einem Mal vollkommen einsam fühlte. Seine Eltern saßen im Wohnzimmer, aber sie konnten den dunkelhaarigen jungen Mann einfach nicht ersetzen. War es wirklich richtig gewesen, ihn alleine gehen zu lassen? Hielt er denn die erneuten Gefühlseinstürme aus? Wie oft hatte er ihn danach gefragt, ihm dabei tief in die Augen gesehen und immer wieder eine Zustimmung erhalten. Allmählich begann er an der Richtigkeit zu zweifeln, obgleich er wusste, dass eine noch drastischere Konfrontation mit Homosexualität Ricks Eltern zu keiner Versöhnung bewegen würde. Gab es denn überhaupt eine Chance auf sie? Umso mehr er darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher erschien sie ihm. Er hatte den Schmerz in ihren Augen gesehen, er hatte Rick den Brief mitgebracht, aber nun erschien ihm alles als blanker Hohn. Als ein Witz, auf den er hereingefallen war. Mit seiner Rechten fuhr er sich durchs Haar und trat mit einem Fuß gegen den Mülleimer, der laut an die Wand knallte. Er hörte die Stimme seiner Mutter nach oben in sein Zimmer dringen, aber er reagierte nicht darauf. Sollte sie sich doch die Lunge aus dem Leib schreien, was kümmerte es ihn, jetzt wo Rick auf dem Drahtseil über einer tiefen Schlucht balancierte und es nicht mehr in seiner Macht lag, ihn vor dem Fallen zu hindern. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, was ihn seine Beine unter sich nachgeben ließ. Hart fiel er auf die Knie und eine Hand drückte er fest an seine Brust.
 

/Ich habe ihn dazu veranlasst, ihn ermutigt, ihn gedrängt. Wenn er…/
 

„… fällt… dann… durch mich…“
 

Hohl echoten seine Worte an den Wänden und trugen seine eigene Stimme unbedeutend und dumpf zurück an seine Ohren.

Die Liebe ließ auch ihn die Gefühle verstärkt erleben. Etwas, was er vorher nicht gekannt hatte und was ihn gerade an den Rand des Wahnsinns trieb. Er hatte doch nichts weiter gewollt, als dass Rick lächeln und von sich behaupten konnte, dass er eine Familie hatte, die ihn liebte. Und nun hatte er ihn damit geradewegs in den Abgrund geschickt.

Mit zu Faust geballter Hand schlug er auf die Wand ein, was ihm nichts als Schmerzen bereitete und doch konnte er damit nicht aufhören. Als die ersten Blutstropfen das Weiß der Wand befleckten, vernahm er das geräuschvolle Schlagen seiner Zimmertür gefolgt von lautem Stimmengewirr, das für ihn nur aus sinnlosen Silben bestand, die jedwedem Zusammenhang entbehrten. Plötzlich spürte er warme Hände, die ihn hochzogen und heißen Atem, der irgendwas von ’beruhigen’ hauchte. Wie um alles in der Welt konnte man sich denn beruhigen, wenn der Mensch, der einem am meisten am Herzen lag, kurz vor dem Zusammenbruch stand?
 

/… und es selbst zu verschulden hat…/
 

Widerwillig ließ sich Joe hinunter in die Küche führen, wo bereits heißer Dampf aus zwei Tassen stieg und wohligen Früchteduft im Raum verbreitete. Es roch nach Erdbeeren und Kirschen, Johannis- und anderen Beeren. Sanft wurde er auf einen der Stühle gedrückt und eine der beiden Tassen wurde ihm bestimmt unter die Nase geschoben.

„Trink!“, befahl eine tiefe Stimme, die viel Härte, aber auch Güte in sich trug.

Schweigend griff der Blonde nach dem Porzellan und führte es an seine Lippen. Kurz pustete er, dann nahm er einen Schluck, auch wenn ihm gerade nicht nach irgendwelchem Lebensmittelverzehr zumute war. Viel lieber wollte er Rick zurückholen, bevor es zu spät sein würde.

„Gut, nun höre mir einfach zu. Derweil kannst du dich gerne weiter in Schweigen hüllen, Hauptsache du verfolgst das, was ich sage.“ Fest sah Steven seinen Sohn an und legte eine Kunstpause ein, in der er abzuwägen versuchte, ob Joe aufmerksam war oder nicht. Leise begann frisch fallender Schnee an das Fenster zu rieseln, eine Akustik, die nicht lange währte, da Steven fortfuhr: „Als ich deine Mutter kennen lernte, steckte ich noch mitten in einer Beziehung, aber es hinderte mich dennoch nicht daran, mit Veronica auszugehen. Wir trafen uns oft und verstanden uns von der ersten Minute an ausgezeichnet. Ich merkte, wie ich mich von Tag zu Tag mehr in sie verliebte und wie ich mich von meiner damaligen Freundin immer mehr entfernte. Ziemlich bald schon beendete ich die eine Beziehung und fing eine neue an. Bevor ich deine Mom getroffen habe, war ich, das weiß ich seitdem ganz sicher, nie richtig verliebt gewesen, doch Veronicas Wesen hat mich von Anfang an beeindruckt und mit jeder Facette, die ich an ihr entdeckt habe, wuchsen meine Faszination und meine Zuneigung ihr gegenüber.“ Steven schenkte sich Tee nach und rührte mit einem kleinen Löffel ein wenig Kandiszucker hinein, den er anschließend wieder beiseite legte. Indessen warf er einen kurzen Blick auf die großen, weißen Flocken, die in wilden Bahnen vom Himmel fielen. „Als Rick entschied, von hier fortzugehen, hast du keinen Augenblick gezögert und bist mit ihm gegangen. Und in diesem Moment wusste ich bereits, dass du in ihm die Liebe finden würdest, die ich in deiner Mutter gefunden habe. Wenn ich dir das gesagt hätte, hättest du mir niemals geglaubt, darum behielt ich es all die Monate für mich. Ich rechnete bei jedem Besuch von dir damit, dass du uns offenbaren würdest, dass ihr mehr als Freunde seid. Natürlich kann ich keine echten Parallelen zwischen dir und mir ziehen, aber unsere Gefühle haben dieselbe Basis und darum könnte ich eure Beziehung nicht verurteilen, selbst wenn es jemand von mir verlangen würde. Das habe ich dir vorhin bereits mitgeteilt, weshalb wir nun zu dem kommen, was ich dir unbedingt mit auf den Weg geben möchte.“ Er streckte seinen linken Arm über den Tisch hinweg und legte seine Finger um Joes Kinn, das er lediglich berührte, nichts weiter. „Sieh mich bitte an.“

Obwohl er es bevorzugt hätte, weiterhin die zartgelben Fließen anzublicken, kam Joe der Forderung nach. Steven verlangte ansonsten nichts und zog seine Hand wieder zurück.

„Manchmal gibt es Situationen, in denen selbst der Partner keine Möglichkeit hat zu helfen und denkt er versage. Es gibt kaum etwas Nervenaufreibenderes als tatenlos herumzusitzen und ohnmächtig aller Optionen zu sein. Ohne dich wäre Rick nicht so weit gekommen und du solltest ihn einzig darin unterstützen, auf seine Eltern zuzugehen. Und das kannst du nur, indem er weiß, dass du hier auf ihn wartest, dass er jederzeit hierher zurück kann, weil hier Menschen leben, die ihn lieben. Ich konnte die Reaktion seiner Familie niemals auch nur in irgendeiner Art und Weise begreifen, doch auch sie haben zwei Jahre leidvolle Erfahrungen sammeln können. Räume ihnen die Chance ein, die du uns gewährt hast. Vielleicht verstehen sie es.“

„Und wenn nicht?“, entgegnete Joe matt.

„Dann wird dich Rick noch vielmehr brauchen als du dir vorstellen kannst. Ich hoffe, dass du für diesen Fall gewappnet bist.“

„Ich muss zu ihm!“, meinte der Jüngere entschlossen und sprang regelrecht vom Stuhl.

„Lass es sein.“

„Nein, ich muss. Ich habe schon viel zu viel Zeit vergeudet!“

Während er durch den Flur lief, merkte er, dass sein Atem nur stoßweise seinen Mund verließ. Tief sog er daher die Luft ein, schloss für einen Moment die Augen und versuchte, Ruhe in sein aufgewühltes Inneres zu bringen.

Festen Schrittes lief er gen Ricks Elternhaus; ein Weg, den er als Kind schon im Schlaf gefunden hatte.
 


 

Gedankenverloren stand Rick vor dem Haus seiner Kindheit. Hinter den Fenstern sah es dunkel aus und keine Schatten schienen sich darin zu regen. Wie lange er bereits nur wenige Meter entfernt verharrte, war schwer zu sagen, denn so fern sein Blick war, so fern erschien ihm auch die Zeit. Ob die Sekunden zu Minuten wurden oder die Stunden zu Minuten oblag ihm vollkommen; er hatte mit sich zu kämpfen, das war das einzige, was für ihn in diesen Momenten zählte. Sollte sich der Zeiger doch schneller drehen oder langsam dahin kriechen, das war doch nicht von Belang.

In sanftem Rhythmus sog er die frische Luft ein und aus. Die Nässe, die sich allmählich durch seine Kleider fraß, zog seine Aufmerksamkeit nicht auf sich, denn das tat etwas völlig anderes. Unentwegt betrachtete er die helle Fassade, die viel trüber als üblich wirkte aufgrund des reinen Weißes des Schnees, der vor ihr tanzte. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, Erinnerungen, Erlebnisse und Gespräche aus vergangenen Tagen. Vieles geprägt von Schönheit, Freude und anderen positiven Prädikaten. Weniges mit Leid und Trauer geartet. Aber dieses Wenige barg Intensität in sich.

Vergangen war vergangen.

Aber vergangen hieß nicht verblichen.

In Ricks Innerem focht ein Kampf zwischen den guten und den Schattenseiten des Lebens. Er wog den Rausschmiss mit den freudigen Ereignissen ab. Und immer wieder kam er zu dem Entschluss, dass er endlich auf sich aufmerksam machen solle. Dennoch stand er weiterhin wie angewurzelt auf dem weißen Asphalt und erweckte nicht den Anschein, als ob sich das so bald ändern würde. Zu lebhaft war das Bild von den wütenden, funkelnden Augen und dem herrischen Gesicht, das tiefe Enttäuschung in sich barg. Nein, er würde nie vergessen können, wie ihn sein Vater angesehen hatte. Wie despotisch er ihn des Hauses verwiesen hatte.
 

/Aber ich habe ihnen doch vergeben… Entsprach das nur Illusion?... Ich habe ihnen in der Tat verziehen und doch schaffe ich es nicht, die letzten Meter zu überwinden. Allein schon der Anblick unseres Hauses schnürt mir die Kehle zu und möchte mich als Feigling entlarven. Als jämmerlichen Sohn, der es nicht wagt, seinen eigenen Eltern gegenüberzutreten. Dabei haben sie mich in diese Welt geboren, ich bin ein Teil von ihnen, ihr Fleisch und Blut. Ein zweites Mal können sie mich doch gar nicht verstoßen!... Ha, natürlich können sie das. Der Brief war keine Garantie dafür, dass sie es nicht tun würden. Vielleicht sollte ich einfach wieder gehen ohne sie gesehen zu haben. Vielleicht sollte ich einfach Joes Familie zukünftig als meine erachten und meine Eltern auf immer vergessen…/
 

Spott zierte seine Gesichtszüge. Sich selbst meinend schüttelte er mit dem Kopf. Er hatte auf den Brief vertraut. Bedingungslos all seine Hoffnungen in das Wort ’Mom’ gelegt.
 

/Wie immer habe ich das Gute in all den Worten sehen wollen, den Funken Hoffnung, der mein Herz berührt. Dabei kann selbst dieses kleine Wort eine reine Floskel sein, ein Ausdruck der Gewohnheit, einer, der lediglich den Fakt beschreibt, dass sie mich auf die Welt gebracht haben. Wie kam ich auf die Idee, dass er die Liebe zu mir symbolisiert?

Joe hat diese meine These bekräftigt und ich konnte nur Wahrheit in seinen Augen erblicken. Aber was wäre, wenn selbst er sich getäuscht hat? Oder schlimmer noch, sich täuschen ließ? Dass meine Eltern ihm nur etwas vorgemacht haben, von wegen Reuegefühl und Bedauern?

Wer einmal seine Macht ausspielt, tut dies immer wieder. Und mein Vater hat dies eindeutig getan. Ob er es erneut machen wird? Würde er ein weiteres Mal derart grausam sein?

Würde meine Mom wieder tatenlos zusehen, wie man mich verstößt? Etwaige Trauer geschickt verbergen und keine Regung beim Abschied zeigen?

Eure Mauern wirken grau, euer Garten verlassen, so als ob hier nie jemand wirklich gelebt hätte. Dabei kommt es mir so vor, als wäre es erst gestern gewesen, wo Joe und ich uns hier eine wilde Schneeballschlacht geliefert haben. Es schneite genauso wie heute, die Flocken stoben in gleichem Maße unkontrolliert und leicht vom Himmel./
 

Ricks Blicke suchten das gesamte Grundstück ab.
 

/Nichts weist hier auf Lebendigkeit hin. Nicht einmal die Wildheit des Schnees vermag diesem Ort Vitalität zu verleihen.

Seit meinem Auszug ist viel geschehen. Aber euer Anwesen erweckt mir den Eindruck, als hätte es in eurem Leben keine Neuerungen gegeben. Außer Disharmonie und Gleichgültigkeit.

Kennt ihr das tiefgehende, wärmende, leidenschaftliche Gefühl der Liebe nicht? Habt ihr es denn gänzlich begraben als ihr mich ächtetet? Die Natur kann nichts für eure Unzufriedenheit, die ihr mir gegenüber hegtet, und doch habt ihr sie leiden lassen. Es ist nicht die Kälte, die den Bäumen und den Sträuchern zu schaffen macht, sondern euer erstarrtes Herz. Habt ihr die Urkraft unseres Seins aus Trotz vernachlässigt? Weil euer Sohn eure Maßstäbe nicht erfüllte?

Wenn dem so wäre, dann wärt ihr diejenigen, die den hohen Gesetzen der Menschlichkeit widersprächen. Zu euren Tugenden zählten einmal auch Eifer und Hingabe.

Habt ihr eure eigenen Normen vergessen?/
 

Einen Arm von sich streckend bückte sich Rick und griff nach dem Schnee, der sich ziemlich feucht anfühlte. Er nahm eine Hand voll und formte ihn zu einem kleinen Ball, den er anschließend hart die Straße entlang warf. Schon während des Fluges zerfiel er und auf diese Art folgten drei weitere misslungene Kugeln, doch dem Dunkelhaarigen diente das zur Besänftigung seines aufgewühlten Inneren. Als er aber das vierte Mal dabei zusah, wie nur einzelne Flocken ihr Ziel, das Weite, erreichten, hielt er in allem inne und schaute mit zusammengepressten Lippen gen Haustür.
 

/Gut, ich gehe nun zu euch, aber glaubt nicht, dass ich mich von euch noch einmal wie einen Verbrecher behandeln lasse, denn das bin ich nicht! Wenn, dann breche ich einzig und allein eure Gesetze und die sind unnütz und damit vollkommen überflüssig!/
 

Energisch setzte er einen Fuß vor den anderen, aber sanfte Vibrationsstöße ließen ihn vor der Haustür in seinem Fortschreiten innehalten. Er war davon überzeugt, dass der Anruf von Joe kam und er wollte ihm auf alle Fälle mitteilen, dass es ihm gut ging, deshalb drückte er sofort die Taste ’Abheben’ ohne vorher auf das Display zu schauen.
 

„An deiner Stelle würde ich eine Flucht nie wieder in Erwägung ziehen“, ertönte es rau noch ehe er selbst ein Wort sprechen konnte…
 


 

Als der Schnee immer dichter wurde, war Joe nur noch zwei Straßen von Ricks Elternhaus entfernt. Eilig lief er über die weiße Decke, die sich mittlerweile unter ihm gebildet hatte und noch rein und unberührt aussah. Einzig seine Abdrücke zeichneten sich hinter ihm ab.

Ein ungutes Gefühl breitete sich zunehmend in seinem Bauch aus, das er zuvor allein der Sorge um Ricks Gesundheit zuschrieb. Doch allmählich begann er daran zu glauben, dass mehr dahinter steckte.
 

/Deine Eltern werden dir körperlich nichts antun, da bin ich mir eigentlich sicher. Und doch bestärkt sich in mir die Vermutung, dass du in Gefahr schwebst und mich dringend brauchst. Meine Füße tragen mich nicht schneller, obwohl mein Herz bereits rast… Dein Vater darf dich nicht erneut vor den Kopf stoßen. Du würdest wie ein Schiff an einem Berg zerschellen. Das darf ich nicht zulassen!/
 

Er rannte, bog um die Ecke und kam keuchend vor einem ihm bekannten Grundstück zum Stehen. Nach Luft ringend besah er kurz das zweistöckige Haus, das auf ihn verlassen wirkte. Einen Augenblick später streifte sein Blick den Gehweg, auf dem sich viele Fußabdrücke abzeichneten.
 

/Du konntest dich nicht dazu durchringen, gleich hineinzugehen. Wer könnte dir das verdenken./
 

Er folgte den Spuren seines Freundes, die sich mit einem Mal in nichts aufzulösen schienen. Wenige Meter vor der kleinen Treppe, die zum Eingang führte, gab es keine Fußstapfen mehr. Joe konnte noch dutzend Mal den Weg absuchen, er würde immer wieder dasselbe erblicken: unangetasteten Schnee.

Unentschlossen verharrte er. Weshalb endeten die Spuren abrupt? War Rick wieder gegangen? Falls ja, wohin? Wäre er ihm dann nicht begegnet? Hätten sie nicht unausweichlich aufeinander treffen müssen?

Nervös holte Joe sein Handy hervor und wählte Rick an.
 

/Unentwegt läutet es ohne von dir unterbrochen zu werden. Warum gehst du nicht ran? Magst du nicht mit mir reden? Was ist geschehen, dass du mich ignorierst?/
 

Während er stumm das Tuten verfluchte, kehrte er dem Haus den Rücken zu und entfernte sich ein paar Schritte.
 

/Bitte geh doch ran!/
 

Zermürbt klappte er sein Handy wieder zu und steckte es zurück in die Hosentasche. Als er sich dafür entschied, einen anderen Weg zurück nach Hause zu gehen, stockte ihm mit einem Mal der Atem. Zeitlupenartig verfolgte er die Ereignisse, die sich hier zugetragen haben mussten. In dem Schnee erkannte er die Fußabdrücke von mehr als einer Person. Ricks und die eines anderen Mannes, er konnte sie als solche identifizieren, da sie für eine Frau zu groß waren, überlappten sich, daneben Schleifspuren, die darauf hinwiesen, dass jemand gewaltsam hinter jemand anderem hergezerrt worden war.

Sein Körper fühlte sich wie Blei an. Sein Herz schlug wild.
 

/Nein… nein!/
 

„Riiiiiiiiiiiick!!!!“

Kapitel 41

Kapitel 41
 

Der Schrei hallte noch lange in der Ferne wider und trug die Verzweiflung viele, viele Male zurück zu Joe, der eben diese im Herzen spürte. Wenn seine Vermutung wahr war, dann schwebte sein Freund in einer noch viel größeren Gefahr als er bei seiner Ankunft gedacht hatte. War er denn nicht hergekommen, um Rick vor seinen Eltern zu bewahren? Um ihn aus den Fängen seines Vaters zu befreien, um ihn vor neuen Anfeindungen zu schützen?

Mit dieser Art Angst, die sich stattdessen heimlich in sein Herz gestohlen hatte, hatte er nicht gerechnet und sie war, um es gelinde auszudrücken, entsetzlich. Um einiges Nervenaufreibender und Sorgenerregender.
 

„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte eine ihm unbekannte Frauenstimme höflich, die mit einem Mal an seine Ohren drang, ohne jedwede Vorwarnung oder Ankündigung.
 

Joe brauchte eine Weile, um den Klang zu orten, doch dann sah er eine groß gewachsene Frau mit langen, braunen Haaren aus einem Fenster lehnen. Sie wohnte anscheinend im Nachbarhaus zu Joes Rechten, zumindest verweilte sie in diesem, und zog erwartungsvoll ihre Augenbrauen nach oben. Durch den dichten Schnee konnte der Blonde sie kaum erkennen und vermochte es bestimmt nicht, ihre Gesichtszüge und –regungen richtig wahrzunehmen, aber selbst durch die widrigen Wetterverhältnisse befand er sie für attraktiv.
 

„Haben Sie einen dunkelhaarigen jungen Mann hier irgendwo gesehen, ein kleines Stück kleiner als ich?“, fragte er, nachdem in ihm die ersten Erwartungen geweckt worden waren. Vielleicht hatte er ja Glück und sie konnte ihm tatsächlich helfen.

Nach einer Ewigkeit, wie es Joe erschien, antwortete sie: „Ich habe noch nie einen Jungen bei den Dafres gesehen.“
 

/Weshalb wundert mich das nicht einmal!?/
 

Der Blonde dachte kurz nach und fuhr sich indessen mit einer Hand durchs Haar, das ihm nass am Kopf hing. Mit jeder Flocke, die vor ihm herabfiel, verblassten die Spuren im Schnee. Es konnte also noch nicht lange her sein, wo Rick… Das wollte er noch nicht einmal denken! Aber die Vermutung festigte sich zunehmend in seinem Verstand, was ihn total mürbe machte.

„Ist Ihnen vor ein paar Minuten irgendetwas aufgefallen? Ich meine etwas Ungewöhnliches, ob fremde Stimmen, Schreie oder quietschende Autoreifen oder etwas in der Art?“

Völlig benommen und irritiert sah Joe dabei zu, wie das Fenster einfach geschlossen wurde und seine Fragen damit unbeantwortet blieben. Für einen Augenblick empfand er nichts als Bestürzung. „Welch eine Hilfe“, knurrte er.
 

/Dabei brauche ich doch jedweden Hinweis, um Rick zu… retten. Ist es das, was mir nun bevorsteht? Muss ich ihn aus den Klauen dieses Wahnsinnigen befreien?/
 

Irres Lachen entkroch seiner Kehle, ein Laut, den er nicht beabsichtigt hatte. Und doch spiegelte er seine Emotionen getroffen wider. „Weder kenne ich seinen Namen, noch weiß ich, wo er wohnt“, grummelte er vor sich hin. „Ich habe überhaupt keinen Anhaltspunkt.“

„Doch den haben Sie!“

Erschrocken fuhr Joe um und blickte in das freundliche Gesicht der Frau, von der er dachte, sie hätte sich einfach verdrückt ohne den Pflichten der Höflichkeit nachzukommen, die nun aber lächelnd vor ihm stand und selbstbewusst auftrat.

„Zwar habe ich nicht den Menschen gesehen, nach dem Sie fragten, aber dafür flüchtig einen stattlichen Mann, der in ein Auto mit schwarz getönten Scheiben einstieg und eilig davonfuhr.“

In Joe schnürte sich alles zusammen. Also doch! Der Fremde hat Rick… Sein Puls beschleunigte sich, obwohl ihm das Blut in den Adern zu gefrieren schien.

„Konnten Sie die Automarke erkennen?“

„Nicht nur das“, grinste sie und strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne hinters Ohr.

Aus großen Augen blickte Joe sie an. „Wollen Sie mir damit sagen, dass…?“ Aufgrund seines enormen Herzschlages brach seine Stimme ungewollt ab.

„Die Antwort lautet ’Ja’“, warf sie gefällig ein. „Ich lade Sie auf einen heißen Kaffee ein und biete Ihnen ein Handtuch an, ich habe es auf einem Zettel notiert und der liegt sowieso drinnen. Kommen Sie schon, nur keine Scheu.“

Sie lief voraus, einen dunkelroten Mantel fest um sich geschlungen. Gerade wusste Joe nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Ihm erging es in diesem Moment genauso wie Rick vor ein paar Stunden, als er ihm gesagt hatte, dass seine Eltern mit ihnen beiden einverstanden waren. Doch nun ging es nicht um den Segen von Mutter oder Vater, es ging um bedeutend mehr. Um das Wohlergehen eines Menschen, der es nicht verdient hatte verletzt zu werden; der in den Fängen eines Mannes war, dem alles zuzutrauen war. Von Entführung bis hin zu… Mord?

Obgleich ein seichtes Lächeln Joes Mundwinkel umspielt hatte, es war alsbald nicht mehr auszumachen. Jedwedes Freudengefühl war einem Schrecken gewichen, der ihn der Dame widerstandslos folgen ließ.
 

„Hier“, meinte die Unbekannte und warf Joe ein gelbes Handtuch zu, das er geschickt auffing. Er hatte gewiss nicht vor, sich lange bei ihr aufzuhalten, aber die Wärme, die ihm sogleich entgegenströmte, als er das Haus betrat, tat ungemein gut und er wollte die Frau zudem nicht vor den Kopf stoßen. Schließlich besaß sie etwas, das er unbedingt wollte.

„Ich bin übrigens Sarah“, rief sie ihm von irgendeinem Zimmer aus zu, denn sie hatte ihn im Flur allein zurückgelassen. „Hätten Sie gegen das ’du’ irgendwelche Einwände?“

Keck streckte sie den Kopf zu einer Tür heraus und sah zu ihm. Ihre hellblauen Augen glitzerten.

„Ganz und gar nicht“, erwiderte er und war von ihrer Erscheinung leicht übermannt. Sein Fable für Frauen hatte sich selbstverständlicherweise nicht einfach in Luft aufgelöst. Weibliche Reize und vor allem diese enorme Ausstrahlung gefielen ihm wie eh und je außerordentlich.

„Kennst du die Dafres?“, drang erneut ihre Stimme aus dem Zimmer am Ende des Ganges.

„Ich bin mit dem Sohn der Familie befreundet“, erwiderte er laut genug, damit sie es hören konnte.

In Joes Ohren klang sein Satz grotesk, obwohl er der Wahrheit entsprach. Nicht nur dass er mit ihm geschlafen hatte, er liebte ihn und das zählte wohl mehr als Freundschaft, oder nicht? Weshalb prahlte er dann nicht damit und spielte es auf solch unbedeutende Worte herunter?

Weil es sich einfach nicht gehörte. Es schickte sich nicht, vor anderen Leuten, insbesondere vor Fremden, mit seinem privaten Glück anzugeben. Aber was war dabei zu sagen, dass der Dunkelhaarige sein Liebhaber war?

Vielleicht war die Gesellschaft einfach doch noch nicht so weit, das zu akzeptieren. Obgleich er ungeniert mit Rick durch die Straßen von Veneawer gelaufen war, war es für ihn etwas vollkommen anderes, einer Frau, die er obendrein nicht einmal kannte, zu entgegnen, in welcher Beziehung er zu Rick stand. Zumal dies nicht einmal zur Beantwortung gestanden hatte. Also, weshalb hörten sich dann seine Worte für ihn so falsch an?

„Des Öfteren sehe ich Besuch bei ihnen“, ertönte erneut ihre Stimme, „doch junge Menschen waren bisher nie darunter. Du meinst, sie haben einen Sohn?“ Sarah lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen. „Also es ist ja nicht so, dass ich beobachten würde, was bei meinen Nachbarn vor sich geht“, fügte sie lachend an. „Aber ein adretter junger Mann in deinem Alter wäre mir sicherlich aufgefallen.“

„Ja, sie haben einen Sohn“, bekräftigte Joe mit fester Stimme. Die Anzüglichkeit in ihren Augen gefiel ihm nicht, so sehr er sich einst gewünscht hatte, dermaßen von einer solchen Frau angesehen zu werden. Zugegebenermaßen entsprach Sarah äußerlich in hohem Maße seinen Vorstellungen von Anziehungskraft, doch seit geraumer Zeit hatte er andere Merkmale entdeckt, die ihm viel wichtiger waren. Insbesondere welche, die Rick innehatte. Und er war einzig und allein hier, um etwaigen Indizien nachzugehen, die er hier hoffentlich auch wirklich finden konnte.

„Der Kaffee ist fertig, der wird dir gut tun“, meinte sie und deutete ihm an, ihr zu folgen.

Wenig später saß er ihr an einem kleinen runden Tisch gegenüber mit einer Tasse vor sich, die mit heißer brauner Flüssigkeit gefüllt war, die er nicht sonderlich mochte. Feiner Dampf stieg aus ihr empor und er zwang sich, einen Schluck aus ihr zu entnehmen. Aus reiner Manierlichkeit ließ er den Kaffee seine Kehle hinunter gleiten. Joe war nach keinem Smalltalk zumute, den Sarah seiner Meinung nach aber anstrebte. Er konnte sie kaum dazu drängen, endlich das Kennzeichen herauszurücken, denn womöglich stand er am Ende dann mit leeren Händen da. Und das stand gewiss nicht in seiner Absicht, da er es dringend brauchte. Außer diesem hatte er ja keinen Hinweis, also musste er sich wohl in sein Schicksal fügen und Sarah den Gefallen tun und den braven jungen Mann mimen, der sich gerne in ihrer Gesellschaft befand.

„Haben die Dafres noch weitere Kinder?“ Ihre Neugierde schien ziemlich ausgeprägt zu sein.

„Nein“, erwiderte er knapp.

„Das erklärt einiges. Bedien’ dich ruhig.“ Sie schob ihm eine Schüssel mit Weintrauben hin, doch er verspürte absolut keinen Appetit. Er wollte diese verdammte Nummer haben, nichts weiter. War das zu viel verlangt oder zu unkultiviert, wenn man bedachte, dass sie ihm ihre Hilfe anbot? Allmählich fragte er sich, weshalb sie ihm ein Gespräch aufdrückte. Was wollte sie denn damit bezwecken?
 

/Die Minuten verstreichen voller Untätigkeit. Wenn ich wüsste, wie es dir geht, dann würde sich vielleicht wenigstens die Angst um dich legen./
 

„Nein, danke.“ Wenn er nichts von ihr brauchen würde, wäre er spätestens jetzt wieder aufgestanden und gegangen. Trotz all seiner guten Erziehung hätte er sie ohne ein weiteres Wort sitzen lassen. Er wollte doch nur diese kleine, aber entscheidungsträchtige Information haben. Ein paar Buchstaben und Zahlen, sonst nichts. Keine mühsame Unterhaltung, kein Gedankenaustausch, nein, einfach nur das Kennzeichen dieses Wahnsinnigen, der Rick in seiner Gewalt hatte. „Sie haben, entschuldige, du hast also einen Mann gesehen, der mit einem…“, er sah sie fragend an. Nun musste sie doch zur Sache kommen!

„Mercedes, S-Klasse, wenn ich mich nicht getäuscht habe“, ergänzte sie und lächelte ihm aufreizend zu. „Ein recht teurer Spaß.“

Auf ihre eindeutigen Flirtversuche ging er nicht ein und er verspürte auch keinen Drang dazu. „Und Sie haben sich in der Tat das Kennzeichen notiert?“ Aufgrund seiner aufkeimenden Ungläubigkeit vergaß er völlig, dass sie per du waren.

„Zweifelst du etwa an meiner Aussage?“ Sie klang ein wenig bitter und fixierte ihn.

Er war eben emotional überlastet und dafür erwartete man nun von ihm auch noch eine Entschuldigung. Heimlich seufzte er in sich hinein. „Es tut mir leid, nein das tu ich nicht. Es ist nur ein wenig ungewöhnlich, sich das Kennzeichen fremder Leute zu notieren.“

„Nicht, wenn kürzlich in der Nähe eingebrochen worden ist“, meinte sie achselzuckend. „Bitte sehr.“ Sie reichte ihm einen kleinen rosafarbenen Zettel.

Endlich! Joes Herz pochte und er griff erleichtert nach ihm.

„Bis auf die letzten zwei Ziffern und einer der Buchstaben ist es korrekt. Kann sein, dass die Zahlen dennoch richtig sind, aber ich mag nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Der Schnee fiel ziemlich dicht und ich hatte wirklich Mühe, das Kennzeichen überhaupt zu lesen.“

Ein unvollständiges Kennzeichen? Besser als gar nichts in den Händen zu halten, aber konnte er damit etwas anfangen? Er ermahnte sich selbst, ruhig zu bleiben und erst einmal nachzudenken. „Das VER ist richtig?“, fragte er aufgeregt, bemühte sich aber seine Unruhe zu verbergen und nicht überhastet zu klingen.

Sie nickte.

Der Fremde stammte also ebenfalls aus Veneawer. Nun, da Rick immer dort auf ihn getroffen war, war das sehr wahrscheinlich gewesen, doch man konnte ja nie wissen, wo sich Verbrecher ihre Opfer suchten. Joe erschauerte. Der Kerl war womöglich immer in seiner Nähe gewesen, hatte Rick wie einem Tier aufgelauert und den passenden Moment abgewartet, wo er sich ihm aufdrängen konnte. Und er war so leichtfertig gewesen zu glauben, dass er ihnen nicht hierher nach Luminis folgen würde. Obendrein hat er Rick allein zu seinen Eltern laufen lassen. Allein! Eigentlich war das völlig unbedarft von ihm gewesen…

„Ja, das steht glaube ich für Veneawer.“

„Tut es“, bestätigte der Blonde.

„Die Dafres wären eh nicht zuhause gewesen“, warf Sarah mit einem Mal völlig aus dem Zusammenhang gerissen ein.
 

/Er hatte sich nicht bei ihnen angekündigt… spekulierte auf den Überraschungseffekt…/
 

„Sie sind gestern verreist“, fügte sie versonnen an.

Wusste diese Frau denn über alles Bescheid, was Ricks Eltern taten?

Sorgenfreies Lachen durchdrang den Raum. „Keine Sorge, ich steh nicht den ganzen Tag am Fenster. Sie haben mich nur darum gebeten, ihre Pflanzen zu gießen, obwohl unsere Beziehung zueinander nicht wirklich tief reicht; darum weiß ich das. Und das ist auch ein weiterer Grund dafür, dass ich mir das Auto von dem Fremden näher angesehen habe, als ich laute Stimmen vernahm. Heutzutage werden sogar am helligten Tage Verbrechen verübt.“
 

/Sogar Entführungen…/
 

„Danke für Ihre Aufmerksamkeit.“ Joe stand bereits, als er ihr die Hand reichte.

„Hatten wir uns nicht auf ’du’ geeinigt?“, grinste sie ihm verführerisch zu.

„Dann noch mal einen herzlichen Dank an dich, Sarah!“

Die Zeit drängte, er wollte endlich etwas unternehmen. Aber irgendwie kam er immer noch nicht weg, denn sie ließ seine Hand nicht wieder los. „Du kannst gerne jederzeit wieder kommen.“

Bemüht rang er sich ein freundliches Lächeln ab, wonach sie ihn wieder freigab. „Danke für alles“, verabschiedete er sich und sah zu, schleunigst ihre Wohnung zu verlassen.
 

Zurück im Schneetreiben, das sich in der Zwischenzeit nicht beruhigt und das letzte Zeugnis von Ricks Dagewesensein begraben hatte, atmete der Blonde erleichtert aus. Die beklemmende Atmosphäre war ihm aufs Gemüt geschlagen und die frische Luft nahm ihm sofort ein wenig des Unwohlseins, wenn auch nur des physischen. Seelische Linderung konnte vermutlich erst eintreten, wenn er Rick wieder bei sich wusste und ihn in seine Armen schließen konnte. Hätte er nur darauf beharrt, ihn zu begleiten, dann wäre Rick hier bei ihm! Doch was brachten schon ’was wäre wenn-Spielchen’!?
 

/Ich werde jedem Hinweis nachgehen, der sich mir offenbart. Halte solange durch! Bitte! Bitte, dir muss es gut gehen!!!/
 


 

Er lief auf direktem Weg zu seinen Eltern und weihte sie in alles ein. Obgleich er eigentlich keinen weiteren Menschen in Gefahr bringen wollte, so brauchte er doch moralische und vielleicht auch tatkräftige Unterstützung. Schließlich waren drei Köpfe besser als einer, die die wenigen Puzzleteile zusammenfügen konnten. Seit einer Weile schon saßen sie zusammen in der Küche und sowohl Steven als auch Veronica hörten ihm aufmerksam zu.

„Die Polizei wird nichts unternehmen“, meinte sein Vater, als Joe auf sie zu sprechen kam.

„Ich weiß, diese dumme 48-Stunden-Klausel, zumal ich nicht nachweisen kann, dass es sich tatsächlich um eine Entführung handelt.“

„An den Statuten können wir nicht rütteln, aber vielleicht hilft sie uns mit dem Kennzeichen weiter“, versuchte Veronica ihren Sohn zu besänftigen.

„Das habe ich auf dem Weg hierher bereits probiert. Mit den netten Worten ’Solche Auskünfte sind mir Ihnen gegenüber nicht gestattet’ wurde ich abgewimmelt. Außerdem ist das Kennzeichen nicht einmal vollständig und es gibt in Veneawer sicher mehr als eine Million Autos.“ Seine Stimmung erreichte allmählich den Tiefpunkt. Er fühlte sich aller Mittel beraubt, jedweder Chance, Rick zu retten. Ziellos durch die Stadt zu irren und wie ein Verrückter nach dem Wagen Ausschau zu halten, würde sicher auch nichts bringen. Wenn ein Täter gerissen war, dann meist in hohem Maße. Sicher würde er den Mercedes nicht auf offener Straße stehen lassen, geschweige denn mit ihm Spazierfahrten unternehmen. Oder fühlte er sich vielleicht dermaßen sicher, von keinem beobachtet worden zu sein, dass von außen keine Gefahr drohte? Oder war er ein hohes Tier und konnte sich jederzeit frei kaufen?

„Was geht in so einem Irren eigentlich vor?“, brach es aus Joe heraus.

„Wir sollten jetzt nicht die Nerven verlieren“, kommentierte Steven, obgleich er seinen Sohn sanft ansah und eine Hand beschwichtigend auf seine Schulter legte.

Alle hatten gut Reden! Sie vermissten ja nicht den liebsten Menschen auf Erden! Und glaubten ihn in den Fängen eines Kranken zu wissen!

Mit einer Faust schlug der Blonde auf den Tisch, auf dem die Gläser klirrten. „Wie kalt muss man denn sein, sich eines Menschen zu bemächtigen?“

„Es geschehen ständig grausame Dinge, nur sieht man sie erst, wenn sie einen selbst betreffen“, sprach seine Mutter mehr in Gedanken als zu ihrem Sohn. „Was Menschen allerdings dazu veranlasst, könnte ich nur mutmaßen, denn ich verstehe es ja selbst nicht.“

Eine bedrückende Stille kehrte ein und die Luft hing schwer im Raum. Seidene Fäden spannen sich um Joes Herz, schnitten unsichtbare Wunden hinein.

„Ich kann keine zwei Tage hier verharren, bis sich die werten Herren der Polizei dazu aufraffen, uns zu unterstützen.“ Wut und zugleich Ausweglosigkeit schwangen in seiner Stimme mit.

„Was hast du nun vor?“, fragte sein Vater laut und herausfordernd. Mit hochgezogener linker Augenbraue fokussierte er Joe.

„Jedenfalls nicht dumm rumsitzen!“, entgegnete dieser scharf und wunderte sich über die unerwartete Anmaßung, die die Unruhe in ihm nur noch steigerte.

„Was dann?“ Die Provokation war nicht mehr zu überhören. Selbst Veronica musterte ihren Mann konsterniert.

„Wenn es sein muss, dann klappere ich eben jede verteufelte Gasse nach diesem Auto ab!“

„Und was erhoffst du dir?“

„Ihn zu finden, verdammt!“

„Du weißt, dass das Kennzeichen nicht eindeutig ist?“

„Ja, Dad! Ja!“

„Und was ist, wenn du keinen Erfolg hast?“

„Dann suche ich weiter!“

„Kein Aufgeben?“

„Nein!“

„Auf was wartest du noch?“

Plötzlich wich sämtlicher Zorn aus Joes Körper. Nicht nur die Frage, sondern hauptsächlich die veränderte Stimmlage, der Wechsel von Provokation zu Sanftmut, warfen ihn so aus der Bahn, dass seine Rage einfach verpuffte.

„Ich werde dich begleiten“, fügte Steven an und lächelte seiner Frau warmherzig zu.
 

Kurze Zeit später saßen sie bereits in Stevens Auto und Joe schaute gedankenverloren aus dem Fenster.
 

/Dass es diese Psychotricks gibt, wusste ich ja, doch dass sie tatsächlich funktionieren, hätte ich nicht gedacht. Er schaffte es wirklich, meinen Zorn zu verflüchtigen, um wieder einen halbwegs freien Kopf zu erlangen. Besser hätte er mich nicht beruhigen können…

Veneawer, wir kommen! Und Rick, wir werden dich finden!/
 

„Wir müssen ihn finden!“ Sorgenvoll blickte er nach links.

„Das werden wir“, erwiderte Steven, der am Steuer saß, obwohl er sich da nicht sicher war. Glücklicherweise war die Autobahn recht frei und sie kamen dadurch schneller voran als zunächst angenommen. Mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, stieg die Hoffnung, mit jedem Kilometer, der aber noch vorhin ihnen lag, schwand die Zuversicht wieder.

„Am besten, wir suchen getrennt“, meinte Joe und sah nun seitlich aus dem Fenster, an dem die Leitplanke stetig an ihm vorbeirauschte und sich doch kaum zu verändern schien.

„Aber keine Alleingänge!“ Einen ernsten Blick warf Steven seinem Sohn zu und er meinte das so, wie er es sagte. „Wenn du ein Auto, das unseren bekannten Hinweisen entspricht, gefunden hast, dann rufst du mich an und wartest, bis ich da bin.“

„Aber-“

„Keine Widerrede. Haben wir uns da verstanden?“

„Ja.“ Seine Antwort klang sichtlich gequält.
 

/Ich bin erwachsen, verdammt!...

Und doch wirst du wohl immer verbissen die Rolle des Vaters mimen, natürlich aus den gleichen Sorgen, die ich um Rick hege, aber in manchen Situationen wünscht man sich keine Regeln oder gar Befehle. Seit ich mir über meine Gefühle im Klaren bin, sehnt sich alles in mir nach ihm und das kann die reinste Qual sein, denn die Angst, ihn nie wieder zu sehen, reißt mir klaffende Wunden ins Herz, die ich kaum zu schließen vermag. Ich spüre das Pochen, das sogar meine Ohren erreicht, und es wird zunehmend schneller, je näher wir ihm kommen…

Es mag selbst für mich seltsam sein, aber ich bin davon überzeugt, dass er dich nach Veneawer gebracht hat und nicht irgendwo anders hin. Allein schon das selbstsichere Auftreten des Kerls ließ mich darauf schließen… Aber eigentlich sagt mir das etwas ganz anderes…/
 

Mit verschleierten Iriden saß Joe auf dem Beifahrersitz und nahm die Farben seiner Umwelt nur noch als dunkle Silhouetten wahr, deren Form einzig aus Linien bestand. Unbedeutende Konturen, die den Schmerz nicht ahnten, der sich in ihm ausbreitete. Lichtlose Umrisse, belanglos, lieblos, unbedeutend.
 


 

Je weiter Rick die Augen öffnete, desto stärker erschien ihm die Finsternis, die ihn umgab. Da waren jegliche Bilder der Fantasie farbenfroher, schillernder und lebhafter als dieser karge, lieblose Raum, in dem er sich mit Kopfschmerzen wieder fand. Mit pochenden Schläfen blickte er verwirrt umher, auf kahle Möbel und Wände, die jedwedem Charme entbehrten. Blanke Mauern, matte Schränke, ein winziges Fenster. Mühsam arbeitete sein Gehirn und er brauchte eine ganze Weile, bis er sich entsann, was passiert war. Sein Handy hatte vibriert und er hatte fest mit Joe gerechnet gehabt. Doch dann…
 

/… hörte ich diese elendige Stimme, die ich wohl nie wieder loswerde… Aua, mein Kopf,… was hat der bloß mit mir gemacht?/
 

Er kniff die Augen zu und drehte seinen Kopf vorsichtig von links nach rechts und zurück. Schmerzen durchzuckten ihn und seine Finger krallten sich in den Stoff des Mobiliars, auf dem er lag. Als er gequält seine Lider wieder anhob, konnte er es als Sofa identifizieren, mit einem dunklen, mürben Grün überzogen, das alt und unwirtlich aussah. Allmählich spürte er auch, wie ungemütlich es war. Neben seinem Kopf tat zudem sein Rücken weh, als ob er sich mächtig verlegen hätte.
 

/Ich weiß noch, wie ich ihn plötzlich vor mir stehen sah, wie seine Hände mich packten und wie ich ihn von mir wegstoßen wollte… Ich glaube, ich habe sogar geschrieen, oder habe ich mir das lediglich eingebildet?/
 

Sein Atmen drang schwer durch den mittelgroßen Raum, durchbrach die eisige Stille, die sich perfekt in das Erscheinen des Zimmers einband.
 

/Die Erinnerung ist so verschwommen… Vielleicht soll ich nicht erfahren, was er mit mir gemacht hat./
 

Mit einem Mal erschauerte der Dunkelhaarige gänzlich. Nein, gewiss wollte er nicht wissen, wozu sich dieser Kerl womöglich erdreistet hat. Angeekelt schaute Rick an sich hinunter, konnte all seine Kleidung an sich entdecken, die er beim Verlassen des Hauses von Joes Eltern getragen hatte. Erleichterte ihn das? – Weiterhin durchjagten ihn Schauer hohen Ausmaßes. Er sah seine Jeans, seinen Pullover, sogar seinen Mantel und seine Schuhe. Und dennoch war ihm kalt. In ihm wütete eine Leere, die all seine Lebenskraft auszulöschen schien und damit die schützende Wärme vertrieb, die der Körper dringend brauchte.

Wie er feststellte, war er nicht gefesselt oder dergleichen, aber seine Glieder fühlten sich unendlich taub an, so dass er befürchtete, sie nicht bewegen zu können. Obwohl sein Kopf trotz der zunehmenden Wachheit keine Linderung zeigte, richtete er sich auf und seine Beine gehorchten ihm glücklicherweise, wenn auch ein wenig zaghaft. Unbeholfen saß er nun da, das Haupt auf die Hände gestützt, den Blick starr nach unten gerichtet. Glatter, glanzloser Untergrund zeichnete sich in seinem Blickfeld ab, er erkannte Spuren von getrocknetem, zerfallendem Klebstoff, der einst sicherlich einen Teppich beherbergt hatte. Vielleicht war dieser Raum einmal nett anzusehen gewesen, hatte Tapeten und Farben getragen, aber falls dem so gewesen sein mag, hatte man sich mit aller Kraft darum bemüht, jedwede Form von Eleganz und Wohnlichkeit zu entfernen.

Die Stille in dem Zimmer war einerseits angenehm, denn sie war fernab von den rauen Klängen der Stimmbänder, die zu dem Mann gehörten, der für seine Lage verantwortlich war, andererseits jedoch war sie grausam schwermütig, da sie nicht einmal durch das Rauschen von Wasserleitungen durchbrochen wurde. Rick kam es so vor, als ob er sich fernab von der restlichen Welt befände. Wann wurde man schon von absoluter Geräuschlosigkeit umgeben? Meist konnte man doch immer irgendeinen wenn noch so leisen Laut vernehmen, der aber lediglich von Leben zeugte. Hier in diesem Raum gab es aber nicht einmal diesen. Kein Beweis für das Dasein anderer Lebewesen, ob Mensch, ob Tier, völlig gleichgültig, kein Indiz für technischen Fortschritt, wenn man einmal von den Möbeln an sich absah, obgleich selbst diese an Schlichtheit kaum zu übertreffen waren. Leer, ob seine Umgebung oder er, alles schien nichtig, ja einfach nur sekundär.

Mit zitternden Fingern tastete sich Ricks Hand nach der Gesäßtasche seiner Jeans vor und zog wenig später einen goldbraunen Geldbeutel hervor. Ihm war wohl wirklich nichts entwendet worden, vermutlich nicht einmal ein ungewollter Kuss geraubt worden. Doch er spürte darüber keine Freude, denn er wusste, dass es nicht dabei bleiben würde. Mehrere Male schon hatte er die fremden Lippen spüren müssen, warum sollte dieser Kerl ihn dann dieses Mal verschonen, zumal er ihm nun vollkommen ausgeliefert war? Gefangen! Und vollkommen wehrlos, aller Mittel entehrt, die ihm vielleicht bei den anderen Zusammentreffen zugestanden hatten. Wehmütig strich er über das Wildleder und klappte die Börse nach schier endlosen Sekunden auf. Weder das Geld noch die vielen Karten waren von Interesse, vielmehr suchte er etwas, das ihm ein wenig Trost spenden könnte. Den Zeigefinger grub er in den kleinen Spalt hinter der Klappe mit den ganzen Versicherungs-, EC- und Paybackkarten und spürte alsbald das Silber, das ihm sogleich einen Stich versetzte. Ein Stich mitten ins Herz, das sich krampfhaft zusammenzog. Mit einem Mal wurde ihm gewahr, wie sehr er Joe vermisste, wie gerne er ihn jetzt bei sich hätte, in welchem Ausmaß er sich nach ihm verzehrte. Seine starken Arme, sein betörender Geruch, seine aufmunternde Hand in seinem Haar, sein Grinsen, all die Facetten, die ihn zu dem wichtigsten Menschen in seinem Leben machten. Die federleichten Küsse sowie die vor Leidenschaft sprudelnden, die berauschende Nähe und das erregende, überwältigende mit ihm Verschmelzen… mit ihm eins werden, ihn spüren, ihn fühlen, ihn überall empfinden.

Zu all dem Schmerz, den sein Körper signalisierte, gesellte sich seichte Melancholie, die die Leere in ihm zusätzlich verstärkte. Er befreite das Kleeblatt aus seiner Enge und hielt es alsbald in seiner Rechten, starrte es an und konnte den Blick auch noch nach Minuten nicht abwenden. Drei kleine Blätter, ein kleiner Stiel, silbrig, glänzend und äußerst bedeutend. Das Gegenstück trug Joe sicherlich auch in diesem Moment bei sich, was Rick die Tränen in die Augen trieb. Warum war er hier? In diesem Gemäuer, das nichts als Leblosigkeit, Depression und Hoffnungslosigkeit ausstrahlte?
 

/Joe… Ich wollte doch nie mehr als ein wenig Glück empfinden und immer, wenn ich glaube, es erreicht mich, entschwindet es mir wieder, rückt in eine Ferne, die ich nicht zurücklegen kann… Nacht für Nacht war ich dem Glück hinterhergerannt, machte den Verstoß meiner Eltern ungeschehen, nur um früh aufzuwachen und mir die bittere Wahrheit ins Gedächtnis zu rufen… Und dann, irgendwann nach einer Ewigkeit drücktest du mich an eine Wand und küsstest mich. Diesen Moment werde ich nie vergessen, er war der Anfang von unserem Glück, dem ich nun auch hinterher jage… Stets treibt mein Schicksal einen Keil zwischen das Glück und mich und allmählich verliere ich die Kraft, mich erneut aufzuraffen und in die Zukunft zu sehen, denn ich sehe in ihr nichts als blanken Hohn, Spott und grelles Gelächter. Jedes Mal, wenn ich mich aufkämpfe, werde ich wieder niedergedrückt und erniedrigt, meine Gefühle ausgelacht und verpönt…/
 

Die glitzernden Perlen, die über dem Meeresblau funkelten, mehrten sich und ein, zwei von ihnen rannen bereits über seine fahlen Wangen. Mit einer Faust umschloss er das silberne Kleeblatt und drückte seine Lippen sanft auf die Knöchel.
 


 

„Wir können nicht wenden, das ist eine Autobahn!“, fuhr Steven seinen Sohn an. „Die Polizei wird sich darum kümmern, dass wir bald weiterfahren können.“

„Die ach so tolle Polizei!“, fluchte der Blonde und lief neben dem Auto unablässig auf und ab, warf der Unfallstelle, von der dunkler Qualm zu ihnen zog, böse Blicke zu. Seit mehr als fünfzehn Minuten standen sie bereits und waren keinen einzigen, verdammten Millimeter mehr vorangekommen. „Die tut doch sonst auch nichts.“

„Das geht zu weit! Du kannst sie nicht verurteilen, nur weil sie Gesetzen Folge zu leisten hat und viele von ihnen sind nicht grundlos verabschiedet worden.“

„Und die 48-Stunden-Klausel findest du sinnvoll?“ Joe war außer sich. Rick steckte Gott weiß wo und er steckte mitten auf einer Autobahn fest. Das Adrenalin schoss ungehalten durch seinen Körper, seine Herzfrequenz lag weit über normal und es war sicher besser, dass er seine Blutdruckwerte nicht kannte. Fahrig fuhr er sich durchs Haar. Da hatte der Schnee endlich nachgelassen, die Straßen waren dank des Einsatzes zahlreicher Räumfahrzeuge immer gut befahrbar gewesen und nun musste ein Fernfahrer die Kontrolle über seinen LKW verlieren. Hatte er denn bei dieser Witterung fahren müssen? Hätten die Händler nicht auf ihre Bestellungen warten können, bis das Tauwetter wieder einsetzte? Selbstverständlich waren seine Gedanken und Verwünschungen unberechtigter Natur, aber es machte ihn vollkommen wahnsinnig, von Leichtsinn aufgehalten zu werden, der Rick vielleicht das Leben kostete. Jede Minute war wertvoller, tausendmal kostbarer als ein funkelnder Diamant von reinstem Schliff. Es ging hier um einen Menschen, der ihn Gefahr schwebte!

„Wenn sie sich nicht beeilen, dann laufe ich eben bis nach Veneawer, ist anscheinend die schnellere Alternative.“

„Joe! Jetzt halte mal den Atem an und hör mir zu.“ Joe sah ihn nicht an. „Polizisten sind auch nur Menschen und tun ihr Bestmögliches. Und die 48-Stunden-Regel ist auch keinem kranken Hirn entsprungen, sondern hat seine Berechtigung. Bedenke doch mal, wie viele Jugendliche von zuhause weglaufen und ehe zwei Tage vorüber sind sie sich bereits wieder bei ihren Eltern befinden. Oder Vermisstenmeldungen, bei denen sich herausstellt, dass alles ein Versehen war, weil den Verwandten nicht Bescheid gegeben wurde oder es in all dem Trubel zum Beispiel während den Weihnachtsvorbereitungen unterging. Oder wenn der schizophrene Mann auf Abenteuerjagd geht und nach zehn Stunden verwirrt vom Flughafen zurückkehrt, wobei die Frau währenddessen keine Ahnung hat, wo er steckt und ihn nicht erreichen kann. Alles ist schon einmal vorgekommen und wenn jeder vermeintlichen Entführung nachgegangen würde, dann würden die wirklich wichtigen Fälle in all den Massen ihre Bedeutung verlieren!“

„Rick ist aber entführt worden!“, brach es aus Joe heraus und er sackte auf die Knie.

„Darum müssen wir einen kühlen Kopf bewahren und bedacht vorgehen. Was nützt es ihm denn, wenn du deinen Verstand verlierst?“

Lange kniete Joe auf dem Boden, selbst als die Nässe begann, durch seine Jeans zu dringen und sich eisig auf seine Haut zu legen…
 

Die Blechlawine wurde zunehmend länger und alsbald waren Steven und sein Sohn nur noch zwei Menschen von vielen, die auf das Weiterkommen warteten. Autos in jeder Farbe stauten sich über Kilometer und ihre Insassen begannen allmählich zu frieren. Die Kälte fraß sich unter die Kleidung und die meisten suchten immer noch Schutz in ihren Wägen, die aufgrund meist längerer Fahrten eine Zeit lang angenehm geheizt waren. Auch Joes Körper überzog eine Gänsehaut, weshalb er ab und an ums Auto lief, auf der Stelle hüpfte oder seine Hände und mit ihnen über Arme und Beine rieb. Sein Vater war losgegangen mit der Begründung, er wolle sich bei einem der Verantwortlichen erkundigen, wie lange es noch dauere. Joe wusste, dass er überreagiert hatte, aber es war ihm schließlich nicht zu verdenken, denn er würde keine Ruhe finden ehe er Rick nicht in Sicherheit wusste. Und von dieser Gewissheit war er noch weit entfernt. Es war schon immer schwer gewesen, den Dunkelhaarigen leiden zu sehen, aber ihn in den Klauen eines Irren zu wissen war noch viel unerträglicher. Ob der Mann, der ihnen das Ganze antat, in der Tat irre war oder nicht sollte sich noch herausstellen, seine Taten jedoch waren grotesk und bizarr. Und sie gebührten Vergeltung…
 

/Wie soll ich einen kühlen Kopf bewahren, wenn du noch mehr Leid erfährst? Wenn du wehrlos auf Hilfe wartest und derweil keine Ahnung hast, ob sie kommen wird? Ich werde dich nicht aufgeben, ich werde dich finden! Mann, warum geht das nicht schneller? So lange kann man doch für ein paar lädierte Wägen brauchen!?/
 

Voller Unrast lief Joe bereits zum x-ten Male um den Kombi seines Vaters. Obwohl das Blut in seinem Körper wallte, hatte er derart kalte Hände, dass es ihn fror. All die wärmende, zähe Flüssigkeit schien aus ihnen gewichen zu sein und ein Blau hinterlassen zu haben, das Steifheit und Schmerzen mit sich brachte. Konnte das Blut in einem überhaupt sprudeln und dabei die Hände außen vor lassen? – Wohl kaum, doch manchmal waren Körperfunktionen eben schwerlich nachvollziehbar. Oder das Empfindungsvermögen schier getrübt.
 

/Wo bleibt Dad denn? Die Minuten verrinnen, ohne dass sich irgendetwas tut und sich eine Faust nach der anderen in meinen Magen rammt./
 

Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, kam Steven zurück und trug ein Lächeln auf dem Gesicht. „Das sind wenigstens Männer, die Spaß am Leben haben.“ Er schüttelte mit dem Kopf und fuhr sich durchs Haar. „Riesenrad!“ Eine kleine Lachsalve folgte und Joe sah ihn lediglich verdutzt und verständnislos an. Jener amüsierte sich kurioserweise über eine Jahrmarktattraktion und hatte wohl gänzlich den Grund ihres Daseins vergessen und er stand tausend Tode aus, weil er nicht wusste, wie es Rick erging. Der Zorn, der aufgrund des Psychospielchens verraucht war, kehrte zurück und wütend funkelte er seinen Vater an.

„Du weißt, weshalb wir hier sind?“, fauchte er ihn an.

Das Lächeln aus Stevens Gesicht wich nicht, schien sich vielmehr zu festigen. „Ganz ruhig, in fünfzehn Minuten dürfen wir die Unfallstelle passieren.“

Ruhig? Wie konnte man in solch einer Situation ruhig sein? Grummelnd packte Joe Steven am Arm und raunte: „Das ist zu lange!“

„Der Fahrer war herrlich. Wie er den Unfall wegsteckt, ist grandios.“

Hörte sein Vater überhaupt zu? Ungewollt festigte der Blonde seinen Griff und grub seine Finger in das Fleisch unter seiner Hand. Unter der Kraft, die er ausübte, erzitterte er, doch er nahm nur noch die erheiterten Augen seines Gegenübers wahr, die ihm in diesem Moment einfach zuwider waren, da Vergnügtheit wohl das Unpassendste war, das jetzt ausgestrahlt werden durfte. Heiterkeit, wenn ein Mensch in Gefahr schwebte! Knurrend packte Joe Steven nun auch noch am anderen Arm. „Wie kannst du dich jetzt amüsieren!?“

Noch im selben Augenblick bereute er seine Unbeherrschtheit. Gewaltsam legte Steven seine Hände um Joes Handgelenke und zwang ihn zu Boden, indem er diese nach hinten drückte. Mit einem Schmerzensschrei kam Joe unsanft auf seinen Knien auf und erwiderte den harten Blick seines Vaters heißblütig. Von einer Sekunde auf die nächste hatte sich der Gesichtsausdruck von Steven vollkommen verändert. Die Unbeschwertheit war einer Strenge gewichen, die man von dem sonst eher friedliebenden Menschen nicht unbedingt erwartete. In seiner Kindheit hatte Joe diesen Charakterzug seines Vaters nur zweimal erleben dürfen, wohl eher müssen. Das eine Mal berechtigter und das andere Mal unberechtigter Natur. Bis er ihm die ungerechte Behandlung damals verziehen hatte, waren einige Tage vergangen und viel Zureden ihrerseits, das heißt seiner Mutter, nötig gewesen. Und all die Aufruhr wegen einem Mädchen… Dieses Mal handelte es sich wieder um eine Person, die er liebte, aber Rick liebte er noch viel mehr als seine damalige Freundin.

„Lass’ mich los!“

Steven reagierte nicht.

„Du bist nicht mein Vater, also lass’ mich los!“

Aus Stevens Gesicht wich jegliches Kennzeichen von Lebendigkeit. In Joe wütete es im Gegenzug. Er hatte Steven als ’neuen’ Vater akzeptiert, er hatte ihn an die Stelle seines geliebten, aber verstorbenen Vaters rücken lassen. Wissentlich verdrängt, dass Steven nicht sein leiblicher Vater war.

Bedrückendes Schweigen kehrte mit einem Mal ein, nur durch das Stimmengewirr der Menschen, die ebenfalls auf Weiterfahrt warteten, durchbrochen. Joes Herz klopfte wild. Kleine Schweißperlen traten auf seine Stirn. Hartnäckig versuchte er dem Blick von Steven stand zu halten.

„Ich weiß!“, meinte jener. „Und ich weiß auch, dass ich für Tristan kein Ersatz bin.“ Konnte Joe da Wehmut heraushören oder bildete er sich all den Kummer darüber nur ein? „Und doch hast du mir das bisher nie ins Gesicht geschrieen.“

Das waren zu viele Emotionen auf einmal. Die Fülle, ihre Quantität machten alles so verwirrend, dass Joe kaum noch ein und aus wusste. In der Tat hatte er das Steven noch nie an den Kopf geworfen bis auf den heutigen Tag. Auch nicht, als er wirklich sauer auf ihn gewesen war. Niemals bis zu diesem Zeitpunkt. Ein Außenstehender hätte nie die These aufstellen können, dass er lediglich Stevens Stiefsohn war, aber er war es nun einmal. Sein leiblicher Vater war schon lange tot, weshalb zwei Jahre nach dem schmerzlichen Verlust dieser Mann, der ihn gerade immer noch rabiat festhielt, in ihrer aller Leben getreten war. Trotz dessen er Tristan über alles vermisst und ihm unendlich nachgetrauert hatte, hatte er Steven als Vater angenommen, ihm den Weg zu seiner Mutter nicht versperrt. Vielleicht war es der Fakt, dass er gerade einmal acht Jahre alt gewesen war. Und doch hatte er ihn mit der Zeit immer mehr schätzen gelernt und als Jugendlicher nicht einmal phasenweise gehasst. Das Einzige, was ihn niemals gleichstellte, war, dass er zwischen Rick und ihm nahezu gänzlich unerwähnt blieb. Selbst als sie darüber gesprochen hatten, wie Veronica auf ihre Beziehung reagieren würde, hatte die Reaktion von Steven nie zur Diskussion gestanden. Erst, als der Zustand es erfordert hatte.

„Hättest du nun die Ehre, mich loszulassen?“, zischte Joe. Er war schlicht und einfach nur noch wütend. Über Ricks Verschwinden, über die Art, wie er festgehalten wurde und darüber, dass… Mit einem Mal ließ der Druck um seine Handgelenke nach. Eigentlich hätte er sich sofort auf ihn stürzen wollen, doch Stevens erschütterte Miene ließ ihn in seinem Vorhaben verzagen. Stattdessen rieb er sich die Gelenke und sah still dabei zu, wie sein Vater sich abwandte und sich ein paar Schritte entfernte.

„Gehen Sie weg!“, meinte er verdrossen, als sich zwei fremde Menschen näherten, die sich wohl während ihrer Auseinandersetzung geflissentlich zurückgehalten haben. Kopfschüttelnd beobachteten sie aus der Ferne weiterhin das Geschehen. Dass es die Gesellschaft nie lernte, sich aus den Angelegenheiten anderer herauszuhalten!

Joe konnte sich nicht erinnern, jemals derart aus der Haut gefahren zu sein. Insbesondere nicht daran, je derart kaltherzig einem Menschen ins Gesicht gesagt zu haben, was er von ihm hielt. Eigentlich betrachtete er Steven gar nicht als Störfaktor oder als Nichtrespektierungswürdig. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte ihm lediglich die Tatsache missfallen, dass er nicht ebenso tief betrübt wie er selbst war; dass er lachen konnte, wenn er selbst am Boden zerstört war. Aber war das nicht eher vorteilhaft, wenn ein nahe stehender Mensch ein Lächeln parat hatte, wenn es einem selbst schlecht ging? Konnte das einen nicht ein wenig milder stimmen? Zumindest einmal kurzzeitig die Last von den Schultern nehmen?

Seltsam bedrückt schaute er zu Steven, der weiterhin mit von ihm abgewandtem Gesicht dastand, die Hände nun tief in den Jackentaschen vergraben. Seufzend richtete er sich auf und lehnte sich alsbald ans Auto, denn ohne fremde Hilfe vermochte er gerade nicht zu stehen.
 

In gleichmäßigen Zügen nach vollkommener Herrschaft strebend:
 

Die Reue.
 

In ungestümen Wogen die völlige Gewalt begehrend:
 

Der Scham.
 

Plötzlich näher kommendes Blaulicht benetzte Joes Gesicht mit einem Schein, der seine Blässe betonte und seine abwesenden Augen mit Leben füllte. Die Autos um ihn herum brummten allesamt auf und ihre Scheinwerfer wurden angeworfen.

Bis er realisierte, dass die Fahrt endlich weitergehen konnte, war Steven bereits an ihm vorbeigelaufen und in den Astra eingestiegen, für ihn lediglich einer schemenhaften Gestalt gleich. Das Fenster zu seiner Linken wurde heruntergefahren und ein lautes „Steig’ ein!“ drang an seine Ohren. Für einen kleinen Augenblick kam es ihm so vor, als würde er aus einem schrecklichen Alptraum aufwachen, aber als er kurz darauf neben Steven im Auto saß wurde ihm gewahr, dass das Geschehene pure Realität gewesen war. Er hatte den Menschen, der sich meist rührend um ihn gekümmert hatte, tief verletzt. Zum einen wütete in ihm Zorn, zum anderen aber das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben. Einen schwerwiegenden obendrein. Die Traurigkeit, die von seinem Stiefvater ausging, machte ihm das allzu deutlich.
 

In sanftem Rhythmus das Denken einnehmend:
 

Das Bedauern.

Kapitel 42

Kapitel 42
 

Sechs Jahre jung, ein Kind, das den Tod nicht einmal erahnen sollte, war Joe gewesen, als sein Vater von ihm gegangen war. Über sechzehn Jahre waren seit dem tragischen Ableben von Tristan Yera vergangen und kein Tag hatte sich dem Ende geneigt, an dem der blonde junge Mann einen anderen Menschen deswegen angegriffen hatte, auch nicht rein verbal. Bis zu diesem…

In wenigen Wochen konnte sich so vieles verändern, sich dermaßen viel ereignen, konnten Dinge geschehen, die für einen Menschen einfach zu viel waren. Man konnte mit Emotionen konfrontiert werden, die einem bis dato fremd waren. Man fühlte mit einer Intensität, die einen erschrak. Aus den Untiefen des Herzens kamen Regungen zum Vorschein, die man nicht für möglich gehalten oder von denen man gedacht hatte, sie auf ewig begraben zu haben. Man sah sich mit einem Mal Eindrücken ausgesetzt, die einen Sachen sagen ließen, die in einem schlummerten, doch nie ausgesprochen werden sollten. Umsonst gab es wohl das Sprichwort ’Sag niemals nie!“ nicht, was Joe an eigenem Leib erfuhr. Unentwegt quälten ihn Gewissensbisse, die immer stärker werden zu schienen. Die Stimme in seinem Kopf, die ’Entschuldigung!’ rief, war inzwischen so laut geworden, dass sie sowohl den Motor als auch die Musik, die Steven angedreht hatte, um ihr gegenseitiges Schweigen zu übergehen, übertönte.

Er war nie der Typ gewesen, der andere für seine Trauer verantwortlich machte oder sie sie spüren ließ. Eher machte er all seine Gefühlsschwankungen mit sich selbst aus und bewahrte sich nach außen hin ein unbeschwertes Lächeln. Meist jedoch konnte er schnell wieder die Beherrschung über sich erlangen und in der Tat so gut es ging sorgenfrei leben. Und dieser Eigenschaft hatte er zuzuschreiben, dass er Rick stets hatte helfen, ihm ehrliche Worte hatte zusprechen können. Er hatte all seine Aufmerksamkeit auf Ricks Zustand verwenden können, ohne sich selbst dabei zu vernachlässigen. Selbst den Tod seines Vaters hatte er allein verarbeitet und Steven fast von Beginn an in sein Leben treten lassen. Ihm war zu keinem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, den neuen Mann seiner Mutter zu verachten oder einfach nur nicht zu mögen.
 

/Er hat mich nicht bedrängt und wollte mir seine Anwesenheit nicht aufzwingen. Wenn ich allein sein wollte, dann ließ er mich allein. Wenn ich meine Mutter unter vier Augen sprechen wollte, sie ganz für mich beanspruchen wollte, dann stellte er sich nicht quer, sondern ließ mich gewähren. Vielleicht habe ich auch wegen Rebecca nie eine Abneigung gegen ihn in mir aufkeimen lassen. Sie begriff nicht richtig, was mit Dad geschehen war und warum Steven mit einem Mal in unserem Haus lebte. Aber sie mochte Steven sofort und ich wollte ihr den Vater, den sie auf kuriose Weise endlich wieder hatte, nicht verwehren.

Ich war auch gerade erst eingeschult worden, als Dad aufgrund einer folgenschweren Lungenentzündung von uns ging. Mom erklärte mir, dass er nun im Himmel sei und von dort aus über uns wachen würde. Am Fenster sitzend sah ich aber nicht hinauf zu den Sternen, sondern in unseren Garten, in dem ich viel Zeit mit ihm verbracht hatte…

Ich sollte nicht daran denken, denn ich merke, wie mich die Trauer von damals zu übermannen versucht. Auch als Kind, und vermutlich vor allem dann, kann man einen Elternteil schrecklich vermissen. Man könnte behaupten, dass man mit knapp sieben Jahren nicht einzuordnen vermag, wie sich Trauer und Schmerz anfühlen, doch meine Erfahrung wirkt dieser These eindeutig entgegen. Ich glaube, die schmerzlichen Erfahrungen von damals haben mich in der Art geprägt, dass ich mir immer ein Lächeln bewahrte und manches einfach lockerer anging…

Dies galt zwar immer für meine Person, aber nicht für Rick…/
 

Gedankenverloren sah Joe durch die Windschutzscheibe, den Blick starr nach vorne gerichtet, ohne auch nur irgendwas aus seiner Umwelt wahrzunehmen. Die Autos vor und neben ihm, die Berge zu seiner Rechten gewannen seine Aufmerksamkeit nicht, egal wie getunt, sportlich oder idyllisch sie sein mochten. Auch der Mann zu seiner Linken glich nur noch einer Silhouette, die zwar zu seinem Blickfeld gehörte, aber keine Beachtung fand. Zwar war er in Gedanken auch bei Steven, doch seine körperliche Erscheinung war im Moment zweitrangig, sogar auf gewisse Weise unbedeutend. Viele Erinnerungen suchten sich ihren Weg in sein Denken und intensivierten das Chaos seiner Gefühle und entfernten ihn so aus der Realität.
 

/Seit ich Rick kenne, mag ich insbesondere seine emotionale Ader. Seine Art, die Dinge anders zu sehen als ich. Vor seinem Outing war er trotz seines intakten Familienlebens der zerbrechlichere Mensch von uns beiden. Und wenn er unglücklich war, dann wollte ich ihn wieder zum Lachen bringen. Jede seiner bedrückten Phasen ging mir nahe, obwohl ich selbst nicht zu klagen hatte. Er sprach aber kaum mit mir über seine Probleme, wohl zum einen aus dem Grund, dass er sich gerne verschloss, zum anderen, weil ich ihn immer abzulenken versuchte. Ich wollte ihm zeigen, wie schön das Leben sein konnte, wenn man scherzte und lachte. Und selbst nach dem Rauswurf konnte ich ihn immer noch zum Lachen bringen…

Vielleicht habe ich durch ihn den Tod meines Vaters immer weiter verdrängt und Steven vollkommen an seinen Platz treten lassen. Dadurch, dass ich mich um ihn kümmerte, wenn es nötig war, mit ihm spielen konnte, reden, Computer und Basketball spielen, hatte ich die Leere in meinem Herzen wieder gefüllt und konnte unbeschwert sein. Und unser Baum fungierte als Signum unserer Freundschaft… so wie heute noch…/
 

Mit einem Mal sehnte sich der blonde junge Mann gänzlich nach seinem Freund. Seine Haut begann zu kribbeln, als er an die intimen Berührungen dachte, die ihm der Kleinere in den letzten Wochen zugekommen hat lassen. An die heißen Küsse und Ricks Anlehnungsbedürftigkeit. Wie einsam sich der Dunkelhaarige wohl jetzt fühlen musste. Allein der Gedanke daran war bereits bitter… Allmählich klärte sich sein Blick wieder, denn er hatte seine Finger unbewusst dermaßen fest in seine Beine gegraben, dass die Schmerzen ihn aus seiner Art Trance zurückholten. Laute Musik umspielte sogleich seine Ohren, helle Töne, schnell und unbeugsam. Als er zunächst desorientiert auf die Anlage blickte, erhaschte er aus seinem Augenwinkel Steven und schlagartig meldete sich seine innere Stimme wieder zu Wort, die nach einer Versöhnung schrie.

Er konnte sich aber noch nicht recht zu einer überwinden, zumal sein Stiefvater nicht den Anschein machte, von sich aus ein Gespräch zu beginnen. Zweimal war er lediglich mit ihm im Laufe der Jahre aneinander geraten, zwei lächerliche Male. Eigentlich kaum der Rede wert. Aber trotzdem nur eigentlich, weil sich Steven in seine Privatsphäre eingemischt, die ihn nichts anzugehen hatte. An diesem Tag hatte Joe allerdings das gegenseitige Anschweigen zu verschulden. Allein er hatte überreagiert und war nicht Herr seiner Lage gewesen. Steven hatte nichts getan außer sich als Hilfsfaktor anzubieten. Und dafür war in der Tat eine Entschuldigung nötig, die jedoch nicht über seine Lippen kam. Noch immer spürte er förmlich die Schwermut, die von seinem Gegenüber ausging, was seinen Mund völlig austrocknete. Unbeholfen langte er hinter sich und suchte nach der Wasserflasche, die Veronica ihm, er hatte gedacht unnötigerweise, vor der Abfahrt in die Hand gedrückt hatte; nun sollte sie doch ihren Zweck erfüllen. Mit aller Vorsicht versuchte er, dabei Steven nicht zu berühren, und ihm damit erneut einen Anstoß zu geben, sauer auf ihn zu sein. Als seine Hand endlich das Plastik ertastete, seufzte er erleichtert auf. Während er sich immer wieder einen Schluck gönnte und die Flüssigkeit wohlig seine Kehle hinab rann, beobachtete er heimlich seinen Vater, der stur geradeaus, wenn nicht gerade in einen der Spiegel, blickte. Nach und nach legte er sich Worte zurecht, die er sagen wollte. Da sich in seinem Verstand aber alles heuchlerisch anhörte, blieb er noch eine Weile stumm. Rick hätte er einfach mal durchs Haar gewuschelt, um ihm zu zeigen, dass er ihn mochte, doch bei Steven war das kaum möglich. Plötzlich schmunzelte Joe. Allein die bildliche Vorstellung von dem entrüsteten und zugleich vollkommen verwirrten Blick erheiterte ihn und die Anspannung fiel mit einem Mal zum größten Teil von ihm ab.

„Ich wollte dich nicht verletzen“, begann er sogleich, als er die Musik abgestellt hatte und ehe sich Steven darüber echauffieren konnte. „Die Worte sprudelten aus mir heraus, bevor ich sie überhaupt gedacht hatte.“ Abwägend fixierte er seinen Stiefvater, der ihn bisher nicht wieder beachtete, sondern sich weiterhin stur aufs Fahren konzentrierte. Dessen hellbraune Augen schweiften kein einziges Mal hinüber zu ihm. „Es ist noch nicht einmal ein Tag vergangen, als du mir erzähltest, wie sehr du meine Mom lieben würdest, und dasselbe empfinde ich für Rick. Wenn ich nur an den Mistkerl denke, der für alles verantwortlich ist, dann-“

„So ist’s recht“, meinte sein Gegenüber barsch, ohne Joe überhaupt ausreden zu lassen. Irritiert verengten sich die Augen des Blonden. „Die Verantwortung einfach auf einen anderen abwälzen“, fügte Steven ebenso schroff an.

Nun spürte Joe wieder Wut in sich aufkeimen, aber er versuchte sie sofort wieder zu unterdrücken. „Das möchte ich damit gar nicht zum Ausdruck bringen“, verteidigte er sich zunächst ein wenig hilflos.

„Sondern?“ Stevens Stimme trug weiterhin viel Aggressivität in sich.

„Dieser Mann ist zu Gott weiß was fähig und ich werde wahnsinnig, wenn ich nur daran denke, was er mit Rick anstellt! Darum möchte ich alles Erdenkliche tun, um ihn aus den Klauen dieses Irren zu befreien!“ Joe stieß die Worte förmlich hervor und fuchtelte unkontrolliert mit seiner rechten Hand herum. „In mir schlagen die Sorgen Purzelbäume, vernebeln meinen Verstand und lassen mich plötzlich Dinge empfinden, die ich zum einen verdrängt zum anderen nicht richtig gekannt hatte!“

„Das ist noch lange kein Grund, seine ganze Erziehung zu vergessen!“, entgegnete Steven.

„Ich wollte dich wirklich nicht vor den Kopf stoßen!“

Mittlerweile waren beide lauter als die Musik zuvor und sie konnten von Glück reden, dass sie allein im Auto saßen. Jeder andere hätte sie bereits entweder fluchtartig verlassen oder sie mit aller Gewalt zur Räson gerufen.

„Das fällt dir sehr früh ein!“

„Es tut mir leid!“

„Einem kommen solche Worte nicht von jetzt auf nachher in den Sinn!“

Für einen Moment warf Joe die Stirn in Falten. Hatte er ihn wohl doch nie als Vater angesehen?

„Ich war noch ein Kind! Und? Habe ich dich da jemals verachtet? Nein! Und das von vorhin tut mir wirklich leid!“ Seufzend ließ sich Joe zurück in seinen Sitz fallen. Irgendwas war in ihrer Unterhaltung mächtig schief gelaufen. „Du bist ein guter Vater“, meinte Joe nun um einiges leiser.

„Und das soll ich dir jetzt noch glauben?“

’Ja!’, schrie es in Joe, aber die Bestätigung drang nicht über seine Lippen. Stattdessen entwich ihm lediglich ein Stöhnen, dass Steven auch noch falsch auffasste. Ernüchtert blickte dieser ihn an, aber nur kurz, danach beschränkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Fahren.
 

/Seit wann bin ich ein solcher Idiot?...

Ich sehe, wie enttäuscht er ist und schaffe es nicht, ihm die Wahrheit konkret zu vermitteln. Alle Sätze von mir klingen wie billige Ausreden und beleidigte Phrasen…

Das bin nicht ich!

Verdammt! Was ist mit mir nur los?/
 

Bei Rick fand er doch auch immer die richtigen Worte, zumindest glaubte er das. Weshalb gelang ihm das nicht bei Steven? In seinem Kopf drehte sich alles und seinen Vater derart erbost und zugleich tief traurig zu sehen machte seine Situation nicht besser, bewirkte vielmehr, dass er sich in der Tat wie ein Trottel fühlte. Wenn er Rick nicht bald finden würde, würde er durchdrehen. Dabei waren sie nicht einmal in Veneawer angekommen…
 


 

Die Stille wurde zunehmend zur reinsten Tortur. Wie oft wünschte man sich ein wenig Ruhe und bekam sie nicht? Doch diese nagende Einsamkeit im Einklang war kaum zu ertragen. Verzweifelt schlug Rick auf die Tür ein; seine Hände waren bereits wund, doch er konnte einfach nicht mehr damit aufhören. Hörte ihn denn keiner? Er wollte hier raus! Raus aus diesem verwahrlosten, kalten, stupiden Raum!

„So helft mir doch!“, krächzte er. Aufgrund der vielen Schreie, die er schon von sich gegeben hatte, war er ganz heiser geworden.

Er wollte seinen Entführer nicht reizen, aber die Minuten wurden in diesem Zimmer zu endlosen Stunden. Quälend schlichen sie dahin und brachten nichts als aussichtsloses Schweigen und Trostlosigkeit. Der Drang in ihm wuchs unaufhörlich, endlich wieder an die frische Luft zu kommen und die Natur zu sehen, die momentan durch das Weiß strahlte. Die Bäume, die hoch in den Himmel ragten, die weiten schneebedeckten Grasflächen, den gefrorenen See… Aber ihm waren all die schönen Dinge verwehrt und das Gefühl der Isolation behagte ihm nicht, schnürte stattdessen sein Herz vielmehr immer weiter zusammen.

„Ich muss hier raus!“

Warum vernahm ihn denn keiner?

Nur vage konnte er sich an die Fahrt hierher erinnern. Er hatte kaum mitbekommen, wohin er gebracht worden war, denn alles war mit einem Mal verschwommen gewesen. Sein Kopf hatte sich ganz schwer angefühlt und dann hatte er wohl das Bewusstsein verloren. Denn das nächste in seiner Erinnerung war das Wachwerden in diesem lieblosen, beängstigenden Raum. Und nun hämmerte er seit einer kleinen Ewigkeit auf die Tür ein und wurde nicht erlöst. Seine Hände schmerzten, sein Kopf hatte damit noch gar nicht aufgehört und er war sich der Tatsache bewusst, dass er gefangen war. Festgehalten, ohne Trinken, ohne Essen, ohne Hoffnung, ohne Joe. Vermutlich würde er seinen Freund nie wieder sehen…

Kraftlos sank er an das Holz und glitt an ihm hinab, bis er auf dem Boden kauerte. Ein letztes Mal schlug er auf die Tür, die den erzeugten Laut einmal zurückwarf, der gleich darauf aber verstummte. Er wollte Joe noch einmal sehen, ihm noch einmal sagen, dass er ihn liebte. Wieso nur? Wieso war er hier? Was wollte dieser Kerl von ihm? Warum gab er ihm nicht wenigstens einen Grund, hier zu sein?

Die völlige Ungewissheit über sein Dasein hatte seine Verzweiflung erst so richtig genährt und ihn wie einen Verrückten auf die Tür einschlagen lassen. Er wusste nicht, weshalb er an diesem Ort war, gefangen wie ein Tier in einem Käfig. Diese Grundlosigkeit war wie ein Messer, das sich tief in die Brust bohrte. Wenn er wenigstens einen Anhaltspunkt hätte, einen winzigkleinen Hinweis, weshalb man ihm das antat, wäre der Schmerz vielleicht ein klein wenig zu ertragen gewesen. Doch er hatte keinen!

„Warum?“, presste er zwischen seinen Lippen hervor. „Warum?“ Er schloss die Augen. „Joe?“, wisperte er. „… Joe?“

Kapitel 43

Kapitel 43
 

Mit auf der Brust gesenktem Kinn lehnte Rick an der Tür. Kraftlos hatte er seine Hände zu Fäusten geballt, von denen eine ab und an gegen das Holz schlug. In seiner Fantasie spielten sich bereits die ersten horrorartigen Szenen ab. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie er gefesselt am Boden lag und wehrlos die Lippen seines Widersachers auf sich spüren musste. Wie die raue Stimme ihm ins Ohr flüsterte, dass er keine Spielchen mehr dulde und er nun ihm gehöre. Wie die fremden Hände über seine Seite strichen, über seine Brust, hinunter bis zu seinem Bauchnabel und immer weiter hinab. Wie er von dem Kerl stückchenweise genommen wurde, ohne den Hauch einer Chance zum Entkommen zu haben…

Sein Blick wurde immer leerer und seine Atmung flachte immer weiter ab. Vergeblich versuchte er die Bilder sofort wieder loszuwerden; sie schienen sich regelrecht in seinen Kopf zu brennen. Alsbald loderte sein gesamter Körper.
 

/Es gibt keinen Weg hier raus…

Egal, wie viel ich schreie und lärme, ich werde von den unsichtbaren Fesseln nicht erlöst, die Wunden in mein Herz schneiden. Er zeigt kein Erbarmen, er ist tatsächlich so kühl, wie es mir seine Augen verraten haben. Diese dunklen Tiefen entbehren jedwedem Zeugnis von Milde. Will er über mich herrschen? Will er mich in die Knie zwingen, bis ich wortlos zu allem bereit bin?

Ich bin doch bereits von Trist und Lieblosigkeit umgeben! Ist ihm meine Niedergeschlagenheit denn nicht genug? Die Gewissheit, Joe nie wieder zu sehen!?/
 

„Sie sind grausam!“, schrie Rick die Tür an. Woher er das Stimmvolumen nahm, obwohl er sich gänzlich entkräftet fühlte, wusste er nicht, aber seine Worte drangen selbst ihm laut an die Ohren. Das musste doch jemand außer ihm gehört haben, der ihn endlich hier raus ließ. Mit angehaltenem Atem wartete Rick auf ein Lebenszeichen von der anderen Seite der Tür. Noch nach endlosen Minuten horchte er umsonst. Seufzend legte er seinen Kopf an das Holz und presste sein rechtes Ohr schmerzhaft an dieses. Irgendein Geräusch musste er doch vernehmen können, wenn auch noch so leise und unbedeutend. Er konzentrierte sich auf das, was er hören könnte, malte sich aus, wie sich Schritte näherten oder wie sich Menschen in einem anderen Zimmer unterhielten. Doch nichts von alledem wurde Wirklichkeit. Es gab niemanden, der sprach, es gab keinen, der auf ihn zugelaufen kam. Es gab nichts, was ihn hätte ermutigen können.
 

/Gibt es hier denn niemanden, der wenigstens ein bisschen Herz hat? Das Haus muss riesig sein, wenn man in diesem Zimmer nichts von anderswoher vernehmen kann. Also müssen sich doch noch andere Leute hier aufhalten… oder nicht?

Bitte, bitte lass’ irgendwen hier sein, der meine Schreie wahrnimmt und der nicht von solcher Kälte durchtränkt ist…/
 

Fest kniff Rick seine Augen zusammen, als sich ein schockierender Gedanke in seinen Verstand stahl. Selbst wenn außer diesem Kerl noch eine andere Person hier verweilte, würde sie ihm nicht helfen können, denn sie stünde sicherlich auch unter seiner Kontrolle und hätte Angst, bei einem Fehltritt die Konsequenzen tragen zu müssen. Der Dunkelhaarige glaubte nicht daran, dass sich noch ein derart unmenschliches Individuum in ein- und demselben Haus aufhalte; er hielt eine solche Koexistenz für sehr unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Doch auch jeder andere würde ihm seine Wünsche nicht erfüllen. Also, was brachte es, nach Hilfe zu flehen? – Absolut nichts!
 

/Ich… bin… allein…/
 

Während er seine Beine anwinkelte und sie mit den Armen bestimmt an sich presste, fühlte er sich mit jedem Zeigerschlag einsamer. Er hatte alles verloren. Mit einem Schlag war er aus seinem Leben gerissen worden. Aus demjenigen, in dem er Joe endlich offiziell hatte lieben dürfen. In dem er sich hatte nicht mehr verstecken müssen, in dem er sogar seinen Eltern hatte gegenübertreten wollen.
 

/Und nun habe ich nichts mehr als das kleine silbrige Kleeblatt, das mich an das erinnert, was vor kurzem noch Realität gewesen war…/
 

Ein paar Stunden konnten alles verändern, obgleich sie nur einen nichtigen Teil in der Zeitrechnung darstellten. Für einen einzelnen aber konnten sie überaus entscheidend sein. Wie schnell konnte man dem Tod ins Auge sehen? Das Leben konnte eher vorbei sein, als einem lieb war oder man mit der Wimper zuckte.

Zwar schlug Ricks Herz noch, doch er war seiner Lebensessenz entrissen worden: Er vermisste Joe unsäglich. Vor allem die unbeschreibliche Geborgenheit, die ihm dieser vermittelte. Schon ein einziges Wort, die kleinste Berührung konnten ihn aufmuntern, ihm die Hoffnung zurückgeben, die er verloren glaubte. Schon das kleinste Joe-Lächeln konnte ihn der Zukunft positiv entgegenblicken lassen.

Krampfhaft rief er sich ein Bild von seinem Freund ins Gedächtnis, möglichst detailreich und farbenfroh. Es sollte gegen all die Empfindungen in ihm ankämpfen, die Angst und die Einsamkeit verdrängen, die ihn noch zerbrachen, wenn er nicht aufpasste. Schließlich hatte er dem blonden Jüngling ein Versprechen gegeben und das galt es nicht zu brechen. Vor seinen Augen zeichnete sich rasch das leicht kantige, aber doch weiche Gesicht seines Freundes ab. Die hellen Strähnen fielen ihm teils in die Stirn, die grünen Tiefen funkelten über alle Maßen. Trugen genau den verwegenen und gutmütigen Ausdruck in sich, den Rick an ihm so liebte. Sein Mund beherbergte ein schelmisches Grinsen, war leicht geöffnet und lud förmlich zu einem Kuss ein. In Gedanken näherte sich Rick diesen sinnlichen Lippen und drückte seine wenig später auf sie, zuerst ganz sacht, dann immer fordernder und leidenschaftlicher. Seine Fantasie war unglaublich, denn sie bewirkte tatsächlich, dass er sich seinem Freund ganz nah fühlte, so als ob sie gar nicht getrennt seien, als ob er das warme Fleisch wirklich berühre. Er wollte aus dieser seiner Vorstellung nie wieder erwachen. Nie wieder die grausame Wirklichkeit sehen, die ihn sogleich übermannen, wenn er sich aus seiner Vorstellungskraft lösen würde.
 


 

Bedrückt saß Joe auf dem Beifahrersitz und blickte mit gemischten Gefühlen das Schild an, das erhaben vor ihm in der Erde steckte. Er wollte dem erneuten Schweigen, das zwischen Steven und ihm eingekehrt war, endlich ein Ende bereiten. So konnte das partout nicht weitergehen. Waren sie denn nicht zwei erwachsene Menschen, die vernünftig miteinander kommunizieren konnten? Sie führten sich auf wie zwei Teenager, wenn schon nicht unbedingt sein Vater, dann auf alle Fälle er.

Die schwarzen Lettern waren rein durch das Licht der Laternen lesbar, acht Druckbuchstaben, die in gleichmäßigen Zügen auf gelbem Untergrund prangten. Sie waren der Beginn einer Stadt, in der sich Hoffnung, Schmerz, Zuversicht, Kummer und Sehnsucht vereinigten. ’Veneawer’ stand für ihn von Beginn an für Freundschaft, Liebe, Leid und Qual. Das eine brachte immer das andere mit sich und er hatte verstanden, was es hieß, von ganzem Herzen zu lieben. Er liebte aber neben Rick auch Steven, obgleich er lediglich sein Stiefvater war, oder etwa nicht? Im Grunde war es doch gleich, ob er sein eigen Fleisch und Blut war oder nicht. Steven hatte sich jahrelang gut um ihn gekümmert, hatte ihn wie einen Sohn behandelt. Und allein dafür sollte er ihm doch dankbar sein. Selbst jetzt mimte er den sorgenvollen Vater, der alles stehen und liegen gelassen hatte, um ihm bei der Suche nach seinem vermissten Freund zu helfen. Zeigte das denn nicht, dass es zwischen ihnen nicht nur eine Basis von Vertrauen und Verlässlichkeit gab, sondern eine tiefer gehende Beziehung, die auf gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Toleranz beruhte?

Bevor er mit Steven nicht im Reinen war, konnte er nicht all seine Kraft darauf verwenden, nach Rick zu suchen, zumal es unfair gegenüber dem Mann wäre, der ihn größtenteils großgezogen hatte. Er fragte sich immer und immer wieder, weshalb er ihm überhaupt solche Worte an den Kopf geworfen hatte. Und ehe er keine Antwort darauf wusste, konnte er sich auf kein neues Gespräch mit ihm einlassen, denn das würde in demselben Fiasko enden wie das vorige. Er brauchte gute Argumente, um sich gegen die berechtigten Anschuldigungen zur Wehr setzen zu können und die fehlten ihm noch. Während sie ein letztes Mal abbogen, um auf die Straße zu gelangen, in der er wohnte, erwischte er sich dabei, wie er nervös mit seinen Fingern am Saum seines Mantels spielte. Normalerweise hatte er sich besser unter Kontrolle, doch Ausnahmezustände brachten manchmal Eigenschaften zum Vorschein, von denen man selbst nicht einmal ahnte, dass sie einem zu Eigen waren.

Die Dunkelheit legte sich bereits über die Dächer der Stadt. Die Scheinwerfer und die Straßenlaternen spendeten als einziges Licht, das nur partiell ihren Weg erhellte und die Ecken und Gassen noch tiefer und bedrohlicher wirken ließ. Sie wurden zunehmend langsamer und hielten alsbald an, woraufhin das Brummen des Motors sofort verstummte. Es war an der Zeit, dass Joe einen Schritt auf Steven zuging und das Missverständnis, wenn es denn eines war, aus der Welt schaffte. Seine hellgrünen Augen schweiften hinüber zum Haus, in dem er seit zwei Jahren lebte. Es wirkte ebenso unscheinbar wie immer. Es gab keine besonderen Merkmale, die das Haus auszeichneten und von den vielen anderen in dieser Stadt groß unterschieden. Vielmehr war es ein schlichter Bau, der nun zur Hälfte von finsteren Schatten umhüllt war.
 

/Allmählich verstärkt sich in mir der Verdacht, dass es nur einen Grund geben kann, weshalb ich ihn nicht als meinen Vater deklariert habe. Und je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr glaube ich, dass es wirklich keinen anderen geben kann. Zu meiner Schande kann Steven noch weniger für meinen Ausraster als mir lieb wäre. Jetzt sollte ich mich nur noch überwinden können, es ihm schonend beizubringen und wenn ich mir sein Gesicht so betrachte, das durch das fahle Licht ältlich wirkt, dann würde ich am liebsten ein Feigling sein und einfach aussteigen und… Ich bin solch ein Idiot! Wenn ich weiter so viel Zeit vergeude, nur weil ich mich meiner Situation nicht stellen möchte, dann muss Rick noch mehr erleiden./
 

Einen lauten Seufzer unterdrückend öffnete Joe die Autotür und stieg aus, tat es Steven gleich, der bereits vor der Eingangstür auf ihn wartete. Noch einmal tief durchatmend schritt er auf ihn zu und nahm ihn fest ins Visier. Sein Stiefvater erwiderte seinen Blick nicht, betrachtete stattdessen die Briefkästen, auf denen ein Stapel alter Zeitungen lag. Desinteressiert griff dieser nach einer und las nicht einmal ansatzweise das, was in ihr stand, nicht nur weil es dazu zu dunkel war, sondern da er die Nachrichten sowieso schon seit langem kannte. Joe verstand dies als wohlweisliche Abweisung, aber er erhob dennoch seine Stimme: „Gibst du mir noch eine Chance, dir mein Verhalten zu erklären?“

Zuerst wollte Steven keine Antwort geben und hielt sich die Zeitung vors Gesicht, doch dann legte er sie beiseite und blickte sein Gegenüber an. Joe sah in frostige Augen, wie er es nicht anders erwartet hatte, weshalb er darauf vorbereitet gewesen war. Dennoch wurde ihm noch mulmiger zumute.

„Hast du dir auch was Gutes einfallen lassen oder möchtest du die Verantwortung wieder auf andere abwälzen?“

Selbst falls er nicht beabsichtigt hatte, sich nach völliger Ablehnung anzuhören, tat er es trotzdem. Und Joe schüttelte nur leicht mit Kopf. Die Reaktion war keineswegs abnorm, vielmehr konnte er sie gut nachvollziehen, was ihm das Herz nur noch schwerer werden ließ.

„Nein das möchte ich nicht und dazu solltest du mich gut genug kennen. Aber bevor es sich wieder nach einer Ausrede anhört, komme ich lieber gleich zur Sache. Ich habe meinen Vater sehr geliebt und konnte seinen Tod nicht akzeptieren.“

„Sollten wir nicht lieber rein gehen?“, warf Steven ein und deutete auf die immer noch verschlossene Tür.

Joe stützte sich an eben jener mit einer Hand ab. „Nein! Das klären wir hier und jetzt!“ Nach einer kleinen Pause fuhr er fort. „Du tratst in unser Leben und ich projizierte all meine Liebe, die ich für meinen Vater empfand, auf dich. Zum einen wohl aus der Tatsache heraus, dass Mom und Rebecca dich vergötterten, zum anderen vermutlich aus dem Grund, dass ich plötzlich einen Ersatz hatte. Das mag sich abfällig anhören, doch ich lernte mit der Zeit deine Person zu schätzen und alsbald entwickelte ich aufrichtige Gefühle dir gegenüber. Ich würdige deine Aufrichtigkeit und deine Ehrlichkeit. Aber ich werde dich nie so lieben können wie meinen leiblichen Vater und ich habe begriffen, dass du nicht als Ersatz fungieren kannst. Du bist ein eigenständiger Mensch und kannst mir nicht den Mann zurückbringen, den ich nicht gehen lassen wollte.“ Während Joe sprach, sah er durch Steven hindurch, als ob er nur eine durchsichtige Erscheinung wäre. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen und das zum Ausdruck zu bringen, was ihm auf der Seele lag und von ihm noch nie ausgesprochen worden war.

„Wie kamst du auf die Idee, ich könne ihn ersetzen? Menschen kann man nicht einfach auswechseln, als ob sie irgendwelche Objekte wären.“

Joes Kopf sackte leicht auf seine Brust. „Vielleicht weil ich ein Kind war? Vielleicht weil ich seinen Tod nicht dulden konnte?“

„Und die Sorge wegen Rick hat dich das nach so vielen Jahren erst erkennen lassen?“ Steven klang nicht recht überzeugt.

„Wenn ich bejahen würde, müsste ich lügen.“ Der Blonde seufzte und hob seinen Blick wieder an. „Ich wollte es nicht wahrhaben und vermied eigentlich jedes Mal, auch nur annähernd an dich zu denken, deinen Namen zu sagen oder dich auf andere Art und Weise zu erwähnen, wenn ich hier in Veneawer war. Dabei habe ich nie daran gedacht, wie du dich dabei fühlen könntest. Und nun sehe ich, wozu das alles geführt hat. Ich habe dir weh getan und das oblag meinen Absichten. Aber ich wollte einfach nicht zu sehr an ihn denken.“

„Heißt das, dass du mich nicht als Steven geachtet hast, sondern als Tristan?“

Ein kurzes Zögern seinerseits. „Es tut mir leid.“

Mit einer Hand griff Joe in seine Hosentasche und zog einen Schlüsselbund heraus, mit dem er auch gleich die Haustür öffnete. Er hatte Steven all die Jahre belogen. Noch schlimmer: Er hatte sich selbst belogen! Er wäre am liebsten im Boden versunken, doch da sich wie immer kein Erdspalt auftat, zog er es vor, so schnell wie möglich in seine Wohnung zu flüchten. Er hatte alles gesagt, was einmal gesagt werden musste. Zu seinem Entsetzen war es weitaus schlimmer, als er sich je von sich aus eingestanden hätte.

Mit schweren Schritten stieg er die Treppe hinauf und jede Stufe schien höher und unüberwindbarer zu sein. Er hörte, wie Steven ihm folgte, doch weder wandte er sich zu ihm um noch schenkte er ihm anderweitig Beachtung. In diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als Rick in seinen Armen zu halten und dessen heißen Atem in seinem Nacken zu spüren. Vielleicht mag der Kleinere der Umstand sein, warum er mit einem Mal tiefer in sich horchte als üblich, aber er vermisste ihn schrecklich. Es schmerzte unwahrscheinlich, ihn nicht bei sich zu haben. Seine rechte Hand zuckte, als ob sie ihm damit zeigen wollte, dass sie durch das braune Haar wuscheln wolle. Doch so bald würde er es wohl nicht spüren dürfen.

„Ich brauche dich!“, ächzte er, nicht merkend, dass Steven hinter ihm stand und ihm den Schlüsselbund aus der Hand nahm.

Als sich sein Blick wieder klärte, saß er in seiner Küche und schaute erst einmal um sich, als ob er sich vergewissern wolle, nicht gerade aus einem bösen Traum erwacht zu sein.

„Du musst was essen“, meinte Steven, als Joes Blick den seinigen traf und spätestens jetzt wusste der Blonde, dass er nicht geschlafen hatte.
 

/Wie kommt es, dass du mich weiterhin umsorgst?

Ich hätte dir nicht einmal böse sein können, wenn du wieder ins Auto gestiegen und zurück zu Mom gefahren wärst./
 

„Ich verspüre absolut keinen Hunger“, erwiderte er. „Darf ich dich was fragen?“

Mit einem Glas in der Hand kam Steven auf ihn zugelaufen und nahm ihm gegenüber Platz. „Nur zu.“

„Warum bist du noch hier?“

Ein trauriges Lächeln umspielte die Lippen des Älteren. „Ich gebe nicht so leicht auf.“

„Dabei hast du doch keinen Grund mehr, bei mir zu sein.“

„Meintest du nicht selbst, dass ich dich besser kennen müsste?“
 

/Aber da habe ich dir noch nicht ins Gesicht gesagt, dass ich nicht über dich rede, wenn ich nicht gerade bei euch zu Hause bin… Ich war eben eindeutig zu ehrlich und merke ja selbst, was für eine Hiobsbotschaft das ist. Wie musst du dich dann erst fühlen?/
 

„Ich kenne mich ja selbst nicht mehr“, meinte Joe nach einer Weile.

„Du hättest vielleicht eher mal mit jemanden über den Tod deines Vaters reden sollen.“

Während Joes Gesicht einen grimmigen Ausdruck annahm, stand er auf und griff nach der erstbesten Flasche, um aus ihr einen kräftigen Schluck zu nehmen. Um nichts darauf erwidern zu müssen, setzte er die Plastikflasche immer wieder von neuem an. Er hatte nie mit jemandem reden wollen; er hatte immer gedacht, dass er damit klarkäme und bis jetzt war sein Plan auch aufgegangen. Doch diese unbändigen Gefühle Rick gegenüber brachten immer weitere Emotionen zum Vorschein.

„Können wir endlich Rick suchen gehen?“, fragte er betont freundlich. Er brauchte einfach ein wenig Abstand von Steven. Nicht nur das, er wollte schlichtweg allein sein.

Sein Stiefvater schien keine Einwände zu haben, denn er erhob sich und ging zur Tür. „Denk dran, keine Alleingänge!“

Joe hörte und sah, wie die Tür ins Schloss fiel.
 

/Und auf was warte ich noch?/
 

Mit plötzlich aufkeimender Hast warf er einen Blick in einen der Schränke, griff nach der LED-Taschenlampe, die er als nützlich erachtete und warf sich dann seinen Mantel wieder über, den er wenige Minuten vorher abgelegt hatte.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte er die Treppen hinunter und kurz darauf umspielte ihn die frische Nachtluft, die den Duft von Schnee in sich trug. Zwar stoben keine Flocken mehr vom Himmel, doch unter seinen Füßen knirschte er dafür umso wohliger.
 

Joe dachte nicht darüber nach, wohin er lief, sondern setzte einfach einen Fuß vor den anderen und suchte mit seinen Augen angestrengt die Gegend ab. Da sich der Tag schon lange dem Ende geneigt hatte, war es schwer, mehr als vage Umrisse und Silhouetten wahrzunehmen. Außer ihm waren nicht viele Menschen unterwegs, aber immerhin noch genug, um nicht wirklich aufzufallen. Denn es war nicht eher ungewöhnlich, sich fremde Autos näher zu betrachten und insbesondere ein Augenmerk auf das Kennzeichen zu legen. Bemüht versuchte Joe, nicht wie ein Landstreicher zu wirken und aufrecht zu gehen, sich immer nur dann zu bücken, wenn ein Auto etwa der Form eines Mercedes glich. Die S-Klasse war nicht allzu sehr verbreitet, doch sowohl die Dunkelheit als auch sein Befinden erschwerten sein Bemühen. In Gedanken war er ganz woanders. Immer wieder suchten ihn die Erinnerungen an seinen Vater heim und das letzte Gespräch mit Steven. Und obendrein schwirrten Bilder von Rick in seinem Kopf herum, die ihn manchmal die Augen fest zusammenkneifen und stehen bleiben ließen, bis er sie wieder abgeschüttelt hatte und weiter ging.

Mittlerweile lief er schon seit über zwei Stunden wahllos durch die Straßen von Veneawer und dass ihm Menschen begegneten, kam nur noch ganz vereinzelt vor. Bisher hatte er noch kein einziges Auto entdeckt, das dem gesuchten Modell entsprach, und obgleich es ihn nicht wunderte, trübte sich sein Denken nur noch mehr. Eigentlich besaß fast jedes Haus eine Garage und die großen Wohnblöcke hatten meist Tiefgaragen. Und wer ein teures Auto fuhr, der ließ dieses garantiert nicht auf offener Straße stehen. Natürlich konnte man eine solche Aussage nicht pauschalisieren, da es leider immer wieder Menschen gab, die ihr ganzes Geld in ein Auto steckten, das ihnen Ansehen brachte, die sich aber ansonsten nichts mehr leisten konnten und zu allem Überfluss ihre Kinder darunter leiden ließen.

Kühler Wind kam auf und Joe zog mit beiden Händen an seinem Kragen, hielt ihn sich teils vors Gesicht. Mit seinem Mund hauchte er ein wenig warmen Atem auf seine Finger, die sich ein wenig steif anfühlten. Allmählich verzogen sich die schweren Wolken, die den ganzen Tag über Schnee gebracht hatten, und als er seinen Blick mal zum Himmel gleiten ließ, konnte er tatsächlich einen einsamen Stern erblicken. Länger als gewollt verweilten seine grünen Tiefen auf dem Himmelskörper, der vielleicht gar nicht mehr existierte.
 

/Keiner weiß, was nach dem Tod kommt, und vermutlich ist das genau richtig. Forschungen an so reinen Seelen wie deiner wäre eine Schmach und das Kommende sollte auch in Zukunft unentdeckt bleiben. Ich kenne noch einen zweiten, vollkommen reinen Menschen…

Rick, ich möchte dich endlich wieder haben!/
 

Mürbe fuhr sich Joe durchs Haar. Diese ihm unbekannte Sentimentalität brachte ihn noch gänzlich um den Verstand, wenn er sich weiter in seinen Emotionen suhlte. Wo war nur seine Unbeschwertheit geblieben, die ihn die Dinge recht objektiv sehen ließ? Statt des gewohnten Lächelns in seinem Gesicht fühlte er nichts als Verdruss. Langsam verstand er, wie es all die Zeit in Rick ausgesehen haben mag; und sein Herz krampfte sich noch ein Stück weiter zusammen. Ein Hauch blies ihm das Haar zurück in die Stirn und er senkte seinen Blick wieder gen Boden, auf dem seine Gestalt einen langen Schatten warf. Hinter ihm erlosch die Laterne und die Kirchenglocken verkündeten die Mitternacht. Zwölf dumpfe Schläge, die sich nach langem Widerhall in der Weite verloren und dann nicht mehr wiederkehrten. Als der Klöppel das letzte Mal an die Innenseite der Glocke stieß, überfiel Joe eine Gänsehaut, die sich über seinem Körper ausbreitete und noch immer vorherrschte, als sanfte Stille ihn wieder umgab. Wie in Trance sah er die Kathedrale vor sich - die Sicht lediglich durch eine Schicht Glas getrübt -, auf deren Mauern die Sonne fiel und das Bauwerk in einen sanften Schimmer tauchte. Als sich sein Kopf drehte, sah er Rick glücklich und zufrieden aus dem Fenster blicken. Seine Gesichtszüge entbehrten in der Tat jedweden Kummer.
 

/Genau so möchte dich wieder sehen. So und nicht anders…/

Kapitel 44

Kapitel 44
 

Erschöpft und durchgefroren sank Joe auf eine Querstrebe irgendeines Gartenzaunes eines ihm völlig fremden Grundstücks. Obwohl er stundenlang in der Gegend umhergeirrt war, ein Auto nach dem anderen ins Visier genommen hatte, konnte er keinen Erfolg verbuchen. Einen einzigen Mercedes S-Klasse überhaupt hatte er gefunden und das Kennzeichen hatte keine Parallelen zu dem gesuchten aufgewiesen. Weder die Buchstaben noch die Zahlen hatten auf Übereinstimmung geschlossen, selbst dann nicht, als Joe das gesamte Alphabet durchgegangen war, um die Lettern auszutauschen, bei denen sich Sarah nicht sicher gewesen war. Wenn schon die Ziffern nicht passten, dann war das eigentlich unnötig, doch Joe war einfach froh gewesen, überhaupt einmal ein solches Auto entdeckt zu haben. Dass der Wagen keine getönten Scheiben hatte, war ihm im Nachhinein erst aufgefallen und er hätte sich die ganze Mühe von Vornherein sparen können. Doch darüber hatte er nur die Schultern gezuckt…

Nun saß er hier auf dem Grundstück eines Unbekannten, stützte seinen Kopf auf eine Hand und drehte die Taschenlampe in der anderen im Kreis. Ein ganz sanfter, bläulicher Lichtkegel fuhr die Hauswand auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. Vorsichtshalber stellte er sie ein paar Minuten später aus, nicht dass ihn noch jemand bemerkte. Die Polizei war gerade das Letzte, was er brauchte, denn sie würde in ihm sowieso nur wieder Wut aufkeimen lassen, ein Gefühl, das er nicht gerne in sich trug. Ihn befiel momentan ohnehin eine Lethargie, die sich perfekt zu der Kälte in seinen Gliedern mischte. Allmählich fühlte er sich einsam und hilflos. Egal, wie viele Autos er begutachten würde, er würde das richtige doch niemals finden in diesem Getümmel von Blech und Karosserien. Es gab eindeutig zu viele Wägen in dieser Stadt und es würde Tage dauern, sie alle in Augenschein zu nehmen. Obgleich das an sich eh nicht möglich war, denn zu viele standen im Schutz von Garagen oder in den Untiefen von Grundstücken, in die sich Joe nicht vorwagte. Resigniert seufzte er auf, sah aber aufgrund der Finsternis seinen weißen Atem nicht, der sich zur kalten Luft gesellte. Der Schnee glich immer mehr einer Schicht aus Eis und hatte ihn das ein oder andere Mal beinahe zu Fall gebracht. Ihn fröstelte nur noch mehr, als ein starker Hauch um seine Haare wehte. Nun spürte er erst richtig, wie entkräftet er eigentlich war. Die vorangegangene Nacht hatte er ja auch nicht viel geschlafen und nun merkte er die Müdigkeit in seinen Knochen. Doch konnte er jetzt so einfach nach Hause gehen und sich ins Bett legen, als ob nichts wäre?
 

/Ich kann mich jetzt nicht dem Schlaf hingeben, wenn ich nicht weiß, wie es Rick geht und wo er ist. Wenn ich wenigstens einen weiteren Anhaltspunkt hätte als dieses sinnlose Kennzeichen, würde ich mich viellicht ein wenig besser fühlen…

Das Adrenalin in meinem Körper zeigt keine Wirkung mehr. Immerzu verfalle ich einem Gähnen, das nicht gerade von Wachsamkeit zeugt. Und ich dachte wirklich, das Kennzeichen wäre die Stütze schlechthin auf der Suche nach dem für mich wichtigsten Menschen auf Erden, doch so kann man sich täuschen. Bisher hat es mir nichts gebracht und wird es wohl in Zukunft auch nicht tun…

Ich bin ja schon genauso pessimistisch wie Rick!/
 

Inbrünstig seufzte der Blonde und schob die Taschenlampe in eine seiner Manteltaschen, so dass er eine freie Hand hatte, um sich über die Augen zu reiben. Die andere verweilte unablässig unter seinem Kinn, da sich sein Kopf zu schwer anfühlte, um noch von allein aufrecht gehalten werden zu können.
 

/Ich brauche ein wenig von meinem Optimismus zurück, damit ich mich nicht in ein tiefes Loch manövriere, aus dem ich mich nicht mehr befreien kann. Denn Rick vertraut sicherlich auf mich und ich möchte ihn nicht auch noch enttäuschen. Ein nahestehender Mensch, der mir kritisch gegenübersteht, reicht mir vollkommen, ob berechtigt oder nicht. Was andere von mir halten, ist mir völlig gleich, doch die Menschen, die ich gern habe, sollen mich ebenso schätzen wie ich sie. Und das zeugt nicht einmal von Egoismus oder Arroganz, finde ich, sondern lediglich davon, dass man ein wenig Akzeptanz in dieser Gesellschaft benötigt… Bei Steven habe ich mir sie zunichte gemacht, doch Rick soll mich weiterhin achten können./
 

Er glitt vom Zaun hinunter und riss die Augen weit auf, ehe er sie zu schmalen Schlitzen verengte. Bestimmt ballte er seine Hände zu Fäusten.
 

„So schnell gebe ich nicht auf!“, presste er zwischen seinen Lippen hervor und seine Stimme hörte sich in der Stille der Nacht befremdend an. „Solange Rick meine Hilfe braucht, werde ich meine Bedürfnisse hinten an stellen, so wie ich es immer…“ Was er noch alles vor sich hinsagte, ging in dem Motorengeräusch eines Autos unter, das in einer Seitenstraße aufheulte und alsbald wieder verstummte. Allein schon der Laut eines Wagens ließ ihn seine Haltung noch entschlossener aussehen. Schlafen konnte er, wenn Rick wieder in seinen Armen lag, doch nun hatte er keine Zeit für solche Nebensächlichkeiten!
 


 

Während Joe weiter einem Auto nachjagte, das ihn zu seinem Freund führen sollte, versuchte eben dieser die Kälte des Raumes, in dem er lag, zu vergessen und endlich dem Schlaf zu verfallen, den er schon seit Stunden ersehnte. Nachdem ihn noch nach einer Ewigkeit keiner aus der immer tristeren Einsamkeit gerissen hatte, war Rick zurück zum Sofa gekrochen und hatte sich darauf zusammengerollt. Bedächtig hatte er dabei zugesehen, wie das letzte Licht in dem Zimmer erloschen war und sich gleichzeitig eine Finsternis über ihn gelegt hatte, die seine Isolation nur verstärkte. Die Tatsache, dass ihm nicht einmal etwas zu Trinken gebracht worden war, lastete schwer auf seinem Herzen, denn dadurch fühlte er sich noch abgeschotteter und ferner von seinem eigentlichen Leben. Er liebte es, in der Küche zu stehen und köstliche Delikatessen zuzubereiten und insbesondere Joe beim Naschen zu erwischen und ihn dann mit einem gespielt ernsten Blick zu tadeln. Doch weder duftete es hier nach Essen, noch nahm er sonst einen Geruch wahr außer Moder und alten Möbeln. Auch das Sofa roch unangenehm, wie er nach einiger Zeit festgestellt, als sich seine schiere Verzweiflung in pure Lethargie gewandelt hatte.

Er wollte nicht daran denken, wie seine Kehle nach Flüssigkeit lechzte, darum schloss er krampfhaft seine Augen und versuchte sich vorzustellen, wie er erneut Joes Lippen berühren würde, doch dieses Mal scheiterte er kläglich. So sehr er es wollte, es gelang ihm nicht erneut ein derartiges Bild hervorzurufen. Stattdessen wurde ihm immer schmerzhafter bewusst, wie sein Körper nach Wasser verlangte. Matt rollte er sich enger zusammen, um wenigstens der Kälte zu entgehen, die mittlerweile in dem Zimmer vorherrschte. Die Vorrichtung für eine Heizung gab es, aber mehr auch nicht. Rick kam vermutlich nicht unberechtigt der Gedanke, dass man ihn so lange quälen würde, bis er sich in sein Schicksal fügen und willenlos all das tun würde, was man von ihm verlangte. Aber was begehrte man denn von ihm? Bisher hatte keiner seinen Willen kundgetan, auch nicht der Kerl, der ihn hierher gebracht und einige Male zuvor aufgelauert hatte. Man hatte ihn hier in den Raum gesperrt und sich selbst überlassen, frei von irgendwelchem Luxus und Geräuschen, bis auf den eigenen rasselnden Atem. Seine Glieder taten weh, er hatte Durst und er wollte nichts als raus. Doch keiner erbarmte sich zu ihm und ersuchte sein Belieben, geschweige denn brachte ihm zumindest ein Glas Leitungswasser. Was tat er hier? Was wollte man von ihm? Eine Marionette, deren Fäden man nach eigenem Ermessen spann? Die mit einem schlief, wenn der Mechanicus es wollte?

Rick befiel eine gewaltige Gänsehaut, als er ein Bild von einem sichtlich erregten Kerl vor sich hatte, der lüstern auf ihn blickte und seine Hand bereits fordernd nach ihm ausstreckte. Leider besaß dieser Kerl sehr viel Ähnlichkeit mit dem Mann, dessen Lippen er schon mehrere Male auf sich gespürt hatte. Wenn er ehrlich war, erschien genau dieser Mann vor seinem inneren Auge und seine Haare stellten sich noch mehr zu Berge. Er wollte keine Puppe in seinem Kabinett sein!
 

/Ich will endlich einschlafen, um diesem Alptraum zu entgehen, der mir bei jedem Atemzug nur noch schlimmere Dinge offenbart. Befürchtungen, die nicht einmal ausgesprochen werden sollten! Vorahnungen, die an Grausamkeit kaum noch zu überbieten sind!
 

Und wieder einmal bettle ich dich an,

wiege mich in den Schlaf,

oh Dunkelheit komm’ mich holen,

damit ich mich der Wirklichkeit entreißen kann.
 

Wie eh und je lässt du mich im Stich,

du wiegst mich nicht,

was habe ich dir getan,

dass ich nicht in dein Reich kann?
 

Ich möchte, dass du mich wiegst,

in deinen Armen zum Schlafen bringst,

damit ich nichts mehr von all dem sehe,

vor dem ich doch meine Augen verschließ’…/
 

Zitternd vergrub Rick sein Gesicht immer tiefer unter seinen Armen und erhoffte sich, sich auf diese Weise der Realität entziehen zu können. Aber Minuten später lag er immer noch wach. Vielleicht lag es an der ungewohnten absoluten Stille; vielleicht an dem unbequemen Sofa; vielleicht an der widerwärtigen Szene, die ständig vor ihm ablief; vielleicht daran, dass er nicht in den schützenden Armen seines besten Freundes lag. Vielleicht hatten ja alle Aspekte Anteil an seinem Unvermögen einzuschlafen.

Gerade als er sich umdrehen wollte, ertönte ein Geräusch und er fuhr augenblicklich auf. Noch ehe er sich darüber Gedanken machen konnte, ob er sich getäuscht hatte, hörte er, wie ein Schlüssel im Schloss der Tür gedreht wurde. Quälend langsam wurde das Holz in den Scharnieren bewegt, so dass lediglich leises Knerzen an Ricks Ohren drang, aber einem Laut gleichkam, das unendliche Befreiung in ihm auslöste. Nach dem ersten Schreck löste sich seine kurz eingesetzte Starre und er sprang auf, sackte aber sofort in die Knie aufgrund der steifen Beine, die unter ihm nachgaben. Hastig rappelte er sich wieder auf und stürmte auf die Tür zu, die vor seiner Nase schnell wieder zugezogen wurde. Rick griff nach der Klinke, drückte sie herunter und zog an ihr mit aller Kraft, aber die Person auf ihrer Gegenseite schien stärker zu sein, denn sie bewegte sich keinen Millimeter.

„Mach auf!“, schrie der Dunkelhaarige und zog weiterhin erfolglos am Türgriff. „Bitte!“

Er drückte sich gewaltsam eine Hand auf den Mund, um nicht noch weiter sinnlos zu schreien, und um damit auch die Möglichkeit zu haben, jedes Geräusch auf der anderen Seite zu vernehmen. Es klapperte und raschelte und dann hörte er ein Tuscheln. Rick war sich sicher, dass sich zwei Personen miteinander unterhielten. Eine Stimme war herrisch, die andere eher untergeben. Rick konnte keine Worte, die einen Sinn ergaben, aus dem Gebrummel und Gemurmel herausfiltern, aber er hatte nun endlich die Bestätigung, dass nicht nur dieser Kerl anwesend war! Das konnte doch nur Hoffnung bedeuten, oder? Vielleicht… Ja vielleicht ließ sich dieser jemand ja erweichen, ihn hier rauszulassen!? Obgleich er das immer noch für unmöglich hielt, keimte auf einmal ein Fünkchen Hoffnung in ihm auf. Menschen brauchte man manchmal nur bereden, bis sie das taten, was man von ihnen wollte. Manchmal war ihr Kampfgeist leichter zu brechen als ihnen lieb war. Und genau das musste er ausnutzen! Vielleicht musste er einmal genauso schamlos sein wie seine Umwelt!?

Sein Herz bebte. Das Stimmengewirr auf der anderen Seite verstummte abrupt und es klopfte zweimal an der Tür. Rick wusste nicht recht, was das zu bedeuten hatte, doch er hob stumm seine Hand, schloss sie zu einer Faust und klopfte selbst einmal an das Holz, das ihn von dem Rest des Hauses trennte. Einmal wurde noch zurück geklopft, bis eine jungenhafte Stimme roboterartig meinte: „Gehe fünf Schritte zurück, dann stehst du exakt neben dem Schrank. Wenn du dort bist, dann öffnest du ihn. Darin findest du ein Paar Handschellen. Nimm sie und kette dich an die eine Seite des Sofas. Wenn du das getan hast, dann rufe ’4 Blätter’.“

Verwirrt starrte Rick auf die Tür und versuchte die Anweisungen erst einmal zu verarbeiten. Wenig später warf er einen Blick zum Schrank, dem er bisher kaum Beachtung geschenkt hatte. Nachdem der Rest des Raumes kahl und unbewohnbar war, hatte er sich gar nicht erst die Mühe gemacht, dort hinein zu schauen, denn er hatte nur leere, verstaubte Böden erwartet. Nun ging er tatsächlich die wenigen Schritte auf ihn zu, zählte unbewusst, wie oft er einen Fuß vor den anderen setzte.

„…vier, fünf.“

Zögerlich griff er nach dem kleinen, braunen Knopf und zog an ihm. Mit einem Quietschen öffnete sich die Schranktür und bis auf die eben erwähnten Handschellen, nach denen er fast blind tastete, befand sich auch nichts in dem Schrank, so wie er es vermutet hatte. Sollte er sich damit wirklich an die Querstange des Sofas ketten? Sich damit selbst jeglicher Gegenwehr berauben? Was, wenn er es nicht tun würde? Würde er dann elendig hier verenden, weil ihm Brot und Wasser verwehrt werden würden?

Wie er sich auch entscheiden würde, keine Wahl bot verlockende Zukunftsaussichten. Ihm entwich ein Stöhnen und dann umgriff er mit geschlossenen Augen das silberne Metall, das ebenso glanzlos war wie alles andere, was er seit Stunden zu Gesicht bekommen hatte. Als er den kalten Gegenstand vollends in seinen Fingern spürte, hob er in Zeitlupe seine Lider wieder an, doch als sein Blick wieder klar war, sah er weiterhin nur auf bis vor kurzem herrenlose Schellen.
 

„Jetzt habt ihr einen Besitzer…“, seufzte er leise.
 

Als er sich damit ans Sofa gekettet, das unvermeintliche Klicken gehört hatte, wand er seinen Kopf gen Tür.
 

„4 Blätter!“
 

Gespannt, regelrecht neugierig sah Rick auf die Tür, die erneut langsam geöffnet wurde. Er hatte mit einem schmächtigen Jungen gerechnet aufgrund der etwas dünnen Stimme, die ihm vorher die Anweisungen gegeben hatte, doch es trat ein breitschultriger, sehr groß gewachsener Mann ein. Mehr konnte Rick zunächst nicht erkennen, denn es fiel nur wenig Licht durch das kleine Fenster zu seiner Rechten und schummriges von hinter jener Gestalt.

„Zeig’ deine Hand!“, befahl der Mann und Rick erkannte sofort sowohl am Tonfall als auch an der Tiefe, dass dies nicht die Person war, die vor wenigen Minuten gesprochen hatte.

Rick rückte ein wenig zur Seite, so dass das spärliche Licht nun auf die Handschellen fiel, die brav und artig um sein Handgelenk und die Querstrebe geschlossen waren.

Mürrisch wand sich der Andere um und hob den linken Arm, gab anscheinend ein Zeichen, dann postierte er sich direkt neben der Tür und glich alsbald einer Statue, die jedoch nichts Liebliches oder Harmonisches an sich hatte. Nun trat ein weiterer Mann ein und dieses Mal verschlug es Rick den Atem. Sein Herz begann, wilde Rhythmen zu schlagen. Mit einem Mal entflammte grelles Licht und der Dunkelhaarige kniff die Augen fest zusammen, da die plötzliche Helligkeit höllisch wehtat. Benommen hörte er Schritte, die sich näherten, und er versuchte sich so schnell wie möglich an das Licht zu gewöhnen, indem er unkontrolliert und hastig mit den Lidern blinzelte.

„Schön hier, nicht wahr?“, fragte der Mann mit leichtem Spott.

„Gewiss“, meinte Rick und sah seinen Entführer durch schmale Schlitze an.

„Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, dir einen herzlichen Empfang zu bereiten.“

„Das ist Ihnen gelungen“, entgegnete Rick ebenso ironisch.

Er brauchte diesen Kerl nur zu sehen, da entfachte in ihm bereits blanker Hass. Nein, dieses Mal würde er sich nicht wieder vor Angst kaum regen können! Nun hieß es, diesem Wahnsinnigen Parole zu bieten! An die Folgen dachte er dabei nicht, denn seine Lage konnte sich sowieso kaum noch verschlimmern. Die Müdigkeit war darüber hinaus auch verflogen und die Feindseligkeit konnte in ihm jetzt so richtig zu wallen beginnen!

„Sie haben viel Geschmack bewiesen!“, fügte der Kleinere an.

Der Fremde beugte sich nach vorne und lächelte ihm kalt ins Gesicht, strich zu allem Überfluss mit einem seiner Finger über seine Wange. Rick ließ das über sich ergehen und grinste nun genauso entseelt.

„Mehr Charme hätte ich Ihnen aber auch nicht zugetraut.“

Der Mann packte ihn am Kinn. „Doch kein so scheues Rehkitz, hm?“ Das Funkeln in den tiefdunklen Augen nahm zu. „Um so besser.“ Grob presste er seine Lippen auf die von Rick, ließ aber sogleich wieder von ihm ab.

„Und ich dachte, dass Sie deshalb Ihren Wachhund mitgebracht haben!“ Rick tat sich schwer mit sprechen, da der andere ihn immer noch am Kinn festhielt, aber er ließ sich durch nichts mehr hindern. Obgleich er im Begriff war vollkommen lebensmüde zu sein, konnte er nicht an sich halten. Vielleicht musste Böses mit Bösem beglichen werden, um nicht unterzugehen!

„Nicht schlecht, mein Kleiner. Du entwickelst dich ja langsam zum bissigen Tiger.“ Ein weiteres Mal zwang er ihm seine Lippen auf, worauf Rick gewartet hatte, denn das bedeutete einen Moment der Unaufmerksamkeit seitens des Mannes. Mit voller Wucht rammte er ihm sein Knie in den Magen. Laut stöhnte der Fremde auf und sein kalter Blick wandelte sich in Zorn um. Während Rick mit allen möglichen Gegenattacken rechnete, die widerlichen Lippen bereits erneut auf sich spürte, konnte er dabei zusehen, wie sich der andere aufrichtete und einen Schritt entfernte.

„Olivier!“, hallte es laut durch den Raum und ein hagerer Junge erschien im Türrahmen, zu dem mit größter Wahrscheinlichkeit die Stimme von vorhin gehörte. „Bring unserem Gast Manieren bei!“ Der Fremde lief geradewegs auf den Jungen zu und meinte beiläufig im Vorbeigehen: „Du weißt, was du zu tun hast!“

Alsbald waren nur noch Rick und dieser schmächtige Knabe im Raum und der Dunkelhaarige grinste gelassen. Man konnte mit ihm nicht immer umspringen, wie es einem beliebte und diesem Kerl hatte er sein Statement wohl deutlich genug gemacht! Als der blasse Junge ein Tablett neben dem Sofa abstellte, betrachtete sich Rick ihn genauestens. In etwa so groß wie er, schmale Schultern und ein lang gezogenes, ausdrucksloses Gesicht.

„Ich bin keine Schaufensterpuppe!“, meinte der Betrachtete scharf, aber in derselben monotonen Stimmlage wie in seiner früheren Befehlsfolge. Unelegant richtete sich Olivier auf und blickte Rick geringschätzig an, überbrückte die kurze Distanz zwischen ihnen und schlug Rick mit einer Hand mitten ins Gesicht. Aufgrund dessen, dass der Dunkelhaarige nicht im Geringsten mit dieser Aktion gerechnet hatte, konnte er auch nicht ausweichen und fühlte nun den stechenden Schmerz, den seine Nase an sein Gehirn sandte. Das war eindeutig nicht die Art und Weise, auf die er behandelt werden wollte und schon kamen ihm erste Zweifel, ob sein Verhalten dem Kerl gegenüber richtig gewesen war oder sich seine Situation in der Tat noch verschlechtert hatte.

„Alexandros duldet kein Unbenehmen!“

„Entführungen gehören also zu gehobenen Manieren, verstehe ich das richtig?“

„Noch ein Wort von dir und du wirst dich nicht wieder erkennen!“

Irgendwie klang ein Gemisch aus Monotonie und Kälte noch wesentlich schlimmer als pure Unmenschlichkeit und Rick beschloss vorerst sich zu zügeln, zumal seine Nase ziemlich pochte. Glücklicherweise blutete sie nicht und er vermutete, dass sie auch nicht gebrochen war. Misstrauisch verfolgte er all die Bewegungen des Knaben, den er auf gerade mal sechzehn oder siebzehn schätzte. Er mutmaßte, dass er bei diesem Alexandros aufgewachsen war und aus dessen ’Erziehung’, wenn man eine solche überhaupt annähernd so nennen konnte, diese Gleichgültigkeit, und Gefühllosigkeit herrührten. Ohne jedwede Übertreibung kam Olivier einem Roboter gleich, der alles tat, was ihm einprogrammiert worden war. Rick wollte sich gar nicht erst vorstellen, was dieser Junge für eine Kindheit gehabt haben musste.

„Du wirst jeden Morgen und jeden Abend Wasser und etwas zu essen bekommen. Wir legen keinen Wert auf deine Wünsche und wenn du das Essen verschmähst, dann wirst du eben verhungern. Ich werde dir gleich den Schlüssel für die Handschellen überreichen und solange du dich loskettest, werde ich draußen vor der Tür darauf warten, dass du den Schlüssel unter ihr hindurch schiebst. Falls du das nicht tust, dann wird Alexandros trotz der Absprache mit Serrat keine Rücksicht mehr nehmen.“

Rick saß einfach nur da und folgte Oliviers Worten und konnte sich einfach nicht begreiflich machen, wie man nur ohne jedwede Form von Emotion leben kann. Vorsichtig nickte er, gab damit ein Zeichen, dass er verstanden hatte, was von ihm verlangt wurde, und begann ein Gebet zum Himmel zu schicken, dass dieser Knabe bei diesem oder bei einem seiner nächsten Besuche unvorsichtig sei. Auf gutes Zureden oder gar ins Gewissen reden würde bei solch einem Menschen wohl nichts bringen und darum würde er auf einen Fehler seitens seines ’Feindes’ hoffen müssen. Vielleicht meinte es sein Schicksal ja irgendwann wieder gut mit ihm. Schließlich gab es da draußen jemanden, der auf ihn wartete und sich sicherlich schreckliche Sorgen um ihn machte. Er durfte nicht einfach die Zuversicht und den Lebensmut verlieren, das war er Joe und auch sich selbst schuldig. Irgendwann würde er hier wieder rauskommen und auf diesen Moment würde er warten und sich derweil fügen, was aber nicht hieß, dass er sich alles gefallen ließe.

Ohne weitere Worte legte Olivier einen kleinen silbernen Schlüssel auf das Sofa neben Rick und verschwand in nächster Sekunde auch schon aus dem Zimmer. Sofort griff Rick nach dem Metall und schob es in das vorgesehene Loch. Ein Klick und er war frei. Übereilt sprang er auf und sprintete zur Tür, doch egal, wie oft er die Klinke drücken und an ihr ziehen würde, sie würde verschlossen bleiben.

„Mistkerl“, murrte er. Bei solcher Sorgfalt würde er also in der Tat viel Geduld und Nerven aufbringen müssen…
 

Als der Pendlerverkehr seinen Anfang nahm, war Joe auf dem Weg nach Hause. Egal, wie viel Adrenalin durch seinen Körper schoss, er konnte sich kaum noch auf den Beinen, geschweige denn die Augen offen halten. Langsam trottete er zu seiner Wohnung zurück und sah nur noch hier und da auf die Autos, die ihm entgegenkamen oder die am Straßenrand parkten. Er war kurz davor, aneinander gereihter Buchstaben und Ziffern überdrüssig zu werden. Es mussten hunderte gewesen sein, die er sich näher angesehen hatte. Irgendwann war er nämlich dazu übergegangen, jedes Kennzeichen in Augenschein zu nehmen, falls dieser Kerl auf die Idee gekommen war, das dazugehörige Auto auszutauschen. Verbrecher waren klug und planten ihre nächsten Schritte schon im Voraus. Doch Joe war auch nicht auf den Kopf gefallen und hatte genügend Filme gesehen respektive Bücher gelesen. Zu seinem Leidwesen gab es leider zu viele Kombinationen, selbst bei lediglich vier Zahlen; es gab grob 10000 und dazu kam, dass sich welche entsprachen, wenn die Lettern im Gegenzug verschieden waren. Bei drei Buchstaben bedeutete, dass es über 17000 Buchstabenkombinationen gab. Und beide zusammengenommen? – Daran wollte Joe gar nicht erst denken, denn sonst hätte er gleich beschließen können, seine Suche nach einer kurzen Pause nicht wieder fortzusetzen.

Missgestimmt stieg er die Treppen hinauf und mit einem Mal musste er wieder intensiv an Steven denken, von dem er die ganze Nacht nichts gehört hatte. Ob er noch durch die Straßen irrte? Oder hatte er beschlossen, sich in irgendein Café zu setzen und die ganze Aktion zu boykottieren?

Eine Entschuldigung war bitter nötig. Joe zückte sein Handy und wählte ihn kurzerhand an. Jeder hatte eine zweite Chance verdient und so hoffte er, dass er eine von Steven bekam. Während es tutete, nahm er gerade die letzte Treppe.

„Hallo Joe.“

„Hi Dad“, er wollte ihn nicht anders nennen, denn schließlich verkörperte er genau diesen dennoch auf gewisse Art und Weise, „ich würde gerne noch einmal mit dir reden und mich in aller Form bei dir entschuldigen. Ich-“ Gebannt blickte er auf etwas an seiner Wohnungstür, das sich dort eigentlich nicht befinden dürfte.

„Joe?“

„Komm schnell zu meiner Wohnung!“, meinte er nach ein Mal Luft holen und klappte das Handy zu.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 4 Blätter ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Süden ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

~~~~~~~ Über die Spitze ragt im Winter die Sonne niemals! ~~~~~~~

Kapitel 45

Kapitel 45
 

„4 Blätter… Hast du eine Ahnung, was er damit meint?“

Steven war nur wenige Minuten später eingetroffen und hatte einen unruhig hin und her laufenden Joe vorgefunden, der einen schwarzen Zettel in der Hand gehalten hatte und die Augen von diesem nicht hatte nehmen können.

„Über die Spitze ragt im Winter die Sonne niemals“, wiederholte der Blonde die Worte, die auf dem Papier in weißen Lettern geschrieben standen. „Nicht nur, dass er mir meinen Freund genommen hat! Das reicht ihm anscheinend nicht, nein, er muss sich aufspielen und in Rätseln schreiben!“

Zerstreut strich sich Joe mit einer Hand über die Stirn, wischte den kalten Schweiß weg, der sich in den letzten Minuten dort angesammelt hatte.

„Jetzt muss die Polizei doch was unternehmen, oder nicht?“ Erwartungsvoll sah er seinen Vater an.

„Wenn man mal davon absieht, dass du das Beweismaterial angefasst hast und darauf nun deine Fingerabdrücke sein werden, vermutlich nur deine, dann können wir es auf einen Versuch ankommen lassen.“ Achselzuckend sah Steven sein Gegenüber an, der nervös mit den Fingern auf den Tisch trommelte, an dem sie noch nicht lange saßen.

„Ich verstehe deine Distanz und Gleichgültigkeit ja“, meinte Joe mit einem Anflug von Wut, „doch hier geht es allein um Rick und in keinster Weise um mich. Könntest du dich daher auch bitte so verhalten?“

„Und das sagst ausgerechnet du!“ Steven erhob sich. „Seit wann bist du eigentlich ein solcher Egoist?“, fügte er sichtlich enttäuscht an, sprach aber sogleich weiter, bevor Joe in irgendeiner Weise reagieren konnte: „Gib’ mir den Zettel, dann gehe ich damit zur Polizei. Ein aufgebrachter, anscheinend sich nicht unter Kontrolle habender junger Mann wie du es bist findet auf dem Revier sowieso keine Beachtung und ich möchte, dass Rick so schnell wie möglich gefunden wird.“

Für einen Moment war der Jüngere sprachlos, aber dann erhob er sich ebenfalls und ging einen Schritt auf Steven zu. Es sah kurz danach aus, als wolle er schreien oder handgreiflich werden, doch plötzlich sank sein Kopf auf seine Brust und er seufzte. „Danke.“ Mehr erwiderte er nicht, sondern hielt Steven das schwarze Papier entgegen, der es ihm abnahm, nach seiner Jacke griff und ging.
 

/Ich höre deine Schritte, wie sie im Flur nachhallen, und ich hoffe sehr, dass du mit einer guten Nachricht wiederkehrst. Und wenn du zurückkommst, dann bitte ich dich endlich um Vergebung. Ausgerechnet jetzt erkenne ich erst, wie nahe wir uns eigentlich stehen und wie schmerzhaft es für dich gewesen sein muss, von mir zu hören, du seiest nicht mein Vater. Denn ebenso schwer ist es für mich, dass du nun mir gegenüber eine Distanz hegst, doch ich weiß, dass ich allein sie zu verschulden habe. Darum bin ich ja selbst enttäuscht von mir…/
 

Völlig erschöpft, niedergeschlagen und unglücklich schlurfte er in sein Schlafzimmer und ließ sich dort auf sein Bett fallen. Als er sein Gesicht in seinem Kissen vergrub, durchzuckte es ihn, denn er roch den dunkelhaarigen jungen Mann, den er vor gut zwölf Stunden verabschiedet hatte, in dem Glauben, er würde seine Eltern besuchen und danach zu ihm zurückkehren. Wie hatte er ihn nur allein gehen lassen können! Natürlich, Rick war ebenso wie er erwachsen, aber hatte die Gefahr nicht bereits in ihrer beiden Rücken gelauert? Waren sie nicht genau in jener Nacht vor diesem Irren geflohen? Wie hatte er nur derart unbedacht sein können; so leichtgläubig!?
 

/Rick wollte allein gehen!/, versuchte er seine Schuldgefühle abzuschwächen, doch es half nichts, sich das immer und immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Im Endeffekt machte er sich schwere Vorwürfe und die Tatsache, dass er obendrein sein intaktes Familienleben zerstört hat, belastete sein Gewissen nur noch mehr. Und diese Sentimentalität machte ihn wahnsinnig. Er wollte sie schnellstmöglich wieder loswerden, dessen war er sich sicher.

Als er sich auf den Rücken drehte und die Augen öffnete, sah er nicht wie gewohnt die Decke, sondern die weißen Lettern auf schwarzem Hintergrund, die ihm nichts weiter als ein Rätsel waren. Was hatten denn Blätter mit Rick zu tun? Und was sollte mit dem dahin geworfenen Satz besagt werden?
 

/Über die Spitze ragt im Winter die Sonne niemals… Ich bin mir ziemlich sicher, dass damit ein Gebäude gemeint ist. Doch welches verdammte Haus kann man mit den Worten ’Süden’ und ’4 Blätter’ in Verbindung bringen?/
 

Haben sie denn überhaupt eine Bedeutung? Was wäre, wenn man ihn einfach nur auf eine falsche Fährte locken wollte?

Er musste die Begriffe in einen Zusammenhang bringen! Egal wie! Auch auf die Gefahr hin, dass es keinen gab. Schließlich war es dem Menschen schuldig, den er von Herzen liebte.
 

In Gedanken lief er die Stadt ab und versuchte sich vorzustellen, wie sie an einem sonnigen Wintertag aussah, also fast wie an diesem Tag. Er fing bei seiner Wohnung an und ging alle Straßen durch, die von ihr in Luftlinie wegführten. Seine Rechte ruhte währenddessen unablässig auf seiner Stirn und seine Brust hob und senkte sich langsam. Während die Häuser meist zu beiden Seiten emporragten oder sich Gärten ins Unendliche strecken zu schienen, konnte kein noch so markantes Gebäude auf Anhieb einen Geistesblitz bei ihm auslösen. Graue, weiße oder gelbe Silhouetten erstreckten sich vor und neben ihm, blanke Mauern, verzierte Fassaden, Balkone, Glasfronten, Villen, rote, braune Dächer… Nach einiger Zeit erschien ihm sein Tun als vollkommen sinnlos und er war kurz davor einzuschlafen. Als sich die Dunkelheit bereits über seine Augen legte, seine Lider zufielen und sich sein Körper schwer anfühlte, näherte er sich schon fast unbewusst immer weiter der Innenstadt. Und je näher er ihr kam, desto mehr drängte sich ein Bauwerk in sein Blickfeld, das ihn nur noch mehr nach Rick sehnen ließ. Die Kathedrale sah wie immer prunkhaft und edel aus, verkörperte wie eh und je Stärke und Anmut. Und vor ihr zeichnete sich immer facettenreicher Ricks Gestalt ab, der nur leicht bekleidet ein Lächeln im Gesicht trug. Alsbald sah er sich selbst vor ihm und ihre Lippen fanden sich erst zu einem leidenschaftlichen Kuss, bevor ihre Hände auf dem Rücken des jeweils anderen hinabfuhren. Der Hintergrund wandelte sich um in seine Wohnung und er bettete den Dunkelhaarigen sanft auf sein Bett, benetzte ihn dort vom Hals abwärts mit federleichten Küssen, worunter sein Freund aufstöhnte, vor allem als er keck in dessen Brustwarzen biss. Seine Zunge fuhr in kleinen Kreisen um seinen Bauchnabel und der Kleinere vergrub seine Finger in dem blonden Haar, zog ihn sachte wieder zu dessen Gesicht empor und verwickelte ihn in einen Kuss, der ihnen beiden den Atem raubte. Wohlig seufzend löste er sich von ihm und ließ seine Zunge über die Ohrmuschel des anderen streifen. Er spürte derweil seine eigene Erregung, die ständig anschwoll, und presste seinen Unterleib an den seines Freundes. In einem langsamen Rhythmus kreisten sie ihre Becken und ihre Zungen fingen sich gegenseitig ein. Die Lippen des anderen schmeckend glitten seine Hände wieder tiefer hinab und entfernten die letzten störenden Kleidungsstücke, bis endlich wohlersehnt nackte Haut auf nackte Haut traf. Ihre Körper waren heiß, begehrten nach mehr und wollten den jeweils anderen noch intensiver spüren. Joe löste den Kuss und glitt wieder tiefer, um Rick zum Höhepunkt zu treiben. Willig streckte dieser sich ihm entgegen und…
 

’In der Kirche legen die Menschen ihre Sünden ab…’, hallte Ricks Stimme wider.
 

Joe riss seine Augen weit auf. Das musste das Gebäude sein! Wieso, weshalb, warum konnte er nicht sagen, doch mit einem Mal war er sich vollkommen sicher. Und wenn er die Kathedrale noch mit ’Süden’ in Korrelation bringen konnte, dann konnte er es beweisen. Obwohl sein Körper entkräftet war und gleichzeitig vollkommen erhitzt, stand er wieder auf und hastete ins Bad, wusch sein Gesicht mit eiskaltem Wasser, warf danach einen flüchtigen Blick in den Spiegel, in dem er nichts weiter als einen völlig fertigen jungen Mann sah, dessen Augen vor Begierde funkelten.

Wie spät war es? – Seine metallene Armbanduhr verriet es ihm. Und obgleich es nicht einmal acht Uhr morgens war, konnte ihn nichts davon abbringen, zur Kirche zu gehen, um Informationen über sie zu erlangen. Vielleicht hatte er nun eine vielversprechende Spur und die würde er nicht so bald wieder loslassen!
 


 

Chaos herrschte in Ricks Kopf. Nichts als Tumult und Unordnung. Resigniert ließ er sich aufs Sofa sinken und griff nach der Wasserflasche. Ein paar Mal drückte er sie von einer Hand in die andere, bis er sie letztendlich öffnete und aus ihr einen großen Schluck entnahm. Abwesend tastete er mit dem Zeigefinger nach seiner Nase und strich vorsichtig über sie. Mittlerweile schmerzte sie nicht mehr, aber er hatte noch die Faust vor Augen, die mit einem Mal nach ihm geschlagen hatte. Und dazu der gänzlich emotionslose Gesichtsausdruck ihres Besitzers. Gut, er war selbst handgreiflich geworden, aber schließlich war er es doch, der mir nichts dir nichts entführt worden und hier gegen seinen Willen festgehalten worden war und noch immer wurde. Alexandros hieß also der Mann, der ihm das alles antat, und dafür nicht im Geringsten einen Grund hatte. Hatte sich Rick jemals etwas zu Schulden kommen lassen? – Sowohl spontan als auch bei reiflicher Überlegung würde er diese Frage mit einem strikten Nein beantworten. An sich war er immer viel zu gesittet und zurückhaltend gewesen, hatte sich vielmehr jedweder Konfrontation entzogen und Joe die Prügeleien überlassen. Vielmehr war er ein ruhiger, manchmal in sich zurückgezogener Mensch, der älteren Menschen gerne half und ein friedliches Leben bevorzugte. Nur war ihm dieser Frieden nicht gestattet. Erst die Abwendung seiner Eltern und jetzt das. Das grelle Licht schien noch immer auf ihn herab und ächtete die Dunkelheit, die in seinem Kopf herrschte. Bisweilen gab es kaum noch schöne Dinge, die ihn ein wenig munterer stimmen konnten. Die Sehnsucht nach Freiheit und danach, sich an Joes Körper schmiegen zu können, war unermesslich geworden.

Er drehte seinen Kopf nach rechts und begutachtete das Tablett, das ihm dagelassen worden war. Neben der Flasche, die er noch in der einen Hand hielt, war ihm spärlich belegtes Brot gebracht worden, das aber nicht einmal ungenießbar aussah. Obwohl er keinen rechten Hunger verspürte, hob er den Teller an und roch an dem Essen. Ein beinahe schon köstlicher Duft stieg ihm in die Nase, dennoch stellte er das weiße Porzellan zurück.
 

/Aber…/
 

Erneut hob er den Teller an, nicht um das Essen ein weiteres Mal zu begutachten, sondern um das darunter Liegende genauer in Augenschein zu nehmen. Das schwarze Rechteck war keine Serviette, sondern ein Blatt Papier. Und dieses lag sicher nicht ohne Grund dort.

Neugierig, aber bedacht griff er danach.
 

~~~~~

Es ist mir eine Ehre, dich in meinem bescheidenen Heim begrüßen zu dürfen.

~~~~~
 

/Um sich mir ungesehens zu nähern…/
 

~~~~~

Da mir dein Freund keine andere Wahl ließ, musste ich zu einem probateren Mittel greifen, um ihm begreiflich zu machen, dass du mir gehörst.

~~~~~
 

/… probateres Mittel…/ Auf Ricks Gesicht zeichnete sich ein sarkastischer Ausdruck ab, der von tiefer Trauer untersetzt war.
 

~~~~~

Leider habe ich momentan nicht die Möglichkeit, mich dir vollkommen zu widmen, aber als kleine Entschädigung darfst du dich in deinem neuen Zuhause ein wenig umsehen und die verborgene Tür zu dem Ort ausfindig machen, der deinen Bedürfnissen gerecht werden sollte.
 

Ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt.

~~~~~
 

/Ich spüre, wie meine Lippen zu beben anfangen und ein Lächeln beherbergen wollen, das zynischer nicht sein könnte. Seine Worte spiegeln aufrichtig genau den Charakter wider, der sich mir vom ersten Moment unseres ersten Aufeinandertreffens an offenbart hat. Von reiner Kälte und blankem Hohn kann man aber nicht mehr sprechen, vielmehr sind sie gepaart mit groteskem Wahnsinn…/
 

Da die spöttischen Zeilen aber dennoch sein Interesse geweckt haben, ließ er seine Augen quer durch den Raum streifen. In der ewigen Helligkeit sah er immer noch lieblos aus, hatte aber nicht mehr ganz so viel Deprimierendes an sich. Seine meerblauen Iriden streiften über jeden Winkel hinweg, der sich beim bloßen Anblick preisgab. Rick kam zu dem Entschluss, dass sich einzig hinter dem Schrank, in dem die Handschellen gelegen hatten, eine weitere Tür neben der offensichtlichen befinden konnte. Selbst auf die Gefahr hin, dass er auf das Spiel, das dieser Kerl eindeutig mit ihm spielte, hereinfiel, stand er auf und ging auf den großen Schrank zu. Geheime Verstecke, nicht gleich auszumachende Türen, sich bewegende Wände hatten ihn schon von klein auf in den Bann gezogen und so auch dieses Mal. Mit aller Kraft, die er aufwenden konnte, schob er das schwere Mobiliar von der Wand weg, das unter einem Ächzen nachgab. Als er den Abstand groß genug wusste, spähte er hinter das sperrige Holz und in der Tat blickte er auf eine Art Tür, die aber mehr ein Provisorium war. Eine in die Wand integrierte Platte, die sich zur Seite schieben ließ, was Rick auch ohne Zögern austestete. Alsbald sah er auf ein spartanisch eingerichtetes, aber nobles Bad. Ganz anders als der Rest des Hauses, den er kannte. Die Deckenleuchte war sofort aufgeflammt, als er einen Fuß ins Zimmer gesetzt hatte, und beschien nun eine geräumige Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette, die sofort ein Bedürfnis in ihm weckte, das er bei all seinen Gefühlsschwankungen nicht mal ansatzweise wahrgenommen hatte.
 

/Einen solchen Raum hätte man sich bei dem Anblick, der sich mir die ganze Zeit über geboten hatte, nicht einmal erträumen lassen. Wenigstens bleiben mir üble Gerüche erspart, selbst wenn das auch nur seinen Zwecken dienen sollte… Er möchte sich sicher keinen Kuss von einem stinkenden Menschen rauben. Vielleicht könnte ich ihn auf diese Weise auf Abstand halten, doch ich verspüre nicht den Drang zu verwahrlosen, nur um eine Rebellion zu starten, die mir am Ende nur noch mehr schaden wird…/
 

Langsam entledigte sich Rick all seiner Kleider und stieg in die Dusche. Als er den Wasserhahn betätigte, glaubte er für einen Moment, dass kein Wasser kommen würde, doch schon die ersten Tropfen, die auf ihn herabprasselten, entlockten ihn in eine Welt fernab der Realität und ließen ihn all die negativen Gedanken beiseite schieben.

Lange ließ er das wohlige Nass auf sich hernieder regnen und irgendwann begann er darüber nachzudenken, weshalb er bisher verschont wurde; in dem Sinne, nicht weitere Male geschlagen oder gar vergewaltigt worden zu sein. Auf dem Zettel stand, dass Alexandros nicht die Möglichkeit habe, sich ihm vollkommen zu widmen. Hundertprozentig war damit gemeint, sich Beischlaf zu erzwingen… Rick fuhr es durch Mark und Bein; den Gedanken daran ersetzte er vorsichtshalber gleich durch Oliviers Aussage: ’dann wird Alexandros trotz der Absprache mit Serrat keine Rücksicht mehr nehmen’.
 

Serrat…
 

Der Name sagte ihm was, oder doch nicht?
 

Kurz bevor er glauben konnte, sich geirrt zu haben, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen…

Kapitel 46

Kapitel 46
 

Wie konnte er nur diesen Namen vergessen und nicht gleich beim Hören wieder erkannt haben!
 

Serrat…
 

/Aber das würde er niemals tun!/
 

Rick stützte sich mit beiden Händen an den nassen Fliesen ab, bettete seine Stirn alsbald auf sie.
 

/Derart kann ich ihn nicht enttäuscht haben! Das will ich einfach nicht glauben!...

Alles in mir wehrt sich gegen diesen Gedanken…

und das zu Recht… Aber weshalb dann Serrat?...

Nein! Das möchte ich nicht einmal mutmaßen, das geht nicht! Aber kann das wirklich nur ein Zufall sein?/
 

Er zog seine Linke unter seinem Gesicht hervor und drehte den Wasserhahn ganz nach rechts. Sogleich spürte er die eisige Kälte, die über seinen Körper rann und hielt wenig später seinen Kopf darunter. Denn er fühlte lieber seinen Körper erstarren als sein Herz…
 

/Es muss ein Zufall sein!
 

Sonst…
 

… stirbt meine gesamte Vergangenheit…/
 

Aufgrund des Schüttelfrostes, der ihn nach ein paar Minuten bereits befiel, stellte er die Dusche ab und hüllte sich in das Handtuch, das neben dem Waschbecken an der Wand gehangen hatte. Es war weiß und flauschig, ein Luxus, den er gerade weder würdigen noch beachten konnte. Seine bläulichen Lippen bebten und formten immer wieder ein Wort… lautlos… stumm… ungehört…
 

Zufall.
 

Es musste einer sein!
 

Frierend sank er auf den kleinen Teppich vor der Dusche, zog seine Beine fest an sich heran und legte seine Arme um sie. Das Handtuch hielt er fest um sich gewickelt, obgleich er lieber für immer physisch frösteln würde als… einen der schrecklichsten Gedanken auf Erden zu hegen.
 

/Wir hatten doch so schöne Jahre zusammen, von Liebe und Vertrauen geprägt… bis ich dir gesagt habe, dass ich keine Frauen lieben und dir keine wahren Erben schenken kann… Trägst du die Verantwortung für… die Scherben in mir?
 


 

Wie soll ich so was glauben können?
 


 

Wie?/
 

Rick kannte einen gewissen Mann namens Richard Serrat, ein guter Freund seines Vaters, der aus beruflichen Gründen Luminis schon vor Jahren hatte verlassen müssen. Wo er allerdings seine neue Dienststelle angetreten hatte, hatte er nie erfahren und ihn auch bisher nicht interessiert. Selbst wenn der Dunkelhaarige kaum etwas mit ihm zu tun gehabt hatte, hatte er ihn als rechtschaffenen Menschen in Erinnerung, der seine Frau und seine Tochter als sein ein und alles betrachtet hatte und seinen Job sehr ernst nahm. Solch ein Mann konnte mit einem Kerl wie Alexandros keine schmutzigen Machenschaften eingehen! Aber was wusste er schon über ihn? Menschen änderten sich und das nicht unbedingt immer zum Guten. Es war seit seinem Umzug viel Zeit vergangen.
 

/Aber mein eigener Vater?.../
 

Der Gedanke daran war viel zu präsent, als dass ihn Rick einfach wieder verdrängen konnte, so als hätte es ihn nie gegeben. Dass ein mehr oder minder Unbekannter schmierige Deals abschloss, konnte er ertragen, aber nicht, wenn es sich dabei um seinen Vater handeln sollte.
 

„Das hat er nicht getan!... Das kann er nicht getan haben!“
 

Zwei Jahre lang hatte Rick seine Eltern nicht gesehen. Weder gesprochen noch anderweitig kommuniziert. Der Brief, den Joe mitgebracht hatte, war der einzige Kontakt, den er zu ihnen gehabt hatte. Waren die Worte seiner Mutter wirklich nur Heuchlerei gewesen?
 

Allein die Vorstellung war berstender als der Fakt, monatelang nicht miteinander geredet zu haben und geächtet worden zu sein. Seine Kehle fühlte sich ganz rau an; er fühlte sich von den aufkeimenden Bildern erstickt. Bilder, die ihm zeigten, wie sein Vater Alexandros Geld anbot und mit einem Handschütteln das Geschäft zwischen ihnen besiegelte…
 


 

„Ich weiß nicht, wie Sie es geschafft haben, jetzt schon hinein zu dürfen, nachdem wir eigentlich erst um zehn Uhr öffnen, aber verhalten Sie sich bitte ruhig, wie Sie es von einer Bibliothek gewohnt sein dürften“, wies ein älterer Mann mit graumelierten Haaren und in vornehmer Kleidung Joe mürrisch an.

„Danke“, erwiderte der Blonde höflich und trat in den überdimensional großen Raum ein.

Dass er so früh am Morgen überhaupt einen Verantwortlichen angetroffen hatte, hatte ihn schon mehr als überrascht. Aber egal wie sehr ihn sein Anstand und sein Benehmen dazu aufgefordert hatten, diesen nicht weiter zu bedrängen und zu belästigen, obwohl er ihm sichtlich genervt vorgekommen war, hatte die Angst um Rick gewonnen. Er weiß schon gar nicht mehr, wie lange er auf ihn eingeredet hatte, er war sogar schon drauf und dran gewesen, hochkarätig rausgeschmissen zu werden, doch nun stand er hier in der Bibliothek, mehr oder minder allein vor einer Heerschar von Büchern, von denen sicher nur wenige sein Interesse an diesem Tag auf sich ziehen würden.

In der Kathedrale, die bis auf wenige Nachtstunden ihre Pforten immer geöffnet hatte, hatte er erfahren, dass sich alle Urkunden und Informationen in der großen Landesbibliothek befänden, die in Veneawer ihren Sitz hatte. Und keiner der Anwesenden hatte viel über die Geschichte der Kirche gewusst; vermutlich lag es daran, dass es keine Geistlichen gewesen waren. Eigentlich sollte man mehr über die Bauwerke seiner Stadt wissen, doch Joe musste sich leider selbst zu denjenigen zählen, die oft keine Ahnung hatten, welche Berühmtheiten, Architekten und Künstler hinter solchen Bauten steckten, geschweige denn welcher Epoche oder welchem Stil sie zuzuordnen waren.

Etwas verloren streifte er durch die weiten Gänge und sah sich mit einer Reihe von Buchstaben und Zahlen an den Bücherrücken konfrontiert. Oft war er noch nicht hier gewesen, aber er wusste durchaus, dass er nur die Datenbank befragen musste, um den Aufenthalt derjenigen Bücher leicht auszumachen, die er begehrte. Als er vor den vielen Rechnern stand, nickte er verdrossen, da ihr sonstiges Gebrumme der Lüftungen nicht an seine Ohren drang. Auf gut Glück schaltete er einen der Computer ein und hoffte, ohne irgendwelche Passwörter ins Menu der Bibliothek zu kommen. Es schien ewig zu dauern, bis der Rechner sich dazu herabließ, vollständig zu booten, doch als er genau die Seite aufleuchten sah, die er brauchte, fiel ihm eine kleine Last von den Schultern. Er machte es sich auf dem eigentlich eher ungemütlichen Stuhl bequem, zumindest so gut es eben ging, und gab zwei Suchbegriffe ein:
 

Kathedrale + Süden.
 

Die Ergebnisliste bestand aus einer Unmenge von Büchern. Die Trefferzahl von 2371 holte die Last zurück, die er eben von sich geworfen hatte. Er musste seine Eingabe eindeutig weiter spezifizieren, aber wusste er denn viel mehr? Wie konnte man eine Suche verfeinern, von der man keine Ahnung hatte, in welche Richtung sie führen würde? Oberflächlich ging er die erste Seite der ellenlangen Liste durch und ihm fiel auf, dass auch zahlreiche Romane und Kurzgeschichten aufgezeigt wurden, die gewiss keinen Aufschluss über sein Begehren gaben. Daher ergänzte er seine Eingabe um zwei weitere Worte:
 

Fachliteratur + Kunstgeschichte.
 

Die Trefferzahl verringerte sich enorm. Doch über 200 Werke erschienen ihm immer noch als zu viele. Er fügte einen weiteren Begriff hinzu, den er von vornherein hätte angeben sollen:
 

Veneawer.
 

Schließlich stand die Kathedrale ja in dieser Stadt. Und Ricks Entführer würde wohl kaum eine andere Kirche meinen. Dessen konnte er sich zwar nicht wirklich sicher sein, aber die Zahl elf war ihm irgendwie freundlich gesonnen. Er notierte sich die entsprechenden Nummern auf einen Zettel, die großzügig verteilt neben den Monitoren lagen. Während er aufstand, versuchte er sich bereits in dem großen Raum, der schon mehr ein Saal war als einfach nur ein Zimmer, zu orientieren. Die Bibliothek an sich war ein Teil eines sehr noblen, antiken Gebäudes. Nach dem Krieg war der zerstörte Teil wieder aufgebaut worden, wobei man sich bemüht hatte, exakt die Form von einst wieder zu erlangen. Und wenn man das Bauwerk von außen mit alten Skizzen verglich, dann konnte man mit Recht behaupten, dass es den Architekten sehr gut gelungen war. Die eindeutige Betonung der Horizontalen, die korrekte Säulenanordnung im Eingangsbereich und die vielen Gesetzmäßigkeiten und Symmetrien ließen sofort auf den Beginn der Renaissance schließen, was das Nachbauen vielleicht ein wenig erleichtert hatte, denn auf Ornamente oder andere aufwendige Verzierungen war weitgehend verzichtet worden.

Mit wachsamem Blick lief Joe durch die langen Gänge und musste bald den ganzen Saal durchqueren, bis er vor den Werken stand, die alle dieselben Anfangsbuchstaben auf ihrem Rücken trugen: RLK. Bereits zu Beginn der vier übereinander stehenden Bücherreihen fand Joe die ersten zwei Bücher seiner Liste und der Rest bis auf eines lagen auch bald auf seinen Armen. Aufgrund des enormen Gewichtes der Bücher stöhnte er leise auf und manövrierte sie zu einem der Tische, die in der Mitte des Saals standen. Anschließend schlug er wahllos eines auf und begann darin zu lesen.
 

Umso mehr Zeit dabei verstrich, umso mehr realisierte er, wie erledigt er war. Seine grünen Iriden flogen über die kleingedruckten Zeilen, aber sein Gehirn nahm kaum noch wahr, was er da eigentlich sah respektive las. Bis jetzt hatte er sich zwei Notizen gemacht, doch die Informationen in den Büchern konnten bisher keine rechte Euphorie in ihm hervorrufen. Er wusste nun, dass ein gewisser Mann namens Francesco Boca hinter dem Bau der Kathedrale steckte, sie zweimal durch Kämpfe in Mitleidenschaft gezogen worden war und sie nach dem bautechnischen Höhepunkt der Gotik errichtet worden war und wohl darum etwas der eindrucksvollen Gestaltung entsagte und von ein wenig mehr Schlichtheit geprägt war. Vielleicht konnte sie nicht gegen die bis ins kleinste Detail ausgetüftelten Kirchen der Gotik ankommen, aber ihre Anmut und Stärke, die sie dennoch ausstrahlte, sprachen unantastbar für ihre Existenz.

Aber was konnte Joe mit dem Begriff Süden in Verbindung bringen? Weder Boca stammte aus dem Süden noch irgendeine andere Information wies auf irgendwas Brauchbares hin. Joes Lider zuckten und er hatte in der Tat Mühe, sie weiterhin offen zu halten. Zu viel Kunstgeschichte auf einmal konnte ab und an abkömmlich wirken und hinzukommende Müdigkeit erschwerte das Lesen zusätzlich ungemein. Als Joe nur noch die Schwere in seinem Kopf fühlte, sank er mit diesem auf den Tisch, eine Hand dabei auf dem Buch, das aufgeschlagen halb vor halb unter ihm lag. Er durfte nicht ins Land der Träume entschwinden und diesen Fakt rief er sich alle paar Sekunden ins Gedächtnis. Als er seiner eigenen mahnenden Stimme überdrüssig wurde, stützte er seinen Kopf mit einer Hand ab und blickte durch halb geöffnete Augen entnervt auf die Bücher. Sein Körper verlangte nach Ruhe und Schlaf, doch er konnte sie ihm nicht geben, selbst wenn er keine Lust mehr hatte, sich durch Jahreszahlen und fremde Namen zu kämpfen. Es näherten sich Schritte, was er nur am Rande wahrnahm und die sich obendrein wieder entfernten. Er brauchte nicht auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, dass es nun nach zehn Uhr sein musste und die ersten offiziellen Besucher die Bibliothek belagerten. Aufgrund seiner immer geringer werdenden Motivation, obgleich sie vorhanden sein sollte, blätterte er einfach nur noch die Seiten um, ohne sie näher zu betrachten.
 

Eine laute Melodie ließ ihn plötzlich hochfahren und böse Blicke von allen Seiten her ernten. Er griff nach seinem Handy und nahm den Anruf sofort an, nicht um am Ende doch noch aus der Bibliothek rausgeschmissen zu werden.

„Hallo“, flüsterte er und hoffte, dass der Mann, der ihn vorhin hereingelassen hatte nicht mit wütendem Gesicht irgendwoher auftauchte.

„Sag’ mal, wo steckst du denn? Ich stehe hier vor deiner Wohnung und dachte, dich hier anzutreffen.“

„Ich bin in der Landesbibliothek“, erwiderte Joe leise. „Warum erkläre ich dir später. Unternimmt die Polizei etwas?“

Joe hörte Steven laut ins Telefon atmen. „Sie hat keinerlei Fingerabdrücke außer deinen gefunden, wie ich es vermutet hatte. Aber sie hat den Fall aufgenommen und übernimmt ab jetzt das Handeln. Das heißt für dich ab nun keine Einmischung und kein unbedachtes Vorgehen mehr!“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung wurde zunehmend schärfer. „Ich erwarte dich in einer halben Stunde zurück!“
 

Es klickte und Joe hielt noch immer sein Handy am Ohr. Er wohnte nicht mehr zuhause, hatte sein eigenes Leben und musste sich im Ernst anhören, was er zu tun und zu lassen hatte? Vermutlich hatte er eine Seite an Steven zum Vorschein gebracht, die er ansonsten gut unterdrücken konnte. Aber er war nicht in der Stimmung, sich Vorschriften machen zu lassen. Es ging hier um seinen Freund und den ließ er nicht im Stich, egal was andere von ihm verlangten! Ärgerlich steckte er sein Handy wieder ein und stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab, fuhr sich anschließend mit beiden Händen durchs Haar und ließ sie am Hinterkopf liegen. Er seufzte. Dass er nun auch noch in einem Gewissenskonflikt steckte, erfreute ihn selbstverständlicherweise rein gar nicht. Einerseits konnte er die selbständige Suche nach Rick nicht einfach aufgeben, andererseits wollte er eine Versöhnung mit seinem Vater. Was war ihm wichtiger? – Der dunkelhaarige, junge Mann, mit dem man anrüchige Dinge tun konnte, natürlich. Verdammt, wie er diesen Menschen vermisste! Die vor Leidenschaft sprudelnden Küsse, die neckische Zunge, selbst wenn man sie oft nicht in einem solchen Ausmaß erwartete, und auch alles andere an und von ihm. Rick konnte man doch nichts als vermissen, oder?
 

/Ich bin halb verrückt vor Sorge um dich… Und diese dummen Bücher hier helfen mir auch nicht weiter!/
 

Joe nahm eine Hand von seinem Kopf weg und stieß eines der Werke achtlos beiseite. Währenddessen streifte sein Blick das aufgeschlagene Buch, in dem er kurz vorher noch wild herumgeblättert hatte.
 

/Was bringen mir Namen und geschichtliche Daten, wenn sie in keinem Zusammenhang zu den Begriffen stehen, die er mir als eine Bürde, die ich kaum tragen kann, auferlegte? Und dann soll ich auch noch heimkehren und dort tatenlos, nervös und unausgeglichen darauf warten, dass mich eine Nachricht der Polizei erreicht?

In meinem Zustand kann ich nicht mit Steven reden, denn außer lauter unausgegorener Sätze würde nichts über meine Lippen dringen und damit würde ich ihn nur noch mehr von mir distanzieren…

Es ist wie ein Teufelskreis. Wenn ich ihm Folge leiste, dann werde ich ihn am Ende nur wieder anschreien und denken, dich im Stich zu lassen, und wenn ich es aber nicht tue, dann wird er mich für stur, engstirnig und gedankenlos halten, wobei ich im Gegenzug vielleicht etwas für dich tun könnte…/
 

Die Hand wanderte zurück an seinen Hinterkopf.
 

/Egal, für was ich mich entscheide, ich werde ihm nicht gerecht werden…

Also kann ich mich getrost um dich kümmern, findest du nicht auch? Rick, du wirst mir doch vergeben, dass ich es mir gerade mit meinem Vater verscherze,… du wirst das doch verstehen…?

Von all dem Gefühlschaos kann man nur krank werden!/
 

Ruckartig stand Joe auf und lief einmal um den Pulk Tische, ignorierte dabei gekonnt die erneuten bösen Blicke, die ihm zuteil wurden. Als er wieder bei seinem Platz angekommen war, ließ er sich immer noch mit sich hadernd wieder auf dem Stuhl nieder, der ziemlich warm war. Die Hitze in seinem Körper schien sowieso mit jedem Zeigerschlag zuzunehmen und er fühlte bereits die ersten Schweißperlen auf seiner Haut. Er fühlte sich ausgelaugt und völlig erschöpft und doch arbeitete sein System anscheinend auf Hochtouren. Waren es all die Emotionen, die er nicht verkraftete und gegen die sich sein Körper nun wehrte?

Vielleicht sollte er doch erst einmal zu Steven gehen, das bedeutete ja schließlich nicht, dass er nicht danach wieder hierher zurückkehren könne. Er schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, spürte wie sich sein Herzschlag allmählich wieder ein wenig beruhigte. Langsam hob er seine Lider wieder an und fühlte, wie die innere Ruhe Stück für Stück zurückkam. Er wusste, dass er sowohl geistig als auch körperlich überlastet war, und darum beschloss er, in der Tat kurz zu Steven zu gehen.

Mit beiden Händen stapelte er die Bücher zu seiner Rechten und schlug dasjenige zu, in dem er kurz zuvor noch wild herumgeblättert hatte. Er legte es auf die anderen, bettete sie alle zusammen auf seine Unterarme und begab sich in den Gang, woher er sie entnommen hatte. Gerade als er das erste Buch zurück ins Regal stellen wollte, blieb ihm die Luft weg und ging gedanklich zu der Stelle zurück, wo er das Buch zusammengeklappt hatte…
 


 

Immer detailreicher spann sich in Ricks Kopf eine Geschichte zusammen, die dadurch für ihn an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft gewann. Wie viel Wahrheitsgehalt sie aber tatsächlich innehatte, stand noch in den Sternen.

Bisher hatte er sich noch nicht wieder vom kleinen Teppich vor der Dusche auf bemüht, denn warum sollte er auch? Es schien in seinem Leben nichts mehr zu geben, was ihn dazu veranlassen könnte. Die Person, die er brauchte und über alles ersehnte, war ihm genommen worden und der Mensch, der ihm einst ebenso viel bedeutet hatte, war vermutlich der Grund für diese seine Misere. Das kleine Organ in seiner Brust schlug und schlug, kämpfte gegen sein Schicksal an, und tat dies vermutlich vergebens. Für was denn all diese Mühe und Anstrengung, wenn man am Ende nur noch weiter in die Erde gestampft wurde? Das Leben konnte wirklich komisch sein. Vor allem dann, wenn man eh schon am Boden lag, kamen neue Facetten ans Licht, die man lieber niemals erfahren hätte; die besser im Schatten ihrer selbst geblieben wären. Dort, wo sie keiner sah und wo sie keinen Schaden anrichten konnten.

Unbewusst schüttelte Rick sein Haupt. Er wollte das alles nicht glauben, was sich in seinen Gedanken auftat, und doch glaubte er immer fester daran. Umso mehr er darüber sinnierte, desto bestimmter waren die Bilder, die er vor sich sah. Sie kamen bald schon einem Erlebnis seiner jüngsten Vergangenheit gleich, obwohl er keinerlei Beweise hatte. War es denn grotesk zu glauben, dass der eigene Vater einen Kerl wie Alexandros auf ihn gehetzt hatte, um ihn der Männerliebe abtrünnig zu machen? Um ihm zu zeigen, wie ekelhaft es sein konnte, einen Mann zu küssen oder gar zu befriedigen?

Grell lachte er auf. Die Hysterie, die sich stetig in ihm ausbreitete, war nicht mehr zu überhören. Er vernahm seine eigenen schrillen Laute und doch konnte er sie nicht mehr abstellen. Dazu konnte also ein Mensch fähig sein, wenn man an seiner Weltanschauung rüttelte! Und dass man dabei der eigene Sohn war, spielte wohl keine Rolle. Warum gab es auch Worte wie ’Toleranz’ oder ’Entgegenkommen’, wenn man auch prächtig ohne sie auskam!?
 

Irgendwann verstummte der dunkelhaarige junge Mann und streckte alle viere von sich. Das Handtuch fiel ihm dabei von den Schultern und entblößte ihn vollkommen. Anstatt sich wieder warm zu verpacken – von einem warmen Badezimmer konnte man nicht gerade sprechen -, starrte er nur an sich herab. Seine ganze Erscheinung war erbärmlich, sein ganzes Befinden war beschämend. Hatte er denn wirklich vor, sich einfach mir nichts dir nichts aufzugeben, nur weil er mir nichts dir nichts von Joe getrennt worden war? Irgendwie hatte dieser Gedanke nichts für sich, entbehrte jedweder Attraktivität und jedwedem Glanz; zeugte einfach nicht von starkem Willen oder hartnäckigem Widerstand. Und selbst wenn er von seinem eigenen Vater hintergangen worden war, dann hatte er noch lange nicht das Recht, sich einfach aller Hoffnung zu entziehen und seinem Leben hier und jetzt Adieu zu sagen. Wenn man nicht für die guten Dinge im Leben kämpfte, dann lohnte es sich doch gar nicht erst zu leben. Denn wie könnte man sonst all die positiven Seiten schätzen ohne das Negative erfahren und überstanden zu haben!? Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt und solange noch irgendwo tief in Ricks Innerem ein kleiner Funken glomm, würde er sein Herz weiter schlagen hören wollen!
 

/Joe hatte mit allem Recht, was er gesagt hatte. Ich dachte immer nur daran, wie andere auf mich reagieren könnten, und habe mich dabei selbst außen vor gelassen. Schließlich ist es doch mein Leben und ich entscheide, was ich tue! Solange ich damit zufrieden bin, reicht das! Und außerdem weiß ich, dass Joe hinter mir steht, und das ist doch ein Grund, gegen all das hier anzugehen!

Auch Olivier und dieser Kerl, selbst mein Vater sind nur Menschen und Menschen begehen bekanntermaßen Fehler. Und sobald ihnen einer unterläuft, werde ich präsent sein… und dann werden wir schon sehen, wer am Ende lacht!/

Kapitel 47

Kapitel 47
 

Aufgrund der Tatsache, dass sich Joe mit einer Hand an die Stirn langte, kamen die Bücher auf seinem Unterarm ins Wanken und landeten mit lautem Rumpeln auf dem Boden. Seine Augen starrten den Rücken des Buches an, das er gerade zurück ins Regal gestellt hatte. Silberne Buchstaben prangten ihm entgegen. War darin nicht eine Zeichnung gewesen?

Zugegeben, in dem Werk befanden sich sehr viele ausgefeilte Skizzen und Bilder, aber er dachte da an ein ganz bestimmtes.
 

„Wenn Sie schon vor Unachtsamkeit strotzen, dann könnten Sie sich wenigstens darum bemühen, den Schaden, den Sie angerichtet haben, ein wenig zu mildern!“ Der Mann, der ihn am frühen Morgen in die Bibliothek gelassen hatte, stand mit wütendem Gesicht kaum drei Meter neben ihm.
 

Wie plötzlich aus einem Traum gerissen geworden zu sein blickte Joe ihn an und begriff erst nach und nach, dass sich sein Arm so leicht anfühlte. Dann schweifte sein Blick gen Boden und eine leichte Röte trieb in seine Wangen.
 

„Tut mir leid“, meinte er und begann, die Bücher aufzulesen. „Den Büchern ist nichts passiert, sehen Sie?“ Er hielt sie dem Älteren entgegen und versuchte ihn mit einem netten Lächeln zu besänftigen. Für ihn fühlte sich dieses Lächeln gekünstelt an, aber vielleicht nahm er es ihm ja ab.
 

„Sehen Sie zu, dass Sie sie zurück an ihren rechtmäßigen Ort stellen, und dann verlassen Sie am besten diesen Saal.“
 

Nachdem der andere gegangen war, verdrehte Joe die Augen und tat wie geheißen, doch konnte nicht umhin, das Exemplar, das er immer noch begehrte, wieder aus dem Regal zu entnehmen. Um sicher zu gehen, nicht erwischt zu werden, stahl er sich in die hinterste Ecke des Raumes und begann wild in dem Buch zu blättern. Da er keinen blassen Schimmer hatte, auf welcher Seite die Zeichnung abgebildet war, brauchte er ein bisschen Zeit, bis er sie gefunden hatte. Doch nun sah er sie deutlich vor sich, die feinen schwarzen Linien, die die Umrisse der Innenarchitektur der Kathedrale wiedergaben. Dies allein zog bei Weitem nicht seine Aufmerksamkeit auf sich, sondern das bewerkstelligte etwas anderes: jeder einzelne Winkel war beschriftet; sie trugen zwar lateinische Namen, doch ein paar davon konnte er übersetzen.
 

Aeneus…
 

/Kupfern…/
 

Aurum…
 

/Gold… mhm/
 

Meridies…
 

/Mittag… aber das bedeutet doch auch…/
 

„Süden…“, entkam es ganz leise seiner Kehle.
 

Mit seinem Zeigefinger strich Joe über die Stelle, die die südliche Empore kennzeichnete, und prägte sie sich gut ein. Anschließend stellte er das Buch zurück und verließ umgehend die Bibliothek, nicht dass er am Ende noch Hausverbot bekam. Denn er wusste ja nicht, ob er die Bibliothek noch einmal in Anspruch würde nehmen müssen oder nicht.

Da die Zeit drängte, lief er geradewegs nach Hause. Zwar war es ihm nicht nach weiteren Mahnungen und elterlichen Ratschlägen, wohl eher Vorschriften, zumute, aber er hatte sich in diese beklemmende Lage manövriert, also war er dafür verantwortlich, sich ihr wieder zu entwinden. Bereits als er die Treppen hinaufging, spürte er die unsichtbare Wand, die sich zwischen ihn und Steven stählte. Eine Mauer, genauso unsichtbar wie unüberwindbar.
 

„Tut mir leid, es ging nicht schneller“, meinte er sofort, als er seinen Stiefvater erblickte, und hob entschuldigend die Hand.
 

Sie wechselten wenige Worte und betraten gemeinsam seine Wohnung. Er setzte Wasser auf und bat Steven es sich bequem zu machen.
 

„Wir müssen Ricks Eltern informieren.“
 

Joe hätte beinahe die Tassen fallen lassen, die er eben dem Schrank entnommen hatte, sagte aber nichts. Irgendwie klang damit Ricks Entführung so endgültig und sein Magen schien Purzelbäume zu schlagen, zumindest verbreitete er Unwohlsein.
 

„Die Polizei hat sie zuhause nicht erreicht. Hast du eine Handy-Nummer von Dea oder Damon?“
 

Während er forschende Blicke auf sich spürte, hing er je einen Teebeutel in die Tassen. Die Atmosphäre war deutlich angespannt und Stevens Stimme trug kaum tröstliches in sich, das sonstige Mitgefühl war reiner Förmlichkeit gewichen. Erst wenn sich etwas änderte, merkte man, wie sehr man das vorherige doch gemocht hatte. Joe hatte immer einem einfühlsamen Steven gegenübergestanden und nun vermisste er diese seine Art. Er hatte ihn wohl einfach nicht zu schätzen gewusst.
 

„Können wir die ganze Angelegenheit mal kurz sein lassen?“ Er wandte sich zu Steven um. Eine Weile lang sahen sie sich nur an. Aber dann fuhr Joe fort: „Ich habe mich wie ein Idiot verhalten und dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen. Doch…“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Nein, es gibt kein ’doch’. Ich war ein Dummkopf und es tut mir wirklich leid.“
 

„Hast du nun eine Nummer?“
 

Innerlich sank Joe in sich zusammen und drehte sich um, stützte sich mit beiden Händen an der Arbeitsplatte neben dem Herd ab. Das Wasser in dem kleinen Topf warf bereits Blasen und verteilte nebligen Dampf.
 

/… ich… er… weiß auch nicht…/
 

Wie in Trance nahm er den Topf in die Hand und schenkte das kochende Wasser in die beiden Tassen, das sich daraufhin rötlich verfärbte.
 

„Danke“, ertönte es leise hinter seinem Rücken. Dann spürte er eine starke Hand an seiner Schulter, die alsbald von ihr abließ und stattdessen nach dem Porzellan griff.
 


 

Nachdem sich Rick wieder ein wenig beruhigt hatte, hatte er es endlich geschafft, ein paar Stunden zu schlafen. Als er die Augen wieder aufgeschlagen hatte, hatte die Sonne zwar nur spärlich durch das kleine Fenster geschienen, aber sie hatte es immerhin getan und tat es immer noch. Er war nun mehr als vierundzwanzig Stunden in dieser stupiden Umgebung - das Bad war ein kleiner Lichtblick, die Betonung lag auf klein - und er dachte nun auf dem Sofa sitzend darüber nach, wie er an Informationen kommen könnte. Olivier fiel als eventueller Mittler aus, denn allein seine starren, leblosen Augen waren ein überzeugender Ausschlussgrund. In Frage kam also nur noch Alexandros selbst, denn die dritte Person, die sich in diesem Haus aufhielt, glich mehr einem Schrank als einer redseligen Persönlichkeit. An der Tür schien es wie auf Bestellung zu klopfen. Rick wusste genau, was dies bedeutete. Er hatte sich zum zweiten Mal in seinem Leben irgendwo anzuketten, eine Gegebenheit, die er weder mochte noch auf irgendeine Art und Weise schätzte. Dennoch griff er nach den Handschellen und schloss das eine Ende um sein Handgelenk, das andere um die Querstrebe seiner Sitzgelegenheit.
 

„4 Blätter!“, rief er jeglichen Groll unterdrückend gen Tür, die sich daraufhin knarrend öffnete.
 

Alexandros höchstpersönlich ohne Begleitung von Olivier oder dem Muskelberg trat ein und seine Lippen beherbergten, wie es nicht anders zu erwarten war, dieses überhebliche Grinsen, das ihm anscheinend angeboren war.
 

„Und wie gefällt es dir hier?“
 

Ricks Gegenüber ließ gespielt theatralisch seinen Blick durch den Raum schweifen, nur ihm letztenendes tief in die Augen zu sehen. Obwohl dem Kleineren nicht danach war, in diese kalten Iriden zu sehen, erwiderte er das unnatürliche Starren.
 

„Ich könnte nicht behaupten, jemals besser gewohnt zu haben.“
 

„Dann wird es dir bestimmt nichts ausmachen, ein wenig länger hier zu bleiben.“ Süffisant strich sich Alexandros über den Oberkörper.
 

„Bekomme ich denn nichts zu trinken?“ Mit einem leicht irren Lächeln strich er sich eine Strähne aus der Stirn. Er musste dieses Spiel mitspielen, so lange er konnte!
 

„Erst nachdem ich mir nehmen konnte, was ich begehre, ohne dein Knie zwischen meinen Rippen zu spüren.“
 

Alexandros ging zwei Schritte auf Rick zu und sein Grinsen wurde breiter. Innerlich stöhnte Rick laut auf. Er musste einen Kuss über sich ergehen lassen, um an wichtige Informationen zu gelangen, sonst würde sich sein Gegenüber nie dazu herablassen, mit ihm vielleicht mal ansatzweise vernünftig zu reden. Er musste sich ihm hingeben, zumindest bis zu einem bestimmen Ausmaß, so abartig und widerlich das auch sein mochte!
 

/Da Vater, nun hast du, was du möchtest!/
 

Als Zeichen dafür, nicht erneut zu treten, setzte er sich aufrecht hin und versuchte inständig, seinen Blick sanft erscheinen zu lassen. Und wie es wohl kommen musste, überbrückte dieser Kerl in dramatischer Langsamkeit die restliche Distanz zwischen ihnen beiden und schon fühlte Rick seine Lippen, die dieses Mal aber nicht gleich wieder ablassen zu wollen schienen. Alexandros forderte mehr als nur eine harmlose Berührung ihrer Münder, er wollte tiefer dringen. Die leicht raue Zunge begehrte unablässig um Einlass und irgendwann musste der Jüngere nachgeben. Mit ausgeschaltetem Herzen ließ er die Zunge des anderen in seinem Mund kreisen. Es widerte ihn in der Tat einfach nur an, doch was konnte er schon dagegen tun? Sich vorstellen, dass er gerade Joe küsste? Das wäre eindeutig krank! So hilfreich das vielleicht wäre, er könnte das niemals tun. Lieber legte er während dieser endlosen Sekunden oder Minuten den Schalter für seine Emotionen auf Stillstand, ein Unternehmen, das er während der ersten Wochen nach seinem Outing gelernt hatte, aber nie gerne in Anspruch nahm.
 

„Du schmeckst wie immer göttlich.“
 

/Ganz im Gegensatz zu dir… Wie ich dich verabscheue!/
 

Nach einem weiteren, dafür aber sehr kurzen Kuss, verließ Alexandros für einen Augenblick den Raum und kehrte mit einem Tablett wieder.
 

„Heute ein kleines Festmahl, schließlich möchte ich kein Skelett unter meinen Fingern spüren.“
 

/Wie ich dieses selbstgefällige Grinsen verachte!/
 

„Seit wann kennen Sie Richard Serrat?“, fragte Rick beiläufig, während er das Essen überinteressiert inspizierte. Rein aus seinen Augenwinkeln heraus versuchte er abzuwägen, wie seine Worte bei Alexandros ankamen.
 

/Sehe ich tatsächlich ein Hauch von Erstaunen in deinem Blick?/
 

Dass das unterstrich, dass er in seiner Vermutung wohl Recht gehabt hatte, kümmerte ihn in diesem Moment nicht. Für Sorgen und trübe Gedanken hatte er später noch ausreichend Zeit.

Mit einem anerkennenden Pfeifen ließ sich Alexandros neben Rick nieder, nur das Tablett befand sich zwischen ihnen. Eine Hand von ihm landete auf der Sofalehne, mit der anderen öffnete er den obersten Knopf seines weißen Hemdes.
 

„Grob geschätzt zehn Jahre.“
 

/Zehn Jahre? War der Freund meines Vaters schon damals in solche Machenschaften verstrickt?/
 

Bemüht versuchte Rick seine Schockiertheit zu überspielen und zwar indem er nach ein paar Weintrauben griff und sie sich in den Mund stopfte. Etwaigen konnte ihm das Kauen über diese Nachricht hinweghelfen, ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr ihn das traf. Emotionen konnte man eben nicht auf lange Zeit auf ’aus’ schalten, zumindest vermochte er das nicht.
 

„Er hat früher ebenfalls in Luminis gewohnt, aber das dürfte Ihnen ja bekannt sein.“
 

/Bleib ruhig, Rick. Überhaste nichts!/
 

„Gewiss.“ Mit seiner Linken strich Alexandros ihm über die Wange.
 

/Müssen sich meine Nackenhärchen aufstellen? Das bestärkt diesen Kerl doch nur noch mehr! ich muss mich unter Kontrolle halten… irgendwie!/
 

„Du gleichst ja fast schon wieder dem scheuen Rehkitz aus dem Supermarkt. Wo ist denn deine Bissigkeit geblieben?“
 

Spott.
 

Purer Hohn.
 

Aber auch ein klein wenig Enttäuschung.
 

/Die kannst du haben!/
 

„Dann wissen Sie sicher auch, dass er ein Bekannter meines Vaters war!“ Ricks blaue Iriden funkelten.
 

„Wieso ’war’?“
 

Kalt wurde er von seinem Gegenüber angelächelt.
 

„Dass du sofort auf den ersten Hinweis reagierst, hätte ich nicht erwartet“, fuhr Alexandros gelassen fort. „Aber das macht die ganze Sache viel interessanter. Selbst Damon wettete dagegen.“
 

Rick schluckte. Nun konnte er seine Gefühle partout nicht mehr verbergen. Sein Vater war wirklich involviert und wohl der Drahtzieher des Ganzen! Und obendrein ließ er Wetten laufen!?

Das war doch mehr als nur ein Quäntchen zu viel für den Dunkelhaarigen. Er stand auf, doch vergaß dabei völlig, dass er ja noch immer angekettet war und fiel folgenschwer zurück aufs Sofa, denn es tat verflucht weh, als er mit seinem gesamten Gewicht auf seiner Hand, um der die Handschellen lagen, landete. Ungewollt schrie er auf und erntete dazu boshaftes Gelächter. Zornig sah er den Älteren an und wünschte sich noch im selben Augenblick, dies nicht getan zu haben. Er wurde von einem starken Arm gepackt und an einen heißen Körper gedrückt, spürte Lippen an seinem Hals und Finger an seinem Rücken hinabfahren. Das sollte aufhören!... Endlich aufhören!
 

Aber sein innigster Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Die Finger arbeiteten sich zu seiner Hand vor und umschlossen sie.
 

„Hat sich das kleine Reh weh getan?“, hauchte eine raue Stimme diabolisch in sein Ohr.
 

„Sehr witzig“, gab Rick halbherzig zurück.
 

„Ohne Humor wäre das Leben langweilig, findest du nicht auch?“
 

Der warme Atem an seinem Hals reizte Rick nur noch mehr. „Vorausgesetzt, man hat dieselbe Auffassung von Humor!“
 

„Wenn ich dich schon nicht zum Lachen bringen kann, dann ja vielleicht zum Stöhnen.“
 

Alexandros Hand glitt wieder Ricks Rücken auf und ab und mit seinen Lippen benetzte er dessen eines Schlüsselbein.
 

„Dazu ist nur einer in der Lage und das sind gewiss nicht Sie!“ Unter dieser fürchterlichen Nähe klopfte sein Herz wild, aber keineswegs vor Erregung. Seine Kehle fühlte sich ganz trocken an, weshalb er sich krächzen hörte, wofür er sich heimlich verdammte.
 

„Nun“, der Größere richtete sich auf, „irgendwann wirst du schon vor Lust unter meinen Händen stöhnen.“
 

Alexandros ließ einen benommenen jungen Mann zurück, der neben einem Tablett voller Leckereien auf dem Sofa hing und in die Luft starrte.
 

Als Rick wieder allein war, schossen ihm tausend Gedanken durch den Kopf und kein einziger davon ließ sich recht fassen. Wirre Bilder, unkontrollierbare Emotionen, Erinnerungen einem Chaos gleich.

Sich gegen diesen Mann aufzulehnen kostete Kraft und nach jedem Zusammentreffen fühlte er sich völlig erschlagen. Anfangs waren es nur diese befremdeten, widerwärtigen Lippen gewesen, doch nun waren es eher die Worte, die ihm das Mark in den Knochen gefrieren ließen.

Konnte er es verkraften, dass sein Vater scheinbar hinter allem stand?
 


 

Mit großen Schritten eilte Joe zur Kathedrale. Er hatte sich viel länger in seiner Wohnung aufgehalten, als ihm lieb gewesen war, doch die Tatsache, sich mit Steven ausgesprochen zu haben, verzieh ihm das. Steven war wirklich ein guter Mensch und er konnte froh sein, ihn als Stiefvater bekommen zu haben und nicht solch einen arroganten Kerl, der gerade Rick in seinen Fängen hielt. Schon allein der Gedanke an Rick zerriss ihm das Herz, denn er hatte keine Ahnung, wie es ihm erging. In welchem Loch man ihn gefangen hielt oder was man ihm bereits alles angetan hatte oder noch tun würde. Darum musste er sich beeilen. Er musste alles auf eine Karte setzen und dieses verdammte Rätsel lösen. Natürlich hoffte er inständig, dass er keinem Phantom nachjagte, aber irgendeine Bewandtnis musste dieser Hinweis ja haben. Spiele wurden oft gespielt, und auch wenn dieses eines war, er würde als Sieger enden. Er musste als Sieger enden! Er konnte Rick nicht verlieren!

Endlich erstreckte sich die Kirche vor ihm. Hoch ragte ihr Turm in den Himmel und schien die Wolken zu berühren, die in einer gewissen Unstete über ihr entlang zogen. Es war bereits Nachmittag und daher nicht verwunderlich, dass sich viele Menschen an diesem Ort tummelten. Insbesondere Touristen hielten sich hier auf und die verschiedensten Sprachen drangen an Joes Ohren. Aber er drängte sich ein wenig unhöflich zwischen den ganzen Gruppen hindurch, ihm stand gerade nicht der Kopf nach Höflichkeiten oder gesittetem Benehmen. Solange er seine Ellenbogen nicht ausfuhr, würde er schon keine Faust in seinem Gesicht spüren. Mitten in der Kathedrale blieb er abrupt stehen und versuchte sich zu orientieren. Er hatte die Zeichnung genau vor Augen und konnte diese problemlos übertragen. Zielgerichtet lief er zur südlichen Empore. Galant streckte sie ihre Arme über seinen Kopf hinweg.

Jetzt musste er nur noch herausfinden, was es mit “4 Blätter“ auf sich hatte. Schließlich waren dies die einzigen zwei Worte, die er noch in den Kontext zu fügen hatte. Aber was bedeuteten sie? Schon auf den zweiten Blick auf die Empore konnte er Verzierungen oder dergleichen ausschließen, denn zum einen war an ihnen gespart worden, zum anderen zeichneten sich keine Blätter in Form von Blumenblättern oder anderen Gewächsen in dem harten Gestein ab. Doch was konnte es sonst mit den Begriffen auf sich haben? Eine Zahl und ein Wort.

Er dachte lange nach. Stand festen Blickes und mit einer Hand am Kinn da, die Augen unentwegt nach oben gerichtet.
 

Vier…
 

Es gab nichts, was sich viermal wiederholte. Kein Merkmal, das genau viermal auftauchte.
 

Allmählich wurde er unruhig.
 

Er fand partout keinen Zusammenhang; aber es musste ihn doch geben. Irgendwo.
 

/Okay, noch einmal von vorn/, versuchte er sich selbst zu besänftigen. /Die Kathedrale ist der Ort, über deren Spitze die Sonne niemals ragt. Meridies steht für Süden und ich stehe genau an der Stelle, auf die das Wort hinwies. Eine Ziffer und ein Wort…/
 

Laut stieß er seinen Atem aus. Das konnte nicht wahr sein! Nun war er so weit gekommen, nur um festzustellen, dass es überhaupt keine Parallelen gab? Keinen Sinn hinter den weißen Lettern auf dem schwarzen Papier?

Das wollte und konnte er nicht wahrhaben.

Um nicht unbedacht zu werden, begann er, eine Runde in der Kirche zu drehen und sich dabei den Rest der Verzierungen und Kunstwerke einzuverleiben. Vielleicht gab es ja doch irgendetwas, was eine Verbindung herstellen konnte. Während er einen Fuß vor den anderen setzte, stieg die Nervosität in ihm jedoch. Die Stimmen der anderen Besucher schienen tausendmal lauter in seinem Kopf nachzuhallen, als sie in Wirklichkeit waren. Mit der Zeit wuchs in ihm eine Aversion gegen so viele Menschen in einem Raum. Das Kirchenschiff mochte groß sein, die Halle hoch, dennoch verloren sich die Personen nicht in der Weite, stapelten sich vielmehr auf engstem Raum. Bevor er noch in den Wahnsinn getrieben wurde, lief er zurück zur südlichen Empore. Irgendetwas musste es doch geben! Ein winziges Detail, das er übersehen haben musste.

Wenige Meter davor blieb er allerdings so schlagartig stehen, dass er beinahe aufgrund der Trägheit vornüber gekippt wäre. Nun näherte er sich wie in Trance der Stelle, wo etwas hing, was vor ein paar Minuten noch nicht gegenwärtig gewesen war. Immer mehr bekam er das Gefühl, dass mit ihm gespielt wurde und der schwarze Zettel, der unterhalb der Empore in einer Ecke hing, war wohl Beweis genug…
 

Die weißen Buchstaben lösten in seinen Augen förmlich Schmerz aus. Sie wirkten dermaßen grell in dem eher matten Licht der Kirche, dass sie doch auch anderen aufgefallen sein mussten. Aber warum tummelten sich hier keine anderen Personen?

Plötzlich wirbelte Joe herum. Er musste beobachtet worden sein. Beschattet! Warum war ihm keiner aufgefallen? Hätte er das nicht merken müssen?

Konzentriert ließ er seine Augen schweifen, doch in dem Tumult war es wirklich schwer, verdächtige Personen auszumachen. Es hätte keiner und jeder von den Anwesenden sein können. Resigniert, aber achtsam drehte er sich wieder um.

Da hatte er die Korrelation.

Kapitel 48

Kapitel 48
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 4 Blätter ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Westen ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Blühender Neuanfang! ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Wie oft wollte Joe die Worte noch lesen? Sie ergaben ja noch weniger Sinn als die vorherigen. Das konnte alles nicht wahr sein. Während er vor ein neues Problem gestellt wurde, wurde er zum einen heimlich beschattet, zum anderen schmorte Rick vermutlich in der schlimmsten Hölle. Am liebsten hätte er hier und jetzt den Zettel in seinen Händen zerrissen, doch damit würde er Beweismaterial zerstören. Er musste ihn zur Polizei bringen. Während er ihn mit einem Taschentuch um seine Finger festhielt, fragte er die Touristen nach einer Plastiktüte. Zwar erntete er misstrauische und fragwürdige Blicke, doch über sie konnte er guten Gewissens hinwegsehen. Und glücklicherweise stieß er auf eine ältere Frau, die ihm mit einem freundlichen Grinsen einen kleinen Beutel entgegenstreckte. Mit einem Kuss auf die Wange bedankte sich Joe dafür, was er unter normalen Umständen nicht getan hätte und ihm gerade auch nicht bewusst war.

Während er zur Wache lief, benachrichtigte er Steven, der sofort hinzu stoßen wollte. Die ganze Entführung wurde immer heikler. Und auch wenn er sich eigentlich aus allem heraushalten sollte, ab diesem Moment würde er es sowieso nicht mehr beherzigen. Es ging hier um ihn und um Rick und das war offensichtlich. Das einzig offensichtliche.
 

„Und? Haben Sie was gefunden?“
 

Erwartungsvoll richtete sich Joe auf und lief dem Polizisten entgegen, der gerade aus einer Tür, die zu den Laboren führte, kam. Doch schon an der Mimik konnte er erkennen, dass Ricks Entführer erneut keine Spuren hinterlassen hatten.

Mürbe fiel er zurück auf einen der Stühle, die an der Wand standen.
 

„Die Täter sind sehr sorgfältig und wissen anscheinend, was sie tun.“
 

Steven übernahm die Unterhaltung mit dem Polizisten, denn Joe wäre dazu eh nicht in der Lage gewesen. In Gedanken verweilte er bei Rick. Mit dem Kopf auf eine Hand gestützt dachte er nach. Er war so weit gekommen, da würde er das zweite Rätsel wohl auch noch lösen können? Leider schwante ihm aber etwas, was er lieber nicht wahrhaben wollte.
 

“4 Blätter“
 

Zwei hatte er bereits in den Händen gehalten.
 

/Ich stecke fest, Rick, und du verlässt dich sicher auf mich. Wie oft habe ich dir bereits beistehen können? Warum bin ich dieses Mal nicht dazu in der Lage?

Diese ganze Sache mit den Rätseln macht mich krank. Du warst von uns beiden immer derjenige, der gerne irgendwelchen Spuren nachging und sich dafür auch noch begeistern konnte. Aber mir liegt das einfach nicht.

Und nun schwirren mir die nächsten wirren Worte im Kopf herum. Was bedeuten sie denn nur? Wie kann ich dich zurückholen?

Wie?/
 

Abwesend wippte er mit dem Fuß immer und immer wieder gegen das Stuhlbein, was einen dumpfen Laut erzeugte. Die Stimmen von Steven und dem Polizisten drangen nur vage an seine Ohren. Er hörte ihnen nicht zu; das konnte er nicht.

Er musste schleunigst den Sinn der weißen Lettern verstehen. Dazu hatte man ihn doch auserkoren, oder nicht?
 

/Warum ausgerechnet mich? Wenn ich versage, dann könnte ich mir das niemals vergeben…/
 

„Joe?“
 

Als sein Name mindestens zum vierten Mal wiederholt wurde, sah er endlich auf.
 

„Könnten Sie bitte einen Moment mit mir kommen?“, fragte der groß gewachsene, uniformierte Mann zwar freundlich, aber mit gewisser Routine.
 

Joe warf einen Blick auf seinen Stiefvater, doch der deutete ihm lediglich an, zu tun, was von ihm verlangt wurde. Ein wenig unsicher lief er hinter dem Polizisten her und fand sich alsbald in einem Raum wieder, der ihm überhaupt nicht zusagte. Er stand gerade tatsächlich in einem der Verhörräume!

Was sollte das?

Gerade als er nach dem warum fragen wollte, vernahm er eine tiefe Stimme:
 

„Setzen Sie sich bitte einen Augenblick. Keine Sorge, Sie haben nichts zu befürchten.“
 

Als Joe auf die Stelle blickte, woher die Laute gekommen waren, sah er auf einen stattlichen Mann in schwarzem Anzug.
 

„Darf ich mich vorstellen?“, lächelte dieser. „Richard Serrat. Sehr angenehm.“
 

„Joe Yera.“
 

Sie gaben sich die Hand. Obgleich der Inspektor, wie Joe sofort in Erfahrung bringen konnte, einen sympathischen Eindruck vermittelte, barg er ein gesundes Maß Misstrauen ihm gegenüber in sich. Irgendwas stimmte an dieser Situation nicht, aber er konnte nicht einmal im Entferntesten definieren was.
 

„Ich habe mich dazu bereit erklärt, diesen Fall zu übernehmen und würde mit Ihnen gerne eine Abmachung treffen. Natürlich weiß ich, dass ich gleich viel von Ihnen verlangen werde, doch Sie sollten sich erst einmal anhören, was ich vorzuschlagen habe.“
 

Abwägend blickte Joe um sich. In einer Ecke stand der Polizist, der ihn hierher gebracht hatte, ansonsten war der Raum kahl und leer. Ein blanker Tisch mit zwei Holzstühlen, auf denen sie saßen. Jetzt wusste er, wie sich Verbrecher fühlen mussten, wenn sie in die Mangel genommen wurden. Aber er hatte sich nicht strafbar gemacht, also was sollte er hier? Was wollte der Inspektor von ihm?
 


 

Als sich Rick endlich wieder ein wenig gefasst hatte, sah er den silbernen Schlüssel neben dem Tablett blitzen. Alexandros war anscheinend noch berechnender, als er angenommen hatte. Er fühlte sich richtiggehend leer. Man hatte ihm bestätigt, dass sein eigener Vater in seine derzeitige Lage involviert war.
 

Serrat.
 

Dass ein Familienvater derart grausam sein konnte! Ein hochrangiger Polizist, der schmierige Machenschaften mit einem gefühlskalten Kerl wie Alexandros einging? Und darüber hinaus mit dem Sohn seines guten Freundes spielte?
 

/Selbst wenn sich Serrat als korrupter Mensch entpuppt, weshalb aber mein Vater? Wie kann er mich in solch eine Situation manövrieren? Habe ich denn nicht schon genug gelitten, als er mich seines Hauses verstieß? Als er mir sagte, dass ich nicht mehr sein Sohn sei?

Nein, ich möchte diese alten Wunden nicht schon wieder durchleben müssen, aber dieses Loch in meinem Herzen weitet sich immer weiter aus und verschluckt all die schönen Erlebnisse, die ich mir immer bewahrt hatte. Joe… bitte komm und rette mich!/
 

Mit ausdrucksloser Mimik schloss er die Handschellen auf und rieb sich anschließend das Handgelenk. Eine rote Spur zeichnete sich deutlich auf ihr ab und zeugte von seiner unbedachten Aktion, abrupt aufgesprungen zu sein. Während er sich abwesend durch die Haare fuhr, schob er den Schlüssel unter der Tür durch und setzte sich dann wieder zurück aufs Sofa. Mit in Falten gelegter Stirn sah er auf das Essen, das von satten Farben und Gerüchen geprägt war. Eigentlich verspürte er absolut keinen Hunger mehr; der war ihm gründlich genommen worden. Was hatte er sich auch nur dabei gedacht, sich gegen diesen Widerling aufzulehnen? Dazu war er doch gar nicht mal in der Position! Er war der Gefangene, der keine Möglichkeit für Verhandlungen oder dergleichen hatte. Aber…

Er wollte nicht kleinbeigeben! Wie lange hatte er auf Joe warten müssen? Und nun war er sich seiner Liebe gewiss, da durfte er einfach nicht aufgeben. Auch wenn sein Herz noch in tausend Stücke zerrissen werden würde, er würde bis zum bitteren Ende kämpfen. Er wollte ein letztes Mal Joes keckes Grinsen sehen…

Lethargisch griff er nach der Schale mit dem Obst.
 

/Die Natur kennt ebenso den Schaden, den Menschen anrichten können. Sie hat es ebenso satt, sich immer wieder von Neuem regenerieren zu müssen und ich verstehe sie vollkommen. Irgendwann fehlt einem einfach die Kraft, sich immer wieder aufzurappeln und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Aber ist ein Blick in die Zukunft denn so viel besser?

Ich sollte mir einfach vorstellen, Joe dort zu sehen. Joe und nichts als Joe!
 

Von meiner eigenen Familie verraten und verkauft… Darum sollte ich nur noch den Menschen sehen, der immer zu mir stand…/
 

Er entnahm der Schale einen Apfel und biss hinein. Die Süße war das reinste Paradoxon zu seinem Befinden.

Aber er aß. Obwohl ihm überhaupt nicht danach war, biss er, würgte er das Essen hinunter und fühlte es grob seine Speiseröhre hinunter gleiten.
 

Es klopfte zweimal und Rick verdrehte die Augen. Warum belästigte man ihn schon wieder? Konnte man ihn nicht einfach mal in Ruhe lassen? Wollte dieser Kerl schon wieder seine Lippen unter den Seinigen begraben? War der denn unersättlich?

Mürrisch streifte er sich die Handschellen wieder über die wunde Stelle und biss dabei die Zähne zusammen.
 

„4 Blätter“, presste er hervor.
 

Man sollte ihn doch einfach nur in Ruhe lassen!
 

Doch anstelle von Alexandros erschien Olivier, der ein paar frische Handtücher auf seinem Arm liegen hatte. Kalt sah er auf Rick.
 

„Solch niedere Arbeiten wirst du mir irgendwann büßen“, meinte jener, als er die Handtücher ins Bad brachte und die benutzten an ihrer Stelle mitnahm.
 

Mit einem ungeschmeidigen Gang verließ er das Zimmer wieder.
 

„Hey! Der Schlüssel!“, schrie ihm Rick hinterher.
 

Die Tür ging noch mal auf und Olivier streckte seinen Kopf durch den Spalt, woraufhin eine Hand folgte, die das silberne Metall in seine Richtung warf.
 

„Jetzt werden wir ja sehen, wer von uns beiden erniedrigter ist.“
 

Bevor Rick irgendwas sagen konnte, hatte Olivier die Tür bereits wieder zugezogen. Hinterhältig funkelte der Schlüssel in der Mitte des Raumes.
 

„Danke!“, seufzte der Dunkelhaarige unerfreut.
 

Wie kam er nun an den Schlüssel heran?
 

/Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte…/
 

Als er auf seine Hand sah, um die die Schellen gelegt waren, seufzte er erneut. Er wollte nicht wie ein Irrer ans Bett gefesselt sein. Allein schon der Gedanke ließ sein Herz schneller schlagen. Er musste zusehen, an den Schlüssel zu kommen, sonst würde er an den Rand des Wahnsinns getrieben werden, dessen war er sich sicher.

Hastig glitt er vom Sofa, zumindest so weit, wie es seine Lage zuließ. Er machte sich so lange wie er nur konnte. Mit seinem rechten Fuß versuchte er an das silberne Metall zu gelangen. Als er nicht herankam, haute er sich an die Stirn. Das Sofa war doch sicherlich nicht so schwer, als dass er es nicht rücken könnte. Er umgriff eine Seite, die, an der er gekettet war, und zog an ihr. Wie er es vermutet hatte, ließ sich das Mobiliar bewegen.

Und wenig später schob er den Schlüssel bereits wieder unter der Tür durch. Olivier mochte gedacht haben, er würde verzweifeln, doch damit hatte er sich gewaltig getäuscht. Vielleicht mochte er kurz davor gewesen sein, doch solange seine Gehirnzellen noch arbeiteten und nicht vor lauter negativen Gedanken erlahmt waren, würde er weiter machen. Koste es, was es wolle.
 

In vergangener Harmonie die stete Ruhe…
 

Vergiss den Klang trauter Worte,

die dich einst sanft betteten.
 

Vergiss die Lichtlein zum Weihnachtstage,

die Jahr für Jahr warm schimmerten.
 

In alter Manier das Glück in Händen…
 

Vergiss den wahren Sünder

von Finsternis umwoben.
 

Vergiss deinen Vater,

der dich betrogen…?
 


 

Zweifelnd blickte Joe den Inspektor an.
 

„Ich soll einen Peilsender mit mir herumtragen?“
 

Serrat nickte.
 

/Man verlangt von mir, dass ich mich auf Schritt und Tritt verfolgen lasse!?...

Irgendwas stimmt hier nicht, sonst hätte man zum einen Steven hieran teilhaben lassen, zum anderen würde mir dieser Vorschlag nicht dermaßen absurd vorkommen. Seit wann dürfen Beteiligte an den Ermittlungen teilnehmen?

Hier stimmt gewaltig was nicht. Aber wie finde ich es heraus? Soll ich zustimmen und auf diesem Wege herausfinden, was das für ein Spiel ist?

Oder halluziniere ich und ich bilde mir nur ein, dass der Polizist in der Ecke höhnisch blickt?/
 

Heimlich beobachtete Joe seine Umgebung. Serrat mochte den aufrichtigen Inspektor mimen, aber allein die Tatsache, in diesen Raum beordert worden zu sein, ließ den Blonden stutzen. Das ging doch nicht mit rechten Mitteln vor sich, oder?

Warum saß er überhaupt in einem Verhörungszimmer? Sollte er sich nicht stattdessen Gedanken machen, was es mit dem zweiten Rätsel auf sich hatte?

Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und warf dabei kurz seinen Kopf in den Nacken. Damit verschaffte er sich für einen kleinen Moment einen direkten Blick auf den Mann in der Ecke. Und das, war er dabei bemerkte, bestätigte seine Zweifel.

Aber wenn er nun ablehnte, würden die beiden anderen wahrnehmen, dass er gemerkt hatte, dass etwas faul war.
 

„Gut, einverstanden. Dann geben Sie ihn mir und ich werde ihn in meiner Tasche verstauen. So können Sie nachvollziehen, wo ich mich aufhalte und wo Ricks Entführer womöglich das nächste Mal auftauchen werden.“
 

Er durfte sich nichts anmerken lassen, darum bemühte er sich um eine ruhige Stimmlage. Er mochte noch jung sein, zumindest in den Augen dieses in die Jahre gekommenen Mannes, aber er war nicht dumm und konnte Eins und Eins zusammen zählen. Aber was wollten sie mit ihrem Peilsender erreichen, wenn sie damit vermutlich nicht einmal die Absicht verfolgten, die Täter aufzuspüren?

Aber vielleicht wollte er nur die Hilfsbereitschaft dieser rechtschaffenen Polizisten nicht sehen?

Wenn er nicht so verdammt müde wäre, könnte er vielleicht klar denken. Vermutlich machte er sich doch einfach zu viele Sorgen. Schließlich taten diese Männer auch nur ihren Job. Und vielleicht halluzinierte er ja tatsächlich.

Das einzige, was er gerade wusste, war, dass er Schlaf bitter nötig hatte. Darum ließ er sich noch in das restliche Vorhaben einweisen, bevor er endlich aufstehen und gehen durfte.
 

Auf dem Weg zu Steven wurde er den Gedanken an zwei Worte nicht los: „Blühender Neuanfang!“

Was mochten sie bedeuten?
 

Nach gut einer halben Stunde lag er endlich in seinem Bett. Alles schwirrte. Joe fühlte sich benommen und erschöpft. Und obwohl er sich lieber weiter um das Rätsel um Rick gekümmert hätte, gab er sich der Schwere hin, die schon in all seinen Gliedern steckte. Die Dunkelheit war in diesen Momentan einfach viel zu verlockend, als dass er sich ihr hätte entwinden können.
 

Während er schlief, wälzte er sich unstet hin und her. Schweißperlen bedeckten seine erhitzte Haut, die sich eher völlig erkaltet anfühlte, als er seine Augen aufriss. Er warf einen Blick auf die Uhr und schalt sich sofort dafür, dass er länger in seinem Bett verweilt hatte als unbedingt nötig. Obwohl ihn schreckliche Szenen gequält hatten, hatte er ganze neun Stunden geschlafen; auch wenn er sich nicht danach fühlte. Eigentlich kam es ihm eher so vor, weitere zwei Tage pausenlos auf den Beinen gewesen zu sein.

Um sich ein wenig zu beruhigen, ging er geradewegs ins Bad und dort unter die Dusche. Er wollte neben dem Schweiß all die furchtbaren Bilder wegwaschen, die sich in ihm aufgetan hatten. Er konnte keinen Gedanken ertragen, der davon zeugte, Rick auf immer verloren zu haben.
 

/Ich muss so schnell wir nur irgend möglich herausfinden.. autsch… wo sie dich festhalten. Wenn ich nur wüsste, was es mit diesem Inspektor und diesem komischen Peilsender auf sich hat. Umso mehr ich darüber nachdenke, umso unwahrscheinlicher ist es, dass sie Gutes im Schilde führen. Die ganze Situation war doch mehr als nur suspekt! Aber was wollen sie von uns? Sage mir, was?... Rick, ich will dich zurück!... Weißt du mehr? Weißt du, warum sie dich entführt haben? Falls ja, warum… hast du mir dann nichts gesagt, als du noch konntest?... Weißt du etwa doch, wer dieser Kerl aus dem Supermarkt war?.../
 

Mit stechenden Kopfschmerzen zog sich Joe was Frisches an und ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Steven schien noch zu schlafen, weshalb er sich so leise wie möglich verhielt. Doch der Kummer nagte allmählich an ihm. So sehr er sich vor solchen Gefühlen viele Jahre gefeit hatte, nun stürmten sie überhäuft auf ihn ein. Und als er sich eine Hand auf die Stirn legte, sah er eines der Bilder vor sich, das er partout nicht sehen wollte. Es klirrte. Die Tasse, die er eben aus dem Schrank geholt hatte zerbrach in tausend Scherben.
 

Er hatte in der Nacht Rick begraben! Alles hämmerte. Sein Kopf, seine Brust, insbesondere sein Herz…

Kapitel 49

Kapitel 49
 

Steven gegenübersitzend grübelte Joe nach. Irgendein Geistesblitz musste doch mal einschlagen. ’Blühend’ stand gewiss für Blumen oder Bäume, die beginnen, ihre Blütezeit zu erreichen; deshalb auch das Wort ’Neuanfang’. So weit waren sie durch ihre Diskussion bereits gekommen, aber weshalb ’Westen’?
 

„Gibt es hier einen Park?“
 

„Ja, nicht weit von hier. Vielleicht zehn Minuten zu Fuß.“
 

„In welcher Himmelsrichtung liegt er von hier aus gesehen?“
 

Joe überlegte einen Moment. „Süden.“
 

„Fällt dir sonst noch ein großer Garten oder ein Park ein?“
 

„Nein.“
 

„Mh, wenn du im Erdgeschoss wohnen würdest, hätte ich auf deine Person selbst getippt und nicht auf irgendeine öffentliche Einrichtung… Aber magst du mir nicht endlich verraten, was Serrat genau von dir wollte?“
 

„Ich soll mir hinterher spionieren lassen“, tat Joe diese Frage schulterzuckend ab. Er wollte nicht darüber reden. Zu tief steckten noch das Misstrauen und die Schatten seines Traumes in ihm.
 

„Also doch. Reez hatte irgendeine Andeutung gemacht, bevor er mit dir weggegangen ist.“
 

„Gibst du mir eine ehrliche Antwort?“
 

„Auf was?“
 

„War er vertrauensselig?“
 

„Wer?“
 

„Der Polizist.“
 

Mit großen Augen sah Steven ihn an. „Was willst du damit andeuten?“
 

„Vergiss’ es einfach.“
 

Ruckartig stand Joe auf und lief aus dem Zimmer. Vielleicht hatte er ja doch Halluzinationen, auch wenn das sein Geist und sein Herz nicht hinnehmen wollten.
 

„Warte doch mal.“
 

Eine starke Hand hielt Joe davon zurück, blindlings aus der Wohnung zu stürmen.
 

„Erkläre mir bitte, was du mir damit sagen wolltest.“
 

„Wie denn, wenn ich es mir selbst nicht erklären kann? Die beiden, also Reez und Serrat, haben auf mich den Eindruck verübt, nicht integer zu sein. Warum, weshalb, wieso kann ich kaum in Worte fassen.“ Joe war mit einem Mal total aufgebracht. Er spürte förmlich das Blut in ihm kochen. „Seit wann lässt man denn Betroffene mit einem Sender durch die Gegend laufen und benutzt sie als Mittel zum Zweck? Irgendwas stimmt da einfach nicht!“
 

„Beruhige dich und komm’ mit mir zurück in die Küche.“
 

Fertig mit sich und der Welt lief Joe seinem Vater hinterher.
 

„Du meinst, sie führen was im Schilde? Aber du weißt schon, dass du hier von Polizeibeamten sprichst?“
 

„Noch nie was von Korruption gehört?“, entgegnete Joe.
 

„Mh, würde das denn nicht einiges erklären?“
 

Entgeistert, aber neugierig sah der Blonde ihn an. Wartete darauf, was nun kommen würde.
 

„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, weshalb man dir die Hinweise zukommen lässt?“
 

„Weil ich mit Rick zusammen bin und dieser Kerl das nicht abhaben kann!?“
 

„Ich glaube, dieser Mann hat mehr Einfluss als uns lieb zu sein scheint. Aber bevor ich diese meine These unterschreibe, möchte ich von dir genau hören, was dich auf diese Idee brachte.“
 

Steven kräuselte mit zunehmendem Redefluss seitens Joes die Stirn. Als dieser verstummte, hing die Stille schwer im Raum. Man konnte den seichten Regen hören, der draußen fiel und die Erde mit einer glänzenden Schicht überzog. Minutenlang schwiegen sie sich an und hingen wohl jeweils ihren eigenen Gedanken nach, die sich im Endeffekt aber um das gleiche drehten. Nach einer schieren Endlichkeit erhob sich Steven und setzte neues Wasser auf.
 

„Auch wenn mir das nicht gefällt, vielleicht hast du Recht. Ich war zwar nicht dabei, aber von einem einwandfreien Vorgehen kann man hier wirklich nicht sprechen.“
 

Erneute Stille, die sich an den Wänden brach. Joe ließ einen kleinen Löffel unentwegt um seine Hand kreisen, heftete währenddessen seine Blicke stur auf den Tisch, an dem er saß.
 

„Was hast du nun vor?“
 

Joe seufzte. „Nunja, ich werde auf ihr Spiel eingehen, mir bleibt wohl keine andere Wahl… Aber möchtest du mir damit sagen, dass ich mir das wirklich nicht nur eingebildet habe?“

Er musste sich versichern, denn so ganz wollte ihm dieser Gedanke nicht aus dem Kopf gehen.
 

„Das kann ich dir nicht bestätigen. Ich kann dir nur raten, vorsichtig zu sein und die Augen offen zu halten. Tut mir leid.“
 

„Das braucht dir nicht leid zu tun… Ich werde alles tun, um Rick zurückzuholen, verlass dich drauf!“
 

„Gut, das möchte ich hören. Dann lass uns herausfinden, welcher Park gemeint ist.“
 

„Sind wir uns eigentlich sicher, dass wir nach einem Park suchen müssen?“

Mittlerweile bezweifelte Joe das, aber einen besseren Vorschlag konnte er noch nicht vorbringen. Obwohl…

„Vielleicht weist der Neuanfang ja wieder auf ein Gebäude hin. Ich meine, die Kathedrale wurde auch zerstört und wieder errichtet. Und das Wort ’blühend’ steht für ’besser, grandioser, gewaltiger’? Verdammt! Das kann doch mal wieder alles oder nichts sein!“

Joe sank fast zu Boden und legte sich einen Arm über die Augen. Er hatte keine Lust, wild in der Gegend herumzurätseln. Das lag ihm einfach nicht.
 

„Wir sollten nicht die Nerven verlieren.“
 

„Das sagt sich so einfach“, stöhnte der Jüngere.
 

„Hatte die Kathedrale eigentlich etwas mit dir und Rick zu tun?“
 

Für einen Moment setzte Joes Herzschlag aus. Wollte Steven damit andeuten, dass die Orte, auf die die Rätsel hinwiesen, eine Verbindung mit ihnen selbst hatten?
 

/Wir redeten über die Kirche, als wir im ’Veritatis lux’ saßen… aber dort waren wir nicht…/
 

„Dad?“ Aufgebracht sah er zu ihm auf. „Dieser Typ hat wohl überall seine Handlanger… oder wir reimen uns gerade mächtig etwas zusammen.“
 

„Wart ihr zusammen dort?“
 

Joe schüttelte nur den Kopf.
 

„Sondern?“
 

„Wenn man in dem einen Restaurant sitzt, hat man einen perfekten Blick auf die Kathedrale.“
 

„Sag’ mir, wie ich dorthin komme.“
 

„Ich kann es nicht verantworten, dich auch noch in Gefahr zu bringen.“
 

„Das tust du nicht, also beschreibe mir den Weg.“
 

/Nachdem ich dir gesagt habe, wie du zum ’Veritatis lux’ gelangst, wolltest du von mir noch wissen, wie der Kellner ausgesehen hat, der uns an dem Tag bediente… Ich beschrieb ihn dir, so gut ich ihn noch Erinnerung hatte, aber beginnst nicht mittlerweile du, Gespenster zu sehen? Ich meine… derart verstrickt kann das doch alles nicht sein… Dieser Kerl hat Rick in seiner Gewalt und treibt nun seine Späßchen mit mir. Mehr ist das doch nicht!...

Aber weshalb kann ich mich nicht beruhigen? Warum plagen mich solch grausame Bilder, die mir das Blut in den Adern gefrieren lassen?/
 

Unentwegt lief Joe in seiner Wohnung auf und ab. Er wollte hier und jetzt Rick in seinen Armen halten und ihn munter und wohlauf wissen. Aber er war nun schon seit zwei Tagen verschwunden und jede Stunde, die hinzukam, war reine Folter. Es lag einzig an ihm, ihn aus den Fängen dieses Irren zu befreien, und diese Bürde lastete schwer auf seinen Schultern. Er hatte Ricks Leben in der Hand.
 

/Ich sollte mir nichts vormachen! Dieser Inspektor steckt genauso tief drinnen wie die Person, die mich beschattete. Wenn ich nun meine Nerven verliere, verliere ich damit auch Rick. Also einmal tief durchatmen…

Wenn die Hinweise in der Tat auf Orte verweisen, die mit Rick und mir zu tun haben, dann dürfte ich die Rätsel doch knacken!/
 

Ein tiefes Seufzen.
 

/Es wäre aber alles leichter, wenn ich nicht persönlich involviert wäre. Mein Kopf ist erfüllt von lauter Szenen, die mich nicht klar denken lassen… Tief durchatmen… Atmen…/
 

Mit leerem Blick blieb er am Fenster stehen und blickte gen Himmel, der immer noch Regentropfen zur Erde sandte. Der erste Schnee des Winters war bereits getaut und hatte eine triste, wolkenverhangene Stadt hinterlassen. Das reine Weiß war dem trostlosen Selbst der biederen Straßen gewichen.

Immer wieder ließ er die wenigen Worte in seinem Verstand kreisen. Versuchte sie in Korrelation mit Erlebnissen zu bringen, die ihn mit seinem Freund verbanden. Nachdenklich strich er mit einer Hand immer wieder über die Fensterscheibe, malte unbewusst immer von Neuem dasselbe auf sie. Erst nach einer halben Ewigkeit, als er schon wieder halb am Verzweifeln war, realisierte er, was er da gerade tat.
 

/Ein Baum…?/
 

Das konnte er nicht glauben. Das hieße, dass…
 

/… man uns schon… Was?... Das wiederum würden bedeuten, dass… das alles bis ins kleinste Detail geplant war!/
 

Sofort schnellte seine Hand in seine Hosentasche und zog das kleine Gerät heraus, mit dem er Steven anrief, aber nur dessen Mailbox erreichte.
 

„Hi. Ich weiß nun, wo wir den nächsten Hinweis bekommen werden. Wenn ich mich in vier Stunden nicht wieder bei dir melde, dann ist was schief gelaufen. Mach’ dir keine Sorgen.“
 

Kaum hatte er das Handy wieder verstaut, schon hatte er Schuhe und Mantel übergestreift und das Haus verlassen.
 

/Diese Mistkerle! Wenn ich herausbekomme, wer dieser Typ wirklich ist, dann wird er froh sein, sich niemals mit mir angelegt zu haben!/
 

Die Fahrt kam Joe viel zu lange vor. Die Minuten schienen sich zu endlosen Zeiten zu dehnen. Er spürte pures Adrenalin in sich strömen, das den positiven Effekt hatte, die Kopfschmerzen weitestgehend zu verdrängen, die ihn, seitdem er die Augen geöffnet hatte, geplagt hatten. Irgendwie fühlte er richtiggehenden Zorn in sich aufkeimen, nicht nur aus dem Fakt heraus, dass Rick gegen seinen Willen festgehalten wurde, sondern auch aus dem Bewusstwerden heraus, schon länger beobachtet zu werden. Wie eine Berühmtheit unter ständiger Aufsicht zu stehen. Sich nicht rühren zu können, ohne dass pausenlos Augen auf einen gerichtet waren. Das war doch krank! Was wollten sie ausgerechnet von ihnen?
 

/Kann der nicht mal schneller fahren?/
 

Funkelnd richtete Joe seine Augen auf den Mann am Steuer des Taxis, das er sich genommen hatte. Er wusste, dass es ein Vermögen kostete, eine solche Strecke mit dem Taxi zurückzulegen, doch das war nur Geld. Nichts weiter als materielles Vergnügen, auf das er gut und gerne verzichten konnte, wenn er im Gegenzug seinen Freund zurückholen konnte. Aber wer sagte ihm eigentlich, dass er ihn wieder bekam, wenn er alle Rätsel gelöst hatte? Ja, wer?

Fest verkrallten sich seine Finger im Sitz, der leicht vibrierte aufgrund der Unstete seiner Beine.
 

Mittlerweile war er aber zumindest erleichtert, dass sich der Schnee vorerst verabschiedet hatte, denn die Straßen waren wieder hindernisarm passierbar.
 

/Wenn wir nicht gleich da sind, dann übernehme ich selbst das Steuer… Atmen!!!.../
 

Als er den Ort durch die Windschutzscheibe erkannte, der ihn seit Kindestagen bekannt war, drängte er den Fahrer dazu, sich ein wenig zu beeilen. Dieser sah ihn nur ein wenig geringschätzig an und nahm den Fuß zudem vom Gas weg.
 

/Danke! Vielen, vielen Dank!/
 

Während er seine Zähne in seiner Unterlippe verbiss und sich weitere Worte verkniff, wurde ihm mit einem Schlag bewusst, weshalb er diesen Peilsender mit auf den Weg bekommen hatte.
 

/Nur so können sie sich sicher sein, wo ich mich aufhalte! Um mir etwaigen den nächsten Hinweis zu geben, falls ich auf die Lösung eines anderen gekommen bin./
 

Vorsichtig entnahm er den Peilsender seiner Tasche, drehte ihn vor seinen Augen hin und her. Das kleine, schwarze High-Tech-Gerät funkelte höhnisch in dem wenigen Tageslicht, das sich durch die seidenen Fäden draußen spann.
 

/Wenn ich mich ihm entledige, dann wissen sie, dass ich ihnen auf die Schliche gekommen bin. Und das kann Rick nur schaden… Nein! Steven! Nein!!!/
 

Hektisch wies er den Taxifahrer an, rechts ranzufahren. Wild gestikulierend tat dieser wie ihm geheißen, doch warf ihm dafür gemeine Bemerkungen an den Kopf. Geflissentlich überhörte Joe sie und drückte ihm genug Trinkgeld in die Hand.
 

„Schönen Tag noch.“
 

Und schon hatte sich der Blonde einige Meter von der Straße entfernt. Aufgebracht hörte er auf das Tuten, das sein Handy von sich gab. Er musste Steven so schnell wie nur irgend möglich erreichen, sonst…
 

/Geh’ schon ran! Bitte!/
 

Schritt für Schritt lief Joe im Kreis, spürte zwar den Regen auf sich hernieder prasseln, doch nahm ihn kaum wahr. Seine Jacke hielt er schützend über das Telefon, aber das war auch schon alles, was er gegen die Nässe unternahm. So heftig wie sein Herz klopfte, so vernebelt war seine Sicht. Er dachte nur noch an eines: Steven davon abzuhalten, einen Fehler zu begehen!
 

/Warum ist mir das nicht früher aufgefallen? Es wird zu spät sein! Viel zu lange habe ich ihn handeln lassen! Aber wie hätte ich das auch erahnen können? Wie?/
 

Benommen hörte er das Läuten in der Leitung, bis sich eine metallene Stimme meldete und ihm verkündete, dass sein Gesprächspartner gerade nicht erreichbar wäre. Er biss sich so fest in die Lippe, dass sie zu bluten begann. Obwohl er die rote, zähe Flüssigkeit schmeckte, die sich aus ihm ergoss, konnte er nichts weiter mehr tun als sich fortwährend um die eigene Achse zu drehen.
 

Wenn er nun auf der Stelle verharrt hätte, hätte er dies bis in alle Ewigkeit getan. Die Gefühle überschlugen sich in ihm und trieben ihn fast in den Wahnsinn. Darum musste er laufen, egal wohin ihn seine Füße trugen. Ob er nun zu dem Ort lief, der ihm eine Menge bedeutete, oder an einen Platz, wo ihn die Einsamkeit zerfraß. Die Sorgen um Rick waren schier unerträglich in diesem Moment.

Wie verrückt redete er sich ein, nicht durchzudrehen. Ein spöttisches Lächeln stahl sich indessen auf seine Lippen. Wie konnte man vernünftig bleiben, wenn der Mensch, den man liebte, in Lebensgefahr schwebte?

Aber er musste! Er wollte nicht vor Wahnwitz scheitern!

Mit zitternden Händen stützte er sich an dem Baum ab, auf dem sie vor nicht allzu langer Zeit zusammen gesessen hatten. Er spürte die knorrige Rinde, die sich tief in seine Handflächen grub. Er bebte. Wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.
 


 

Seit Stunden hatte keiner mehr an die Tür geklopft und Rick mit seiner bloßen Anwesenheit belästigt. Der Dunkelhaarige empfand die gelegentlichen Auftritte sowohl von Alexandros als auch von Olivier nichts weiter als pure Peinigung und er wollte und konnte gut und gerne auf sie verzichten. Das Essen konnten sie auch ohne große Show ins Zimmer stellen, dazu mussten sie die Tür nicht einmal weit aufmachen. Mussten sie etwa befürchten, dass Rick einen Anschlag plante, ihnen ein Brett über den Kopf schlug, wenn sie unachtsam waren? Warum musste er sich immer von Neuem der Qual hingeben und sich festketten? Wollte man sich mit ihm einfach nur amüsieren?
 

/Hört ihr die traurige Sinfonie meines Herzens denn nicht? Verschmäht ihr absichtlich meine Gefühle? Wie grausam ihr doch seid!

Mutter? Warum lässt du das alles geschehen? Weshalb schreibst du lediglich nichtige Worte auf einem Stück Papier? Ist das alles, was du für mich empfindest? Leere, hohle Sätze?

Wann habt ihr genug? Oder seid ihr unersättlich?

Wie lange wollt ihr mich leiden sehen?

Wenn ich hier weiterhin verweilen muss,…/
 

Ein schwaches Feuer glomm in seinen blauen Iriden, ließ sie wie eine rauschende Gischt erscheinen. Ein unbändiges Meer, das mit seinen hohen Wellen drohte, alles unter sich zu begraben.
 

/Wenn ich hier weiterhin verweilen muss, dann nehmt euch in Acht! Ich bin keine willenlose Marionette, die sich nach Belieben ziehen lässt. Ebenso wie ihr bin ich ein Mensch mit eigenen Bedürfnissen, mit eigenem Charakter und mit eigenen Vorstellungen! Lasst mich endlich frei!

Ich will frei sein!/
 

Auf wackligen Beinen schleppte er sich zur Tür und schlug kraftlos auf sie ein. Die Verzweiflung, die sich in sein Herz stahl, machte ihn schwach. Mit unterdrückten Tränen in den Augenwinkeln ließ er seine Hand immer und immer wieder auf das Holz fahren, doch das gab nicht nach. Nach vielen Minuten ließ er von ihr ab und lehnte sich mit dem Rücken an sie an. Was sollte er hier? Was wollte man genau von ihm? Ihm Joe austreiben? Das würde nicht einmal der Tod können!

Wie in Trance lief er zum Schrank, legte seine Hände an ihn und presste seinen Körper dagegen, rüttelte so lange an ihm, bis er umfiel und ein lautes Krachen für einen Moment den ganzen Raum erfüllte.
 

/Dann hass mich eben! Hass mich mit all deinem Herzen! Nur frage ich mich, warum du mich überhaupt wolltest… Liebtest du mich einst?/
 

„Ich bin nun mal nicht perfekt! Gibt es denn überhaupt solche Menschen? Na, bist du es etwa? Sag’ mir, bist du perfekt? Was verlangst du von mir? Soll ich auf Knien angekrochen kommen und dir vorlügen, dass ich keinen Mann liebe? Dass ich mir ab nun eine Frau nehme und mir ihr Kinder zeuge? Wärst du dann zufrieden? Sag’ mir, wärst du dann zufrieden???

Kannst du das überhaupt sein? Kann ein Mensch rundum zufrieden sein? Wärst du es, wenn ich dir das mitteilen würde?

Was willst du von mir noch hören? Dass ich die letzten zwei Jahre nur gelitten habe? Dass ich nie ein Lächeln parat hatte, weil ich von dir verstoßen wurde?

Das hättest du wohl gerne, ja?

Ich habe Joe! Joe! Hörst du? Joe!“
 

Bebend sank er zu Boden.
 

/Ich habe Joe… und er wird mich hier rausholen… er wird mich finden… und dann wird er mich nie mehr loslassen… er wird mich finden… und mich nie wieder loslassen…/

Kapitel 50

Kapitel 50
 

Ein Blütenmeer,

Augen voller Mär,

dein Strahlen, rein,

und auf ewig mein.
 

/Wo bist du?/
 

Meeresblau, sanft,

es ist deine Hand,

die sich streckt

und mich neckt.
 

/Sag’ mir, wo bist du?/
 

Ein Regenmeer,

es ist wie jeher,

Tropfen eins

mit deiner Pein.
 

Der Himmel weint,

ist das das Sein?
 

„Wo bist du?“
 

Joes Stimme verschluckten die Rinnsale, die gen Erde stoben.
 

Alles in ihm schien zu bersten. Vergeblich kämpfte er gegen alle negativen Gedanken an, die sich stetig in ihm auftaten. Er musste sie verdrängen, obgleich sie ihn zu zerreißen drohten! Wenn er sich ihnen hingäbe, würde er versagen. Er würde in der Tat nichts weiter als… versagen.
 

Grau wie das Meer,

Wellen mehr und mehr,

Drohender Hauch -

Hörst du ihn auch?
 

/Ich darf nicht an den Rand des Wahnsinn getrieben werden!... Ich muss kämpfen, wie die Sonne, die uns ihr Licht schenken möchte. Sie vermag es sogar, den Himmel zu spalten. Ihr Glanz steht über allem…/
 

Es funkelte. Über ihm, um ihm herum. Nur für einen Moment. Aber einen Moment genug, um Hoffnung zu schöpfen. Um die Augen von etwas nicht mehr loszulassen, das das Licht wild reflektierte. Joe begann zu klettern, wie er es vor ein paar Wochen bereits einmal und früher sehr oft getan hatte. Ein Ast nach dem anderen nehmend hangelte er sich empor, bis er durchnässt auf das stieß, was ihm einen Schub im Herzen gab.
 

/Also doch…/
 

Er griff nach der Folie, die am Stamm mit einem Nagel angebracht war, und löste sie vorsichtig ab.
 

/Ich…

werde es schaffen! Ich werde dich finden! Dich unversehrt in meine Arme nehmen!...

Verdammt, ich muss es schaffen!/
 


 

Stunde für Stunde verging, in der Rick kaum Tageslicht erblickte. Seine Augen hatten sich mühelos an die spärlichen Lichtverhältnisse gewöhnt, aber sein Herz nicht. Dieses ersehnte die Sonne, die Natur und die frische Luft. Das matte Sein um ihn herum war derart trist, dass es einfach nichts Liebliches zu bieten hatte. Manchmal flüchtete er sich in das unbeheizte Badezimmer, um ein wenig mehr Strahlen um sich zu haben. Die hellen Fliesen sind unglücklicherweise das Hoffnungsgebendste in seiner Gefangenschaft, abgesehen von den Gedanken, die sich einzig um Joe drehten. Er musste es irgendwie schaffen, die schönen Dinge, die ihm geblieben waren, zu vereinen; sie zu einer Einheit zu verschmelzen, damit sie ihn heiter – so gut es eben ging – stimmen konnten. Irgendetwas musste er unternehmen, um nicht unter der Last zusammenzubrechen, die ihm aufgebürdet worden war. Er fühlte sich verraten, geschändet und in gewisser Weise auch erniedrigt. Aber ihm oblag es trotz all der Bestürzung aufzugeben. Er konnte nicht kapitulieren…

Immer wieder regte sich etwas in ihm, das an seine Stärke appellierte. Vielleicht mochte er viele Schwächen besitzen, doch solange er noch ein wenig Kraft in sich fand, würden sie nichtig bleiben. Erst, wenn er gänzlich am Ende wäre, würde er ihnen die Oberhand gewähren, aber erst dann. Keine Sekunde eher!

Mit einer Hand fasste er sich an die Brust, bettete ihre Finger sanft auf das schlagende Organ, das einen seichten Rhythmus innehatte. Seine meerblauen Augen trugen wie so oft leichten Glanz in sich, spiegelten nur verborgen das Leid wider, das er zu ertragen hatte. Fest verbissen sich seine Zähne ineinander, drückten seinen Willen aus, den er tief in sich trug. Genau mit dieser Körperhaltung legte er sich die Handschellen um, um auf das Klopfen, das gerade ertönt war, zu reagieren.
 

„4 Blätter“, rief er gen Tür, die sich bereits auftat.
 

Er erblickte Olivier und musterte diesen. Allein schon die dunklen Augenringe zeugten von einer ungut verlaufenen Nacht.
 

„Bereite ich dir so viel Kopfzerbrechen?“, fragte Rick spöttisch. Seine Stimme war aber so leise, dass er sie selbst kaum hörte. Er wusste ganz genau, dass er seine Zunge zukünftig besser unter Kontrolle haben musste, und er war irgendwie auch erleichtert, dass der andere ihn anscheinend nicht verstanden hatte. Zumindest zeigte Olivier keinerlei Regung, sondern ging seiner Arbeit stumm nach.
 

/Dir wurde wohl verboten, dich mit mir abzugeben, nicht dass du noch einmal Hand gegen mich erhebst. Das ist wirklich gut zu wissen, zumal es mich ein klein wenig erstaunt… In mir verstärkt sich aber die Vermutung, dass es dir gar nicht passt, dass ich hier bin. Denn dir wird nicht mehr die Aufmerksamkeit zuteil, die du brauchst… In den letzten Tagen habe ich wohl die Veränderung deines Handelns bemerkt, mit der du agierst. Und vielleicht bist doch du der Schlüssel zu meiner Freiheit… !!!/
 

„Danke für den netten Service.“ Gänzlich konnte sich Rick den herausfordernden Unterton nicht verkneifen und erntete dafür lediglich einen missbilligenden, aber ebenso kalten Blick.
 

Aber was war geschehen, dass Olivier keine Befugnis mehr hatte? Was hatte ihn der Gewalt beraubt?
 

„Und wie das duftet!“ Tief sog der Dunkelhaarige das Aroma ein, das sich großzügig im Raum verteilte. „Schmeckt bestimmt so gut, wie es riecht.“
 

Vernichtend starrte Olivier ihn an. Plötzlich hatte seine Erscheinung nichts roboterartiges mehr, obwohl ihn das sonst immer ausgemacht hatte. Ein kaltes, gefühlloses Wesen, das weder was empfinden konnte noch andere Formen von Emotionen kannte. Doch nun sah Rick ein wutentbranntes Funkeln in den matten Iriden.
 

/Hast du am Ende doch ein Herz?/
 

„Wenn ich nicht hier wäre, würde Alexandros mehr Zeit für dich haben.“
 

Weiterhin visierten sie sich gegenseitig. Olivier blieb zwar stumm, aber seine Augen verrieten ihn. War das die Chance für Rick, die Kehrwende herbeizuführen?
 

„Du ersehnst doch seine Nähe, auch wenn du das niemals offen gestehen würdest. Wie ich das sehe hat er dich aufgezogen und du bist ganz und gar von ihm abhängig. Doch meine Anwesenheit nimmt dir deinen heiß geliebten Ziehvater, für den du alles tun würdest. Nicht wahr?“
 

/Ich sehe, wie sich dein Körper verkrampft. Mein Herz bebt ebenfalls, weil ich nicht weiß, was ich da gerade anrichte. Vielleicht begehe ich gerade den größten Fehler meines Lebens, aber mein Mund bewegt sich fast automatisch und die Worte dringen aus ihm wie von allein heraus. Als ob sich mein Geist von meinem Körper trenne…/
 

„Damit habe ich wohl ins Schwarze getroffen oder wie siehst du das? Aber findest du nicht auch, dass es da nur eine Möglichkeit gibt? Gib mich frei und du wirst ihn wieder vollkommen für dich haben! Lass mich gehen und er wird wieder Zeit für dich haben! Kette mich los und-“
 

Die nächsten Worte blieben Rick im Hals stecken, als Olivier auf ihn zugestürmt kam und ihn fest an der Kehle packte und zudrückte. Sofort schrie seine Lunge nach Luft, die ihr verwehrt wurde.
 

„Halt endlich deinen Mund oder ich bringe dich hier und jetzt um.“
 

„Dann…“ Rick würgte. „… hasst… er… di…ch…“
 

Als ihm schwarz vor Augen wurde, spürte er, wie der Druck um seinen Hals nachließ. Trockenes Keuchen begleitete den rasenden Schmerz, der ihn übermannte. Noch bevor er sich wieder regenerierte hörte er die Tür schlagen. Seine Mundwinkel begannen zu zucken und beherbergten alsbald ein triumphales Lächeln.
 

Etwaigen mochte er selbst zu Irrsinn und Bosheit neigen. Vielleicht mochte er zum Widerling mutieren. Doch hatte er eine Wahl?
 

Wie in Trance schüttelte er seinen Kopf; warf ihn von einer Seite zur anderen. Mochte er diese schroffe, psychotische Ader, die er an den Tag legte?
 

Im Endeffekt war es doch gleichgültig! Er wollte verdammt noch mal raus aus diesem Loch, in dem er gefangen gehalten wurde. Gefangen! Festgehalten! ANGEKETTET!

Die ganze Zeit musste er sich peinigen lassen, stillschweigend hinnehmen, dass er am kürzeren Hebel saß, sich ungewollt küssen lassen. Die Zunge eines Menschen spüren, den er zutiefst verabscheute!

Das Leben war nicht fair. Diese ganze verfahrene Situation war schlicht und einfach ungerecht. Und er sah eben keinen anderen Ausweg mehr, als selbst zu einem Lebewesen zu werden, das man widerwärtig und abstoßend fand. Er musste Olivier zur Weißglut treiben, um seine eigene Haut zu retten. Um nicht gänzlich wahnsinnig zu werden und den Verstand zu verlieren; oder gar ganz apathisch zu werden und widerstandslos alles folgende über sich ergehen zu lassen. Er wollte partout keine Puppe ohne Herz sein, mit der man machen konnte, was man wollte. Sie treten, küssen, vergewaltigen oder was auch immer!
 

Er war ein Mensch, der leben wollte! Der jung war und noch alles vor sich hatte! Vielleicht hatte er es früher zu einfach gehabt? Zu gute Noten, zu viel Aufmerksamkeit durch seine Eltern, zu einen guten Freund? Vielleicht sah er deshalb das Schlechte nun noch schlechter, weil er die negativen Seiten nie gekannt hatte?

Vor seinem Outing hatte er in der Tat selten Schwierigkeiten bekommen. Vielleicht… sollte alles so passieren, dass er fürs spätere Leben gewappnet war? Dass er die Kraft entdeckte, die ihm innewohnte?
 

/Ich fantasiere!... Ist es die stete Dunkelheit, die an meinem Verstand nagt?

Ist es dieser karge Raum, der Fragen aufwirft, die ich mir zuvor noch nie gestellt hatte?/
 

Hatte nicht alles seinen Sinn? Irgendwo versteckt und meist nicht erahnbar?
 

/Das ist absurd! Dies hier kann nichts Gutes haben!/
 

„Nichts!!!“
 

Er konnte noch so überzeugt in die Leere des Zimmers rufen…
 


 

Nun wusste Joe, dass er sich am richtigen Ort befand. Was hieß schon richtig, aber an dem, der ihn ein Stück weiter bringen sollte. Unentwegt blickte er auf die weißen Buchstaben, die man gut unter der durchsichtigen Folie erkennen konnte. Das war es also: das neue Rätsel. Ebenso verwirrend auf den ersten Blick wie seine beiden Vorgänger. Doch dieses Mal hatte der Blonde nicht vor, an ihnen zu verzweifeln, zumal ihm etwas ganz anderes Sorgen bereitete. Noch immer hatte er Steven nicht erreicht, obgleich er es noch ein paar Mal probiert hatte. Immer wieder hatte er nur die Mailbox zu sprechen bekommen und das nagte vielmehr an ihm als der Umstand, die wirren Worte nicht auf Anhieb entschlüsseln zu können. Dies vor ihm waren lediglich Worte, die einzig für ihn bestimmt waren, doch Steven tat gerade etwas, was Ricks Leben noch viel mehr beeinträchtigen konnte als ein ungelöstes Rätsel. Würden die Entführer und Serrat davon Wind bekommen? Ausschließen konnte Joe dies leider nicht und genau dieser Fakt brachte unbändige Unruhe in seine Glieder. Sie wirkte sich schon allein durch das Auf- und Abwiegen seiner Beine aus.

In seiner einstigen Heimat konnte er nichts erreichen, darum musste er zusehen, so schnell wie möglich zurück nach Veneawer zu kommen. Behände sprang er vom Baum und eilte zur Hauptstraße. So viel Zeit, sich ein Taxi zu bestellen, hatte er nicht, zumindest hatte er das dumpfe Gefühl, sie nicht zu haben. Darum hielt er das nächstbeste Auto an, das ihm entgegenkam.
 

„Sie Idiot! Ich hätte Sie überfahren können!“
 

Blindlings hatte sich Joe halb vors Auto geworfen.
 

„Können Sie mich ein Stück mitnehmen?“
 

Pikiert wurde er von oben bis unten betrachtet. Er bot mit Sicherheit keinen schönen Anblick: bis auf die Haut durchnässt, mit Schlamm bedeckt bis zu den Knien und nichts als ein Blatt Papier – fest umklammert - bei sich.
 

„Okay.“
 

Überrascht stieg Joe ins Auto ein. Derart einfach hatte er sich das nicht vorgestellt; obwohl er sich eigentlich gar nichts bei seiner Aktion gerade gedacht hatte.
 

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen. Joe Yera.“ Er hielt dem Fremden eine Hand entgegen, der nur mit dem Kopf schüttelte und die Hand ergriff.
 

„Lassen Sie mal gut sein. Ich bin Freddy. Oder Fred. Was Sie lieber haben.“
 

Joes Fahrer lächelte breit. Eine Welle der Sympathie überrollte den Blonden und von jetzt auf nachher fühlte er sich ein wenig ausgeglichener, auch wenn ihn die Angst um Rick nicht im Geringsten losließ.
 

Drei Stunden später stieg er wieder aus, bedankte sich zum zehnten Mal in aller Form und bekam zum zehnten Mal dieselbe Reaktion. „Lassen Sie mal gut sein.“

Nicht einmal Geld wollte Fred annehmen. Egal, wie oft Joe es auf der Fahrt versucht hatte, sich auf irgendeine Weise erkenntlich zu zeigen, jeder Versuch wurde abgelehnt und stattdessen mit einem netten Lächeln abgetan.
 

„Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.“
 

„Das haben Sie anscheinend viel nötiger“, entgegnete Fred.
 

Und schon schaute Joe dem Wagen nach, das ihn fast bis nach Hause gebracht hatte. Ein wohliges Gefühl machte sich in ihm breit und ließ ihn noch schneller laufen, als er sich nach einer Möglichkeit umsah, die letzten Kilometer bis Veneawer zu überwinden. Da er nicht vorhatte, sich erneut wagemutig vor ein Auto zu werfen, nahm er den Bus. Während er sich einen Platz suchte, klingelte sein Handy.
 

„Dad? Ich habe schon eine Ewigkeit versucht dich zu erreichen!“
 

„Wo steckst du eigentlich?“
 

„Warum bist du nicht ans Telefon?“
 

„Ist das Motorengeräusch im Hintergrund?“
 

„Ja. Ich bin in weniger als einer Stunde zurück. Können wir uns in dann in meiner Wohnung treffen? Hast du diesen Kellner gefunden?“ Inständig hoffte er, dass das Steven nicht hatte.
 

„Das erzähle ich dir am besten unter vier Augen. Bis gleich.“
 

Und schon klickte es in der Leitung. Fassungslos starrte Joe auf sein Handy, das nun nur noch ein Freizeichen für ihn übrig hatte.
 


 

„Wie siehst du denn aus?“
 

„Lass mich erst mal eine Dusche nehmen. Derweil kannst du dir hierüber Gedanken machen.“
 

Mit einem vielsagenden Blick drückte Joe Steven das Blatt Papier in die Hand, das er mitgebracht hatte.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 4 Blätter ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

~~~~~ Norden ~~~~~
 

~~ Unser aller Beginn! ~~
 

Nach ein paar Minuten gesellte sich Joe zu Steven auf die Couch und sah ihn fest an.
 

„Was hast du die letzten Stunden gemacht?“
 

„Woher hast du das?“
 

Steven wedelte mit dem Papier vor Joes Nase herum, der es nahm und beiseite legte, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken.
 

„Hast du nun diesen Kellner gefunden?“
 

Seltsamerweise richtete sich der Größere auf und lief ein paar Schritte auf und ab. „Es wird dir nicht gefallen.“
 

„Musst du jetzt einen auf überbesorgter-Vater-der-seinem-Sohn-nichts-zumuten-möchte machen?“
 

„Ach, du weißt, was in meinem Kopf vor sich geht, ja?“
 

„So war das nicht gemeint.“
 

„Dann sage mir: wie sonst?“
 

„Darum geht es doch eigentlich gar nicht.“ Allmählich schlich sich wieder ein wenig Wut zu Joes Zustand. „Sage mir doch einfach gerade heraus, was du herausgefunden hast respektive mit wem du gesprochen beziehungsweise was du gemacht hast.“
 

„Wir sollten erst einmal über das neue Rätsel sprechen.“
 

„Das gibt’s doch nicht! Möchtest du dich drücken, verstehe ich das richtig? Ich halte diese Geheimnistuereien und Rätseleien nicht mehr aus! Mittlerweile habe ich davon echt genug! Kannst du das denn nicht nachempfinden? Was würdest du denn machen, wenn Mom in irgendeinem Loch gefesselt und geknebelt läge?“
 

„Joe!“
 

„Nichts ’Joe’! Ich bin kein kleines Kind mehr, das man zur Raison bringen muss!“
 

„Das weiß ich!“
 

„Und warum behandelst du mich dann nicht wie einen erwachsenen Menschen?“
 

„Weil…“
 

„Ich höre!“
 

„Weil ich dir gerne diese Bürde ersparen würde, verdammt! Wenn ich könnte, würde ich sie dir abnehmen, aber das kann ich anscheinend nicht! Sollte ein Vater nicht immer versuchen, die Last von den Schultern seines Kindes zu nehmen?“
 

Mit einem Mal fühlte sich Joe gar nicht mehr wohl in seiner Haut. Die letzten Worte hallten schuldbewusst immer und immer wieder in seinem Verstand nach.
 

’… seines Kindes…’
 

„Es… Ich… Das ist alles nichts für mich. Diese immensen Gefühle… sie schnüren mir die Luft ab… Es tut mir leid, aber ich… ich bin es nicht gewohnt, mich so um einen Menschen zu sorgen.“
 

„Ich weiß und ich kann dir versichern, dass es nicht leichter werden wird.“
 

Minuten des einvernehmlichen Schweigens vergingen, ehe sich Steven räusperte und sich Joe zuwandte. Sie saßen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber; nur Joe konnte gerade nicht den Blick des anderen aufsuchen. Seine grünen Augen waren gen Boden gerichtet, er sehnte sich in diesem Augenblick unermesslich nach seinem Freund. Wenn er doch nur wenigstens dessen warmen Atem im Nacken spüren könnte…
 

„Rick ist in Gefahr, wenn du einen falschen Schritt machst.“
 

Joes Herz setzte aus. Irritiert, geschockt, fassungslos sah er für einen Augenblick auf. Obgleich er etwas sagen wollte, blieb er stumm.
 

„Serrat und Ornesté stecken unter einer Decke. Alexandros Ornesté ist der Mann, der Rick in seiner Gewalt hat, aber unter diesem Namen ist er hier nirgends registriert. Aber das allein ist noch nicht das Problem, sondern…“
 

Bu-bumm. Leicht begann Joes Körper zu beben, obwohl er keinerlei Schwäche zeigen wollte. Partout wollte er sein Unvermögen verbergen, doch er schaffte es nicht.
 

„Sondern?“, fragte er mit belegter Stimme.
 

„Wie es scheint, hängt Ricks Vater mit drin.“
 

„Was?“
 

Voller Unglauben ballte Joe seine Hände zu Fäusten. Das konnte er beim besten Willen nicht glauben.
 

„Du scherzt!“
 

„Hältst du mich für derart makaber!?... Etwaigen haben wir deshalb weder Damon noch Dea erreicht.“
 

„Das können wir nicht einmal mutmaßen! Das würde Rick niemals verkraften! Hat dir das dieser tolle Kellner erzählt? Niemals! Dem werde ich eigenhändig nachgehen! Das kann ich nicht glauben!“
 

„Du w-i-l-l-s-t es nicht glauben.“
 

Böse funkelte Joe seinen Stiefvater an. Eine solche These einfach in den Raum zu stellen zu diesem Zeitpunkt war mehr als nur unangebracht!
 

„Nein, das kann ich nicht glauben!“, schrie er ihn an und trat gegen den kleinen Tisch, der polternd an der Wand landete. Die kleine gläserne Schale, die auf ihm gestanden hatte, barst in tausend Stücke.

Mit zitternder Hand griff sich Joe in die Tasche und holte sein Handy hervor. Ricks Vater musste doch erreichbar sein! Verdammt, er musste ihn erreichen und dieses Missverständnis aus der Welt schaffen!
 

„Zurzeit ist der gewünschte Gesprächspartner leider nicht-“
 

Wutentbrannt klappte der Blonde das Telefon wieder zu. „Mist!“
 

„Tut mir leid, Joe.“
 

„Was? Dass du die falschen verdächtigst? Ricks Vater mag zwar ein egoistischer, intoleranter Vollidiot sein, aber so was würde er nicht tun! Meinetwegen kannst du das glauben, aber nicht ich, obgleich ich mehr Gründe dazu hätte! Zwei Jahre lang hat er Rick leiden lassen, aber… Nein! Das würde er verflucht noch mal nicht tun!“
 

„Kannst du dir sicher sein?“
 

Für einen Moment wich die Farbe aus dem Gesicht des Jüngeren. „Kann man sich je sicher sein?“, entgegnete er leise.

Kapitel 51

Kapitel 51
 

Irgendwann konnte Joe den Blick auf die Uhr nicht mehr ertragen. Seit bereits fast einem Tag versuchte er, einen Elternteil von Rick zu erreichen. Bisher hatte er sich mit dem Gedanken partout nicht anfreunden können, dass Damon etwas mit der Entführung seines Freundes zu tun hatte. Obgleich einige Fakten dafür sprechen konnten, weigerte er sich strikt, diese Farce zu glauben. Selbst die Verstoßung konnte eine solche Tat nicht im Geringsten rechtfertigen und darum wollte der Blonde alle Hebel in Bewegung setzen, um Ricks Eltern ausfindig zu machen. Dies war auch der Grund dafür, dass er zurück nach Luminis gefahren war. Netterweise hatte Steven ihn chauffiert. Und nun stand er dort, wo alles begonnen hatte. Nein, das bezog er nicht auf das neue Rätsel, auch wenn es vielleicht nahe liegend gewesen wäre.

Da der Schnee bereits geschmolzen war, sah er nun auf den nassen, grauen Gehsteig, der ohne Rick nichts Schönes aufzuzeigen hatte. Früher war er mit ihm so oft den schmalen Weg zum Haus entlanggerannt, doch heute hatte er nur ein trauriges, verlassenes Aussehen inne. Verlassen sah auch noch in der Tat Ricks Elternhaus aus. Wann Damon und Dea wohl heimkehrten? Ob sie wirklich etwas mit Ricks Verschwinden zu tun hatten?

Mürbe lief Joe ein paar Schritte weiter. Steven hatte er zu seiner Mutter geschickt, um ihr wenigstens die Unruhe zu nehmen, die er sicher nicht ohne Ricks Befreiung loswerden konnte. Er betätigte die Klingel und sah sich alsbald Sarah gegenüber, die einerseits erfreut lächelte andererseits ein wenig überfahren wirkte.
 

„Hallo Joe. Was für eine Überraschung.“
 

Mit einer Hand strich sie ihm über die Wange und zog ihn in eine flüchtige Umarmung. Trotz der Verkrampfung seines Körpers ließ sich der Blonde auf die Berührung ein. Außerdem musste er sich eingestehen, dass sie ihm gut tat.
 

„Entschuldige mein unangekündigtes Erscheinen, aber hast du vielleicht einen Augenblick Zeit für mich?“
 

„Für dich immer.“
 

Sie zog ihn förmlich in ihre Wohnung und drückte ihn auf einen Stuhl nieder.
 

„Kaffee?“, fragte sie mit hochgezogener Braue.
 

„Nein, danke.“
 

„Kann ich dir etwas anderes anbieten?“
 

„Dein Ohr.“
 

Aufreizend ließ sie sich ihm gegenüber nieder. „Du siehst aus wie Drei-Tage-Regenwetter, aber ich bin ganz Ohr.“
 

Da Joe Löcher in die Luft starrte, besser gesagt in den Tisch, legte Sarah ihm zwei Finger unters Kinn und zwang ihn aufzusehen. Pure Traurigkeit gepaart mit Verzweiflung blickte ihr entgegen.
 

„Du hast ihn immer noch nicht gefunden“, meinte sie sanft und strich ihm durchs Haar.
 

Eigentlich widerstrebte das Joe, doch er fand in diesem Moment einfach keine Kraft, sich zu wehren. Die Wärme, die von ihr ausging, vermittelte ihm das Gefühl von Geborgenheit und auf gewisse Art und Weise tat sie ihm gut, da er sich nach Zärtlichkeit sehnte.

Er erwiderte nichts, sondern versuchte lediglich ihrem Blick standzuhalten. Ihre hellblauen Augen funkelten und sie erinnerten ihn an Ricks, was ihn ein leises Tosen des Meeres hören ließ.
 

„Und du brauchst gerade eine Schulter zum Anlehnen, habe ich Recht?“
 

Während sie ihren Kopf ihm immer weiter näherte, verlor er augenblicklich seine Lethargie und stand abrupt auf. Gekränkt ließ sie sich zurück auf ihren Stuhl fallen.
 

„Tut mir leid, falls meine Anwesenheit diese Geste erweckt haben sollte. Rick ist mein Freund und ich möchte ihm helfen. Darum…“, er wandte sich ihr zu und übersah gekonnt den Glanz über ihren Iriden, der eindeutig davon zeugte, dass sie ihn noch nicht abgeschrieben hatte. „… möchte ich dich fragen, ob du mir erneut eine Auskunft geben könntest. Ich weiß, dass ich schon wieder etwas von dir fordere und an sich keine Gegenleistung erbringe, dennoch bitte ich dich inständig um Unterstützung.“
 

„Wer sagt hier, dass du keine Gegenleistung erbringen kannst?“
 

„…“
 

Sie lachte. „Wenn du weiterhin so abweisend bist, fange ich noch an zu glauben, dass ich alt werde. Komm setz’ dich wieder hin. Ich verspreche dir auch, meine Finger bei mir zu lassen.“
 

Ergeben platzierte sich Joe wieder auf dem Stuhl, rückte ihn aber vorher ein wenig vom Tisch weg. Irgendwie kam er sich dabei vollkommen lächerlich vor, dennoch wollte er plötzlich Distanz zwischen ihr und sich wahren. Jede Facette seines Verstandes und insbesondere seines Herzens waren bei Rick und so sehr er sich auch nach Nähe sehnte, würde er diese nicht bei dieser Frau finden können, zumal das reines Hintergehen ihrer Beziehung wäre. Natürlich fand er weibliche Reize bisweilen anziehend, doch er musste sich zügeln, um nicht aus lauter Verzweiflung einen weiteren Fehler, womöglich den größten seines Lebens, zu begehen.
 

„Jetzt übertreibst du aber“, neckte sie, konnte aber ein gewisses Maß an Enttäuschung nicht verbergen. „Nunja, was eine alte Schachtel wie ich möchte, ist nicht von Interesse, also rück schon raus mit der Sprache. Wie kann ich dir behilflich sein?“
 

„Du meintest, dass du in der Zeit, in der die Dafres verreist sind, für ihre Pflanzen verantwortlich bist. Weißt du vielleicht, wohin sie gefahren sind und wann sie wieder kommen?“
 

„Jetzt wo du es ansprichst…“ Sie überlegte eine kleine Weile lang und fuhr sich dabei mit einem Finger über die Lippen. „Sie meinten, sie seien ein paar Tage weg, aber den genauen Zeitpunkt ihrer Rückankunft haben sie mir nicht mitgeteilt. Ich glaube, ich hätte die Blumen einfach weiter gegossen, ohne mir darüber wirklich Gedanken zu machen. Ob sie nun eine Woche oder zwei weg wären.“
 

Während Sarah sich belustigt eine Tasse Kaffee einschenkte, versank Joe tief in Gedanken. Er dachte darüber nach, wann Ricks Eltern weggefahren waren, und so viel er wusste, war es der Tag vor der Entführung gewesen. Diese Tatsache fügte sich sehr zu seinem Leidwesen passend in das Bild ein, das er immer noch nicht wahrhaben wollte. Wie sollte er auch glauben können, dass der leibliche Vater seinem Sohn so etwas antun konnte? Das konnte und wollte er einfach immer noch nicht annehmen, obgleich es ein kompatibles Puzzlestück wäre.

Doch warum hatten sie Sarah nicht gesagt, wann sie zurückkämen? Die Frage machte ihn nervös, zumal er dringend diese Information brauchte. Er wollte Kontakt zu Damon aufnehmen, um sich vergewissern zu können, dass Stevens Mutmaßung nur ein Hirngespinst war. Er wollte ihn vor der Polizei aufsuchen, um etwaigen Gesprächen mit Serrat zuvorzukommen. Nur dann hätte er doch den objektivsten Damon vor sich, oder nicht? Selbstverständlicherweise konnte man niemals von Objektivität sprechen, aber ein kleines Maß war davon dennoch mehr vorhanden, als wenn sich dieser Inspektor einmischte. Zumindest könnte Joe abwägen, wie Ricks Vater auf den Namen Serrat reagierte…

Als er zwei Hände auf seinen Schultern vernahm, die ihn eindeutig massieren wollten, schreckte er auf. Mit einem Mal waren alle Bilder von Serrat und Damon vergessen.
 

„Lass das.“
 

„Aber du bist total verspannt und ich versichere dir, mich zu zügeln, was alles weitere anbelangt.“
 

Die Finger, die sich in sein Fleisch gruben, verursachten richtiggehende Schmerzen, brachten anschließend aber Linderung mit sich. Eigentlich hätte er sie erneut zum Aufhören veranlassen sollen, doch er tat es nicht.
 

„Kann es sein, dass du für ihn ein wenig mehr empfindest, als du mir gegenüber zugibst?“
 

„Was wäre, wenn es so wäre?“ Seine Stimme klang kühl.
 

„Nichts“, hauchte sie nahe seinem Ohr. „Ich bin keine von diesen intoleranten Menschen, die Schwulen nicht das Recht gibt ebenso zu lieben.“
 

„Ich liebe einen Mann, aber macht mich das gleich schwul?“
 

Sarah wich einen Schritt zurück, stoppte aber ihre Massage nicht, verzog heimlich ihre Mundwinkel. Nach einem Moment der Besinnung schmiegte sie sich von hinten an ihn. „Heißt das, du standest vor ihm auf Frauen?“
 

„Ist das wichtig?“
 

„Also ja. Und was hat er, was wir Frauen nicht haben?“
 

„Hast du je richtig geliebt?“, entgegnete Joe barsch. „Falls ja, dann müsstest du mir nicht solche Fragen stellen.“
 

Schnaubend kehrte sich Sarah ab, schnappte sich ihre Tasse und beförderte sie ein wenig unsanft ins Spülbecken. Es tat zwar einen lauten Knall, aber das Porzellan blieb unversehrt. Anschließend ließ sie sich wieder auf ihrem eigenen Stuhl nieder und ihre Gesichtszüge wiesen tiefe Verletztheit auf. Als Joe etwas sagen wollte, veranlasste sie ihn mit einer abwehrenden Handbewegung dazu, still zu sein.
 

„Ich habe ihn sehr geliebt, doch er brannte dennoch mit einer anderen durch. Seitdem spiele ich mit den Männern nur noch.“ Entschuldigend lächelte sie ihn bitter an. „Tut mir leid, Joe. Das habe ich mir wohl zu sehr angewöhnt. Ich wollte dir nicht zu nahe treten… Es freut mich, dass du so um ihn kämpfst. Irgendwie macht mich das wirklich glücklich und…“
 

„Und gleichzeitig traurig“, ergänzte der Blonde leise.
 

Sie nickte nur.
 


 

Wenig später lief Joe durch Luminis. Bevor er allerdings zu seinen Eltern ging, brauchte er erst einmal ein wenig frische Luft. Während die Häuser grauen Silhouetten gleich an ihm links und rechts vorbeizogen, atmete er tief ein und aus und versuchte sich der Melancholie, die ihn bei Sarah beschlichen hatte, zu entledigen. Dieses schnürende Gefühl trieb lediglich die grausamen Bilder der vergangenen Nächte in sein Denken und auf diese konnte er gut und gerne verzichten; er tat alles dafür, sie zu verdrängen. Er spürte doch, dass Rick noch lebte und auf ihn hoffte! Oder nicht?

Als ob er das selbst bekräftigen wollte, krallte er seine Finger in das Stück Stoff über seiner linken Brust. Sein Herz schlug unbesänftigt gegen seine Hand.

Um dem Schwermut nicht vollkommen nachzugeben, rief er sich das dritte Rätsel in den Sinn. Rationales Denken war etwaigen die Ablenkung, die er brauchte.
 

~~~~~ Norden ~~~~~
 

~~ Unser aller Beginn! ~~
 

Auf was bezog sich ’unser’? Das war die erste Frage, die sich Joe stellte. Und je öfter er einen Fuß vor den anderen setzte, desto mehr war er davon überzeugt, dass sich das Pronomen auf Rick, ihn und diesen Alexandros Ornesté bezog. Bisher hatten alle Rätsel lediglich einen Bezug zu ihm selbst gehabt, also konnte es dieses Mal nicht anders sein. Mit einem Mal schossen ihm seine eigenen Worte durch den Kopf: ’Kann man sie je sicher sein?’
 

/Die Sicherheit ist doch allein auf Glauben begründet. Und was verursacht den Glauben? Eindrücke, Wunschdenken, Traditionen?

Wieso halten wir Menschen an Dingen fest, die meist gar keine Begründung haben?

Ist es nur, damit wir nicht durchdrehen und alle am Ende Amok laufen? Damit wir nicht zur nächstbesten Waffe greifen und dem Leben ein Ende setzen?

Unser aller Beginn…/
 

Wann waren sie sich zum ersten Mal über den Weg gelaufen? – Das war im Supermarkt gewesen. Das hieß wohl, wieder zurück nach Veneawer zu fahren. Joe sah die Szene genau vor sich, wie dieser Kerl seinen Freund gewaltsam festhielt und seine Lippen auf die des Dunkelhaarigen gepresst hielt. Blanken Zorn verspürte er, wenn er nur daran dachte. Wie konnte sich nur jemand dazu erdreisten, sich an Rick zu vergreifen?
 

„Ich werde dich finden“, presste er zwischen seinen Lippen hervor.
 


 

Als er das Haus seiner Eltern betrat, strömte ihm ein aromatischer Duft entgegen. Und als er in die Küche ging, wurde ihm bereits ein Tee angeboten. Das war eine Geste, die ihm heimelig zumute werden ließ.
 

„Danke“, meinte er zu seiner Mutter, als sie eine Tasse vor ihm hinstellte, aus der Dampf emporstieg. „Ich weiß nun, wo wir das letzte Rätsel bekommen werden.“
 

Neugierig richteten sich vier Augen auf ihn.
 

„Wir müssen zurück“, fügte Joe nur knapp an und vernahm das Seufzen aus Stevens Mund nur allzu deutlich. Als er diesen entschuldigend ansah, bemerkte er dessen peinliche Berührtheit. Er fühlte sich mit Sicherheit ertappt. „Ich kann auch mit dem Zug fahren, das stellt kein Problem für mich dar. Sowieso habe ich dir schon genug zu verdanken.“
 

„Unfug. Ich fahre dich.“
 

„Er könnte hier ohnehin nicht in Ruhe verweilen“, meinte Veronica und legte behutsam eine Hand auf die Schulter ihres Mannes. „Übrigens bin ich deiner Meinung.“
 

Fragend sah Joe sie an.
 

„Auch ich glaube nicht daran, dass Ricks Vater hinter seiner Entführung steckt.“
 

Kurz funkelte Rick seinen Stiefvater böse an, der nur mit den Achseln zuckte. Sein Gesichtsausdruck deutete aber an, dass er lediglich ehrlich gegenüber seiner Ehefrau gewesen war. Joe gab ihm ohne Worte zu verstehen, dass er sie damit auch in Gefahr brachte.
 

„Macht euch keine Sorgen um mich. Mir wird schon nichts geschehen.“
 

Als Veronica zwei erschrockene Gesichter erblickte, konnte sie sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. „Meint ihr zwei nicht, dass ich euch lange genug kenne, um eure Gestiken zu verstehen?“
 

Sanfte Wärme stahl sich in Joes Herz. Er war wirklich froh, eine Familie zu haben, die zusammenhielt und zueinander stand.
 

„Naja, irgendwoher muss ich meine Klugheit ja haben“, meinte Joe keck und es erstaunte ihn selbst, wie locker er plötzlich reden konnte. Er zwinkerte.
 

Steven hustete gekünstelt und grinste Joe kurz frech an. „Wohl eher den umwerfenden Charme einer Tomate.“
 

Zwei filzene Untersetzer flogen gleichzeitig in die Richtung, aus der nun lautes Lachen schallte.
 

Für einen Moment konnte man den Eindruck bekommen, dass alles in bester Ordnung wäre, doch trug der Schein nicht meist? Aber was wäre ein Leben ohne die Laute der Freude?
 


 

Es musste mehr als ein Tag vergangen sein, als Rick das letzte Mal einen anderen Menschen als sich selbst zu Gesicht bekommen hatte. Eigentlich hätte er die Stille in der Zwischenzeit gewohnt sein müssen, doch er würde sie wohl nie wirklich ertragen können. Die wenigen Laute, die ab und an an seine Ohren drangen, waren bei Weitem nicht genug und er wünschte sich, dass wenigstens Alexandros mal herunter zu ihm käme, auch wenn dieser Wunsch noch so dumm sein musste. Er bedeutete nichts weiter als diese widerwärtigen Lippen zu spüren. Und dennoch konnte Rick nicht anders als sich eine Person, wer diese auch immer sein würde, herbeizusehnen. Ständig war er immer von Joe umgeben gewesen und es hatte ihm noch so schlecht gehen können. Immer hatte er eine Hand in seinem Haar gefühlt. Und das war genau das, was er brauchte: Nähe. Die Nähe zu einem anderen Menschen. Ansonsten fühlte er sich allein und irgendwie verloren.

Immer wieder schweifte sein Blick gen Tür. Doch diese öffnete sich nicht und würde es wohl die nächsten Stunden nicht tun. Etwaigen war er mit der Provokation Oliviers doch zu weit gegangen. Trotzdem bereute er es nicht, diesem Jungen auf den Zahn gefühlt zu haben. Bedeutete es denn nicht, dass er mit seinen Vermutungen Recht gehabt hatte? Dass Olivier die Schwachstelle schlechthin verkörperte?

Im Grunde war es Rick gleichgültig, ob er richtig gelegen hatte oder nicht. Momentan wollte er einfach ein wenig Gesellschaft haben und nichts weiter. Diese Einsamkeit zehrte unwahrscheinlich an seinen Nerven, die im Endeffekt sowieso schon mehr oder minder blank lagen. Es war kaum vorstellbar, dass er vor ein paar Tagen noch in Joes Armen gelegen hatte. Wie er den Geruch von seinem Freund tief eingeatmet hatte. Er vermisste alles an Joe. Ob die sanften Berührungen, ob die vor Lust ungestümen oder einfach nur sein Lächeln, das bis in seine Seele dringen konnte.

So sehr er Joe auch vermissen mochte, er musste versuchen sich zusammenzureißen. Wenn er ihn noch einmal sehen und spüren wollte, dann würde er stark sein müssen und vor allem mental kämpfen. Jedweden Gedanken an seinen Vater verdrängte er ohnehin.

Seufzend stand Rick auf und besah sich das Sofa lange, blickte dann in Richtung des kleinen Fensters, durch das ein wenig Tageslicht fiel. Nach einer Weile des Zögerns stellte er sich hinter die Couch und begann sie nach rechts zu schieben, wandte dazu die letzte Kraft, die seinem Körper innewohnte, auf. Physisch fühlte er sich schon seit dem Aufstehen an diesem Tag schwach, irgendwie ausgezehrt, obwohl er an sich genug gegessen und getrunken hatte. Vielleicht lag es an der mangelnden Bewegung oder der leicht stickigen Luft, die im Zimmer vorherrschte. An sich war das nicht von Belang, denn ob er sich nun matt fühlte oder nicht war in diesem Loch unwichtig.

Als das Sofa an der Wand anstieß, setzte er sofort einen Fuß darauf und legte beide Hände ans Fensterbrett und drückte sein Gesicht gegen die dreckige Scheibe. Alles was er sah war weitere Trostlosigkeit, die aber durch den schwachen Schein des Tages nicht so bedrückend auf ihn wirkte.

Die Minuten zogen förmlich dahin und er regte sich währenddessen nicht. Vielmehr war er in dieser für ihn bald schon fremden Welt versunken. Ein paar dürre Grashalme und von der Feuchtigkeit glänzende Blätter hatten seine Aufmerksamkeit voll und ganz für sich. Wesentlich mehr sah er auch nicht, aber diese wenigen Zeugnisse der Natur waren dennoch Balsam für seine Seele. Er stellte sich vor, mitten auf einem blühenden Feld zu stehen und den Duft von frischem Gras und Blumen einzuatmen, dabei in die weite Ferne des Horizonts zu blicken und Joe neben sich zu wissen. Dass er sich das einzig in seiner Fantasie zusammenspann, war ihm dabei vollkommen bewusst und doch konnte er es nicht unterlassen, sich immer weiter damit zu quälen. Es war eine süße Qual, die mehr Angenehmes als Schändliches an sich hatte.
 

Rick hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lange er bereits starr am Fenster stand, aber allmählich begannen seine Glieder zu schmerzen. Seine Beine fühlten sich mit der Zeit ganz taub an und er musste sie bewegen, ob er wollte oder nicht. Mit einem leisen Klagelaut stieg er vom Sofa und drehte ein paar Runden in dem Zimmer und machte dabei einen Abstecher ins Badezimmer, das wie gewohnt angenehm hell war aufgrund des Lichts, das sofort aufflammte, das ihm bisher nicht genommen worden war. Eigentlich hatte er keinen Blick in den kleinen Spiegel werfen wollen, aber als sein Blick diesen streifte, tat er es dann doch mit vollem Bewusstsein. Es war schockierend, was er darin erblickte. Müde und erschöpft waren noch zu liebevolle Worte für sein Erscheinen.
 

/Wenn mich Joe so sähe, würde er sich eher Schritt für Schritt von mir entfernen als mich in seine Arme zu schließen. Ob er mich in diesem Zustand überhaupt wiederhaben möchte?...

Ich würde ihn in jedweder Form lieben, aber er mich auch? Vielleicht… sollte ich einfach nicht darüber nachdenken. Wie immer sollte ich einfach meine Gefühle verdrängen…/
 

Er ging zurück zum Sofa und stellte sich erneut auf es. Ihm war ja nichts geblieben als diese schmale Öffnung zur Außenwelt. Zumindest war es ihm bisher erspart geblieben von Alexandros mehr als nur eines Kusses beraubt worden zu sein. Er wusste mittlerweile nicht mehr, ob er es ertragen würde, von ihm auch anderswo angefasst zu werden, als am Rücken und im Gesicht. Ob er es verkraften würde, von ihm in intimeren Bereichen berührt und etwaigen gänzlich genommen zu werden.

Bisher hatte er gedacht, es hinnehmen zu können, wenn er danach freigelassen würde. Doch allmählich beschlich ihn das Gefühl, dass dieser Kerl dann immer wieder zu ihm käme und seine Befriedigung fordere. Solch ein Mann hatte doch niemals genug! Er würde sich immer von neuem nehmen, nach was ihn gelüstete, ohne einmal darüber nachzudenken, was er damit anrichtete. Rick legte sich eine Hand über seine Augen und kniff diese unter ihr fest zusammen. An so etwas durfte er partout nicht denken! Es brachte nichts, den Teufel an die Wand zu malen, wenn er nicht einmal anwesend war. Es keimte lediglich Ängste auf, die er nicht verspüren durfte.

Ein Schatten legte sich über sein Gesicht, den er erst wahrnahm, als er seine Hand von seinen Augen nahm. Da Rick auf einmal einen Fuß sah, schreckte er zurück und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Schweigend beobachtete er, wie sich der Mann vor seinem Fenster wieder entfernte. Das erkannte er daran, dass das wenige Gras, das er sah, niedergedrückt wurde. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, denn er fühlte sich plötzlich selbst beobachtet. Als ob sein ’kleines Reich’ nicht mehr so undurchsichtig sei wie er die ganze Zeit über angenommen hatte. Wurde er denn insgeheim belauscht und gemustert? Allein schon der Gedanke daran ließ ihn sich noch schlechter fühlen; es war schier unangenehm. Mit einem Mal fühlte er sich völlig in die Enge getrieben, was in ihm eine leichte Form von Panik auslöste. Unruhig sah er sich im Raum um, suchte alle Ecken und Wände mit den Augen ab. Vielleicht gab es ja Kameras? Oder Wanzen? Seine Zähne verbissen sich in seiner Unterlippe, während er vom Sofa sprang und damit begann, den Schrank abzusuchen. Ihm missfiel es, dass er keinen Lichtschalter besaß, denn diese Düsternis, die ihn umgab, trug nur dazu bei, dass er sich noch elender fühlte und ihn beim Suchen nach Spionageobjekten hinderte. Mit beiden Händen tastete er Boden für Boden ab, doch er stieß auf keine Unebenheiten, die nicht hätten existieren dürfen.

War er gerade dabei durchzudrehen? Er wollte ja Ruhe bewahren und sich nicht aus der Fassung bringen lassen, doch wie stellte man das denn an, wenn man seit Tagen mehr oder minder allein in einem kargen Raum gefangen gehalten wurde und von dem Menschen getrennt war, der einem einzig zum Lachen bringen konnte?
 

Obgleich es kaum einen Unterschied machte, ob es gerade Tag oder Nacht war, funktionierte seine innere Uhr noch und er schlief widerwillig gegen Mitternacht ein. Er hatte eh viel zu lange aus dem kleinen Fenster gesehen und sich aufgrund seiner Einbildung, ununterbrochen unter Beobachtung zu stehen, halb verrückt gemacht. Immer wieder hatte er sich eingeredet, dass ihm bisher ja nichts weiter geschehen war und zudem auch gut versorgt wurde. Zwar hatte sich kein Mensch in den letzten Stunden blicken lassen und ihm neue Lebensmittel gebracht, doch er hatte eh keinen Hunger verspürt. Wer weiß, ob er was gegessen hätte, selbst wenn das frischeste Gemüse vor ihm gestanden und seinen aromatischen Duft verströmt hätte.

Mit angezogenen Beinen lag er auf dem Sofa und umarmte sie mit beiden Armen. Sein Gesicht vergrub er tief in der rechten Armbeuge. Unruhig schlug sein Herz, hämmerte regelrecht gegen seine Brust. Auch wenn er sich fest vorgenommen hatte diese Nacht nicht zu träumen tat er es dennoch. Er hatte gewusst, weshalb er das gewollt hatte, denn weitere Alpträume konnte er wahrlich nicht gebrauchen. Und nun suchten sie ihn wieder heim.

Joe war so nah, doch egal wie viele Meter er zurücklegte, er konnte ihn nicht erreichen. Er sah auf die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde, er sah das Lächeln, das er so liebte, und dennoch war er nicht imstande, Joe zu berühren, geschweige denn ihn überhaupt einzuholen. Immer wenn er glaubte, mit einem Sprung könne er ihn fassen, verschwand er noch schneller in der Ferne wieder. War teils nur ein kleiner, schwarzer Punkt, der ihn aber allein durch seine Anwesenheit antrieb, wieder aufzustehen und weiter zu laufen. Plötzlich tat es einen lauten Knall und Joe zersprang in tausend Stücke.

Rick schrie.

Schlug die Augen auf und schrie weiter. Bis er in zwei Augen blickte, die ihn anfunkelten. Und dann spürte er, dass er fest von zwei Händen festgehalten wurde…

Er wand sich unter der starken Berührung, doch er kam nicht frei, egal wie er sich wehrte. Alexandros zog ihn irgendwann ganz nahe zu sich heran, so dass Rick seinen Geruch einatmete. Er war nicht einmal abstoßend, vielmehr angenehm, dennoch wollte er dem Kerl nicht dermaßen nahe sein.
 

„Loslassen!“, knirschte Rick.
 

„Beruhige dich erst mal.“
 

Sanft strich eine Hand über seinen Rücken. War das denn nun die Realität? Wurde er von diesem Widerling getröstet?
 

„Wie denn, wenn Sie mich hier gefangen halten?“
 

„Das ist nur zu deinem Besten.“
 

„Bitte?“
 

„Du hast mich schon richtig verstanden“, säuselte Alexandros und drückte ihm seine Lippen auf die Stirn.
 

Rick wusste gerade nicht, ob er noch träumte oder wachte. Leider wusste er, dass er sich wirklich nicht verhört hatte, aber was sollte das heißen: ’zu deinem Besten’?

In seinem Kopf schwirrte alles. Gerade noch hatte er geschrieen und das wollte er immer noch tun, doch es drang kein Schrei mehr über seine Lippen, so sehr er seinen eigenen lauten Laut noch immer in den Ohren summen hörte. Wie gern hätte er diesen Kerl angeschrieen, doch er konnte nicht. Und es war wirklich markerschütternd, als er erkannte, weshalb.

Er konnte es gar nicht fassen, als er merkte, dass er sich in der schützenden Umarmung wohl fühlte. Dass ihm mit einem Mal die Einsamkeit genommen war und er sich nicht mehr zusammenzurollen brauchte, um sich ein wenig geborgen zu fühlen. War das nicht grotesk? Wie konnte man sich in den Armen des Menschen wohl fühlen, der für die Misere, in der er sich befand, verantwortlich war?

War es der Umstand, dass sein eigener Vater der eigentliche Drahtzieher war? Was bewegte ihn zu diesem Gefühl?
 

/Wie kann ich mich in dieser Lage auch noch behütet fühlen?...

Joe ist so weit weg… aber ich brauche ihn doch!/

Kapitel 52

Kapitel 52
 

Warum lag er denn immer noch in Alexandros Armen? Und weshalb tat dieser nichts als ihn ganz fest zu halten?

Wollte er ihm damit bewusst die letzte Gegenwehr nehmen?
 

Rick schmiegte sich immer näher an seinen Widersacher heran, obgleich er genau wusste, wen er vor sich hatte. Aber er musste es tun. Sonst würde er sich erneut um die Zärtlichkeiten bringen, die er anscheinend bitter nötig hatte. Aber warum konnte sie ihm ausgerechnet Alexandros geben? Das war wohl eine Frage, die er zu diesem Zeitpunkt nicht beantworten und vielleicht niemals konnte. So sehr sich seine Härchen auch aufrichteten, er konnte sich aus der Umarmung einfach nicht lösen. Die Hand, die sanft seinen Rücken auf und ab strich, war einfach viel zu beruhigend und angenehm, egal wie sein Körper darauf reagierte. Sein Herz, seine Seele brauchten Zuneigung und obwohl dieser Mensch, der ihn in seinen Armen hielt, ihn um Joe gebracht hatte, war er dennoch jemand, der gerade anscheinend genau wusste, nach was er verlangte. War auch das ein abgekartetes Spiel? Unbemerkt zuckte Rick mit den Schultern. Es war ihm in diesem Moment einerlei, auch wenn er sich dafür selbst verabscheute.
 

„Ich glaube, du verträgst das Alleinsein nicht, darum sollte ich dir wohl ein wenig mehr Aufmerksamkeiten zukommen lassen.“
 

Rick überhörte den lüsternen Unterton in Alexandros Stimme keineswegs, erwiderte aber nichts.
 

„Soll ich dir ein wenig die Sinne rauben, damit du im Licht des Rausches untergehst?“
 

Kaum hatte Alexandros gesprochen, schon begann er damit, sich hals aufwärts zu küssen, bis seine Lippen letztendlich die von Rick berührten. Das Herz des Dunkelhaarigen protestierte, doch er wehrte sich noch immer nicht. Rick spürte die Zunge des anderen in seinen Mund gleiten, fühlte, wie gierig und besitzergreifend diese war. Warum unternahm er nichts und ließ sich all diese Schmach über sich ergehen? Hatte er wirklich keine Kraft mehr sich gegen diesen Mann aufzulehnen? Ihm aufzuzeigen, dass er nicht alles mit sich machen ließ?

Er stemmte seine Hände gegen die breite Brust, doch Alexandros entfernte sich keinen Zentimeter. Kräftemäßig war Rick allemal unterlegen und dessen war er sich durchaus bewusst; darum brachte es auch nichts, um sich zu treten oder zu schlagen. Er würde dafür dreimal büßen müssen. Außerdem war es doch lediglich ein Kuss, etwas, was er schon einige Male über sich ergehen lassen musste. Und Joe würde ihm das verzeihen, oder nicht? Er musste ja nicht brühwarm erzählen, dass er sich nicht ernsthaft gewährt hatte…

Mit einem Mal durchzuckte es ihn. Das konnte doch niemals seine Einstellung sein! Seit wann gab er seine Hoffnung denn völlig auf!? War es, weil Joe nicht anwesend war und ihn aufmunterte? Aber sollte er nicht genau für diesen jungen Mann kämpfen?

Unerwartet biss er zu und hörte das erstickte Aufschreien seines Gegenübers, der wohl nicht mehr mit einem Widerstand gerechnet hatte.
 

„Basch..tard“, zischte Alexandros und stand auf, aber nicht ohne Rick vorher grob nach hinten ins Sofa gepresst zu haben.
 

/Wenn ich den Ausdruck in deinen Augen sehe, bereue ich schon fast meine Tat eben. Aber ich kann es eben nicht zulassen, dass ich von dem falschen Menschen geküsst werde… So gut mir die Nähe zuvor auch getan haben mochte…

Bin ich undankbar?/
 

In der Tat stellte sich Rick diese Frage. Ermessend blickte er aus den Augenwinkeln heraus zu Alexandros, der das Gesicht leicht verzog als er kräftig schluckte. Bestimmt war eine Menge Blut dabei, das nun seine Kehle hinabrann. Aber der Kleinere war keineswegs undankbar, denn er sah den Sinn seiner Worte immer noch nicht. Weshalb war es denn nun zu seinem Besten, hier unten gefangen gehalten zu werden? Allein, abgeschottet von der restlichen Welt?
 

„Warum?“
 

Verwundert, aber kalt sah der andere zu ihm.
 

„Warum bin ich hier?“
 

„Das hast du dir doch gerade selbst beantwortet.“
 

„Könnten Sie etwaigen ein wenig präziser sein?“, fragte Rick betont höflich.
 

„Deine Sünden müssen bereinigt werden.“
 

Konsterniert zog Rick die Brauen nach oben. Was sollte das bedeuten?
 

„Mein Vater… Habe ich Recht?“
 

Alexandros blieb ihm eine Antwort schuldig und lächelte stattdessen süffisant.

„Ich habe die ehrenwerte Aufgabe, dich zu reinigen.“
 

„Indem Sie mich anfassen, mir Ihre Zunge aufdrängen?“, wollte Rick spotten, doch aus seinem Mund drang lediglich ein unverständliches Murmeln. Er beobachtete, wie sich der Kerl ein letztes Mal mit dem Handrücken über den Mund wischte und dann langsam zu ihm zurückkam. Sich galant auf dem Sofa niederließ.

Eine Weile lang konnte Rick den Blicken standhalten, die ihm anhafteten, doch irgendwann senkte er die Lider. Gab es denn keinen Weg, diesen Mann auf Abstand halten zu können?

Und schon wieder verweilte eine Hand auf seinem Rücken, die dieses Mal aber nichts Sanftes oder Liebliches an sich hatte, sondern ihre Finger grob ins Fleisch drückte. Schmerzen durchzuckten ihn, aber er gab sich nicht die Blöße, laut aufzuschreien oder sonstige Schmerzenslaute von sich zu geben.
 

„Wie viel Widerstand willst du noch leisten? Muss ich dich erst foltern, bevor du aufhörst, meinen Körper zu schänden?“, flüsterte der andere hauchzart an seinem Ohr.
 

Rick reagierte auf die Worte mit einem bebenden Leib. Egal, wie sehr er sich bemühte, seine Einschüchterung nicht zu zeigen, es war vergebens. Er zitterte und wie und das nahm Alexandros deutlich erfreut wahr. Er verstärkte den Druck seiner Finger und grinste gefühllos, als sich der Kleinere unter ihm wand.
 

„Wirst du dich von nun an im Zaum halten?“
 

Erwartete Alexandros wirklich eine Antwort oder hatte er die Frage nur gestellt, um Rick noch mehr zu beengen? Keuchend schnappte Rick nach Luft. Auf seiner Brust fühlte er das Gewicht des anderen und es schnürte ihm die Luft ab. Die Nägel in seinem Rücken verursachten allmählich ein furchtbares Brennen, das sich auszubreiten schien, wenn er sich bewegte. Doch er konnte seinen Körper gerade nicht ruhig halten. Das Beben war lediglich ein Ausdruck für seine Angst und seinen Widerwillen, den er verspürte; der ihn immer mehr erfüllte. Hatte er vorher wirklich von dem ein- und demselben Menschen Liebkosungen erhalten? Das war etwas, was er sich kaum erklären konnte. Alexandros besaß scheinbar zwei Seiten: eine zarte und eine tiefdunkle, wobei letztere bei Weitem überwog. Doch vermutlich hatte er die erstere ohnehin nicht inne, sondern spielte lediglich die Rolle des Sorgenden.
 

/Warum denke ich überhaupt so viel über diesen Mann nach? Nur weil er gerade auf mir liegt und mich mit seinen Händen malträtiert?

Ich muss die Augen verschließen… und verdrängen, was gerade geschieht.

Ich muss mein Herz besänftigen… damit ich seine Zunge ertrage.

Ich darf nicht ich selbst sein!/
 

Allmählich beruhigte sich Rick wieder und lag alsbald schlaff unter Alexandros, der seine Lippen unentwegt über Ricks Hals gleiten ließ. Ab und an grub er seine Zähne in die warme Haut und leckte anschließend mit seiner Zunge über die Rötungen.

Rick versuchte sich zu entspannen und schob alle Gedanken an die Gegenwart beiseite. Wie in Trance fühlte er, wie er gierig angefasst und geküsst wurde. Mit viel Mühe versuchte er Minute für Minute diesen wohltuenden Nebelschleier aufrecht zu erhalten. Angestrengt ließ er sich in den Dunst fallen und wollte einfach an nichts denken… ans unendliche Nichts.
 


 

Finger.

Überall spürte er Finger.

Berührungen, so peitschend wie das tosende Meer.
 

Er konnte nicht mehr.

Er konnte diese schwitzigen Hände nicht mehr auf seiner Haut ertragen.

Nahm die Gier denn nie ein Ende?
 

Keuchen, Gestöhne und Gelächter. Kalte, irre Laute, die durch Mark und Bein gingen. Alexandros lag mit vollem Gewicht auf ihm und atmete laut ein und aus, verströmte einen herben Geruch, dessen Rick überdrüssig war. Viel zu deutlich nahm er wahr, was ihm angetan wurde. So sehr er sich auch den Nebelschleier zurückwünschte, er kam nicht wieder, war für ein und allemal der klaren Sicht gewichen, die er partout nicht haben wollte. Selbst blieb er stumm und unterdrückte sich jedwedes Geräusch aus seinem Mund. Ihn machte es nicht an, derart von einer Person berührt zu werden. Was er fühlte? – Hass! Ungeschminkten Hass!

Innerlich verfluchte er die Welt und die ganze Menschheit. Wie konnte sie zulassen, dass derartige Dinge geschahen?

Wie oft hatte er den Kerl auf sich bereits von sich stoßen wollen, doch jeder Versuch war in reiner Lächerlichkeit versunken. Er war zu schwach und musste wie eine Puppe alles über sich ergehen lassen. Aber er war nun mal keine Marionette, sondern ein Mensch mit Gefühlen! Interessierte das denn niemanden? Konnte die Schmach denn niemals enden?

Sein Herz schlug wie verrückt in seiner Brust. Es wollte diese Szene, die sich gerade abspielte, nicht akzeptieren; doch ein solch kleines Organ konnte nichts ausrichten. Etwaigen vermochte es, einen am Leben zu erhalten, doch Peiniger in die Flucht zu schlagen? - Dazu war es nicht in der Lage.

Immer und immer wieder wünschte sich Rick, sich einfach in Luft auflösen zu können. Doch er war dazu verdammt, dazuliegen und unbeherrschte Hände überall an seinem Körper zu spüren. Alexandros begnügte sich nicht mehr damit, ihm über den Rücken zu fahren. Bisweilen labte er sich an seiner Brust, saugte und leckte, biss und küsste. Ricks Beine sandten ein leichtes Taubheitsgefühl, aber er konnte sich kaum rühren. Wie ein Tier war er gefangen unter dem Gewicht von gefühlten Tonnen. Wie er diese Zunge verabscheute, die in seinen Bauchnabel stieß! Doch weiterhin oblag es ihm, irgendwelche Laute von sich zu geben. Er konnte diesem Kerl ja keine Bestätigung für das geben, was er da tat.
 

/Was kann ich tun, damit er von mir ablässt?

Ich merke, wie ich jedwedes Gefühl in mir abzutöten versuche, doch ich schaffe es nicht. Ich kann mich der Peinigung nicht verwehren, obwohl es mein einziger Weg wäre, sie zu ertragen.

Joe!!!

So sehr ich deine Rettung erhoffe, ich weiß, dass sie nicht eintritt.

Ich hoffe nur…/
 

Fest kniff Rick die Augen zusammen, als sich ein gleißender Schmerz in seiner Hüfte bemerkbar machte. Nein, er schrie nicht auf; dieser Blöße konnte er sich nicht hingeben.
 

/Ich hoffe nur, dass du glücklich wirst…/
 

Als er eine von den großen Händen gefährlich nahe an seinem Hosenbund spürte, zuckte er zusammen und mit einem Mal wollte er nicht mehr den stillen, nicht teilhabenden Part mimen.
 

„Nimm endlich deine Finger von mir!“, presste er zwischen seinen Lippen hervor.
 

Alexandros fuhr fort ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
 

„Gefällt es dir so, sich an einem Unschuldigen zu ergreifen? Sich an einem Menschen zu laben, der nicht fähig ist sich zu wehren? Sich an Schwächeren zu vergehen? Ist es das, was dich so scharf macht? Ja? Dann geh’ und vergewaltige Olivier! Der-“
 

Barsch wurde er zum Verstummen gebracht, indem sich zwei Lippen auf seinen Mund pressten. Unter der unsanften Art verschluckte sich der Kleinere und begann erstickt zu husten. Luft zum Atmen wurde ihm ja kaum gelassen, weshalb er in die Mundhöhle des anderen keuchte. Kleine funkelnde Sterne tanzten für einen Moment vor seinen Augen und er krallte seine Finger in das Sofa, selbst wenn dieser verzweifelte Akt ihn kaum in der Realität lassen würde. Aber eine Ohnmacht zu diesem Zeitpunkt wäre fatal. Es war wie eine kleine Befreiung, als sich der andere von ihm löste. Viel zu hastig sog Rick die Luft ein und stieß sie unter Qualen wieder aus. Seine Kehle brannte, der Geschmack in seinem Mund war bitter.
 

„Oder ist er dir viel zu ergeben?“, fragte Rick heiser.
 

Kurz hielt Alexandros in allem inne und starrte ihn nur an. Das war wie ein triumphaler Sieg, der wie nicht anders zu erwarten nicht von Dauer war.
 

„Ich glaube, ich muss dir ein wenig Respekt gegenüber Älteren beibringen“, meinte er kühl. Dennoch sah man ihm die Wut an, die er verspürte.
 

„Ach, du willst es mit keinem treiben, der dich vergöttert?“ Mit solchen Worten hatte Rick nicht einmal selbst gerechnet, doch nun waren sie bereits ausgesprochen, bevor er sie überhaupt denken konnte. Er sah den Zorn, der jetzt auch Alexandros Gesichtszüge befiel.
 

Einige Minuten lang geschah gar nichts. Weder fügte Rick irgendetwas an – jedes weitere Wort hätte er sich ohnehin verkniffen, selbst wenn sie auf seiner Zunge gelegen hätten - noch unternahm Alexandros etwas. Seine Hände ruhten lediglich auf Ricks Oberkörper, verharrten dort ungerührt. Sie sahen sich an, vielmehr stierten sie sich an. Beider Augen funkelten, des einen vor immer größer werdender Panik, des anderen vor ungestillter Wut. Rick wusste, dass er eindeutig zu weit über die Strenge geschlagen hatte und er fürchtete sich in der Tat vor dem nun Kommenden.

Irgendwann beugte sich der Größere zu ihm hinab und brachte dabei das böseste Lächeln zum Vorschein, das er je zu Gesicht bekommen hatte.
 

„Ich sehe doch, wie du nach mehr lechzt“, hauchte er ihm ins Ohr und schob währenddessen eine seiner Hände unwirsch in Ricks Hose, der darunter aufstöhnte, obgleich dies nicht aus Lust, sondern mehr aus Überraschung geschah.
 

„Geh’ weg!“, rief er nun, doch spürte gleich darauf die andere Hand auf seinem Mund, die weitere Worte nur als unverständliche Laute durchdringen ließ.
 

„Na, wie gefällt dir das?“

Fest rieb er auf und ab und grinste Rick dabei nur noch boshaft an.
 

Von irgendwoher drang ein Scheppern ins Zimmer und Alexandros hielt in seiner Bewegung abrupt inne, als die Tür aufgestoßen wurde.

„Ich hab doch gesagt, dass ich nicht gestört werden will!“, fauchte er gen Tür.
 

„Es ist wichtig.“

An der Monotonie erkannte Rick sofort Olivier, selbst wenn er diesen nicht sehen konnte. Denn das Sofa stand immer noch am Fenster, wohin er es am Tag geschoben hatte, mit Rückenlehne zum Inneren des Raumes. Plötzlich empfand Rick die reinste Sympathie für den schmächtigen Jungen, denn sein Timing hätte besser gar nicht sein können. Die Panik, die ihn befallen hatte, wich mit jeder Sekunde aus seinem Körper und er spürte, wie Alexandros allmählich sein Gewicht verlagerte und seine Beine freigab.
 

„Das hat Zeit.“
 

„Nein hat es nicht.“
 

„Du wagst es mir zu widersprechen?“
 

/Wer ist es wirklich, der sich nicht im Zaum halten kann? Du lässt sogar an dem Menschen deine Unbeherrschtheit aus, der dich von tiefstem Herzen liebt… und nicht nur weil ich den Groll in dir geweckt habe. Das ist erbärmlich…/
 

„Es ist wichtig“, wiederholte Olivier ruhig und ein undefinierbares Geräusch drang an Ricks Ohren. Es hörte sich danach an, als ob er gegen was schlagen würde, doch dafür war der Laut eigentlich zu dumpf. Anschließend sah er wieder in diese dunklen Iriden, die wie Feuer loderten.
 

Einige Male blickte der Kerl von einem zum anderen und eisige Stille, lediglich unterbrochen von leisem Keuchen, erfüllte das Zimmer.
 

„Ich werde dich schon noch zähmen“, flüsterte Alexandros nur für Rick hörbar und fuhr mit einem Finger über seine Brust.
 

Dann stand er auf und warf einen letzten Blick auf Rick, bevor er zu Olivier ging und diesem aus dem Zimmer folgte.
 

Eine Ewigkeit lang lag der Dunkelhaarige einfach nur da, starrte fast schon leblos an die Decke. Sein Puls beruhigte sich zwar allmählich, doch der Rest in ihm pulsierte unablässig und offenbarte ihm die Angst, die größer war als er die ganze Zeit gedacht hatte.
 

/Dieses Gefühl…

es ist, als ob ich erfriere… und gleichzeitig verbrenne./
 


 

Kurz vor Veneawer zog sich Joes Magen mit einem Mal gänzlich zusammen und er beugte sich auf dem Beifahrersitz vornüber, um die Schmerzen besser zu ertragen, die ihn befielen.
 

„Halt bitte an“, meinte er zu Steven gewandt, der das erst gar nicht mitbekommen hatte und nun jäh auf die Bremse trat. Sie wurden erst mächtig gegen den Gurt und dann in den Sitz gedrückt und Joe stöhnte bei beidem laut auf.

„Das nächste Mal ein wenig härter, ja?“
 

Steven überhörte geflissentlich den Sarkasmus und stieg aus, um wenig später Joes Tür aufzureißen und ihm aus dem Auto zu helfen. Die Beine des Blonden gaben sofort nach, als er sein Gewicht vollkommen auf sie verlagern wollte. Hätte Steven ihn nicht festgehalten, läge er nun am Boden.
 

„Versuch mal tief ein- und auszuatmen.“
 

Steven schleppte ihn mehr oder minder von der Straße weg. Nach ein paar Schritten drückte er ihn keuchend auf einen Baumstamm nieder, der normalerweise Pferden neben anderen als Hindernisparcour diente.

Als Joe wieder saß, begann er zu würgen, doch mehr als dumpfe Laute drangen nicht aus seinem Mund. Obgleich er vor Kälte eine Gänsehaut hatte, hatte er den Eindruck zu brennen.

Es war früher Morgen und nur ab und an streifte Scheinwerferlicht seine Züge, gab preis, wie bleich er war. Besorgt stand Steven neben ihm und wusste ihm nicht wirklich zu helfen, außer ihm immer wieder Ratschläge zu geben, wie er seinen Körper entspannen konnte. Aber er wusste, dass Joe ihm kaum Gehör schenkte.

Joe krümmte sich immer mehr und wippte auf dem Stamm vor und zurück, beide Arme fest um seine Taille geschlungen. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen und jedes Mal glaubte er, das Bewusstsein zu verlieren. Alles in ihm schien zu pochen und zu schlagen. Überall kribbelte es, als ob hundert Fliegen durch seine Haut kröchen. Stoßweise entfuhr ihm die Luft aus dem Mund, die weißlich im wenigen Licht schimmerte.

Was war auf einmal mit ihm los? Vor seiner Abreise waren doch noch keine Anzeichen erkennbar gewesen.

Bruchstückhafte Bilder taten sich vor seinem inneren Auge auf. Puzzleteilähnliche Fetzen, die so unscharf waren, dass Joe nichts auf ihnen erkennen konnte. Und doch schlich sich ein lähmendes Gefühl in seine Glieder, das zu grotesk war, da weiterhin alles zu prickeln schien.
 

„Soll ich den Notarzt rufen?“, fragte Steven besorgt und zückte schon sein Handy, da er dachte, ohnehin keine Aufmerksamkeit von seinem Sohn zu bekommen. Kaum hatte er ein paar Tasten gedrückt, da umgriffen schwache Finger sein Handgelenk. Ein wenig erschrocken sah er zu Joe hinab.
 

„Ich brauche keinen“, presste dieser zwischen seinen Lippen hervor.
 

„Wäre es nicht besser, wenn-“
 

„Nein!“, unterbrach Joe ihn barsch. „Es ist nur…“ Erneut würgte er trocken. „… es geht sicherlich gleich wieder.“
 

Seufzend ließ sich Steven neben ihn nieder und sah alsbald abwesend gen Straße, auf der zu dieser Uhrzeit kaum was los war. Joe wollte vor Ladenöffnung in Veneawer sein, weshalb sie etwa um Mitternacht zuhause losgefahren waren. Zuvor hatten sie sich ein paar Stunden Schlag genehmigt, da ihrer beider Körper völlig entkräftet und teils noch immer waren.
 

„Haben wir Wasser dabei?“ Joes Worte rissen ihn unvermittelt aus seinen Gedanken und er nickte nur und stand sofort auf. Mit einer Plastikflasche in der Hand kam er zurück und reichte sie dem Jüngeren, der sie mit einem qualvollen Lächeln annahm. „Danke.“
 

Ein paar Minuten lang nahm Joe immer mal wieder einen kleinen Schluck Wasser zu sich und entkrampfte sich allmählich, während drückende Stille über ihnen herrschte.

Mit einem „Erzähl mir alles“ unterbrach er sie. Erst sah ihn Steven verwundert an, doch dann schien jener zu begreifen, was gemeint war.
 

„Mit ein wenig Geld geht vieles“, begann der Ältere und brachte sich in eine bequemere Position. „Als ich im Veritatis lux ankam, wurde ich höflich empfangen, doch als ich, nachdem man mir mein Essen gebracht hatte, mein Anliegen äußerte, mit einem bestimmten Kellner zu sprechen, wurde man mir gegenüber von einem Moment auf den nächsten völlig distanziert und kühl… Ich frage mich manchmal, in was für einer Welt wir eigentlich leben, denn ich musste nur mit ein paar Scheinen aufwarten und schon bekam ich wieder die Höflichkeit gezollt, die einem Gast gebührte. Geld regiert wohl doch die Welt.“

Bitter lächelnd blickte er zu Joe, der aber kein Amüsement zeigte, selbst wenn es nur reiner Ironie entsprungen wäre. Steven seufzte und fuhr fort:

„Jedenfalls bat ich den Mann zu sprechen, der euch damals bediente, und alsbald saß er mir gegenüber, mit Augen voller Hohn. Aber egal, wie viel Spott und Herabsehen er mir gegenüber hegte, ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen und schob auch ihm heimlich ein Bündel mit Scheinen zu. Eigentlich wollte er damit verschwinden, ohne mir meine Fragen zu beantworten, doch wie ich ihn letztendlich dazu gebracht habe, doch zu reden,… bleibt mein kleines Geheimnis.“

Während er seine Hände kurz gegeneinander rieb, um der Kälte trotzen zu können, bemerkte er Joes Blicke, doch erwiderte sie nicht.

„Du musst nicht wissen, welche Mittel ich parat habe.“
 

„Und du meinst nicht, dass er dir einen Bären aufgebunden hat?“ Joe spielte vor allem auf Ricks Vater an.
 

„Man muss nur den richtigen Druck ausüben können.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und ich bin leider überzeugt, es getan zu haben. Joe, mach langsam!“

Der Blonde war abrupt aufgestanden und sackte halb in sich zusammen, obgleich das merkwürdige Gefühl von vorher fast gänzlich verschwunden war.
 

„Denk ja nicht, dass ich das jetzt glauben werde, auch wenn du dir so sicher bist!“ Seine Stimme war brüchig, dennoch bestimmt genug, um sein Statement klarzustellen. „Wir müssen weiter“, fügte er an und ging zum Auto zurück.
 

Als sie beide wieder eingestiegen waren, warf Steven unvermittelt den Motor an, setzte den Blinker und fuhr los.
 

„Ich kann es einfach nicht glauben“, meinte Joe leise.
 

„Das verstehe ich ja, aber du solltest irgendwann den Tatsachen ins Auge sehen. Das Leben besteht leider nicht aus Wunschvorstellungen und das wird es niemals tun. Man wird immer wieder auf grausame Art und Weise in die Realität zurückgeholt. Du bist noch jung, aber du wirst noch so einige schreckliche Erfahrungen machen.“
 

„Ich bin erwachsen“, entgegnete Joe, doch nur halbherzig, da er genau wusste, worauf sein Stiefvater anspielte.
 

„Mit der Zeit verblassen die Farben des Lebens und man sieht sich ungewollt mit Problemen konfrontiert, von deren Existenz man vorher gar nichts ahnte. Mit jedem Jahr, das einem aufgebürdet wird, erkennt man immer neue Facetten des Lebens, wobei andere an Bedeutung verlieren. Man versucht sich mühsam durchzuschlagen… Aber egal wie depressiv das klingen mag, erst dadurch kann man die schönen Dinge erst schätzen lernen. Die Liebe, die Familie,… Kinderla-“
 

„Schon gut!“

Joe wollte das letzte Wort partout nicht hören, denn es hätte ihn sich nur wieder vollkommen schuldig fühlen lassen.

„Sind wir rechtzeitig da?“

Unruhig sah er auf die Uhr im Armaturenbrett, die schwarze Ziffern auf grünem Untergrund aufzeigte. Es war nicht einmal ganz halb sechs und sie würden in weniger als einer Stunde Veneawer erreichen. Das hieß, dass sie immer noch überpünktlich waren. Erleichtert seufzte er auf und blickte wieder hinaus auf die momentan wenig befahrene Autobahn. Die ersten Pendler würden wohl erst hier unterwegs sein, wenn sie beide bereits vorm Supermarkt stünden.

„Denkst du, dass du es schaffst?“
 

Verwirrt sah Steven kurz nach rechts zu Joe und fragte stumm nach, was er meinte.
 

„Ich meine, du möchtest alleine den ganzen Laden beschatten. Irgendwie bezweifle ich, dass wir auf diese Weise die Person finden, die mir das letzte Rätsel zukommen lassen wird. Bisher waren die Entführer mir immer mehr als einen Schritt voraus und sie können ja auch jetzt sehen, wo ich mich aufhalte.“

Mit einer Hand entnahm er seiner Jacke den Peilsender und hielt ihn sich vors Gesicht.

„Damit wissen sie immer, wo ich gerade stecke. Die haben es sich damit ganz schön einfach gemacht. Was wäre, wenn ich ihn einfach“, er drückte einen Knopf am Fenster, das sich daraufhin absenkte, „hier rausschmeiße?“

Er hielt ihn bereits raus, als Steven nach seinem Arm griff und dabei das Lenkrad nicht mehr unter Kontrolle hielt. Das Auto wich von der Spur und kam leicht ins Schleudern. Abrupt ließ sich Steven zurück in seinen Sitz fallen und versuchte, das Auto wieder unter Kontrolle zu bringen. Mit einem Fuß stieg er in die Eisen und die Reifen quietschten. Sie drehten sich samt dem Auto und die Leitplanke kam immer wieder gefährlich nahe in ihre Sicht. Kalter Schweiß rann über Stevens Stirn, der sich mit beiden Händen krampfhaft am Steuer festhielt. Auch Joe hielt sich mühsam irgendwo am Auto fest. Nach einer schieren Ewigkeit kamen sie zum Stehen und man konnte regelrecht den Atem hören, der von Steven eingesogen und wieder ausgestoßen wurde.
 

„Alles okay?“, fragte er und Joe nickte.
 

„Nur habe ich ihn tatsächlich fallen lassen.“
 

Entsetzt schoss Steven mit seinem Oberkörper nach vorne, doch aufgrund des Gurtes, der nun völlig straff war, war dies ein unfruchtbares Unterfangen. Es klopfte zu seiner Linken und er drehte sich erschrocken um, blickte in ein junges, unbekanntes Gesicht.
 

„Ist jemand verletzt?“, drang eine helle Stimme dumpf herein, woraufhin die Tür aufgemacht wurde.
 

„Nein, uns geht es gut, danke. Nur der Schock steckt noch in unseren Gliedern.“
 

„Keinen Krankenwagen?“
 

„Nein, es geht schon, wirklich.“ Steven rang sich mühevoll ein Lächeln ab. „Sie können beruhigt weiter fahren.“
 

„Sie sind sich sicher?“
 

„Ja, danke vielmals. Es ist sehr aufbauend, dass es noch Menschen gibt, die zur Hilfe eilen. Gehen Sie schon, es ist alles in bester Ordnung.“
 

„Ist es das?“, fragte Joe, als die junge Frau wieder gefahren war.
 

„Nunja, es ist zu spät oder?“
 

„Mag sein… Ich wollte das nicht ernsthaft tun, ich bin schuld, wenn…“

Unbeherrscht bäumte er sich kurz auf und sank zurück in seinen Sitz.

„Wie konnte ich nur so unbedacht sein?“
 

„Denk das nächste einfach vorher nach.“
 

Ein irres Lachen drang aus Joes Mund. Immerzu hieß es, sich zusammenzureißen und ruhig zu bleiben. Aber wie konnte man das denn, wenn man Stunde für Stunde die Zeit vorbeirennen sah und wusste, dass es um Rick nicht gut stand? Ihm war immer noch flau im Magen und allmählich begann er zu glauben, dass es mit seinem Freund zu tun hatte. Etwaigen mochten seine Schmerzen allein davon herrühren, dass er kaum etwas zu sich nahm und jedwede Form von Essen verweigerte, aber dennoch… Er wurde das Gefühl seitdem nicht mehr los, dass es Rick nicht gut ging, dass er sich beeilen musste…

Kapitel 53

Kapitel 53
 

„Seit wann stehen wir hier?“
 

„Etwa eine halbe Stunde.“
 

„Die Kälte ist unerträglich.“
 

„Die paar Minuten bis zur Öffnung wirst du auch noch überstehen.“ Joe legte seine Hände auf Stevens Schultern. „Bitte.“
 

„Ich werde schon nicht einfach gehen, aber diese sinnlose Warterei hätten wir uns wirklich ersparen können. Zudem bist du noch nicht wieder bei Kräften.“
 

„Meine Gesundheit ist nicht von Belang. Zudem sollten wir uns allmählich trennen und von beiden Seiten Ausschau halten. Vielleicht hält sich der Verdächtige bisweilen ganz in der Nähe auf.“
 

Als Steven ihm zunickte, entfernte sich der Blonde im Schutz der Büsche, die sich an einer Straßenseite entlang zogen, einige Meter. Währenddessen verschwand der Ältere aus seinem Blickfeld. Ob es von Vorteil war, dass der Supermarkt in einer Nebenstraße lag, musste sich erst noch herausstellen. Somit war er leicht im Auge zu behalten, doch an den Lieferanteneingang kamen sie dennoch nicht ohne Weiteres heran. Privatgrundstück unbefugt und vor allem ungesehens zu betreten war nicht einfach und Steven wollte diese Aufgabe unbedingt übernehmen, was ihm Joe gerne überließ. Er musste sowieso den Laden betreten und den Haupteingang hatte er gut im Blick. Bisher waren nur wenige Leute überhaupt an ihnen vorbeigegangen, doch keiner hatte irgendwelche Verdächtigungen in ihnen geweckt.
 

/Vielleicht… können wir den Kerl heute schnappen, der uns dann… zu dir führt, mein kleiner Romantiker…

Dass mir einmal dein ganzes Wesen so fehlen würde…/
 

Angespannt positionierte er sich hinter einem Busch und versuchte die Straße nahtlos im Blick zu behalten. In wenigen Minuten würden sich die Ladentüren öffnen und auch wenn er den Peilsender verloren hat, dieser Kerl würde sicherlich wissen, dass er hier war. Denn so bald sie in Luminis wieder aufgebrochen waren, war dies doch offensichtlich, oder nicht? Und außerdem… Wurde er denn nicht vorher auch beschattet? Wie war das, seitdem er den Peilsender bekommen hatte?
 

/Werde ich vielleicht jetzt auch noch beobachtet?... Ausschließen kann ich nicht, dass sich Serrat und der Rest auf ein kleines Hight-tech-Gerät verlassen. Aber mein Gefühl sagt mir, nicht unter Argusaugen zu stehen, und doch… Irgendwie…/
 

Nervös sah er umher. Gab es hier noch bessere Verstecke als diese Büsche, die eh kaum noch Blätter als Schutz trugen? Seine dunkle Kleidung war etwaigen ein kleines Hilfsmittel, nicht gleich gesehen zu werden, doch konnte er sich nicht darauf verlassen. War es möglich, dass er von einem anderen Ort, der wesentlich mehr Deckung bot, beschattet wurde? Schließlich hatten sie sicherlich bemerkt, dass das Signal irgendwann abrupt aufgehörte hatte sich zu bewegen. Und das vor allem mitten in der Prärie.

Allmählich wurde Joe ganz anders zumute. Sein Bauch sandte ungute Empfindungen an sein Gehirn. Irgendetwas stimmte hier nicht. Zumindest glaubte er das langsam. Zu allem Überfluss merkte er erneute Übelkeit in sich aufkeimen; ihm war schwindlig und er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Während er sich die Schläfen rieb, sah er zwei Frauen zu, wie sie an ihm vorbeiliefen. Aufgrund der Tiefe ihrer Unterhaltung sahen sie den jungen Mann nicht, der interessiert hinter ihnen herblickte. Als sie aber den Supermarkt ungeachtet passierten, schwand Joes Interesse augenblicklich wieder. Außerdem glaubte er, dass derjenige, der ihm den nächsten Hinweis übermittelte, ohnehin allein unterwegs sein würde. Unscheinbar und gänzlich unauffällig. Vielleicht klein und dürr; einer, der in der Menge leicht unterging. Aber vielleicht spekulierte man darauf, dass er das dachte, und am Ende war es einer, von dem man niemals vermuten würde, es sei der Täter, weil er zu markant war. Wie dem auch sei, Joe hielt weiterhin die Augen offen und konnte es kaum erwarten, dass die Kathedrale achtmal schlug.

Die Aufregung, die sich in ihm immer weiter ausbreitete, bestärkte sein negatives, körperliches Befinden nur noch mehr, aber das Adrenalin, das gleichzeitig freigesetzt wurde, brachte ein wenig mehr Leben in seine Glieder. Ständig verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, spielte mit einer Hand an den bereits recht dürren Zweigen und konnte nicht umhin, die andere Hand immer mal wieder zur Faust zu ballen. Obgleich der angebrochene Tag mehr Kühle als die Nacht zu bieten schien, war ihm nicht im Entferntesten kalt. Vielmehr bemerkte er, wie seine Haut regelrecht nach Kühlung lechzte und kleine Schweißperlen produzierte, die aus den Poren drangen. So zappelig war er das letzte Mal vor seinen Abschlussprüfungen gewesen und wie immer ersehnte er das Ende regelrecht herbei. Aber wie sah es aus? ’Das Ende’?

Für einen Moment blieb sein Herzen stehen. Hatte es denn Konsequenzen, dass er den Peilsender verloren hatte? Denn es war unwiderruflich, dass der Verlust bereits bemerkt worden war. Und keiner würde glauben, dass er mitten auf der Autobahn länger als nötig verharrte. Plötzlich setzte sein Herzschlag wieder ein und erreichte einen Takt, der nicht nur rasant, sondern an Dynamik nicht mehr zu überbieten war. Er hörte ihn sogar, wie er in seinen Ohren hallte.

Konnte es denn nicht endlich acht sein? Er wollte hier und jetzt die dumpfen Schläge hören! Zitternd lugte er aus dem Gebüsch heraus und konnte bereits sehen, dass ein Angestellter sich eifrig an der Ladentür zu schaffen machte. Doch so sehr sich Joe wünschte, sie würde aufgehen, sie tat es nicht.
 

Eins…

Zwei…

Drei…
 

Joe zählte bis acht. Es war soweit. Aber warum wurde die Tür immer noch nicht geöffnet? Er wollte schon geradewegs seine Tarnung aufgeben und zum Supermarkt stürmen, doch ein weiterer Schatten hinter dem Ladenfenster ließ ihn in seinem Vorhaben innehalten. Fast sah es so aus, als ob sich die beiden Personen streiten würden. War das nur Einbildung oder war er wirklich gerade Zeuge, wie der Hagere von beiden eine Ohrfeige bekam? Aus der Entfernung konnte Joe nicht wirklich viel erkennen, die Gestalten im Laden glichen wirklich mehr oder weniger nur schattenhaften Silhouetten, doch dass da gerade etwas nicht stimmte, bewies ihm nicht nur die noch geschlossene Türe.

Da Joe nicht recht wusste, was er tun sollte, stand er einfach nur da und starrte unentwegt in dieselbe Richtung. Er fragte sich, wo Steven gerade steckte und ob er mittlerweile den Täter stellen konnte. Sie hatten ausgemacht, ihn nur dann zu stellen, wenn er kräftemäßig weit unterlegen war; wenn dies nicht der Fall wäre, dann würden sie sich unauffällig an seine Fersen heften. Für Steven würde dies bedeutend einfacher sein, da er nicht das Zielobjekt dieser ganzen Machenschaften war, sondern er, Joe, und darauf mussten sie einfach spekulieren. Irgendwo mussten sie sich auf ihr ’Glück’ verlassen, selbst wenn Steven derjenige war, der bei der Polizei gewesen war und ihn überall hin begleitete. Aber hatte man es nicht einzig auf den Blonden abgesehen?

Ein wildes Spiel von vier Armen ließ Joe für ein paar Augenblicke vergessen zu atmen. Was ging dort vor sich? Da er nichts mehr an sich ruhig halten konnte, lief er Schritt für Schritt dem Ladenfenster entgegen. Er wollte die Szene schärfer und detailreicher sehen können. Als er nur noch vielleicht drei oder vier Meter von ihr entfernt war, sah einer von den beiden Personen kurz zu ihm. Joe war erst völlig erstarrt, doch als er sah, wie der Junge sich plötzlich von dem anderen abwandte und einen der Gänge entlangeilte, sich damit der Sicht gänzlich entzog, erlangte er die Beherrschung über seinen Körper wieder und setzte sich wieder in Bewegung. Seine Füße trugen ihn zunächst zur Tür, die sich aber nicht öffnen ließ. Sein erster Gedanke war zu klopfen, um den anderen, wohl den Besitzer auf sich aufmerksam zu machen, doch er entschied sich anders, da das zu lange gedauert hätte. Stattdessen begann er zu rennen und schaffte es geradeso um die Ecke zu biegen, ohne die andere Hauswand zu touchieren. Die Gasse, in der er sich nun befand, war trist und zeugte nicht gerade von ansehnlichen Fassaden, doch Joe realisierte das ohnehin nicht. Vielmehr wollte er den Hintereingang so schnell wie möglich erreichen, auch wenn er wusste, dass dort Steven wartete und eingreifen würde, wenn jemand an ihm vorbeistürmen würde. Als er ein zweites Mal um eine Kurve von etwa neunzig Grad bog, suchte er noch im Rennen bereits die Umgebung ab. Er hatte den Supermarkt bisher noch nie von hinten gesehen und musste sich erst einmal orientieren, doch das bot keinerlei Schwierigkeiten, da der Zuliefererbereich lediglich aus einem gepflasterten Hof und einer Laderampe mit einem großen Tor dahinter bestand. Doch was Joe neben diesen Gegebenheiten erblickte, raubte ihm den Atem.
 

„Dad?“, rief er, während er zu Steven, der in einer Lache aus Blut am Boden lag, lief. Seine Motorik wollte versagen, doch er zwang sich nicht auf der Stelle selbst in die Knie zu sinken.
 

Ihm kam es vor, als ob er sich seinem Vater in Zeitlupe nähern würde. Als ob die Zeit fast stehen geblieben wäre und er sich im falschen Film befände. Er konnte sich nicht erklären, weshalb er solch eine grausame Szene vor sich sah, weshalb Steven…

Jedweden Gedanken verdrängte er sofort wieder aus seinem Verstand, als er sich zu Steven hinabbeugte und die Platzwunde an dessen Kopf sah. Vorsichtig berührte er ihn an der Wange und sprach ihn mit sanfter Stimme an, die unüberhörbar bebte.
 

„Dad? H-hörst du m-mich?“
 

Doch er zeigte keinerlei Reaktion. Die Welt um Joe herum schien wie ein Karussell, das sich munter drehte. Und das Rot der zähen Flüssigkeit, die aus dem Körper des anderen floss, schien zu leuchten wie das Abendrot der untergehenden Sonne. Mit zittrigen Fingern suchte er sein Handy und rief einen Krankenwagen. Er klang dabei ganz verstört und erkannte sich in dem Moment selbst nicht wieder.

Während er auf den Notarzt wartete, fühlte er sich völlig hilflos und unnütz. Erst in solchen extremen Situationen realisierte man erst, wie vergänglich das Leben doch war. Wie schnell es vorbei sein konnte, ohne es richtig begonnen zu haben. Immer wieder rief er sich zur Gesinnung, denn an den Tod durfte er insbesondere jetzt nicht denken.

Als er Sirenengeräusch vernahm, war er seit Minuten das erste Mal ein wenig erleichtert. Wenig später bog der Krankenwagen um die Ecke und zwei Sanitäter sprangen raus, eine Trage im Schlepptau.
 

„Wie lange liegt er schon da?“, fragte der sichtlich Ältere von beiden.
 

Nach kurzem Zögern, antwortete Joe: „Weniger als 15 Minuten.“
 

Im Folgenden unterhielten sich die Sanitäter zwar, doch der Blonde nahm eigentlich kaum noch mehr was wahr. Mit den Augen verfolgte er das Geschehen, doch es schien irgendwie nur an ihm vorbeizurauschen. Erst als er den Mann, der ihn vorher abgesprochen hatte, direkt auf sich zukommen sah, löste er sich aus seiner Starre.
 

„Wie geht’s ihm?“
 

„Soviel wir feststellen konnten, hat er nur eine Gehirnerschütterung; er war kurzzeitig bei Bewusstsein. Aber er muss erst geröntgt werden, denn innere Blutungen respektive Verletzungen können wir nicht ausschließen. Zudem hat er viel Blut verloren.

Kommen Sie.“
 

Joe wurde zum Wagen dirigiert und während er sich hineinsetzte, wurde ihm das Ausmaß Ricks Entführung erst richtig bewusst. Vielleicht hatte er die ganze Lage wirklich unterschätzt und war viel zu leichtfertig mit allem umgegangen, auch wenn er dabei schon vor Sorge fast verrückt wurde. Aber welche Auswirkungen konnte ihre Spionageaktion für seinen Freund haben? Musste er nun dafür büßen, dass sie Detektive gespielt hatten und ihnen nicht allein durch diese nervenaufreibenden Rätsel auf die Schliche hatten kommen wollen?
 

Die Fahrt zum Krankenhaus schien endlos zu sein. Teilnahmslos blickte Joe stur geradeaus. Doch unbeteiligt war er rein äußerlich, innerlich brodelte es und er machte sich immer mehr Vorwürfe. Schließlich war er es gewesen, der zu viel Temperament aufgewiesen und damit alle in Gefahr gebracht hatte. Das fing allein schon mit dem Vorfall im eben jenen Supermarkt an. Was wäre gewesen, wenn er diesen Alexandros nicht herausgefordert hätte? Und dazu kam der Fakt, dass er Rick tatsächlich allein zu seinen Eltern gehen gelassen hatte. Natürlich war sein Freund alt genug, doch das Damoklesschwert hatte doch bereits über ihnen geschwebt, oder nicht? Und dann noch der Verlust des Peilsenders.
 

/Ich habe eindeutig zu viele Fehler begangen und habe damit Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen… Ich müsste derjenige sein, der dort liegt… Verdammt!...

Verdammt!!!/
 

Er vergrub sein Gesicht unter beiden Händen und wünschte sich inständig, dass es nicht so weit gekommen wäre. Die Worte, die ihm von dem jüngeren Sanitäter zugesprochen wurden, wollte er nicht hören, denn er hatte sanfte, einfühlsame Silben gewiss nicht verdient. Er war es doch, der alles daran gesetzt hatte, um Rick zu finden. Und was hatte er damit erreicht? Steven lag bewusstlos vor ihm und keiner in diesem Krankenwagen wusste, ob er wieder ganz gesund werden würde.
 

Kaum hatten sie das Krankenhaus erreicht, schon überstürzten sich die Ereignisse. Es ging alles viel zu schnell vonstatten, als dass Joe wirklich mitbekam, was die Krankenschwestern und die beiden Sanitäter sprachen oder taten. Die Hälfte der Worte kannte er sowieso nicht und obgleich er die genaue Bedeutung gerne in Erfahrung gebracht hätte, entfernte er sich ein paar Meter, denn er stand zweifelsohne nur im Weg. Außerdem konnte er doch eh nichts mehr ausrichten und ob er das wollte, war die Frage. Hatte er nicht schon genug angerichtet?

Er entschloss sich ins Wartezimmer zu gehen und dort erst einmal seiner Mutter Bescheid zu geben, auch wenn er damit erneut Vorwürfe an den Kopf geschmissen bekäme. Eigentlich reichten die eigenen ja, doch er ließ es bereits bei ihr klingeln.
 

„Veronica Yera“, ertönte es vom anderen Ende der Leitung.
 

Joes Mund bewegte sich, aber nichts von dem, was er mit seinen Lippen formte, war zu hören.
 

„Hallo?“
 

„Hi Mom…“ Jäh brach seine Stimme wieder ab.
 

„Joe? Was ist passiert?... Ich merke doch, dass etwas nicht in Ordnung ist… Joe?“
 

„Dad ist… Wir sind…“ Sichtlich bemüht sich zusammenzureißen, stöhnte er auf. „Wir sind im Krankenhaus.“
 

Obgleich er mit einem schrillen Aufschrei gerechnet hatte, blieb es nun ihrerseits stumm und erstere Variante wäre ihm wesentlich lieber gewesen, denn so hätte er wenigstens gewusst, dass sie nicht hyperventilierte oder gar in Ohnmacht fiel.
 

„Mom?“, hauchte er voller Sorge ins Telefon.
 

„Ich komme sofort zu euch.“
 

Verständnisvoll nickte Joe, wenngleich sie das nicht sehen konnte. „Okay.“
 

Es klickte und er stand einen Moment lang wie versteinert da. Als er sich dann irgendwann setzte, fiel ihm ein, dass er die wesentlichen Informationen gar nicht weitergegeben hatte, also dass Steven bewusstlos und das Ausmaß seiner Verletzung noch unbekannt war. Etwaigen war es nur wesentlich, dass sie im Krankenhaus waren… ja vielleicht.
 


 

Derart erschöpft wie Rick war, hätte er problemlos einschlafen müssen, doch seit Stunden quälten ihn die Berührungen, die er noch an seinem gesamten Körper spürte. Alexandros war nicht so weit gekommen, wie er es sichtlich vorgehabt hatte, doch schon allein diese ganzen Küsse und blauen Flecken, die er verursacht hatte, zehrten an ihm. Sein Rücken tat jedes Mal höllisch weh, wenn er sich drehte. Er wusste schon gar nicht mehr recht, wie er sich hinlegen sollte. Ob seitlich, auf den Bauch oder doch auf den Rücken. Jede Lage schien mit Schmerzen verbunden zu sein. Doch er war froh, dass es zu keiner weiteren Intimität gekommen, selbst wenn er davor noch nicht gefeit war. Mittlerweile traute er Alexandros alles zu, auch Vergewaltigung zählte er zu seinem Repertoire, was ihm wirklich Angst bereitete.

Erneut wandte er sich auf dem grünen Sofa und ächzte dabei. Alexandros muss ihm den ganzen Rücken geschändet haben, so wie sich das anfühlte. Und der Groll gegen diesen Menschen wurde dadurch nur verstärkt. Vor ein paar Tagen hatte er noch geglaubt, endlich wieder glücklich werden zu können, da er nach einer schieren Ewigkeit seinen Eltern verziehen hatte. Doch was war er nur für ein Tor gewesen! War es denn nicht sein Vater, der ihn hier gefangen hielt und ihn wie ein Tier auf grausamste Art und Weise leiden ließ?
 

/Du hast meine Welt zerstört, meine mühsam wiedererrichtete Welt! Jedes einzelne Puzzleteil, für die du schon einmal verantwortlich warst, habe ich wieder zusammengefügt; nur um damit wieder von neuem zu beginnen?

Was habe ich dir getan, dass du mich in keiner Weise mehr liebst, sondern mehr als jedwedes andere Lebewesen verachtest? Habe ich dich dermaßen in deinem Stolz verletzt, weil ich Joe liebe?...

Ich kann wenigstens wahrhaft lieben…

Ich… ich… Ich kann es kaum glauben…

Tatsächlich vermisse ich unsere gemeinsamen Unternehmungen. Weißt du noch, wie du mir das Radfahren beibrachtest? Immer wieder hast du mich ermutigt und bist neben mir hergerannt und hast erst dann meinen Lenker losgelassen, als ich wirklich bereit war…

Du hast es vergessen… nicht wahr?

Für dich bin ich doch nur noch ein Fremdkörper, der dir zuwider ist. Stimmt doch, oder?

Warum… hinterfrage ich das auch noch?/
 

„Ich kann es doch glauben!“, seufzte er.
 

Er spürte, dass der Morgen bereits angebrochen war, obwohl das Zimmer sich nicht merklich erhellte. Er war es leid, ständig von Düsternis umwoben zu sein, doch er hatte keine Macht das zu ändern. Was war ihm denn geblieben außer der Hoffnung, dass Alexandros nie wieder Gier nach ihm verspürte?

Obgleich es ihm vollkommen widerstrebte, in solch erdrückender Melancholie zu schweben, konnte er es nicht verhindern. Die Gefühle in ihm waren schon immer stark gewesen und gerade richteten sie sich alle gegen die Hoffnung, gegen das Licht, das er in Joe und sich selbst gefunden hatte. Partout wollte er den Glanz in sich nicht wieder verlieren, aber die Wehmut, die er verspürte, war schon so gewaltig, dass er allmählich zu zweifeln begann. Zweifel, das einzig am Leben erhaltene einzubüßen, war mit Abstand das Grauenvollste, das einem passieren konnte. Und Rick wollte das nicht miterleben, immer wieder wehrte er sich gegen das Dunkel, das sich in ihm ausbreiten wollte, doch sein Kampf blieb im Großen und Ganzen fruchtlos. Aber noch flackerte ein kleines Licht in ihm und solange er das am Brennen halten konnte, war er nicht verloren…
 

/Wie immer… Es ist wirklich wie immer.

Immer soll ich nach vorne sehen; vergessen was war; alles hinter mir lassen und an die schönen Dinge des Lebens denken. Wer hat sich das eigentlich ausgedacht? - Klar, es sagt sich so leicht daher.

’Bewahre dir ein Lächeln.’

’Lass die Gefühle raus.’

’Beginne von neuem.’

Phrasen! Das sind doch nichts als Phrasen!

Die ich mir aber immer wieder zu Herzen nehme wie jeder andere auf Erden. Allmählich aber… Allmählich büßen sie an Wirkung ganz schön ein, denn ich sehe hier einfach nichts, was zu meinem Besten sei und wie ich mir dann zum Beispiel ein Lächeln bewahren soll…

Ich spüre dich, Joe… wie das kleine Kleeblatt in meiner Hand. Du… Du bist das einzig Schöne in meinem Leben. Abgesehen von meinem Job, der mir auch immer wieder Spaß macht... Doch ohne dich wäre auch dieser nur halb so erfüllend…

Joe, ich will dich noch einmal spüren, dein Gesicht noch einmal sehen.

Es verblasst.

Dein Gesicht vor meinen Augen verblasst.

Ich will nicht, dass du irgendwann nur noch ein undefinierbares Bild in meinem Kopf bist. Was ich will bist du,… leibhaftig,… zum Anfassen,… zum Eins werden…

Eins mit dir./
 

Entgegen all seinen Erwartungen schlich sich ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht, das er erst realisierte, als sein rechter Zeigefinger über seine Lippen strich. In Gedanken war er bei ihrer letzten gemeinsamen Nacht, in der sie wohlig aneinander gekuschelt ein paar Stunden geschlafen haben. Sie waren gerade aus Veneawer vor Alexandros geflüchtet und hatten sich bei Joes Eltern einen Unterschlupf gesucht. Und auch wenn er erschöpft und gänzlich durcheinander gewesen war, er hatte die traute Zweisamkeit bis ins kleinste Detail genossen. Schützend in den Armen seines Freundes zu liegen war mitunter das Beste, was er sich vorstellen konnte. Und er konnte die Sehnsucht in ihm fast schon mit Händen greifen, so ausgeprägt war sie.
 

So immens seine Sehnsucht auch war, das interessierte Alexandros nicht, der schon wieder über ihm verweilte. Die Anwesenheit allein war schon unangenehm, doch die Art und Weise, wie er ihn anblickte noch quälender. Er berührte Rick kaum, seine Hände ruhten weit neben seinem Gesicht und doch herrschte eine Spannung – oder gerade deshalb-, die unerträglich war. Ihrer beider Lippen waren nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt, aber wie die Minuten zuvor kam es zu keinem Kuss. Ob der Dunkelhaarige darüber froh war oder nicht, da war er sich nicht einmal sicher. Denn die unmittelbare Nähe in Verbindung mit der Stille, die zwischen ihnen herrschte, zehrte gewaltig an ihm. Sollte er die kurze Distanz überbrücken, damit endlich etwas geschah und er nicht vor gnadenloser Ungewissheit verrückt wurde?

In der Tat war Alexandros beinahe lautlos ins Zimmer getreten, hatte nicht einmal gefordert, die metallenen Handschellen anzulegen, obwohl er normalerweise diese seine Machtposition nur zu gerne auskostete, hatte nur stumm von Rick gefordert, sich aufs Sofa zu legen, wo dieser ohnehin nach dem Duschen wieder hingewollt hatte. Die Melancholie hatte er nicht abwaschen können und nun würde sich, wenn Alexandros weiterhin dermaßen blickte, Unruhe hinzugesellen. Insbesondere der Grund für dieses Verhalten war ihm gänzlich schleierhaft. Als Rick ihn erblickt hatte, als er aus dem Badezimmer getreten war, war er zusammengezuckt und hatte sofort mit dem Schlimmsten gerechnet. Doch es gab keine zynischen Worte, keine abfallenden Bemerkungen und keine Tätlichkeiten. Dabei hätte er wetten können, dieser Kerl würde sich unangekündigt auf ihn stürzen und das einfordern, was er einen halben Tag zuvor nicht geschafft hatte. Seit bald zehn Minuten nun schon lag er auf den Händen abgestützt über ihm und fokussierte ihn.
 

Rick räusperte sich, denn so konnte das nicht weitergehen. Mittlerweile kam er sich wie ein gehetztes Tier vor, das nur noch darauf wartete, den Todesstoß zu bekommen.

„Nun… machen Sie schon“, presste er sichtlich zwischen seinen Lippen hervor und senkte dabei wider seiner Worte die Lider, denn es waren welche, die er unter normalen Umständen niemals gesagt hätte.
 

„Dein kleiner Freund“, meinte der andere nach zwei weiteren Minuten beklemmender Stille und schon bei diesen Silben begann Ricks Herz heftig zu schlagen, „ist klüger als ich angenommen hatte.“
 

Noch immer dieser berechnende, nicht weniger intensiv werdende Blick und Rick spürte die unbändige Energie in sich aufkeimen, die ihn am liebsten durchs Zimmer laufen ließe. Er schluckte und konnte ein kleines Lächeln nicht verbergen, das sich heimlich in seine Mundwinkel stahl. Eigentlich wollte er keine Regung zeigen, schon gar keine freudige, doch das Gefühl der Erleichterung in ihm war einfach zu stark.
 

„Willst du denn gar nicht wissen, wo er gerade ist?“

Auffordernd strich Alexandros ihm nun eine Haarsträhne aus der Stirn.

„Bis jetzt hat er fast schon meisterhaft alle meine Rätsel gelöst, aber das vierte und letzte hat er sich gar nicht mitgenommen, als er sich schon am richtigen Ort befand.“
 

Ricks Miene verhärtete sich und sein Herz schlug nun noch heftiger gegen seine Brust. Das war nicht nur das erste Lebenszeichen von Joe, das er seit seinem gezwungenen Aufenthalt in diesem Loch vernahm, sondern trug obendrein eine düstere Vorahnung in sich. Erneut schluckte er und versuchte damit, sich der Trockenheit in seiner Kehle zu entledigen.
 

„Habe ich dich nun deiner Stimme beraubt? Welch Unerhörtheit meinerseits.“
 

Aber obgleich er sarkastischer kaum sein konnte, legte sich keinerlei Zeugnis von Amüsement auf sein Gesicht. Alexandros blieb kalt und freudlos, ob im Ausdruck oder in der Härte, mit der die Worte über seine Lippen drangen.
 

„Ihre Dreistheit ist nur ein harmloses Drängen sich Mut zu verschaffen.“
 

Für einen Moment entgleisten Alexandros Gesichtszüge, aber er fasste sich nach Ricks Dafürhalten viel zu schnell wieder und hauchte ihm zu allem Überfluss auch noch einen Kuss auf die Stirn, genau auf die Stelle, wo er zuvor die Strähne beiseite gestrichen hatte. Eine Gänsehaut befiel Rick direkt in Verbindung mit der leichten Berührung zwischen ihnen.
 

„Du gefällst mir immer mehr.“
 

„Meine Intention ist aber eine ganz andere“, flüsterte der Kleinere und focht mit seinen Blicken die des anderen an. Allmählich konnte er nicht mehr an sich halten, denn die Unruhe in ihm wuchs stetig an. Er wollte wissen, wie es Joe erging und das mit Leib und Seele.
 

„Habe ich endlich das Verlangen in dir geweckt? Lass mich einen Augenblick überlegen… Joe…“, Ricks Augen funkelten auf, „… Wie ich sehe habe ich Recht, aber dieses Feuer in dir gebührt hoffentlich auch ein klein wenig mir?“
 

Selbstverständlich antwortete Rick nicht darauf, nur zu deutlich war die Rhetorik in seiner Betonung gelegen.
 

„Sicherlich wird er sich bald wieder dort einfinden, wo er ursprünglich hingewollt hatte. Wie bereits erwähnt: Er ist ein gerissener Kerl, hätte ich nicht von ihm erwartet. Da muss man sich ja bald des Neids verwehren.“ Nun lachte der Mann über dem Jüngeren kalt auf und ihm entging nicht, dass sich Ricks Augen mächtig verengten. „Nicht doch, zieh nicht solch ein Gesicht, ein bisschen Spaß musst du schon vertragen können.“
 

„Das nennen Sie Spaß?“, höhnte Rick. „Wie würden Sie es dann nennen, wenn ich es mir erlauben würde, Olivier die Freuden zu zeigen, die Sie bei mir niemals bekommen werden?“
 

Er hatte es satt! Dieser ständige Spott und diese niveaulose Belustigung, die dieser Kerl an den Tag legte, waren einfach nicht auf Dauer zu ertragen. Er kam ihm auf dieser Schiene doch schon immer weiter entgegen, wenngleich das nicht nach seiner Fasson war, aber reichte sein Arrangement denn immer noch nicht aus, um diesen Widerling ein wenig von sich zu entfernen? Mochte ein groteskes Unterfangen sein, aber meist half es doch, Gleiches mit Gleichem zu gebühren, um aus einem Feind einen Gegner zu schaffen, mit dem man auf gleicher Augenhöhe sein konnte, da er plötzlich Respekt oder Ehrfurcht verspürte. Das glaubte Rick nicht ohne weiteres, doch ein wenig ging sein Denken schon in diese Richtung, zumal er sich nicht mehr zügeln konnte. Die Zeit des tatenlosen Zusehens war endgültig vorüber. Die Gewissheit, dass es Joe anscheinend gelungen war, diesen Mann in seine Schranken zu verweisen, war ein Genuss, der sich wie ein Feuer in ihm entfachte.
 

„Hör sich einer das Rehkitz an, das nichts mehr von dem scheuen Tier an sich hat. Wahrlich ein guter Schachzug, aber ich bin einer ganz anderen Person unterworfen, so dass ich dir nun nicht die gerechte Strafe zukommen lassen kann. Zudem… dein kleiner Freund wird entscheiden, ob er dich heil wieder haben kann oder nicht. Gefällt dir das etwa auch nicht?“
 

In Rick arbeitete es. In Hast versuchte er die immer wieder nur dahin geworfenen, bruchstückhaften Informationen aneinanderzureihen.
 

„Ich glaube, es ist an der Zeit, jemanden zu uns zu bitten.“ Alexandros wandte sein Gesicht gen Tür und rief: „Serrat!“
 

Ricks Augen folgten dem anderen Paar und die Luft schien mit einem Mal noch viel stickiger zu sein als ohnehin schon…

Kapitel 54

Kapitel 54
 

Wenige Sekunden nach Alexandros Aufforderung ging die Tür in der Tat unter einem Knarren auf und Rick wollte eigentlich nicht zusehen, wie Serrat erhobenen Hauptes ins Zimmer trat, doch er konnte seinen Blick einfach nicht abwenden. Solch ein Mann war einmal ein liebender Familienvater gewesen… Kaum vorstellbar, aber dennoch wahr. Trotz dessen hatte Rick mittlerweile Zweifel, ob Serrat wirklich einmal der fürsorgliche Ehemann und Vater gewesen war oder er sich das alles nur eingebildet und sein eigener Vater ihm etwas vorgeflunkert hatte. Aber warum hätte Damon das tun sollen, denn schließlich hatte er da noch nichts von den sexuellen Neigungen seines Sohnes gewusst gehabt. Wie dem auch sei, Serrat kam Schritt für Schritt näher und hatte nicht einen Blick für den Dunkelhaarigen übrig, sondern heftete seine Augen stur geradeaus auf Alexandros.
 

„Ich hoffe, du hast dich an unsere Abmachung gehalten!“
 

Dermaßen abfällig hatte Rick den Polizisten keineswegs in Erinnerung und obgleich es ihn schockierte, es überraschte ihn nicht. Stumm sah er dabei zu, spürte, wie Alexandros Hand einmal quer über seinen Oberkörper strich, bevor sie sich zurückzog und er aufstand.
 

„Wie könnte ich“, entgegnete er mit einem mit Ironie behafteten Grinsen. „Der Junge“, sein Gesicht wandte sich wieder kurz zu Rick, „würde meine Standhaftigkeit nicht verkraften.“
 

„Wie immer der Möchtegerncasanova, aber nichtsdestotrotz war meine Frage ernster Natur!“
 

„Gewiss, ich habe diese deine Ernsthaftigkeit zur Kenntnis genommen.“
 

Serrat funkelte Alexandros an, doch kommentierte die Aussage nicht, lehnte sich stattdessen an den großen Schrank und verschränkte die Arme vorm Körper.

„Deine Männer waren unvorsichtig wie du weißt. Darum geh’ und kümmere dich um den Verbleib deiner Spielerei.“
 

„Du hast deine Hände ebenso mit drin“, entgegnete Alexandros zynisch und bewegte sich keinen Zentimeter.
 

„Ganz wie du willst.“
 

Zu seinem Unbehagen erkannte Rick, dass Serrat mit einem Mal seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Die Luft schien plötzlich zu vibrieren und obwohl er nicht mehr wie auf dem Präsentierteller dalag, sondern in aufrechter Position dasaß, spürte er regelrecht die Abscheu, die ihm entgegengebracht wurde.
 

/Vor einigen Jahren brachten Sie mir immer ein sympathisches Lächeln entgegen, wenn wir uns sahen, doch heute erkenne ich einzig Ekel in Ihren durchdringenden Augen. Aber ich lasse Sie nicht auf den Grund meiner Seele blicken und ich werde Ihnen nicht den Gefallen tun, mich vor Angst zusammenzukauern.

Joe ist wohlauf… Nur das zählt!/
 

„Dein Vater hat sich damals mit dir ganz schön gebrüstet, Rick Dafres. Doch sieh an, was aus dir geworden ist. Wirklich erbärmlich, wo Damon sich doch immer so für dich eingesetzt hat. Dass er einmal eine Schwuchtel großzieht, hatte er gewiss nicht geahnt.“
 

Bevor Rick irgendetwas darauf erwidern konnte, verbiss er sich lieber fest in seiner Unterlippe. Sogleich verbreitete sich leicht metallener Geschmack auf seiner Zunge, doch er schluckte das Blut ohne das Gesicht zu verziehen herunter.
 

„Aufgrund deines Freundes habe ich schon eine Menge Geld eingebüßt…“ Für einen Augenblick sah der Dunkelhaarige Wut in dem anderen aufkeimen. „Selbst Schuld, wenn man derartige verruchte Wetten eingeht, ich weiß.“ Boshaftes und gleichzeitiges ironisches Gelächter folgte, das im nächsten Moment wieder verstummte. „Nun, gefällt es dir hier in deinem Verließ? Du brauchst mir nicht zu antworten, ich sehe auch so, dass du lediglich ein verzogener Bengel bist.“
 

Nun ließ sich Alexandros wieder neben ihm nieder und legte einen Arm über die Sofalehne direkt hinter ihm. Er brauchte gar nicht zu ihm sehen, um zu wissen, dass jener einen amüsierten, lüsternen Blick innehatte. Irgendwie fühlte sich Rick mit der Zeit sehr beengt, denn nicht nur dieser Kerl war ihm wieder gefährlich nahe, sondern auch noch Serrat, der alsbald direkt vor ihm stand. Hinzu kamen die Worte, die ihm an den Kopf geworfen wurden. Scheinbar hatten die Menschen auf dieser Welt immer noch nicht begriffen, dass es egal war, wen oder was man liebte. Sie zogen es vor, andere mit ihrer Meinung zu konfrontieren, obgleich sie damit auf kein Gehör stießen. Doch Rick konnte seine Ohren leider nicht verschließen, denn es ging auch um Joe und allein dieser Fakt ließ ihn sich zusammenreißen und zuhören. Auch seinen Blick wandte er nicht einfach ab, sondern fixierte ebenso sein Gegenüber wie er fixiert wurde.
 

„Warum lässt sich mein Vater hier nicht blicken?“, fragte er ein wenig missmutig.
 

/Wenn du schon der Initiator bist, dann zeige dich und verstecke dich nicht hinter festen Mauern. Oder bist du zu feige, mir ins Gesicht zu sehen?

Ich weiß nicht, was dich zu alledem bewegt, aber allein meine Liebe zu Joe kann es doch nicht sein, oder?

Warum, Dad?

Warum hältst du mich hier mit diesen zwei Männern fest, die von sich denken, die größten und stärksten zu sein?

Glaubst du, sie schüchtern mich ein und überzeugen mich davon, meiner Liebe abtrünnig zu werden?/
 

„’Vater’!“, höhnte Serrat. „Hast du das gehört?“, fragte er an Alexandros gewandt, der weiterhin süffisant zu Rick blickte. „Du hast keinen Vater mehr, Rick Dafres.“
 

Ricks Inneres fühlte sich wie ein Spiegel an, der in lauter kleine Stücke zerbrach. Die ganze Zeit über wurde die Wut gegenüber seinem Vater genährt, doch nun war das Maß eindeutig überschritten. Die Wut schlug allmählich in Hass um, denn sie brachte in ihm die hohen Mauern zum Einsturz, die er errichtet hatte, um sich gegen diese Kerle zur Wehr setzen zu können. Bemüht versuchte er, sich weiterhin nichts anmerken zu lassen und nach außen eher unemotional zu wirken. Es war verflucht schwer, insbesondere weil er ansonsten von Empfindungen geprägt war, dennoch tat er alles, um sein falsches Gesicht zu wahren.
 

„Und wenn schon“, drang über seine Lippen, wenngleich er sich dafür selbst verabscheute.
 

„Ich sehe dich noch genau vor mir, wie du Damon anhimmeltest, und dann willst du mir weismachen, dass dich seine Handlungsweise kein bisschen berührt? Nicht schlecht, du scheinst genauso gerissen wie Joe zu sein. Vielleicht haben wir euch wirklich unterschätzt.“
 

Während Serrat sprach, trat er zwei Schritte zur Seite und beugte sich, nachdem er geendet hatte, zu Alexandros hinunter und hauchte ihm irgendwas ins Ohr, was Rick lediglich als Murmeln wahrnahm. Alexandros Augen hellten auf, bevor er sich erhob und fast lautlos aus dem Zimmer trat. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen betrachtete Rick die Tür, die langsam geschlossen wurde. Nun war er mit Serrat allein und dieser Umstand gefiel ihm irgendwie noch weniger als sich nur mit Alexandros in einem Raum zu befinden. Serrat hatte etwas an sich, durch das er noch gefährlicher und bedrohlicher einzustufen war als der Kerl, dessen Nähe er ebenfalls nicht ertragen konnte. Waren es die durchdringenden Augen, die Rick dazu veranlassten, sich mit einem Mal völlig unwohl zu fühlen? Oder doch die Tatsache, dass dieser Mann einmal ein Freund der Familie gewesen war, zu der sich Rick laut seiner Aussage nicht mehr zählen durfte?
 

„Allein der Tatsache, dass ich mein Amt beibehalten möchte, hast du es zu verdanken, dass Alexandros keine uneingeschränkte Handlungsfreiheit innehatte.“ Serrat legte eine Kunstpause ein und platzierte sich währenddessen neben Rick. „Doch es gibt da eine Klausel meinerseits, die in Kraft tritt, wenn dein Freund dich nicht rechtzeitig findet.“ Abermals verstummte er abrupt.
 

Nach einem Moment der Stille befreite er Rick endlich wieder von seinen Blicken, der heimlich aufatmete, denn die Gewissheit stetig beobachtet zu werden, zu wissen, dass jede noch so kleine Regung wahrgenommen wurde, konnte einen erdrücken.
 

„Auch wenn ich meine Wette erneut verlieren sollte, werde ich überzeugt sein, dass ich sie beim nächsten Mal gewinnen werde; denn wie sagt man so schön? ’Aus Fehlern lernt man’ und wir haben wohl einige begangen. Fängt schon damit an, dass wir euch nicht richtig eingeschätzt haben.“ Serrat legte eine Hand ans Kinn, so dass er sich mit dem Zeigefinger über die Wange streichen konnte. „Aber das Spiel ist noch nicht vorbei.

„Als mir Damon unter vollkommener Entrüstung von deinen Vorlieben erzählte, - es war mehr ein unbewusster Akt von ihm, denn er stand unter enormen Alkoholeinfluss, - spann sich in meinem Kopf eine Idee zusammen, die ich ihm noch am selben Abend unterbreitete. Anfangs wollte er ihr nicht zustimmen, doch als ich ihm berichtete, dass er leibliche Enkel bekommen würde, hegte er keine Zweifel mehr. Er war sehr enttäuscht von dir und wollte dich richten, wenngleich er ohne mich wohl niemals gewusst hätte wie. Ich spüre, wie du mich dafür hasst, aber das ist nicht von Belang, denn selbst wenn du hier herauskommst, wirst du gegen mich nichts ausrichten können. Weshalb mein Name auch niemals gedeckt werden musste im Gegensatz zu Alexandros Ornesté. Klangvoller Name, nicht wahr? Nur wirst du diesen, sobald das Ergebnis der letzten Wette steht, nirgends mehr finden können. Wie schade, das heißt, ihr habt nichts gegen mich in der Hand. Deine Aussage würde einzig gegen meine stehen und ich garantiere dir, du wirst sang- und klanglos untergehen. Darum“, er wandte sein Gesicht wieder zu Rick, „mache dir erst gar nicht die Mühe, mir irgendetwas anhängen zu wollen, du wirst ohnehin nicht den Hauch einer Chance haben. Das Rechtssystem habe ich in der Hand, bedenke dies bei jeder deiner Tat, Rick Dafres.“
 

Langgezogenes Schweigen legte sich über sie und in Rick stauten sich immer mehr Emotionen an, die ihren Weg nach draußen suchten. In den letzten Minuten hatte er erfahren, dass seine Entführung nicht einmal durch seinen Vater initiiert war, sondern der eigentliche Verantwortliche gerade neben ihm saß. Immer weniger konnte er glauben, dass Serrat einmal der Mensch gewesen war, als den er ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht hatte er damals alles nur mit Kinderaugen gesehen. Schließlich konnte er die Menschen zu jener Zeit noch nicht rechtmäßig beurteilen, was für ein Kind nur natürlich war. Dennoch hätte er Serrats wahres Ich erkennen müssen, wenn er dieses damals schon gehabt hätte, denn insbesondere Kinder spürten doch, wenn ein Mensch hinterhältig und boshaft war. Groteskerweise interessierte es Rick, was diese Seite an Serrat ausgelöst hatte. Er wusste, dass die Menschen nicht vollkommen rein waren und jeder ein bestimmtes Maß an Finsternis in sich trug, doch meist brauchte das Hervortreten dieses Hangs zur Böswilligkeit einen Auslöser. Und er fragte sich ernsthaft, welcher das bei dem Mann war, der gerade stumm vor sich hinlächelte. Gänzlich siegessicher erschien er ihm.
 

/Was ist es, das Sie zu dem machte, was Sie jetzt sind? Ich glaube, ich könnte nur durch eine Begebenheit zum Rachegott persönlich werden…/
 

„Haben Sie nicht eine Familie zu versorgen? Weshalb geben Sie sich dann mit solchen Intrigen ab und kümmern sich nicht stattdessen um ihre Tochter?“
 

Das war gewagt; sehr gewagt sogar. Aber Rick wollte wissen, ob er Recht mit seiner Vermutung hatte. Mit verengten Augen sah Serrat ihn an.
 

„Ganz schön großes Mundwerk in deiner Lage. Aber vergiss es! Ich habe schon ganz andere Menschen vor mir sitzen gehabt, die versucht haben, mich zu beeinträchtigen und die haben sich bei Weitem geschickter angestellt als du. Vergiss nicht, dass ich Polizist bin und Tag ein Tag aus mit Verbrechern zu tun habe, die alles versuchen, um nicht hinter Gitter zu kommen. Aber eins muss ich dir lassen: Du mauserst dich allmählich, selbst wenn ich diese deine Entwicklung nicht für gut heiße, denn umso mehr Widerstand du leistest, desto mehr wird Damon verdienen.“ Seine Miene versteinerte sich und er umfasste mit einer Hand Ricks Kinn, der ihn gezwungenermaßen anblickte. „Du willst doch nicht, dass er Geld auf deine Kosten einnimmt, oder?“
 

„Kommt es nicht irgendwann ans Licht, dass Sie gesetzeswidrig handeln?“, erwiderte der Jüngere nach kurzem Zaudern, sah dabei in zwei Tiefen, die keinen Ausdruck zu haben schienen, sich aber tief in einen hineinbohrten. Der geborene Polizist.
 

„Sag’ mir eins: Welcher Gesetzeshüter ist nicht korrupt? Alle machen doch schmutzige Geschäfte, die einen mehr, die anderen weniger. Jeder auf seine Weise. Also habe ich nichts zu befürchten, denn sobald einer gegen mich vorgeht, muss er selbst durch Gitterstäbe schauen. Schockiert? Nicht doch. Die Welt ist schlecht und ich bin nur ein Teil von ihr.“

Zu allem Überfluss zuckte er gelassen mit seinen Schultern.
 

Allmählich wusste Rick nicht mehr, was er sagen oder tun konnte, um sich dieses Mannes zu erwehren. Solange er gefangen gehalten wurde, hatte er lediglich gegen Alexandros und seinen Vater diese tiefgehende Abneigung empfunden, doch gegenüber Serrat war sie erheblich ausgeprägter. Seit dieser Mann ins Zimmer getreten war, hatte er den Unmut auf sich gezogen. Vermutlich legte er es auch noch darauf an, zumindest erschien Rick das so. Doch er durfte sich von nun an nicht weiter darauf einlassen. Serrat wollte scheinbar, dass er sich herausgefordert fühlte und versuchte sich krampfhaft zu wehren. Ohnehin fehlte es ihm an Mitteln, sein Gegenüber zu provozieren und ihn damit aus der Reserve zu locken. Vielmehr schlug das ins Gegenteil um, denn Rick fühlte sich in der Tat angegriffen. Serrat schien die Kunst des Beeinflussens sehr gut zu beherrschen. Er wusste genau, was er von sich geben musste, um dem Dunkelhaarigen Gefühle zu entlocken, die ihm nur schadeten.
 

„Genug der Worte, zumal du den Eindruck machst, nichts mehr erwidern zu können. Bevor ich gehe, möchte ich dir noch eines mitteilen: du bist nur eine kleine Made, nichts als Ungeziefer, dessen man sich entledigen muss.“
 


 

„Joe, ich bitte dich. Hör endlich damit auf, mich so schuldbewusst anzusehen. Veronica“, Steven sah zu seiner Frau, „überzeuge du ihn bitte, dass es mir den Umständen entsprechend gut geht, mir glaubt er wohl nicht.“ Mit hochgezogenen Brauen richtete er seinen Blick wieder auf Joe.
 

„Bloß nicht, ich habe es ja schon verstanden,aber-“
 

„Kein aber!“, unterbrach der Ältere ihn jäh.
 

„Ist ja schon gut.“ Laut seufzend setzte sich Joe zurück auf seinen Stuhl, der direkt neben dem Krankenhausbett stand. „Du hast gewonnen.“
 

„Geht doch“, grinste Steven nun.
 

Seinen Stiefvater in einem derartigen mehr oder minder unbeschwerten Zustand zu sehen, erleichterte Joes Herz ungemein. Bis der Arzt zu ihm getreten war und ihm Entwarnung gegeben hatte, hatte er keine ruhige Sekunde gehabt. Doch nun saß er hier bei ihm und konnte sich leibhaftig davon überzeugen, dass er wieder vollkommen gesund werden würde. Und trotzdem schwelten die Vorwürfe in ihm, obgleich er sie schon längst beschwichtigen wollte.
 

„Veronica, ich glaube, dein Einsatz wird immer noch gefordert.“
 

„Joe?“
 

Er spürte eine warme Hand auf seiner Schulter.
 

„Es ist alles okay.“ Bemüht entspannt sah er zu ihr auf. „Mom, wirklich.“
 

„Du möchtest zurück zum Supermarkt, habe ich Recht?“

Joe bekam große Augen.

„Kein Problem, geh nur.“

Ein liebevolles Lächeln zierte ihre Lippen.
 

„Aber-“
 

„Sag’ mal,“ warf Steven ein, „musst du uns denn immer widersprechen? Jetzt mach dich schon auf, du hast schon genug Zeit verloren.“
 

Joes Kopf wanderte von einem zum anderen und brachte dann ein gebrochenes „Danke“ hervor.
 

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sank er mit dem Rücken gegen sie. Eine Weile lang blieb er einfach so stehen und atmete langsam ein und aus. Dumpf hörte er die Stimmen seiner Eltern durch das Holz dringen und er lauschte den Klängen, die er tief in sich verschloss.

Nach nicht allzu langer Zeit, verließ er allerdings das Krankenhaus. Wahrlich hatte er bereits genug Zeit verloren und alles in ihm drängte darauf, Rick endlich wieder zu sehen. Er nahm den nächsten Bus, obgleich dieser ewig auf sich warten ließ. Doch selbst zu Fuß wäre er nicht schneller, weshalb er sich mehr oder weniger geduldig an der Haltestelle an einen Pfosten lehnte. Mit halb geschlossenen Lidern sah er den Bus irgendwann auf sich zukommen.
 

/Wäre ich heute Morgen nicht so unachtsam gewesen, dann wäre Steven bisweilen unverletzt und ich würde seit Stunden das nächste Rätsel in den Händen halten. Vielleicht hätte ich es bereits gelöst und könnte Rick in meinen Armen halten… Wenn ihm etwas zustößt, ist das allein meine Schuld. Manchmal bin ich einfach zu unbeherrscht und das hat sich nun gerächt./
 

Mit schlechtem Gewissen stieg Joe aus dem Bus und hatte nach ein paar Schritten den kleinen Laden vor sich, in dem reger Betrieb vorzuherrschen schien. Eine Frau, die mit zwei Einkaufstüten unterm Arm hektisch aus ihm herausgelaufen kam, wäre ungehindert in ihn hineingerannt, wenn er nicht zur Seite gesprungen wäre. Er sah ihr sogar ein wenig amüsiert nach, doch widmete sich alsbald wieder dem Supermarkt, in den er nun hineintrat. Sogleich ging er auf einen Angestellten zu und erkundigte sich nach dem Geschäftsführer.
 

„Er ist hinten im Büro. Den Gang entlang, dann links.“
 

„Vielen Dank.“
 

Mit festen Schritten lief Joe den ihm beschriebenen Weg und stieß auf eine weiße Tür mit der Aufschrift ’Privat’. Er klopfte.
 

„Herein“, drang mürrisch von innen heraus.
 

Entschlossen öffnete er die Tür. „Entschuldigen Sie die Störung, haben Sie einen Augenblick Zeit?“
 

„Nimmt das heute denn gar kein Ende?“, stöhnte der bereits in die Jahre gekommen Mann hinter einem ovalen Schreibtisch, auf dem ein Monitor neben zig Unterlagen stand.
 

„Es ist äußerst wichtig.“
 

„Das sagen sie alle. Nehmen Sie Platz.“

Joe ließ sich auf dem ihm zugewiesenen Stuhl nieder.

„Sind Sie nicht der junge Mann von heute Morgen? Ja, jetzt erinnere ich mich. Wie geht es Ihrem Vater?“
 

„Er ist auf dem Weg der Besserung, danke der Nachfrage.“
 

„Wissen Sie, ich bin nicht gerne ein tatenloser Beobachter, doch als ich Sie beide erblickt habe, hatte man sich bereits um ihren Vater gekümmert. Die Polizei,“ Joes Miene verfinsterte sich, „sagte mir später, dass sie nach einem Abgleich der Fingerabdrücke dem Täter wohl auf die Spur kommen würden. Aber bis jetzt habe ich noch keine Entwarnung erhalten.“
 

/Natürlich nicht, denn Serrat wird jedweden Hinweis ins bodenlose Nichts verschwinden lassen. Einer der Polizisten meinte zudem, dass sie fremdes Blut auf seiner Kleidung gefunden hätten, doch dieser rechtschaffene Mensch wird wohl von der eigenen Justiz übergangen werden./
 

„Der Täter… Seit wann arbeitet er bei Ihnen. Entschuldigen Sie die indiskrete Frage, aber ich muss das… wissen.“
 

„Herr…?“
 

„Joe Yera.“
 

„Ja, richtig… Dieser Olivier Ornesté hat gestern erst hier angefangen, obgleich ich von Anfang an ein ungutes Gefühl bei ihm hatte, doch ich habe dringend eine Aushilfe gebraucht, da sich eine Mitarbeitern plötzlich krank gemeldet hatte.“
 

/Dahinter steckt sicherlich ebenfalls Serrat… Haben Sie ihr dasselbe wie meinem Vater angetan?/
 

„Ich kann Ihnen sagen, zukünftig werde ich die Leute, die ich einstelle, wieder genauer unter die Lupe nehmen. Die Gewaltbereitschaft scheint immer mehr zuzunehmen und noch solch einen Vorfall kann ich wahrlich nicht gebrauchen. Und nicht nur, dass er meine gute Ware dem Erdboden gleich gemacht hat! Er hat sich auch noch erdreistet, meinen Laden als Gegenstand für irgendeine Sekte oder so was zu missbrauchen.“
 

Das vierte Rätsel. Joes Augen flammten auf.
 

„Haben Sie den Zettel noch?“
 

„Sie wollen mir damit doch nicht sagen, dass Sie sich auch zu dieser Sekte zählen!?“ Kritisch beäugte Summer ihn.
 

„Keineswegs, aber dennoch ist ein Leben von ihm abhängig.“

Sogar er selbst überhörte den Schwermut, der in seiner Stimme mitschwang, nicht.
 

„Ich möchte es gar nicht wissen, denn ich habe schon genug Ärger am Hals.“ Er zog eine Schublade auf und zog ein schwarzes Papier daraus hervor. „Die Polizei wollte es nicht mitnehmen; Sie meinten, es sei nicht von Belang und sicher nicht von ihm, wenngleich ich das Ihnen dreimal bestätigt hatte. Warum ich es nicht einfach zerrissen und weggeschmissen habe? Ich dachte, einer der Beamten würde es sich doch früher oder später noch holen. Hier können Sie haben, die Polizei scheint tatsächlich kein Interesse daran zu haben. Die Leute von heute sind wirklich nicht mehr das, was sie einmal waren.“ Mit dem Kopf schüttelnd zog er die Schublade wieder zu.
 

„Ich danke Ihnen.“
 

„Richten Sie Ihrem Vater gute Genesung aus.“

Dies war eine unterschwellige Aufforderung zum Gehen.
 

„Gewiss.“ Joe stand auf und gab dem anderen die Hand. „Wiedersehen.“
 

„Ich hoffe, Sie waren der letzte für heute...“
 

Summer murmelte noch einen Satz vor sich hin, den Joe aber nicht mehr verstand, zumal er die Tür bereits hinter sich zuzog.

Sofort warf er einen Blick auf den Zettel in seiner Linken, denn er musste das Rätsel lösen, solange ihm noch ein paar letzte Nerven geblieben waren.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 4 Blätter ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Osten ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

~~~~ Zusammen werden sie eins und halten sich die Waage. ~~~~~~~~

~~~~~~~~ Hüte dich vor der roten Glut der 13! ~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Er fühlte, wie sich eine unsichtbare Schnur um sein Herz zusammenzog.

Das war sie also: seine letzte Aufgabe.

Doch sie schien auf den ersten Blick nicht das zu sein, was er erwartet hatte, obwohl er nicht einmal formulieren konnte, mit was er gerechnet hatte. Aber sollte er nicht mittlerweile wissen, dass Serrat und dieser Alexandros zu allem fähig waren und dass sie es ihm auch zum Schluss nicht leicht machen würden?

Unbestritten war ihm das bekannt, doch er hatte nun mal Hoffnungen gehabt, dass sie sich irgendwann gnädig zeigen würden.
 

/Wie konnte ich jemals auch nur die These aufstellen, dass sie ihn mir einfach übergeben würden? Allein mein Vater zeigt doch, dass sie skrupellos sind!...

Ich sollte mich nicht länger quälen, sondern versuchen, diese Worte zu entschlüsseln, denn ich bin so nah dran. Nur noch dieses eine Rätsel und dann habe ich dich zurück, Rick. Ich werde dich nicht noch einmal enttäuschen!/
 

Mit funkelnden Augen las er sich erneut durch, was vor ihm stand.

Kapitel 55

Kapitel 55
 

Worte können dermaßen viel bedeuten, wenngleich einem der Sinn nicht offen zu liegen scheint. Oft kann man sie viele Male lesen, eine kleine Ewigkeit über sie nachdenken, ohne dabei zu einem stichhaltigen Schluss zu gelangen. Manchmal versteht man einfach nicht, was einem die Worte sagen wollen.
 

~~ Zusammen werden sie eins und halten sich die Waage. ~~

~~~~~~ Hüte dich vor der roten Glut der 13! ~~~~~~~~~~~
 

Joe hatte nicht mitgezählt, wie viele Male er die zwei Sätze gelesen hatte, aber das hätte ihn ohnehin auch nicht weitergebracht. Egal, wie er die Worte drehte und wendete, sie ergaben keinen Ort, an dem er Rick finden konnte. Und diese seine Unfähigkeit raubten ihm allmählich die letzten Nerven und ließen ihn im Wartezimmer des Krankenhauses unstet auf und ab laufen. Die Beschwerde, die bei ihm diesbezüglich eingegangen war, hatte er bisher gekonnt ignoriert. Er konnte eben nicht aufhören, wie ein Irrer umherzulaufen. Und das immer wütender werdende Gesicht des älteren Herren, der an einer Seite des Raumes saß, ließ ihn für den Moment noch völlig kalt. Es gab für ihn im Augenblick wichtigeres als einen Mann zufrieden zu stellen, nur indem er darin innehielt, seine Unruhe auszuleben.
 

Zwei Sätze, die sich einfach nicht fassen lassen wollten, waren das markante Problem. Er musste sie entschlüsseln und kein anderer. Er trug allein die Verantwortung für Ricks Freigabe, denn die Rätsel verwiesen immer auf Plätze, die mit ihnen zu tun hatten. Bisher hatte ihm keiner helfen können und somit musste er wohl auch dieses Mal selbständig mit dieser seiner ihm aufgetragenen Aufgabe fertig werden, selbst wenn er um diese niemals gebeten hatte.
 

„Hätten Sie die Güte, ihre Füße endlich im Zaum zu halten?“, fuhr ihn der Mann barsch an. „Das kann ja keiner mit ansehen!“
 

„Kann ich nicht“, entgegnete Joe schulterzuckend. „Tut mir leid, Ihrer Vorstellung von Höflichkeit nicht zu entsprechen, aber ich kann es momentan wirklich nicht.“
 

Mit nun wieder starrem Blick lief Joe weiterhin durch den Raum und machte nach allen fünf Schritten kehrt. Die wenigen Worte kreisten dabei unablässig in seinem Verstand und das Innere seines Kopfes glich alsbald einer wilden Karussellfahrt aus weißen Linien bestehend, die einstweilen klar definierte Lettern gewesen waren.
 

„So was Ungehobeltes“, hörte er den Mann vor sich hinbrummeln, als dieser das Zimmer hinkend verließ.

Eine Geste, durch die seine Füße letztendlich doch irgendwann den Dienst verweigerten. Nur wenige Sekunden, nachdem der Ältere gegangen war, ließ sich Joe auf einem Stuhl nieder und streckte seine Beine von sich. Sein Herz hämmerte regelrecht in seiner Brust. Er wollte doch nur eine kleine Idee, einen Lichtblitz, der ihn ein wenig im Denken vorankommen ließ. Bisher war er sich noch nicht einmal im Klaren darüber, was die Worte auch nur annähernd bedeuten konnten.
 

„Mist“, murrte er.
 

Vielleicht sollte er doch jemanden zu Rate ziehen, aber allein der Gedanke wurde hinfällig, nachdem ihm niemand einfiel, der dazu in der Lage wäre. Wer wusste denn genug über seinen Freund und ihn, um eine vielversprechende Lösung beim Lesen des Rätsels parat zu haben?
 

„Keiner“, murrte er erneut.
 

Aus seiner Verzweiflung heraus stampfte er einige Male mit der Ferse seines rechten Fußes auf dem Boden auf. Außer ihm war keiner mehr im Wartezimmer, so dass sich auch keiner seine Niedergeschlagenheit zu Gemüte führen musste. Etwaigen wäre er den anderen Leuten sowieso nur zur Last gefallen und hätte sie um ihre Ruhe gebracht, sofern man diese in einem Krankenhaus haben konnte.

Seit knapp einer Stunde war er bereits wieder zurück, doch hatte seitdem noch nicht bei Steven vorbeigesehen. Er konnte ihm nach all dem, was geschehen war, doch nicht ohne Resultate unter die Augen treten. Die Schuldgefühle waren auch so schon groß genug, da musste er nicht auch noch kleinlaut zugeben müssen, dass er völlig unfähig war, ein paar Worte in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen.

Egal, was er momentan dachte, es fühlte sich erdrückend an. Dazu brauchte er einzig an Rick denken, der zweifelsohne gänzlich auf ihn vertraute. Umsonst hatte er nicht so vieles leichthin genommen und aus vielen Situationen einen Scherz gemacht. Auch wenn das unsensibel klingen mochte, es hatte zum Beispiel Rick immer geholfen gehabt, denn schließlich hatte er ihm so oft ein Lächeln abringen können. Und dann, wenn es die Lage erforderte, war er wieder ernst geworden und hat dem Dunkelhaarigen anderweitig wieder Mut gemacht. Doch wieso vermochte er so etwas bei Rick zu tun aber nicht bei sich selbst? Warum konnte er sich nicht gerade mit Worten besänftigen, um wieder geradeaus denken zu können? Es drehte sich alles. Er drehte sich im Kreis und konnte ihm nicht entsteigen.

Was bedeuteten denn die Worte? Warum ließen sie sich nicht einfach in den Rest einfügen, so dass er Rick retten konnte?

Er war nicht der Typ, der einfach aufgab und alles in die Ecke schmiss, wenn etwas mal nicht so lief, wie er sich das vorstellte. Doch gerade war er nahe daran, das Rätsel in tausend Stücke zu zerreißen und es damit aus seinem Verstand zu löschen. Es machte ihn einfach wahnsinnig, dass der seidene Faden, an dem Ricks Leben zu hängen schien, durch ihn durchtrennt werden konnte.
 

Bevor er wirklich noch diesen Fehler, das schwarze Papier und damit die möglicherweise erlösenden Worte dem Erdboden gleich zu machen, so dass sie kein weiterer mehr je zu Gesicht bekommen konnte, beging, zog er es vor, doch Steven unter die Augen zu treten, wenngleich er keinerlei aufmunternden Emotionen erwarten konnte, wenn er ihn verletzt daliegen sah. Der Anblick an sich würde wie ein Schlag mitten ins Gesicht sein, dennoch stand er bereits vor Stevens Zimmertür. Zaghaft ließ er die Knöchel seiner Rechten gegen das Holz fahren. Obwohl er keine Stimmen des Inneren des Raumes vernahm, öffnete er leise die Tür und trat ein. Deprimierende Stille lediglich unterbrochen von einem steten Piepsen nahm ihn sogleich in ihre Fänge und begleitete ihn auf den Weg zu einem Stuhl, auf dem er sich neben dem Bett seines Vaters platzierte, um wenig später in dessen schlafendes Gesicht zu blicken. Er vermutete, dass sich seine Mutter wohl irgendwo ein wenig ausruhte und den Schock dabei zu überwinden versuchte; der Unfall war selbstverständlicherweise auch an ihr nicht spurlos vorbei gegangen.
 

„Unfall?“, spottete er mit kaum wahrnehmbarer Stimme.
 

/Das war versuchter Mord!

Auch wenn ich das immer noch nicht gänzlich begreifen möchte. Ich spüre doch, wie sich die Vorwürfe in mir dadurch nur verstärken.

Ich sehe dein bekümmertes Gesicht, das mich zu Recht anklagt. Ja, ich bin der Verantwortliche für deine Schmerzen, aber ich kann gar nicht in Worte fassen, wie glücklich ich darüber bin, dass du lebst. Vor kurzem noch…

… habe ich dir vorgeworfen, dass du nicht mein Vater seiest. Für so unsensibel habe ich mich selbst nicht einmal gehalten, zumal du mir immer das nötige Vertrauen und insbesondere Liebe entgegenbrachtest. Ich weiß,… ich habe meinen leiblichen Vater verloren und dachte, ich könne keinen neuen akzeptieren, doch deine Hartnäckigkeit und deine weitere Fürsorge, die du mir trotz meiner harten Worte entgegenbrachtest, lehrte mich eines Besseren.

Und nun liegst du hier vor mir, vollkommen hilflos und blass. Vorhin lächeltest du, doch das war sicher nur Fassade, damit ich mir keine Sorgen mache. Doch denkst du, sie verschwinden einfach, indem du mir vorspielst, dass die Welt in Ordnung sei? Das ist sie nicht!

Verdammt!/
 

„Das ist sie nicht!“
 

Joes Augen folgten dem Schlauch, der von Stevens Mund hin zum Beatmungsgerät führte. Je mehr Zentimeter er auf dem Weg dabei überwand, desto mehr trübte sich seine Miene.
 

/Die Ärzte meinten, dass du die nächsten zwei Tage noch viel Ruhe brauchst, dein Zustand aber stabil sei. Als du wach warst, habe ich das auch geglaubt, doch wenn ich dich jetzt so daliegen sehe, schwindet in mir das Gefühl allmählich, dass ich das weiterhin kann. Du siehst so zerbrechlich aus und das ist so grotesk, wo du doch immer so stark und unerschütterlich erschienst. Erst als ich…

… Ich habe dich… erstmals bestürzen können. Hast du deshalb dein Leben aufs Spiel gesetzt, um mir zu zeigen, dass du ein ebenbürtiger Vater sein kannst?/
 

„Sag’ mir, hast du dich deshalb in Gefahr begeben?... Das darf nicht wahr sein!“ Joe nahm eine von Stevens Händen in seine und drückte sie. „Das darfst du nicht aus diesem Grunde getan haben.“
 

Er war nun zweiundzwanzig Jahre alt und hatte gedacht, nicht mehr wie früher trauern zu können. Doch gerade, obwohl er es nicht wollte, tat er das. Die Gefühle von früher flammten in ihm nach und nach wieder auf und er wollte sie wieder ins dunkle Eck befördern, wo sie hingehörten, doch er vermochte es nicht. Allmählich spürte er auch die Tränen, die in ihm aufsteigen wollten. Tränen aus der Wunde in seinem Herzen. Fest presste er seine Lippen gegeneinander.

Zwar war er nie zu einem Eisblock mutiert, an dem alles einfach abprallte und Gefühle keine Chance hatten durchzudringen, aber er wollte dennoch nicht wieder tagelang am Fenster sitzen und in den Garten hinausschauen nicht einsehend wollend, dass ein geliebter Mensch aus seinem Leben getreten war.

Steven war nicht tot. Das wiederholte er immer und immer wieder in seinem Verstand. Hörte er nicht sein gleichmäßiges, rhythmisches Atmen?
 

Irgendwann vernahm er, wie die Tür leise aufgeschoben wurde, und er sah direkt in das Gesicht seiner Mutter, als er zu ihr blickte. Sie wirkte ebenfalls völlig blass und erschöpft.
 

„Komm’, setz dich.“
 

Er stand auf und bot ihr den Stuhl an, den sie dankend annahm.
 

„Hast du es?“, fragte sie hoffnungsvoll, aber dennoch wirkte sie dabei müde.
 

„Ja…“

Mehr erwiderte er nicht. In einvernehmlichem Schweigen schwelgte jeder für sich für die nächsten Minuten in seinen eigenen Gedanken respektive Erinnerungen.

„Eigentlich möchte ich nicht, dass nochmals“, begann er dann, „einer von euch irgendetwas mit Ricks Entführung zu tun bekommt, aber…“ Er stockte.
 

„Du solltest eines wissen, Joe.“ Sie drehte ihren Stuhl so, dass sie ihn direkt ansehen konnte. „Wir werden immer für euch zwei da sein, egal welche Konsequenzen das hat. Das liegt nun mal in unseren Genen“, fügte sie leicht lächelnd an.
 

Joe wusste gar nicht, was er erwidern sollte, darum sagte er nach einigem Ringen irgendwann ein einfaches ’Danke’.

„Kannst du es dir einfach mal durchlesen?“, bat er sie liebevoll, als er ihr das dunkle Papier überreichte.
 

Nicht einmal ansatzweise konnte er sich davon etwas versprechen und doch setzte er ein klein wenig Hoffnung in seine Mutter.
 


 

Seit Serrats Verschwinden war keiner mehr in das Zimmer getreten, in dem Rick nun schon seit mehr als vier Tagen festgehalten wurde. Bis auf die wenige Luft, das durch das kleine Fenster dringen konnte, durch das er auch jetzt blickte, bekam er keinen frischen Sauerstoff. Sein Körper sandte zunehmend Signale der Erschöpfung und des Unwohlseins aus. Lange würde er es nicht mehr in diesem Verließ aushalten, dessen war er sich sicher. Wenn sein Körper etwaigen nicht schlappmachte, dann gewiss seine Psyche. Allmählich konnte er sich der Misere, in der er sich unbestritten befand, nicht mehr erwehren. Immerzu musste er kämpfen und nach den schönen Dingen des Lebens suchen. Ständig wurde von ihm verlangt, Schlechtes zu überwinden und in die Zukunft zu blicken. Aber was war, wenn man das mit der Zeit nicht mehr konnte?

Eigentlich hätte er Serrats Worte belächeln müssen, vor allem seine letzten. Aber irgendwie hatte er das, als sie erklangen, nicht vermocht und tat das auch jetzt nicht. Sie hatten ihn tief getroffen, aber nicht weil sie aus dem Mund eines korrupten Menschen gekommen waren, sondern von jemandem, der sich als Freund seines Vaters betitelte. Es war nicht Damons Idee gewesen, sondern er hatte sich einzig und allein von diesem selbstsüchtigen, egozentrischen Menschen von ihr überzeugen lassen. Irgendwie wusste Rick nicht was schlimmer war, denn beides hatte dasselbe erschütternde Resultat: Er war von seinem leiblichen Vater verraten worden. Von welcher Seite aus man das auch betrachten mochte, es gab nichts, was den Dunkelhaarigen ein wenig aufmuntern konnte. Zunächst hatte er geglaubt, das entschädige seinen Vater ein wenig, aber das tat es nicht.

Mit leerem Blick sah er das eins saftige, grüne Gras, das nun von Tag zu Tag dürrer und lebloser schien. Die Natur lebte jedes Jahr von neuem auf und würde es nächstes Frühjahr wieder tun, woher sie auch immer dafür die Kraft nahm. War es einzig das Sonnenlicht und die Wärme, die ihr so viel Standhaftigkeit verliehen?
 

/Das Bestehen der Natur ist ein einziger Kreislauf. Das, was im Herbst zu Erde zerfällt, ist der Nährboden für die Pflanzen, die im Frühling ihre Köpfe gen Himmel neigen. Sind aber auch die Menschen, die andere zerstören, diejenigen, die neues Leben in die Welt setzen?

Ein absurder Gedanke, der sich auch noch bewahrheitet…/
 

Irgendwann schloss er die Augen und hielt, indem er sich an der schmalen Fensterbank festhielt, sein Gleichgewicht. Derart präsent hatte er seinen Körper selten gespürt. Fast schon hatte er das Gefühl zu spüren, wie das Blut in ihm zirkulierte. Wie sein Herz die zähe, rote Flüssigkeit ohne Unterlass durch ihn hindurch manövrierte, jedwedes Labyrinth mühelos meisternd. Er wiegte sich im seichten Klang der leisen Schläge, bis er in die Knie sank und seine Arme um seine Taille schlang.
 

„Nicht mehr lange.“
 

Rick schreckte zusammen und fuhr seinen Kopf abrupt herum. Da stand Alexandros am Türrahmen gelehnt und ihn fixierend.
 

„Bald wird dein kleiner Freund über dich richten.“
 

Die Kühle seiner Worte und ihre Schwere barsten dem Jüngern beinahe das Herz.

„Nimmt die Grausamkeit denn nie ein Ende?“, fragte er mit leiser, bebender Stimme.
 

„Die Starken werden über die Schwachen richten, so besagt es das Gesetz.“
 

„Das Ihrer Sippschaft? Ungegorene Richtlinien, die mehr Schaden anrichten als Gutes?“
 

„Hat hier wer behauptet, dass ich Gutes tun möchte?“

Alexandros näherte sich ein paar Schritte.

„Ich habe keine Liebe erfahren, also warum sollte ich damit anfangen, den Armen zu helfen und die Schwachen zu unterstützen? Sieh’ es ein, die Welt dreht sich nun einmal nicht nach deinen Vorstellungen.“

Mit einer Hand umfasste er Ricks Kinn.

„Darum werde ich mir weiterhin das nehmen, was ich begehre.“
 

Der Jüngere kniff seine Augen zusammen. „Hände weg!“
 

„Na na, langsam solltest du wissen, dass es hier nicht darum geht, was du möchtest.“
 

„Wie kann man nur derart kaltherzig sein?“
 

Alexandros griff sich eine von Ricks Händen und führte sie an seine Brust.

„Darin schlägt ein Stein und kein Organ voller Emotionen. Auch das solltest du langsam begriffen haben.“
 

„Und was ist mit Olivier? Meinen Sie nicht, dass er sich nach ein wenig Zuneigung Ihrerseits sehnt?“
 

„Er ist aus dem Alter heraus, an der Mutterbrust zu saugen.“
 

„Was für ein grausamer Mensch Sie doch sind.“
 

„Nur weiter. Sprich dich nur aus.“
 

„Lassen Sie mich gehen.“
 

„So unterwürfig?“

Auf Ricks Flehen in den Augen spielte er an.
 

„Was nütze ich Ihnen denn, wenn ich hier zugrunde gehe?“
 

Für einen Moment stockte Alexandros in allem. Nicht einmal zu atmen schien er. Doch die Ruhe währte nicht lange.

„Dann habe ich eben solange Spaß wie ich ihn haben kann.“
 

„… weg… von mir“, zischte Rick, als er den Mund des anderen auf seiner Wange spürte.
 

Als ein dumpfer Schlag ertönte ließ er in der Tat von ihm ab. Als sie beide zur Tür sahen, wusste Rick nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
 

Olivier stand dort mit einem Tablett in der Hand. Scheinbar wollte er ihn gerade mit Essen versorgen, doch das Funkeln in seinen Augen ließ ihn mehr als nur bedrohlich wirken.
 

„Steh’ nicht untätig herum, sondern stelle das Tablett ab und verschwinde wieder.“

Mit einer Hand deutete Alexandros ihm an, dass er es ernst meinte.
 

Aber anstatt zu gehorchen kam Olivier mit festen Schritten näher, nachdem er das Tablett auf dem Boden abgestellt hatte.

„Du…“, knurrte er an Rick gewandt. „Du bist an allem Schuld.“

Er holte aus und verpasste dem anderen eine Ohrfeige. Alexandros bekam die Hand des hageren Jungen zu spät zu fassen.
 

„Was fällt dir ein?“, fauchte er ihn an und packte ihn grob an dem Arm, mit dem er eben zugeschlagen hatte, zerrte in daran zwei Meter von Rick weg. „Raus hier! Du bist hier nicht erwünscht!“
 

Nun landete Oliviers Hand in Alexandros Gesicht, woraufhin ein paar verzweifelte Boxschläge mit den Fäusten folgten.
 

Teuflisch.
 

Nahezu diabolische Züge nahm Oliviers Miene an. Sich wild wehrend wurde er hinausgeschubst und Alexandros verschwand mit ihm hinter der Tür, durch die Rick noch eine Weile lang laute Rufe vernahm.
 

/Das war sicherlich das erste Mal, dass Olivier seine wahren Gefühle zeigte…

Und Alexandros versteht sie nicht, dabei ist es doch offensichtlich, wie der Junge um Zuneigung kämpft. Dieser Mann hat wirklich kein Herz…

Wie mag ein Mensch nur aufgewachsen sein, wenn er sich derart verhält und keinerlei Reue vernimmt?

Ich habe es Olivier zu verdanken, dass ich nun nicht unter seinem Körper liege und seine Hände gierig über meine Haut fahren. Dass ein solch bemitleidenswerter Mensch mich einmal aus einer derartigen ausweglosen Situation befreien würde…/
 


 

„Mom?“
 

Schon seit Minuten saß sie einfach nur da, eine Hand unterm Kinn und die Augen starr auf das schwarze Papier geheftet.
 

„Einen kleinen Moment noch.“
 

Joe wurde bald wahnsinnig. Allein schon die Gegebenheit, dass sie flüstern mussten, da Steven immer noch schlief, zehrte an ihm. Er wollte endlich wissen, weshalb seine Mutter derart konzentriert war. Hatte sie etwa eine Ahnung, auf was die weißen Lettern hinwiesen?
 

„Bitte…“, presste er gequält zwischen seinen Lippen hervor.
 

Das gab es doch nicht. Wie lange sollte er denn noch darauf warten, bis sie sich aus dieser ihrer Position löste? Er konnte sie nicht länger so sehen, das hielt er nicht mehr aus. Darum wandte er sich von ihr ab und ging zur Tür, deren Klinke er sofort herunterdrückte. Alsbald lief er im Gang auf und ab, wobei er ab und an einer vorbei gehenden Krankenschwester auswich oder gar einem Arzt, selbst einem Bett, das in rasanter Geschwindigkeit an ihm vorbei geschoben wurde, während sich die Stimmen der Betreuer halb überschlugen.

Als sich seine Mutter nach zehn Minuten immer noch nicht blicken ließ, lehnte er sich gegen die weiße Wand und schloss die Lider. Wie in Trance nahm er die Geräusche wahr, die von überall her gleichzeitig auf ihn eindrangen. Ein paar davon konnte er zuordnen, die anderen nicht, wenngleich er sich mit der Zeit darauf konzentrierte. Nach einer schier endlosen Zeit mischte sich die Stimme von Veronica darunter, was ihn sofort seine Augen öffnen ließ.
 

„Und?“, entkam es ihm ungeduldig.
 

„Komm mit.“ Sie klang sehr verschwörerisch.
 

Joe brummte vor sich hin.
 

„Wir brauchen einen Zettel und einen Stift.“
 

Nun vollkommen aufmerksam lief er ihr hinterher und wenig später saß er ihr in der Krankenhauscafeteria gegenüber.
 

„Musst du das so spannend machen?“
 

„Wo hast du das erste Rätsel gefunden?“
 

„Mhh… an meiner Wohnungstür.“ Er legte seinen Kopf schief.
 

„Das führte dich wohin?“
 

„In die Kathedrale.“

Neugierig sah er ihr dabei zu, wie sie zwei Punkte auf dem gelben Zettel malte, einen in die linke, den anderen in die rechte obere Ecke.

„Das dritte an unserem Baum“, fuhr Joe ohne weitere Fragen fort. „Und dann der Supermarkt, wie du weißt.“
 

Nun sah er vier kleine anthrazitfarbene Punkte, in jeder Ecke einen. Freihändig verband Veronica sie durch Kanten, aber nur so, dass sie am Ende ein Rechteck bildeten.
 

„Zusammen bilden sie eins“, wiederholte sie die Worte des Rätsels.
 

Joe nickte nur. „Und halten sich die Waage“, ergänzte er dann. „Die Mitte!“, rief er und erntete dafür ein aufrichtiges Lächeln seiner Mutter.
 

„Gut, nun hast du das Prinzip verstanden. Nun müssen wir das nur noch anhand einer Karte auf die wirklichen Orte übertragen.“
 

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“
 

„Dann hole lieber den Atlas aus dem Auto“, zwinkerte sie und drückte ihm den Schlüssel in die Hand.
 

Als er zurück war, schlug er die Seite auf, die sowohl Luminis als auch Veneawer aufzeigte. „Die ist zu grob“, seufzte er, nachdem er nicht gleich fand, wonach er suchte.
 

„Hier müsste die Kathedrale sein.“
 

„Aber ein Konjunktiv reicht uns nicht, schließlich müssen wir den Ort exakt ausfindig machen, wo sie Rick gefangen halten… Mom!“

Seine Finger der Hand, mit der über die Landkarte fuhr, begannen zu beben.

„Welcher Tag ist heute?“
 

„Donnerstag.“
 

Er schüttelte mit dem Kopf. „Welches Datum?“
 

„Der zwölfte November.“
 

„Verflucht!“

Er sprang auf und lief einmal um den Tisch.
 

„Dreizehn…“
 

„Verdammt, verstehst du Mom? Wenn morgen die Sonne untergeht, dann…“ Er fühlte einen dicken Kloß in seinem Hals.
 

„Gut, wir brauchen wirklich eine genauere Karte.“
 

Nickend klappte er den Atlas zu.
 

„Gehen wir, denn die Zeit rennt uns nun wirklich davon.“
 

Geradewegs verließen sie gemeinsam das Krankenhaus und fuhren mit dem Auto gen Innenstadt. Ihr Ziel war das Fremdenverkehrsamt, von wo sie sich am schnellsten die gewünschte Karte erhofften. Es war noch nicht ganz zwanzig Uhr und sie hatten Glück, dass noch nicht geschlossen war.

Hektisch erfragten sie, was sie begehrten und die Angestellte sah sie skeptisch an.
 

„Wir sind spät mit Planen dran“, versuchte Joe sie zu beruhigen. Ein falscher Verdacht ihrerseits würde möglicherweise das Ende von Rick bedeuten. Das Gefühl, dass Rick zunehmend mehr in Gefahr schwebte, ließ ihn nicht mehr los, seitdem es eingesetzt hatte.

Zwar beäugte sie ihn immer noch kritisch, wurde ihrer Aufgabe aber dennoch gewissenhaft gerecht. Alsbald drückte Joe ihr einen Geldschein in die Hand.

„Der Rest ist für sie.“
 

„Du weißt schon, dass das zu viel war?“, meinte Veronica, als sie wieder im Auto saßen.
 

„Soll sie eben daran ersticken.“
 

„Joe!“
 

„Ist doch wahr! So wie sie uns musterte, musste ich doch was tun.“
 

Seufzend schnallte sich Veronica an, währenddessen erste Regentropfen auf die Windschutzscheibe prasselten.
 

„Der Himmel ist genauso verzweifelt.“
 

„Nun fahr schon“, erwiderte Joe nur.
 

/Wahrlich scheint das Wetter ebenso zu trauern wie ich… Ich merke, wie gereizt ich bin und wie ungerecht gegenüber anderen, aber ich kann momentan nicht allen gerecht werden…/
 

Nach ein paar Minuten Fahrt in strömendem Regen stellte sie den Motor ab.
 

„Und los!“, meinte ihr Sohn und sprang aus dem Auto, rannte vom Parkplatz das ganze Stück unter das schützende Vordach des Krankenhauses zurück.
 

Als Veronica mit einem Regenschirm nachkam, gingen sie zusammen erneut in die Cafeteria und während Joe sofort damit begann, die Karte auf einem Tisch auszubreiten, kaufte sie ihnen etwas Warmes zu trinken.

„Bitte sehr.“ Sie stellte eine kleine, weiße Porzellantasse vor ihm ab.
 

„Die Kathedrale habe ich bereits gekennzeichnet und meine Wohnung dürfte ich auch gleich haben. Ah, da ist das Haus ja.“
 

Die anderen zwei Stellen waren kurze Zeit später ebenfalls mit einem Kreis markiert.

„Hast du irgendwas, womit man gerade Linien ziehen kann?“

Noch bevor sie seine Frage überhaupt richtig verarbeiten konnte, hatte er bereits sein Handy auf der Karte liegen und zog den Stift an einer der äußeren Seiten entlang.

„Sieh mal, Mom. Die Orte bilden in der Tat ein Rechteck, scheint in jeder Ecke ziemlich genau einen Winkel von neunzig Grad zu geben.“

Er sah ihr in die Augen.

„Wie hast du das nur erraten?“
 

„Glück?“, sie hob die Hände und lächelte entschuldigend.
 

„Gut, nun die Diagonalen.“

Schon während er sie einfügte, stockte ihm das Herz, denn er befürchtete Schlimmes.

„Verdammt! Das kann doch nicht wahr sein!“
 

„Lass mal sehen.“

Nun verfinsterte sich auch ihre Miene.

„Da lag ich wohl doch falsch…“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

Kapitel 56

Kapitel 56
 

Enttäuscht sahen Joe und seine Mutter auf die vor ihnen ausgebreitete Landkarte und der Blonde sank alsbald in seinem Stuhl zurück.
 

„Es tut mir leid, Joe“, versuchte Veronica sich für ihre Idee zu entschuldigen, die im Endeffekt totale Resignation in ihr hervorgerufen hatte.
 

Doch Joe erwiderte nichts, seine Augen waren starr auf das Rechteck, das er vor wenigen Minuten gezeichnet hatte, gerichtet.

„Ich glaube,…“, er beugte sich nun wieder nach vorne und nahm erneut den Stift zur Hand. „Ich glaube, du hast gar nicht so verkehrt gelegen, Mom. Was wäre denn,…“ Mit seiner Rechten zog er eine weitere Linie auf dem Papier. „… wenn wir einzig die Orte in Betracht ziehen, auf die die Rätsel wirklich verwiesen haben? Dazu gehört meine Wohnung nicht…“
 

„Der Schwerpunkt eines Dreiecks“, murmelte sie, woraufhin er nickte und den entsprechenden Punkt markierte.
 

„Und nun müssen wir uns nur noch überlegen, wie wir ihn da herausholen.“
 

„So wie es aussieht, hast du nur eine Wahl.“ Fest fixierte sie ihn. „Meinst du, du hast noch die Kraft dazu?“
 

„Das steht außer Frage.“
 

„In Ordnung,… hier.“ Sie überreichte ihm die Autoschlüssel.
 

„Danke.“ Nachdem er aufgestanden war, stützte er sich noch mal kurz mit einer Hand auf dem Tisch auf. „Ich hoffe, dass Damon wirklich nichts damit zu tun hat.“
 

„Wer hofft das nicht.“ Zum Abschied strich sie ihm über die Wange. „Pass gut auf dich auf.“
 

Er steckte die Karte ein und lief aus der Cafeteria. Als er außer Sichtweite war, nahm er sein Handy aus der Tasche und wählte zum x-ten Mal ein- und dieselbe Nummer an, doch noch immer war Ricks Vater nicht erreichbar. Seufzend steckte er das Telefon zurück in die Hose und besah sich noch einmal den Weg, den er sich gleichzeitig fest einzuprägen versuchte. Nach einem Blick auf die Tafel neben dem Eingang, die auch das Stockwerk, auf dem Steven lag, kennzeichnete, verließ er das Gebäude.

Als er an die frische Luft trat, sah er gen Himmel. Mittlerweile regnete es nicht mehr und zwischen den grauen Wolken taten sich bereits die ersten Lücken auf. Der Mond stand fast voll am Himmel und Joe riss die Augen weit auf. Das Gelb, in dem er sonst erstrahlte, war einem kräftigen Orange gewichen.
 

/Ist gar nicht der Abend gemeint?

Hüte dich vor der roten Glut der 13!

Woher sie das auch immer gewusst haben mögen, bedeutet das, dass ich Rick noch vor Mitternacht da rausholen muss!/
 

Mit bebendem Herzen rannte er zum Parkplatz und brachte den Schlüssel zunächst nicht ins Schloss.
 

„Verdammt! Mach schon!“
 

Beim vierten Versuch glitt er in die vorhergesehene Öffnung und das Adrenalin in dem jungen Mann begann dann erst richtig zu wallen. Alles schien zu kribbeln und er hatte wirklich Mühe, das Auto auszuparken, so zittrig wie seine Beine waren. Als er sich auf offener Straße befand, atmete er einmal laut aus.

Er hatte Glück, dass so gut wie kein Verkehr vorherrschte, sonst wäre er Gefahr gelaufen, entgegenkommende Autos zu touchieren, denn er fuhr meist eher auf der Mittellinie als auf seiner Fahrbahnseite. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und zeugten von der Aufregung, die ihn von oben bis unten befallen hat. An sich konzentrierte er sich wahrlich nicht darauf, wie er sein Auto steuerte, er hatte genug damit zu tun, an den richtigen Stellen abzubiegen. Dass er an keiner Streife vorbeifuhr, die ihn mit Blaulicht zum Stehenbleiben aufforderte, war wohl eine Art Fügung des Schicksals. Aber die Polizei wäre in seinem Zustand ohnehin nicht die Art Mensch gewesen, die er hätte sehen wollen. So wie er sich selbst in diesem Augenblick einschätzte, hätte er wüste Beleidigungen von sich gegeben und wäre am Ende für eine Nacht hinter Gittern gelandet. Doch die Zeit der Reue hatte er nicht.

Ein letztes Mal setzte er den Blinker und blieb dann direkt nach der Kurve kurz stehen. Eigentlich hatte er schon erwartet, in einer noblen Wohngegend zu landen, wenngleich er diesen Teil vom Landkreis Veneawers bisher noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Es lag nicht nur daran, dass scheinbar nur wohlhabende Leute dort wohnten, sondern insbesondere daran, dass die Gegend ziemlich weit außerhalb angesiedelt war. Nach über einer Stunde Fahrt stellte er den Motor ab. Bevor er aber ausstieg, besah er sich noch einmal die Karte, denn er durfte jetzt keinen Fehler mehr begehen. Als die Tür neben ihm aufgemacht wurde, blieb ihm das Herz stehen.
 

„Darf ich bitten?“, fragte eine ihm unbekannte Stimme.
 

Spätestens jetzt wusste er, dass er richtig war. Und ob ihn das wirklich erleichterte, wusste er nicht, denn die Gestalt, die ihn bat aus dem Auto zu steigen, bestand lediglich aus Muskeln. Als Joe neben dem Mann stand, kam er sich vollkommen schmächtig und klein vor, obwohl er das für normale Verhältnisse gar nicht war.
 

„Folgen Sie mir.“
 

Während Joe dem anderen hinterher lief, versuchte er, ein wenig Ruhe in seinen Körper zu bekommen. Nun durften seine Nerven nicht versagen.

Alsbald betrat er ein Anwesen, das durch eine hohe Mauer vom Rest seiner Umgebung abgegrenzt war.
 

/Diese Menschen dürfen nicht ungestraft davon kommen, auch wenn sie die Macht in den Händen zu halten scheinen. Irgendwas… Irgendetwas muss uns einfallen, damit sie keinen Unschuldigen mehr derart quälen können. Rick,… ich bin hier, Rick…/
 


 

„Jetzt wird’s interessant.“
 

Alexandros lehnte im Türrahmen und sah zu Rick, der ihn gar nicht zu beachten schien. Zwar hatte er die Tür gehört, wie sie geöffnet wurde, aber er wollte kein Wort mehr mit diesen Bastarden wechseln.
 

„Dein kleiner Freund ist gerade angekommen.“
 

Unvermittelt schoss Ricks Gesicht gen Tür. Mit plötzlich pochendem Herzen stand er auf und ging ein paar Schritte auf den anderen zu.

„Joe…“

Er sah ein Bild von seinem Freund vor sich und die Emotionen in ihm begannen sich gegenseitig überbieten zu wollen. Es war schwer zu sagen, welche überwog; ob die Freude, dass Joe es bis hierher geschafft hatte, oder ob die Angst, dass ihm etwas passierte.

„Ich will ihn sehen.“

Rick war bereits an der Tür angelangt und wollte an Alexandros vorbei, der den Weg aber mit einem Bein, dessen Fuß er an die andere Seite des Rahmens abstützte, versperrte.

„Ich muss ihn sehen“, flehte er verzweifelt.
 

„Du kommst hier nicht raus.“
 

„Aber… er ist doch hier! Er hat mich gefunden!“

Genügte das denn nicht? Joe war endlich wieder so nah und er wollte unbedingt zu ihm. Tagelang hatte er darauf gehofft und hatte immer von neuem Schandtaten über sich ergehen lassen müssen. Vor wenigen Augenblicken hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, das Licht in ihm gänzlich zum Erlischen zu bringen.

Aber sein Freund war hier. Verdammt, er hatte doch alle Hindernisse überwunden!
 

„Tja, aber das war nur ein Teil seiner Aufgabe.“
 

Die Arroganz in Alexandros Worten und Augen missfiel dem Dunkelhaarigen dermaßen, dass sich seine Hände zu Fäusten ballten.
 

„Schlage mich doch. Dann wird es mir Freude bereiten, deinen kleinen Freund vor deinen Augen zu nehmen.“
 

Rick begann am ganzen Körper zu zittern. Der Kerl war in der Tat kaltherzig und fand scheinbar an allem Gefallen, was mit Qualen anderer zu tun hatte. Dazu brauchte er nur an Olivier zu denken, der eindeutig von dem falschen Menschen groß gezogen worden war. Und dann hing er auch noch an diesem Mann…
 

„Deswegen musst du mich doch nicht gleich mit deinen Blicken erdolchen“, äußerte Alexandros mit einem kalten Grinsen. „Aber bevor ich mich etwaigen wirklich von dir trennen muss, bekomme ich noch einen Kuss, nicht wahr?“
 

Rick stolperte ein paar Schritte rückwärts. Noch einmal diese unbändigen, gierigen Lippen spüren? Noch einmal diese raue Zunge, die unerbittlich in ihn hineinstößt? Schmerzhaft landete er auf seinem Hintern, als er am Schrank anstieß und sein Gleichgewicht verlor.
 

/JOE!!!!/
 


 

„Warten Sie hier.“

Mit einer Hand wies der fremde Mann Joe an, im Foyer Platz zu nehmen. Es gab nur zwei hölzerne Stühle, die jedoch keineswegs schlicht oder heruntergekommen aussahen. Sie waren nicht einfach dort hingestellt worden, um Gästen eine Möglichkeit zum Sitzen zu bieten; sie waren perfekt in Szene gesetzt, so wie sie unter einem riesigen Gemälde thronten.

Joe war wirklich nicht nach Sitzen zumute, doch er ließ sich trotzdem auf einem der gülden schimmernden Stühle nieder. An sich war das Haus bereits auf die ersten wenigen Blicke eine Wucht, doch sobald er daran dachte, wem es zu gehören schien, verlor es mächtig an Glanz.

Er brauchte nicht zu lange zu warten, bis eine Person auf ihn zukam, die hier eigentlich gar nicht sein dürfte.
 

„Serrat“, murmelte er vor sich hin.
 

„Schön Sie zu sehen. Sie sind weiter gekommen als jeder von uns geglaubt hat, aber damit verdienen Sie meinen Respekt.“
 

„Wer sagt, dass ich den haben möchte? Ich habe alle Rätsel gelöst, also lassen Sie Rick endlich frei.“

Sein Blut schien regelrecht zu kochen und er spürte, wie ihm die Hitze auch ins Gesicht stieg.
 

„Nicht so hastig. Schließlich bin ich von Beruf immer noch Polizist und werde meine Pflicht erfüllen, doch vorher…“ Er schnippte mit dem Finger und der Mann von vorher brachte eine kleine Rolle herbei, die er Serrat übergab. „Vorher musst du dir Ricks Freiheit restlich erarbeiten.“
 

Joes Augen wurden erst groß, bevor er sie zu schmalen Schlitzen verengte. „Haben Sie denn nie genug? Seit Tagen schlafe ich weder richtig noch esse ich vernünftig, verbringe jedwede vierundzwanzig Stunden damit, Ihre dummen Rätsel zu lösen. Und nun wollen Sie mir sagen, dass ich seine Freiheit noch nicht erarbeitet hätte? Was soll ich noch tun? Mich statt seiner einsperren lassen?“
 

Schmunzelnd rieb sich Serrat das Kinn. „Eine interessante Möglichkeit… Würden Sie das denn für ihn tun?“
 

Plötzlich stutzte Joe. Er wollte schreien: ’Natürlich!’… Doch beließ es, weil sein Verstand ihm sagte, dass das lediglich negative Konsequenzen haben konnte. Stattdessen visierte er den anderen an und vergrub seine Hände in den Hosentaschen, damit dieser nicht sah, wie sie sich zu Fäusten ballen wollten. Dabei vermied er auf die diabolische Stimme in ihm zu hören, die immer wieder schrie er solle diesen Kerl zu Boden prügeln. Sein Körper zuckte bereits und er hätte wirklich nichts lieber als das getan, aber noch konnte er sich zurückhalten.
 

„Nachdem Sie keine Einwände mehr zu haben scheinen, betraue ich Sie nun mit Ihrer Aufgabe.“ Behände warf er die Rolle Joe zu, der seine Rechte aus der Tasche schnellen ließ und die Rolle mühelos auffing. „Sie haben eine Stunde Zeit. Wenn Sie bis dahin nicht des Rätsels Lösung wissen und die rote Glut der 13 am Himmel steht, dann ist es zu spät.“

Bevor er sich von Joe verabschiedete und ihn in eines der Zimmer führen ließ, fügte er an: „Und bedanken Sie sich bei Alexandros, wenn Sie erneut Beschwerden äußern wollen.“
 

Nur kurz sah sich Joe in dem Raum um, in dem er nun ganz alleine war. Und das Schwinden der Zeit war für ihn bereits jetzt schon die Hölle. In diesen Gemäuern umgeben von solchen Leuten konnte man sich einfach nicht wohl fühlen und so langsam begriff er, wie es Rick ergehen musste, was ihm das Herz zuschnürte. Mit rasselndem Atem zog er das Papier aus der Rolle und breitete es auf dem mahagonifarbenen Tisch in der Mitte des Zimmers aus. Wie immer prangten weiße Lettern auf dem Papier, nur dass dieses heute nicht schwarz, sondern rot war.

Er war wütend. Von Anfang hatte als allererstes ’4 Blätter’ auf allen Hinweisen gestanden und er hatte tatsächlich vier erhalten. Dass es nun ein weiteres Rätsel gab, rief einfach nur Zorn und auch Hass in ihm hervor.
 

„Es hatte verdammt noch mal vier geheißen“, schrie er lautstark gen Tür.
 

Bald wusste er nicht mehr, wie er seine Gefühle noch im Zaum halten konnte.

Tief ein- und ausatmend versuchte er seinen Blick zu klären und ihn dann auf die Buchstaben vor ihm zu richten. Irgendwie sah es von der Struktur anders aus als die anderen und doch irgendwie identisch.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 4 Blätter ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

~~~~~ Das Ende ~~~~~
 

„Was soll das?“
 

/Das ist doch kein Rätsel! Die wollen mich eindeutig zur Weißglut treiben und wenn sie so weiter machen, schaffen sie das auch! Wie bitte soll ich denn da was herauslesen?

Das Ende… von dieser wahnwitzigen Entführung?

Das Ende… meiner Nerven?

Das Ende von… Mist! Verflucht!/
 

Als er das Ticken der Wanduhr vernahm, wandte er sich zu ihr um. Sie zeigte zehn nach dreiundzwanzig Uhr an. Er hatte also nur noch fünfzig Minuten. Nach seinem Inneren zu urteilen, könnte er um sich schlagen und alles zu Kleinholz in diesem Raum verarbeiten, doch das brächte ihn kein Stück weiter.

Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, sich zu beruhigen. Aber es war neben dem Lösen des Rätsels die schwerste Aufgabe, die er zu bewältigen hatte. Unter sonstigen Umständen konnte er sich stets unter Kontrolle bringen, doch das Maß an Selbstbeherrschung war mittlerweile erschöpft.

Rick war nur wenige Meter von ihm getrennt; er spürte sogar seine Anwesenheit und alles in ihm sehnte sich nach ihm. Er wollte nichts mehr außer seinen Freund in seine Arme zu ziehen und ihn riechen. Der Tag, wo sie sich das letzte Mal sahen, schien Ewigkeiten her zu sein und jetzt, wo er ihm so nahe war, konnte er den Drang in sich nicht mehr unterdrücken, Rick wiedersehen zu wollen. Er liebte ihn… und wie er ihn liebte.

Der stetige Klang der Uhr ging ihm immer mehr gegen den Strich. Festen Schrittes ging er auf sie zu und funkelte sie an, bevor er sie von der Wand und ihr die Batterien entnahm. Er hatte eine Uhr, da brauchte er solch eine monströse Variante nicht, die ihm ohnehin nur den Rest seines Verstandes raubte. Als er sie zurück hing seufzte er laut auf und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Wie so oft in den vergangenen Stunden setzte er dann unentwegt einen Fuß vor den anderen.
 

Das Ende.
 

Ja, er war sichtlich am Ende. Doch auf das wollte Alexandros sicherlich nicht hinaus.
 

Zehn Minuten vor Mitternacht und Joe lief immer noch im Zimmer auf und ab. Bisher war er auf nichts gestoßen, was er als ultimative Lösung des Rätsels ansah. Bisweilen war er schweißnass und fuhr sich immer wieder fahrig durchs Haar. Wenn er sich nicht selbst zur Räson gerufen hätte, hätte er jetzt auf seinen Fingernägeln gekaut. Das war aber auch nicht auszuhalten. Die Minuten verrannen und er hatte einfach keinen blassen Schimmer, was diese Kerle von ihm wollten. Warum reichte es auch nicht aus, dass er hierher gefunden hatte? War es wirklich zu viel verlangt, ihm Rick einfach zu übergeben? Hatten sie denn nicht schon genug Leid erlitten?
 

/Nur noch acht Minuten… Ich sollte aufhören, alle zwei Sekunden auf die Uhr zu blicken! Das alles macht mich irre! Warum komme ich nicht darauf, was damit gemeint ist? Gott, ich drehe noch durch!/
 

Bis es irgendwann an der Tür klopfte und sie daraufhin aufging, war er einfach nur noch unstet hin- und hergelaufen. Er hatte resigniert. Die Lösung wusste er einfach nicht.
 

/Das war’s also…/
 

Alexandros betrat mit einem süffisanten Grinsen den Raum.

„Schade, dass ich deinen kleinen Freund allein lassen musste. Er bettelte mich sogar an, mitkommen zu dürfen. Aber nach einem kleinen Kuss hat er sich in eine Ecke verkrochen am ganzen Leib bebend. Immer wieder murmelte er deinen Namen vor sich hin. Sah eigentlich richtig süß aus.“
 

„Sie arroganter Mistkerl! Was haben Sie ihm angetan!?“
 

Scharf sog Alexandros die Luft ein. „Du bist wirklich ganz schön aufbrausend. Ich habe dir beim letzten Mal wohl meinen Ellbogen nicht fest genug in den Magen gerammt, was? Das kann ich gerne nachholen, wenn du so danach lechzt.“
 

„Ohne Gewalt geht es bei Ihnen wohl nicht“, meinte Joe gepresst.

Er wollte diesen Typen eine reinhauen. Wie er sich allerdings zurückhalten konnte, konnte er sich nur damit erklären, dass sich ein Bild von Rick vor seinem inneren Auge auftat, der ihn darum anflehte, nichts Unüberlegtes zu tun. Zwar hegte er diesen Wunsch bewusst, doch er wollte Rick nicht im letzten Moment doch noch verlieren. Er stand dem Mann gegenüber, der ihn ihm zurückgeben konnte, und das konnte er nicht leichfertig aufs Spiel setzen. Nur kannte er des Rätsels Lösung nicht, was ihn innerlich total mürbe machte.
 

Lässig ging der andere an ihm vorbei und drehte einen Stuhl um hundertachtzig Grad, so dass er sich verkehrt herum breitbeinig auf ihm niederlassen konnte.

„Du hattest nun exakt eine Stunde Zeit. Gut, dann sage mir, was du zu sagen hast.“
 

Schwer schluckte Joe. Wirklich sehr schwer. Er fühlte tausend Steine in seinem Magen. Obgleich er sich das Hirn zermatert hatte, hatte er doch nicht das gefunden, wonach er gesucht hatte. Schließlich war er kein Philosoph, der sich mir nicht dir nichts was aus den Fingern saugen konnte. Dann begann er plötzlich schief zu grinsen, woraufhin Alexandros ihn ziemlich interessiert anblickte.
 

„4 Blätter“, begann der Blonde. „Zuerst dachte ich, sie stünden einzig für die Anzahl der Rätsel, die auf mich zukommen würden. Doch dieses heute hat mich eines besseren belehrt. ’Unser aller Beginn’ hat ebenfalls eine weitere Bedeutung, habe ich Recht? Natürlich sollte das zugehörige Rätsel auf einen Ort verweisen, doch haben die kleinen Wörtchen ’Osten’, ’Norden’, ’Süden’ und ’Westen’ nicht auch einen symbolischen Charakter? Jedwede Silbe von Ihnen hat ihre ganz eigene, versteckte Mehrdeutigkeit.

Fangen wir beim ersten Rätsel an. ’ Über die Spitze ragt im Winter die Sonne niemals!’ Da haben Sie zum ersten Mal auf eine Jahreszeit verwiesen. Doch das war bei weitem nicht das letzte Mal. ’Blühender Neuanfang!’ weist auf den Frühling hin. Das dritte Rätsel führte mich zum Supermarkt und das bringt den Sommer ins Spiel, denn ich habe mir wohl den Namen des Geschäftsführers gemerkt. Und den Herbst haben wir innerhalb der Formulierung des dritten Rätsels, denn es war bereits Herbst, als ich Sie dabei erwischte, wie Sie Rick Ihre Zunge aufdrängten. Das ganze Jahr vereint, genau wie die Himmelsrichtungen. Die Natur verliert im Herbst ihre Blätter, wiederum eines Ihrer Pseudonyme, aber sie erhält sie im Frühling wieder. Wege führen in verschiedene Richtungen, wie ich sie auch abgelaufen bin, um letztendlich hierher zu gelangen. Im Leben durchläuft man die verschiedensten Phasen.

Sie lieben eindeutig die Vielseitigkeit und insbesondere Metaphern. ’Das Ende’ ist der Anfang von etwas Neuem. Nämlich mein Leben gemeinsam mit Rick, immer diese Zeit in Erinnerung, die hier und jetzt aber zu Ende geht…“
 

Verwirrt und dennoch so klar im Kopf wie schon lange nicht mehr sank Joe in die Knie und hörte sein Herz schlagen. Er hatte keine Ahnung, ob irgendetwas von dem stimmte, was er da gerade von sich gegeben hatte, geschweige denn, wie er darauf gekommen war. Von einem Moment auf den anderen hatte plötzlich alles einen Sinn gegeben und er hatte zu reden begonnen.

Konzentriert lauschte er auf jedwede Geräusche von Alexandros. Er rechnete schon mit schallendem Gelächter, das jeden Moment laut an seine Ohren dringen würde. Doch es setzte nicht ein.

Nervös hob er seinen Kopf wieder an. Alexandros saß einfach nur da und regte sich nicht. Joes Miene drückte zunehmend mehr Unsicherheit aus. Hatte er nun völligen Schwachsinn von sich gegeben, obgleich es ihm irgendwie logisch erschien?

Plötzlich begann der andere zu klatschen. Immer wenn seine Handflächen aufeinander trafen, drangen applaudierende Laute an die Ohren des Blonden. Zeugten sie aber tatsächlich von Honorierung?
 

„Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Wenn ich einen hätte, würde ich nun den Hut vor dir ziehen.“
 

Joe glaubte sich zu verhören, aber das Lächeln, das sich allmählich in seinem Gesicht ausbreitete, meinte das Gegenteil.
 

„Warte hier.“

Bevor Alexandros aber das Zimmer verließ, besah er sich Joe noch einmal von oben bis unten.
 


 

Ungeduldig stand Rick neben der Tür und betete sie schon förmlich an endlich aufzugehen. Nachdem Alexandros ihm in der Tat einen Kuss gestohlen hatte, hatte er ihn wieder allein gelassen und der Dunkelhaarige konnte das Wiedersehen mit Joe gar nicht mehr erwarten. Sein Freund war wirklich hier, er hatte durchgehalten und holte ihn hier raus. Wie er sich das all die Zeit gewünscht hatte; die Sehnsucht war am Ende nur noch mit Schmerzen verbunden gewesen. Aber jetzt würde der Alptraum endlich vorbei sein.

Es knackte und die Tür wurde regelrecht aufgestoßen. Rick sprang ein Stück zur Seite, so dass ihn das Holz nicht traf.
 

Alexandros Miene war ernst. „Ich hätte deinen Geschmack gerne noch öfter auf meiner Zunge gehabt.“
 

Ricks Augen leuchteten auf und er spürte sein Herz pochen. Der Rhythmus wurde von Sekunde zu Sekunde schneller.
 

„Du hast deine Freiheit wieder.“
 

Konnte Alexandros das wiederholen? Hätte sich Rick nicht auf einmal total gelähmt gefühlt, wäre er in die Luft gesprungen. Plötzlich kam ihm der Raum gar nicht mehr so trostlos vor wie all die Zeit, wo er hier gewesen war. Er wurde grob am Arm gepackt und durch ein ganzes Labyrinth von Gängen und Treppen gezerrt. Die Umgebung schien wie ein falscher Film an ihm vorbeizuziehen, denn er hatte nur noch ein Bild vor Augen: Joe!
 

Vor einer massiven Türe stoppten sie und er nahm allmählich den Schmerz wahr, der von seinem Arm ausging. Halbherzig strich er sich über die wunde Stelle und beobachtete, wie Alexandros ein wenig missmutig die Tür öffnete und dann gänzlich aufschob.
 

Da stand er, ebenso paralysiert. Rick konnte es kaum glauben, bis sich die aufkeimende Freude in ihm rasant ausbreitete. Wie in Trance bewegte er sich auf seinen Freund zu. Dabei unterbrach er niemals den Blickkontakt; unentwegt sah er in seine grünen Augen, in das Strahlen, das er dermaßen vermisst hatte.

„Joe?“, wisperte er und biss sich aus lauter Unfähigkeit sich anderweitig zu artikulieren auf die Unterlippe.
 

Er roch ihn, er spürte ihn, er fühlte starke Arme, die sich um ihn schlangen. Zunächst hatte er das dumpfe Gefühl er träume, doch als er die Stelle an seinem Arm bemerkte wie sie zwickte, wusste er, dass das leibhaftig Joe war, an den er sich gerade presste. Es war als verlöre er alle Ängste auf einmal aufgrund der Geborgenheit, die von seinem Freund ausging. Seine Augen füllten sich mit Tränen, denn das Ausmaß seiner Empfindungen war viel zu gewaltig, um auf einen Schlag verarbeitet werden zu können.
 

„Endlich“, hörte er Joe flüstern.
 

Genau das dachte er auch. Endlich hatten sie sich wieder.
 

„Wenn ihr Turteltäubchen mal fertig seid, dann verlasst bitte das Haus.“
 

Obgleich Alexandros zum ersten Mal das kleine Wörtchen ’bitte’ in den Mund nahm, ging das an Rick ungeachtet vorbei. Joe hatte Mühe zu gehen, so wie Rick an ihm klebte, aber auch er war nicht gewillt seinen Freund loszulassen. Als er die frische Nachtluft in seinem Gesicht spürte, begann er zu lächeln und drückte den Dunkelhaarigen noch fester an sich.

Kapitel 57

Kapitel 57
 

Er konnte nicht anders und drückte Rick immer fester an sich. Die Nase in seinem Haar vergraben, die Hände unter der Kleidung auf seinem Rücken, konnte er es immer noch nicht recht glauben, dass er es wirklich geschafft hatte. Scheinbar hatte er alle Rätsel gelöst; er, der für so etwas eigentlich nicht die Nerven hatte.
 

„Komm, lass uns gehen“, raunte er seinem Freund zu, der stumm nickte und sich zum Auto führen ließ.
 

Der orange leuchtende Mond wies ihnen den Weg und Joe konnte nicht umhin, des Öfteren seinen Blick gen Himmel schweifen zu lassen.

Die rote Glut der 13.
 

„Ich bin so froh, dass du da bist“, kam es leise von dem Kleineren.
 

Joe spürte, wie der Leib in seinen Armen leicht bebte. „Ich hatte solche Angst…“
 

/Und ich mag mir gar nicht vorstellen, was du durchlebt haben musst./
 

Als sie am Auto ankamen, nahm Joe eine Hand von Rick und schloss die Beifahrertür auf. Doch der Dunkelhaarige klammerte sich weiterhin an ihn.

„So können wir aber nicht einsteigen“, schmunzelte er, fuhr aber mit der eben noch freien Hand durch Ricks Haar und küsste ihn auf die Stirn.
 

Es vergingen ein paar Minuten, während denen sich keiner von beiden rührte. Sie hielten sich gegenseitig einfach nur fest und genossen die Nähe des jeweils anderen, die, die ihnen die ganze Zeit vorenthalten worden war.
 

„Ich möchte dieses Haus nie wieder sehen“, hauchte Rick nahe an Joes Ohr, ehe er den Druck seiner Arme verringerte und sich dann gänzlich von ihm löste.
 

Sanft strich Joe ihm eine Strähne aus der Stirn und küsste abermals auf sie. „Fahren wir nach Hause.“
 

Auf der Fahrt zu seiner Wohnung ließ Joe seine Rechte immer mal wieder über Ricks Bein streichen. Keiner von ihnen sagte mehr etwas, aber der Blonde besah sich mit Sorge die Blässe des anderen und die Leere in seinen Augen.

Als er anhielt, nahm er Ricks Kopf in beide Hände und hauchte ihm einen Kuss auf seine Lippen.

„Ich liebe dich“, flüsterte er.
 

Allmählich riss die Mauer, die sich mit einem Mal um Rick errichtet hatte, die Wand, die ihn von allem abschottete, die ihn abwesend vor sich hinblicken ließ.

„Joe!“, entfuhr es seinem Mund. Dann überwand er die wenigen Zentimeter zwischen ihren Gesichtern und legte seine Lippen verzweifelt gierig auf Joes. Wie lange hatte er sich nach ihm gesehnt. Die vergangenen Tage mochten vielleicht nicht viele gewesen sein, doch sie waren grausam gewesen.

Keuchend zog Rick seine Zunge aus dem Mund des anderen zurück. Er wollte ihm so vieles sagen; dass er ihn vermisst hatte, dass er jede Sekunde gehofft hatte, dass er ihn fände, dass… Doch er konnte nichts weiter als Joe in die grünen Tiefen zu sehen.
 

„Ich bin bei dir“, meinte der Blonde nach geraumer Zeit und versuchte ein entspanntes Lächeln auf seine Lippen zu zaubern.
 

Erst schloss Rick die Augen, dann legte er seine Stirn an Joes. „Danke“, hauchte er
 

/Dein Gesicht wirkt zufrieden, aber in deinem Inneren scheinst du zu hadern. Was du wohl träumen magst?

Seit zwei Stunden versuche ich neben dir einzuschlafen, doch immer, wenn ich meine Augen schließe, befürchte ich, dich nicht mehr schützen zu können. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, dass du die letzten Tage einfach vergisst und die Geschehnisse nie wieder in dein Denken kehren.

Wie wird es dir wohl gehen, wenn du wieder aufwachst?

So ruhig wie du jetzt bei mir liegst ist das Vergangene kaum vorstellbar, aber ich brauche nur in mein eigenes Herz zu sehen, um zu erkennen, dass es kein böser Traum gewesen war. Bis jetzt wusste ich nicht, wie viel Angst man um einen Menschen haben kann, aber diese Intensität bringt einen um den Verstand. Ich frage mich, wie ich es bewerkstelligt habe, dich da rauszuholen…

Umso mehr ich darüber nachdenke, desto surrealer erscheint mir das Ganze. Entführung, Rätsel, versuchter Mord… Wahnwitz, wenn mich einer fragen würde… Einfach nur widerwärtiger Irrsinn, der das Schlechte dieser Welt aufzeigt./
 

Mit den Fingern seiner Linken rieb sich Joe die Augen und ließ die Hand anschließend auf seiner Stirn verweilen. Die Schwere von Ricks Kopf auf seinem Bauch war wie ein Segen. Er konnte gar nicht in Worte fassen, wie wohlig sich das anfühlte. Sanft kraulte er seinen Nacken und vernahm mit einem Lächeln das wohlige Seufzen des auf ihm Liegenden. Seit vielen Jahren kannten sie sich. Fast von Beginn an waren sie Freunde und seit Kurzem war er sich seiner Liebe diesem Menschen gegenüber gewahr. Zwei Jahre voller Leid, aber auch Freude, lagen hinter ihnen und die letzten fünf Tage sollten sie schnellstmöglich aus ihrem Leben verbannen. Nur hatte Joe keine Ahnung davon, wie und ob Rick das verarbeiten konnte, was geschehen war. Wie hieß es so schön? – Die Zeit heilt alle Wunden…

Bisher hatte es sich immer bewahrheitet oder nicht? Gänzlich vergessen konnte man nie, aber zumindest konnte man irgendwann vernünftig mit der Vergangenheit umgehen.
 

/Ich werde alles versuchen, damit du das alles so bald wie möglich hinter dir lassen kannst. Und wenn ich dafür weiterhin mein Leben ganz nach dir richten muss… Seit Tagen war ich nicht mehr arbeiten, aber mein Resturlaub ist fast aufgebraucht. Wenn ich das Gefühl habe, dich am Montag nicht allein lassen zu können, dann werde ich mich krank melden, wie auch immer ich das anstellen werde./
 

Unverwandt sah er in Ricks schlafendes Gesicht, das fast dem eines kleinen Kindes gleich kam, nur mit dem Unterschied, dass es nicht nur süß aussah, sondern auch eine umwerfende Wirkung auf Joe hatte. Er ließ seine Hand vom Nacken zu einer Wange des Kleineren wandern und strich ganz sachte über sie. Wie gerne hätte er nun die Lippen des anderen auf sich gespürt, doch er war schon einfach glücklich darüber, dass er ihn wieder hatte und dazu wohlauf. Zumindest äußerlich wirkte er unversehrt, doch wie es in seinem Inneren aussah würde Joe erst noch in Erfahrung bringen müssen. Ein solches Erlebnis konnten ein paar Stunden Schlaf nicht ins Nichts verbannen, wenngleich das das Beste gewesen wäre, was ihnen hätte passieren können. Es lag einiges an Arbeit vor ihnen und das wusste Joe.
 

Rick blinzelte mit den Augen und atmete tief den wohligen Duft ein, der ihn umgab. Sofort erkannte er, dass er von Joe stammte und in Erwartung, genau diesen bei sich liegen zu haben, schlug er seine Lider gänzlich auf und wandte sich zur anderen Seite hin. Als er dort nur eine harmlose, ungefüllte Decke erblickte, blieb sein Herz abrupt stehen, bevor es begann, heftig und unkontrolliert zu schlagen. Mit purer Angst in den meerblauen Seelen schoss er hoch und sprang aus dem Bett, stürmte unvermittelt sogar aus dem Zimmer. Sein erster Blick fiel auf die Wohnungstür, die weder aus ihren Angeln hing noch anderweitig aufgebrochen worden war, wie er sie erwartet hatte vorzufinden. Vollkommen unversehrt trennte sie den Rest des Hauses von Joes Wohnung.

Nach dem ersten Schreck vernahm er klappernde Geräusche aus der Küche und allmählich beruhigte sich sein Puls wieder. Langsam schlurfte er durch den Gang und öffnete so leise wie möglich die Tür zur Küche. Er wollte nicht, dass der Blonde merkte, dass er eigentlich noch völlig aufgebracht war und gedacht hatte, ihm sei etwas zugestoßen.

Joe schien gar nicht mitbekommen zu haben, dass er hereingekommen war und sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte, denn er kümmerte sich weiterhin um das Frühstück. Ausführlich betrachtete Rick sich die Gestalt, die rege in die Schränke griff und allerlei Sachen aus ihnen herausholte. Das Tablett auf der Arbeitsplatte war bereits schon voll, doch Joe schaffte es irgendwie noch mehr darauf zu platzieren.
 

/So wie du da nur in Pants gekleidet agierst, könnte ich dich stundenlang betrachten. Das Muskelspiel auf deinem Rücken… deine blonden Haare, die gerade wild zu Berge stehen… Die ganze Zeit über habe ich versucht daran festzuhalten, dich noch einmal wiederzusehen. Es gleicht einem Traum, dich gerade vor mir zu haben und dich wie ein Geist beobachten zu können. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich liebe und wie viel Angst ich eben noch hatte, dir könnte etwas passiert sein… Schließlich traue ich Alexandros und Serrat alles zu, wenngleich sie uns gehen gelassen haben. Etwaigen war das ja auch nur ein Teil ihres widerwärtigen Spiels und sie gieren nur auf die nächste Gelegenheit, dich mir wegzunehmen… /
 

Abwesend bettete Rick seinen Kopf in beide Hände, die Ellbogen dabei fest auf den Tisch gestützt. Mit seiner Zunge leckte er sich über seine Lippen, in erster Linie um sie zu befeuchten. Joe füllte heißes Wasser in eine Thermoskanne, nahm das Tablett in eine, die Kanne in die andere Hand und drehte sich um. Obwohl es gefährlich aussah, wie er plötzlich Mühe hatte, die schweren Sachen auf seinen Händen zu balancieren, begann Rick zu grinsen.
 

„Ich sitze schon länger hier“, kommentierte er Joes erschrockenen Gesichtsausdruck.
 

Mit einem lauten Knall landete die Kanne nun doch noch auf dem Boden, da er die entsprechende Hand zusätzlich dazu verwendet hatte, um das Tablett zu stützen. Heißes Wasser floss sogleich über die Fliesen.
 

„Na toll“, fluchte der Blonde und begann damit, das Wasser aufzuwischen, nachdem er das Tablett wieder zurück auf die Arbeitsplatte gestellt hatte.
 

Rick stand auf und bückte sich zu ihm hinab. Als Joe aber fortfuhr, mit verzerrter Miene den Boden zu trocknen, legte er eine Hand auf seine Schulter und eine an seine Wange. Der Größere ließ den Lappen los und sie sahen sich an. Lange blickten sie sich an, ehe Joe den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Doch Rick hielt ihm im selben Moment einen Finger auf die Lippen.

„Ich musste mich nur vergewissern, dass du wirklich hier bei mir bist.“

Leicht verlegen hauchte er einen Kuss auf Joes Wange und wandte sich anschließend von ihm ab, um sich um die Bescherung zu kümmern, an der er nicht ganz unschuldig war.
 

Unvermittelt spürte er zwei Arme um seine Taille, die ihn nah an einen warmen Körper drückten. Heißer Atem streifte seinen Nacken und Lippen bedeckten seinen Hals mit federleichten Küssen.
 

„Bist du nun davon überzeugt, dass ich nicht nur ein Trugbild bin?“, flüsterte Joe zart in sein linkes Ohr.
 

Eine wohlige Gänsehaut befiel ihn und er suchte mit seinen Fingern ein wenig Halt, da seine Fußspitzen – auf mehr stand er nicht – unter ihm nachgeben wollten. Mit einer Hand bekam er eines von Joes Knien zu fassen, mit der anderen einen von seinen Armen. Alsbald schloss er seine Augen und konzentrierte sich nur noch auf die Lippen, die allmählich auf Wanderschaft gingen. Nach seinen Schultern benetzten sie seinen Rücken mit einem feuchten Film und jedes Mal, wenn Joe zusätzlich seine Zunge ins Spiel brachte, entwich ihm ein leises Seufzen.

Wie hatte er jemals ohne diesen Menschen leben können? Wie hatte er die Zeit in diesem kargen Raum überstanden, ohne Joe ein einziges Mal derart gespürt zu haben?

Sein Herz überschlug sich beinahe, als Joe eine seiner Hände, die immer noch um seine Taille geschlungen waren, dazu benutzte, sie sachte über seine Seite fahren zu lassen. Immer wieder fuhr sie ganz sanft auf und ab und verstärkte die Sehnsucht in Rick, noch mehr davon spüren zu wollen.
 

„Hör bloß nicht auf“, presste Rick bemüht hervor und seine Worte gingen dabei halb in einem Seufzer unter, das die andere Hand von Joe entlockte, als sie kurz sanft über die Innenseite seines rechten Oberschenkel strich.
 

„Habe ich auch nicht vor“, lächelte er auf Ricks Rücken und blies anschließend besinnlich auf diesen.
 

Für einen Moment schien sich die ganze Welt zu drehen, bevor sie dazu überging, sich ganz verschwommen in die Ferne zu rücken. Immer wieder verdeckten Ricks Lider seine verschleierten Iriden, doch er nahm nichts mehr außer dieser betörenden Nähe seines geliebten Freundes wahr. Plötzlich fühlte er, wie sich der Griff um ihn lockerte und er befürchtete sogleich, er würde sein Gleichgewicht verlieren, doch starke Hände drehten ihn bestimmt, aber vorsichtig um, so dass er nun auf seinem Bauch die heißhungrigen und gleichzeitig so sanften Lippen spürte.

Sein Atmen schien sich zu überschlagen und doch ab und an einfach für einen Moment auszusetzen. Joes Zunge strich an seinem Schlüsselbein entlang, Zähne vergruben sich alsbald seicht in seinem Nacken. Irgendwann wanderte Ricks Hand zu Joes Kinn, bettete sie unter dieses und hob es Stück für Stück an, so dass er in zwei grüne Seen blicken konnte.
 

„Küss mich“, formte Rick mit seinem Mund und er war sich nicht ganz sicher, ob er die Worte auch wirklich laut gesprochen hatte.

Aber Joe kam seiner Aufforderung nach und raubte ihm minutenlang den Atem, umkreiste mit seiner Zunge die Seinige und schloss den Kuss damit, dass er sich kurz mit den Zähnen in der Unterlippe des Kleineren verfing.
 

Wie in Trance, aber doch um viele Nuancen intensiver, fühlte der Dunkelhaarige, wie Joe wieder dazu überging, sich Bahn für Bahn tiefer zu küssen. Als er jedoch eine seiner Brustwarzen neckte, zuckte er leicht zusammen, was Joe sofort innehalten ließ.
 

„Mach weiter“, hauchte Rick und beugte sich Joes Gesicht entgegen.
 

Erst zögerlich saugte der Blonde an der Haut ein wenig oberhalb Ricks Bauchnabels, ehe er begann dies fester zu tun. Unter der rötlichen Stelle, ließ er seine Zunge in die kleine Vertiefung gleiten und höhlte sie ein paar Mal aus, vernahm das immer lauter werdende Stöhnen des Besitzers. Er streifte mit seinen Lippen den Bund von Ricks Shorts und spürte nicht als einziger, die Hitze und Erregung, die unter ihr wallten.

Vorsichtig sah er zu, dass Rick sein Gewicht selbst halten konnte und löste eine Hand von seiner Taille, die er sofort dafür verwandte, sie knieaufwärts unter das bisschen Stoff zu schieben, das den anderen bedeckte.

Der Dunkelhaarige begann zu zittern und der Atem drang nun stoßweise aus seinem Mund. Leidenschaftlich ließ Joe seine Hand immer wieder unter den Stoff gleiten ohne dabei die Stelle zu berühren, die Ricks Stöhnen nur noch verstärkt hätte. Nun nahm er noch seine zweite Hand hinzu und strich an beiden Beinen rauf und runter.

Das Zittern des Kleineren nahm von Minute zu Minute zu und Joe schrieb das der Lust zu, die sich in ihnen deutlich ausbreitete. Doch als jener heftig in sich zusammenfuhr, als er ihn der Shorts entledigen wollte, versuchte er seine Hände ruhig zu halten und damit Rick den Schauer zu nehmen, der ihn eindeutig befallen hatte.

Zärtlich küsste er Ricks Stirn und legte seinen Kopf in dessen Nacken.

„Es ist alles gut.“

Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
 

„Warum…“, begann Rick, doch verstummte sogleich wieder.

Er wusste, dass es Joe war, der ihn so intim berührte, ihn gänzlich verwöhnte, und dennoch bebte er am ganzen Leib.
 

In den lustvollen Nebel schlich sich immer deutlicher ein Bild, das er partout nicht sehen wollte. Eine Silhouette, die ihn seine Fingernägel in Joes Fleisch drücken ließ.
 

„Öffne die Augen“, hörte er wie aus weiter Ferne an seine Ohren dringen.

Aber er hatte sie doch offen; er sah doch den tristen Raum, der ihm höhnisch seinen Glanz verwehrte. Und einen Mann, der mit einem süffisanten Grinsen seine Zunge über seine Oberlippe strich.
 

„Nicht näher…“, keuchte er, als Alexandros Lippen seinen gefährlich nahe kamen.
 

„Rick!“

Joes Stimme. Schon wieder bildete er sie sich ein, als er drohte, diesen unbändigen, gierigen Mund spüren zu müssen. Aber seine Hoffnung wurde nicht erfüllt und fühlte erneut die Gier.

Resigniert ließ er sich auf dem Sofa zurücksinken.

„Auu“, klagte er in Alexandros Mund hinein.

Als er seine Augen sogleich weit aufriss, setzte sein Herz aus.
 

„Bist du okay?“
 

„Nicht Al…?“
 

Joe schüttelte bedächtig mit dem Kopf.

Verwirrt setzte sich Rick auf, spürte die Nässe nicht einmal, die seinem Rücken anhaftete. Als er die hellen Fliesen und die Holzstühle realisierte, legte er beide Hände über sein Gesicht.
 

„Ich bin doch frei!“, würgte er gebrochen hervor und seine Laute waren durch seine Hände nur vage wahrnehmbar.
 

„Körperlich ja… und geistig wirst du es auch bald sein.“

Joe half ihm auf und schob ihn langsam zum Küchentisch, drückte ihn auf einen Stuhl nieder.

„Tee kommt gleich“, meinte er, nachdem er ihm durchs Haar gestrichen hatte.
 

„Mache das noch einmal.“
 

Zunächst irritiert wandte sich der Blonde zu ihm um, doch dann ging er die wenigen Schritte zu ihm zurück und wuschelte ihm erneut durchs haselnussbraune Haar.
 

„Stehst du das wirklich mit mir zusammen durch?“, fragte Rick leise und brach den Augenkontakt dabei ab.
 

Joe legte eine Hand auf die Wange seines Freundes, der immer noch keine Anstalten machte, wieder zu ihm aufzusehen.

„Ich werde nicht von deiner Seite weichen.“
 


 

„Du willst eine ganze Armee versorgen“, meinte Rick, als sie zusammen im Bett saßen und Joe alles darauf ausbreitete, was er vorher auf das Tablett gestapelt hatte.
 

„Das ist doch schneller weg als dir lieb ist.“
 

„Vielfraß.“
 

Joe grinste ihn an. „Daran wird sich auch nie was ändern.“
 

Rick schloss die Augen und als er nach drei Minuten sich nicht wieder regte, war Joe besorgt. „Ich bin hier“, meinte er leise.
 

„Ich habe nur diesen Moment genossen.“ Nun konnte Joe wieder das Blau sehen, in das er immer wieder versank. „Nun iss schon und sieh mich nicht weiter so mitleidig an.“
 

„Besorgt!“, entgegnete der Blonde.
 

„Okay dann unterlass aber auch das, ja?“ Rick nahm ein Stück Apfel und schob es Joe in den Mund. „Kauend bist du mir viel lieber“, lächelte er.
 

Er wollte Joe so wie vor… dieser Entführung sehen. Grinsend, essend und unersättlich. Eben einfach Joe, wie er leibte und lebte. Keinen überfürsorglichen, ängstlichen jungen Mann, der ihm keine Stärke mehr zutraute. Und nicht nur weil er es sich wünschte, ging Joe dazu über, wie gewohnt kräftig zuzulangen, sondern auch weil es eben seine Natur war. Und dafür liebte Rick ihn so.
 

„Leida hadde ich“, er schluckte, „keinen Honig mehr da.“
 

„Kaum bin ich wieder hier, schon hast du deine Manieren wieder verloren.“ Gespielt ernst bewegte Rick seinen rechten Zeigefinger hin und her.
 

„Gib es zu, das macht dich an.“ Neckisch zwickte er Rick in die Seite, die mittlerweile von einem Pullover verdeckt war.
 

„Wenn dir das Essen zwischen den Zähnen hängt, während du mit mir sprichst?“ Er zog seine Augenbrauen kraus, ließ aber eine Hand über ein Bein des anderen wandern.
 

„Hey!“, entwich es Joe, als die Hand über sein Becken strich. „Deinen Worten folgen aber ganz andere Taten“, meinte er dann grinsend.
 

„Mh?“ Schnell zog Rick seine Hand zurück. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“ Zwinkernd biss er in sein Brötchen.
 

„Dann begnüge ich mich eben weiterhin mit Essen.“

Seinen Freund ignorierend stopfte er sich allerlei Leckereien in den Mund.

„Gut, dass ich immer Geheimvorräte habe.“

Anschließend spürte er Finger, die ihn knufften. Daraufhin legte er einen Arm um seinen Freund und zog ihn halb auf sich.

„Besser?“
 

„Natürlich“, erwiderte Rick und genoss zum ersten Mal seit Tagen etwas zu essen.

Kapitel 58

Kapitel 58
 

„Das war köstlich“, kommentierte Rick, als er sich gesättigt zurück an seinen Freund lehnte.
 

Joe ließ immer mal wieder eine Hand über seinen Oberkörper streifen und drückte ihn dabei an sich. „Ich habe zu viel gegessen“, stöhnte er dann.
 

„Kein Wunder, wenn man sich die wenigen Überbleibsel betrachtet. Bedenke, dass das Tablett zum Gebrechen voll gewesen war.“
 

„War“, wiederholte der Blonde und atmete laut aus, wobei sein Atem Ricks Ohr streifte.
 

„Dann wäre es wohl besser, wenn ich nicht gerade auf deinem Bauch liege.“
 

Gerade als sich der Kleinere ein Stück zur Seite rollen wollte, hielt ihn der andere noch stärker fest.

„Du bleibst aus zwei Gründen genau da, wo du bist. Zum einen kommt es gar nicht in Frage, dass du dich auch nur einen Zentimeter von mir wegbewegst, zum anderen…“
 

Als Joe keine Anstalten machte den Satz zu beenden und stattdessen die Luft anzuhalten schien, wandte Rick seinen Kopf um und sah ihn aus dem Augenwinkel heraus an.

„Zum anderen?“
 

„Sage ich dir später.“
 

Die vielsagende Tonlage ließ Rick erst recht aufhorchen. Obgleich er sich gänzlich umdrehen wollte, ließ es sein Freund nicht zu und hielt ihn vehement durch die Kraftausübung seiner Arme davon ab. Seufzend ergab er sich und begann damit, mit einem Finger einen von Joes Armen auf- und abzufahren.

„Du willst mich schonen, aber das brauchst du nicht“, meinte er leise.
 

Für einen Moment schloss Joe die Augen. „Und was war vorhin in der Küche?“
 

„…“
 

„Tut mir leid, du hast ja Recht; aber du darfst dir gleich bitte keine Vorwürfe machen, verstanden?“ Er legte seinen Kopf auf Ricks Schulter. „Denn die mache ich mir schon zu genüge“, fügte er kaum hörbar an.
 

„Was ist passiert?“ Alarmiert versteifte sich Ricks Körper.
 

„Von Beginn an haben mir meine Eltern geholfen dich ausfindig zu machen und wir sind wirklich gut gewesen, bis…

Steven liegt im Krankenhaus.“
 

Nun wollte Rick sich aber ernsthaft umdrehen oder sich zumindest aufrichten, aber er wurde weiterhin strikt festgehalten.
 

„Entspanne dich, er ist auf dem Weg der Genesung. War nur eine Platzwunde und er hat seitdem sogar schon wieder gelächelt.“

Joe wusste, dass er Stevens Zustand mächtig herunterspielte und insbesondere beschönigte, aber er wollte seinen Freund nicht unnötig beunruhigen. Es reichte doch schon, dass er sich selbst immerzu die Schuld gab und diesbezüglich eigentlich keine ruhige Minute hatte. Die ganze Zeit war er im Unterbewusstsein bei seinem Stiefvater und obgleich er Rick etwas anderes vermitteln wollte, zehrte das ungemein an seiner Substanz.
 

„Lass’ mich doch bitte mal kurz los.“
 

Zwar wollte das der andere immer noch nicht tun, aber er lockerte dennoch seinen Griff. Sogleich setzte sich Rick auf und suchte anschließend seinen Blick auf.

„Du weißt, dass wir uns schon lange kennen?“

Eindringlich sah er ihn an.
 

Joe seufzte und bat ihn stumm, wieder etwas näher zu kommen. Alsbald legte er seine Lippen auf Ricks und hauchte ein ’Ich weiß’ auf sie. Ein zärtlicher Kuss besiegelte sein Geständnis.
 

„Nur möchte ich nicht, dass du dir den Unfall allzu sehr zu Herzen nimmst.“
 

„So wie du?“, erwiderte Rick und seine Mimik wurde sehr ernst.
 

Zunächst war Joe perplex, doch dann zuckte er mit den Schultern. „Ich hätte nicht einfach vor das Fenster laufen dürfen.“
 

Ein wenig verständnislos sah der Dunkelhaarige ihn an, doch der andere zog ihn wieder gänzlich zu sich, was er sich widerstandslos gefallen ließ, und begann dann, nach und nach zu erzählen, wie es zu Stevens Krankenhausaufenthalt gekommen war. Angefangen beim unvollständigen Kennzeichen, das er durch Sarah bekommen hatte, über vier Rätsel hinweg, in Vollendung, dass er seine neu entdeckte philosophische Ader erläuterte.
 

„Ich glaube, das habe ich von dir gelernt“, fügte er letztlich trotz seiner nun leicht depressiven Stimmung grinsend an.
 

Eine ganze Weile lang sagte der Kleinere nichts, spielte stattdessen abwesend mit den Fingern von Joes rechter Hand.
 

„Und ich dachte, hier draußen wäre die Welt nicht so grausam…“
 

„Uns geht es doch gut und Steven erholt sich auch wieder.“

Es war an Joe, etwas Positives von sich zu geben, doch er merkte selbst, dass er wenig überzeugend klang.
 

„Und gerade nanntest du das noch Unfall. Dabei handelt es sich um versuchten Mord, das ist dir schon klar?“
 

Heftigst schluckte Joe, würgte den Kloß hinunter, der sich mit einem Mal in seiner Kehle breit gemacht hatte. Natürlich war er sich darüber im Klaren; umsonst hatte er nicht ein derart schlechtes Gewissen und machte sich andauernd Vorwürfe.
 

„Joe?“ Besorgt drückte Rick einen Kuss auf Joes Arm.
 

„Irgendwie sind wir heute beide ganz schön unsensibel“, meinte er seufzend.
 

/Immerzu werde ich daran erinnert, dass ich Stevens Verletzung zu verantworten habe, ob durch mein eigenes Denken veranlasst oder nun durch dich. Ich brauche nur einmal kurz meine Lockerheit abzulegen und schon verfange ich mich in einem Wust aus ungestümen Anschuldigungen mir selbst gegenüber.

Wenngleich ich dachte, du bräuchtest meine ungeteilte Aufmerksamkeit und insbesondere mein Einfühlvermögen, schaffe ich es nicht, dich mit Samthandschuhen anzufassen. Etwaigen habe ich selbst in den vergangenen Tagen zu viel erlebt, als dass ich dich nun bedingungslos schonen könnte… Wenn das überhaupt das Richtige wäre… Wie kann ich mit dir umgehen ohne dir zu schaden?

Ich weiß gar nicht, ob ich dir auch nur annähernd das geben kann, was du gerade brauchst…/
 

„Manchmal, so wie jetzt, weiß ich einfach nicht, wie ich mich ausdrücken soll.“
 

Ricks Gesichtsausdruck wurde völlig ungläubig. „Du?“, meinte er sarkastisch. „Bisher warst doch du immer derjenige von uns beiden, der immer die richtigen Worte fand und mich jedes Mal aufmuntern konnte, egal wie schlecht es mir ging.“

Nach einer Pause, in der er sich kurz in sich zurückzog, fuhr er fort: „Und der Fakt, dass du mir berichtet hast, was alles geschehen ist, zeigt mir auch jetzt wieder, dass du immer hinter mir stehst.“

Geistesabwesend horchte er auf das Schlagen des Herzens unter der Brust, auf der er lag.
 

„Dabei renne ich manchmal mit dem Kopf durch die Wand…

Was ich meine,… ich bin oft einfach völlig unbedacht, sonst würde mein Vater nun nicht im Krankenhaus liegen.“
 

Innerlich schalt sich Joe sofort, aber er konnte seine Gefühle, die er momentan hegte, einfach nicht verbergen, so sehr er sich darum bemühte. Eigentlich wollte er Rick wie die letzten Monate ein wenig aufheitern, mit ein wenig Humor zum Lachen bringen, doch er fühlte sich, als ob ihm selbst jedwede Facette der Unbeschwertheit genommen worden war.

Solch eine Unbeholfenheit kannte er von sich selbst gar nicht und es behagte ihm auch nicht, dass er nicht in der Lage war, Rick die Worte zukommen zu lassen, die dieser unweigerlich brauchte. Seine eigenen Gefühle machten ihm eindeutig einen Strich durch die Rechnung; eine Tatsache, an die er sich wohl erst noch gewöhnen musste. Er wusste, dass er manchmal zur Unbeherrschtheit neigte, da musste man sich lediglich an seine Unfairness bezüglich Steven erinnern, aber dass er keine rechte Ahnung hatte, wie er Rick dieses Mal unter die Arme greifen konnte, verunsicherte ihn.

Lange sah er einfach stur geradeaus auf seinen Kleiderschrank, den er als solchen dabei gar nicht wahrnahm. Vielmehr war dieser zu einer verschwommenen Gestalt geworden, durch die es galt hindurchzusehen. Er spürte den warmen Körper auf sich, den er überaus vermisst hatte, er genoss es, dass sich dieser im selben Rhythmus wie er auf und ab bewegte, aber er hatte das Gefühl, dass er immerzu die falschen Worte gewählt und sich verkehrt verhalten, seitdem er Rick da rausgeholt hatte. Vielleicht mochte der Dunkelhaarige denken, dass er alles verkraften konnte, aber was war, wenn sich das im Endeffekt zu seinem Nachteil auswirkte?
 

/Ich hätte dich mit der Wahrheit nicht belasten dürfen, zumindest nicht schon jetzt. Aber bevor ich dir alles erzählte, dachte ich noch, ich muss es tun, aber nun weiß ich nicht, ob es wirklich angebracht war…

Denn ich kann mir noch keine Vorstellung davon machen, was du alles über dich ergehen lassen musstest, zu was dich Alexandros gezwungen hat… Schon allein der eine Kuss, den ich live gesehen habe, war genug, um zu erkennen, dass er keine Gnade zeigen würde…/
 

Nur vage bekam er mit, wie er sich zu versteifen begann. Sein Puls beschleunigte sich zunehmend und er fühlte mit einem Mal eine schier hassgeprägte Wut in sich aufkeimen.
 

„Steven sieht das bestimmt anders als du“, hörte er den Dunkelhaarigen sprechen.
 

Dabei reagierte sein Körper doch auf etwas ganz anderes. Bisher hatte er sich nicht detailgetreu ausgemalt gehabt, was dieser Kerl Rick alles angetan haben konnte respektive wirklich angetan hatte. Immerzu war er darauf aus gewesen, diese verdammten Rätsel zu lösen und ihn so schnell wie möglich zu befreien, doch was war in der Zwischenzeit alles, von dem er noch keine Ahnung hatte, geschehen?

Obwohl er unentwegt Angst um ihn gehabt hatte, hatte er jedwede Gedanken an eine Vergewaltigung verdrängt gehabt, und nun kam sie ihm überhaupt nicht mehr abwegig vor. Rick schien nach außen hin viel zu gelassen und seine Reaktion vorhin, als er ihn intim berührt hatte, deutete zweifelsohne darauf hin, dass sich Alexandros an ihn rangemacht hatte.

Die Wut wuchs fast schon ins Unermessliche; zum einen durch diesen widerwärtigen Kerl veranlasst, zum anderen aber, weil er noch nicht wirklich auf Rick eingegangen war. Er fühlte sich mehr als nur unsensibel gerade. Da hatte er von seinen eigenen Erlebnissen geredet und Ricks Zustand währenddessen völlig außen vor gelassen.
 

/Schon wieder entpuppe ich mich als Vollidiot. Das kann doch gar nicht wahr sein!/
 

„Wir können ihn ja nachher zusammen ins Krankenhaus.“
 

„Bitte Rick!“, entfuhr es ihm nun, angeheizt durch seine Erkenntnis. „Hör auf, mir gut zureden zu wollen. Du solltest selbst erst einmal verarbeiten, was war, und nicht deine letzte Kraft auf mich verwenden. Diese Kerle haben dich… sie haben dich… grrr, das will mir gar nicht über die Lippen gehen!“ Ein wenig grob rappelte er sich im Bett auf und bemerkte gar nicht, dass er Rick dabei halb von sich stieß.

„Warum wirkst du so gelassen? So weiß ich gar nicht, was ich tun kann, um dir zu zeigen, dass ich für dich da bin, und dass ich jeden verabscheue, der sich an dir vergreift. Ich könnte Alexandros meine Fäuste um die Ohren hauen, wenn ich mir vorstelle, wie er dich angefasst hat. Das macht mich alles so fahrig, ich-“
 

Als er sah, dass Rick ihn völlig leblos anblickte, verstummte er abrupt. Und als er realisierte, dass er erneut all das laut ausgesprochen hatte, was der andere mit Bestimmtheit nicht hören wollte, legte er sich eine Hand an die Stirn und ließ sie vorher ein paar Mal gegen sie stoßen. Alsbald schüttelte er einfach nur noch mit dem Kopf.
 

„Ich bin so ein Idiot.“
 

„Wenn er doch nur der Initiator gewesen wäre…“ Ricks Stimme klang völlig ermattet.
 

Joe sah ihn an und hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und all das, was er erlebt hatte, in sich aufgesogen, um es ins Nichts zu verbannen. Doch er vermochte es nicht einmal ihn mit einer Hand zu berühren, geschweige denn ihm einmal durchs Haar zu streifen. Nicht einmal diese vertraute Bewegung konnte er ausführen; er fühlte sich dazu verdammt, ihn lediglich anzustarren und darauf zu warten, was folgen würde.
 

„Mein Vater“, fuhr Rick plötzlich lachend fort, nur dass sich sein Gelächter keineswegs glücklich anhörte, „hat ihn beauftragt! Und Serrat hat das alles in die Wege geleitet.“
 

Noch immer konnte man höhnisches, verletztes und gleichzeitig klägliches Lachen vernehmen. Zunehmend schnürte sich Joes Herz zusammen und Ricks Erscheinung gab ihm den Rest. Der Dunkelhaarige saß da und verzerrte sein Gesicht allmählich zu einer Grimasse, die am Ende reinste Bestürzung ausdrückte. Und dann folgten Tränen. Salziges Nass, das sich seinen Weg über seine Wangen bahnte.
 

Ohnmächtig irgendwelcher anderen Mittel legte er nun doch seine Hände auf Ricks Schultern und zog ihn wieder zu sich. Vielleicht sollte er auch einfach seinen Mund halten und ihm einfach seine Nähe geben. Das war wohl momentan wirklich das Einzige, zu was er fähig war und was sein Freund vermutlich brauchte. Einen Körper zum Anlehnen, einen Menschen, bei dem man sich nicht verstecken musste. Der ihm zärtlich über den Rücken strich und seinen Tränen freien Lauf ließ.
 

Erst nach und nach sickerte die Information zu ihm durch, die ihm Rick gerade gegeben hatte. Fast wollte er schon widersprechen, doch diesmal konnte er sich zurückhalten. Schließlich wusste er nicht, ob Damon nun wirklich in alles verwickelt war oder nicht, wenngleich sie das Rick scheinbar eingetrichtert hatten.
 

/Das muss ich unbedingt bald in Erfahrung bringen, denn wenn es sich tatsächlich bewahrheitet, dann kann ich nicht mehr dafür garantieren, dich zukünftig aufheitern zu können… Verdammt, er hatte dir verziehen! Da wirst du doch nicht die Entführung deines eigenen Sohnes in die Wege geleitet haben!?

Wenn du doch wenigstens mal an dein Handy gegangen wärst… Dann könnte ich Rick vielleicht nun sagen, dass sein Vater kein vollkommen kaltherziges Arschloch ist, das sogar bei seinem eigen Fleisch und Blut nicht Halt macht…

Aber ich kann mir das immer noch nicht vorstellen, dazu wäre er nicht fähig! Selbstverständlich belastet ihn der unvermittelte Rausschmiss, die ganzen vergangenen zwei Jahre, doch Entführung und… ungewollte Küsse eines so schmierigen Kerls wie Alexandros…?

Das darf nicht wahr sein!

Das darf es einfach nicht…

Egal, ob sie derartiges zu Rick sagten oder nicht, er es glaubt oder nicht. Ich darf es erst dann glauben, wenn ich die Bestätigung dafür habe!/
 

Doch die eigene Bestürzung wuchs allmählich und er spürte, wie sein Herz anfangen wollte zu glauben, dass es Damon gewesen war, der diese Untat veranlasst hatte. Er verfluchte innerlich diesen Gedanken, denn der bedeutete nichts außer noch mehr Leid. Davon hatten sie wahrlich genug und der bebende Leib in seinen Armen war doch Beweis genug.

Immer wieder kämpfte er gegen sich selbst an, um nicht letztlich auf das Spiel reinzufallen, das immer noch mit ihnen gespielt wurde.
 

/Wir befinden uns noch immer mitten in diesem abartigen Spiel…

Verdammt, wir sind ihnen wirklich noch nicht entkommen!

Solange ich noch mit meinem Verstand und nicht nur mit meinem Herzen denken kann, werde ich euch überlisten…

Ich muss alles aufklären,… irgendwie…/
 

Joe war es leid, ständig nach neuen Antworten zu suchen ohne mehr als vage Anhaltspunkte zu haben. Umsonst kroch nicht immerzu Wut in seinen Körper, die immer neue Schübe pures Adrenalin mit sich brachte. Allmählich hatte er wirklich genug von bruchstückhaften Informationen und Vermutungen, die allesamt einfach nur nervenaufreibend und wenig Effizienz hatten. Nur durch Zusammenfügen, Ergänzen und logischem Denken hatte er Rick befreien können und nun hatte er ihn bei sich.

Er spürte die nassen Perlen auf seiner Haut, die sich noch immer ab und an aus Ricks Augen lösten. Gänzlich hatte sich der junge Mann in seinen Armen noch nicht beruhigt und das war keineswegs verwunderlich. Ihm war offenbart worden, dass er alles wegen seines Vaters durchleben musste, und Joe wusste, dass das für Rick das Schlimmste an der ganzen Situation war.

Er würde zukünftig wirklich alles daran setzen müssen, Damon daraufhin auszukundschaften, wenngleich sein Maß an Abenteuerlust bisweilen völlig erschöpft war. Aber jegliche Gegenwehr oder gar Jammerei half nichts, schließlich würde er dennoch keine Ruhe haben, ehe sein Freund nicht wieder aufrichtig lachen konnte.
 

„Gehen wir ins Krankenhaus?“

Ricks Stimme trug ein regelrechtes Flehen in sich, was Joe stutzen ließ.
 

„Ungg… Gerne, zumal… sie bisher nur eine kurze und bündige SMS bekommen haben, die ich ihnen, als du schliefst geschrieben habe.“
 

„Ich möchte deinem Vater danken“, erklang es leise.
 

„Er wird sich sicherlich schon darüber freuen, dich zu sehen.“

Eigentlich wollte Joe noch anfügen, dass er sich bei keinem zu bedanken hatte, doch während er mit einer Hand den Rücken des Kleineren auf- und abfuhr und dabei die Verspanntheit spürte, ließ er es bleiben. Er wollte es ihm gewiss nicht verbieten und wenn er sich danach besser fühlen sollte, dann sollte es eben so geschehen.

„Wollen wir gleich gehen?“
 

Bereits während sich Rick die letzten Tränen aus dem Gesicht wischte und langsam aufstand, suchte er Joes Blick auf.

„Deine Eltern sind was Besonderes, allein schon aus diesem Grund möchte ich sie sehen und mich bei ihnen für alles bedanken, was sie für mich getan haben.“
 

Nachdem sich Joe ebenfalls aus dem Bett erhoben hatte, forderte er einen langwährigen Kuss ein. Schwer atmend drückte er ihn noch einmal kurz fest an sich, bevor er zum Schrank lief und ihnen frische Kleidung herausholte.

„Eine gemeinsame Dusche?“, fragte er mehr in den Schrank hinein, doch selbst das konnte den leicht ruchigen Unterton nicht verbergen.

Als er sich umdrehte, da er keine Antwort bekam, sah er nur noch, wie die Tür restlich aufging und Rick hinter ihr verschwand.

Mit einem Grinsen und einem Stapel Kleidung unterm Arm folgte er ihm und konnte nicht umhin zu lächeln, selbst wenn er gerade eben noch die Tränen des anderen gesehen hatte. Mit einem Fuß schob er die Badezimmertür auf, die nur angelehnt war und spürte sogleich beim Anblick, der sich ihm bot, die Lust, die er vor dem Frühstück schon einmal verspürt hatte. Nackt wartete Rick unter der Dusche und sah ihn mit Augen voller Trauer und Leidenschaft getränkt an. Achtlos ließ Joe die Kleidung zu Boden fallen, streifte sich behände den Stoff von seinem Leib und stieg zu ihm unter den Wasserstrahl, der mittlerweile zügig gen Erde stob. Heiß legte sich rauschender Nebel auf ihre Haut, die ohnehin bereits erhitzt war. Ihre Münder trafen sich sofort zu einem heißhungrigen Kuss und Rick begann als erster damit, den anderen Körper mit den Händen zu erkunden. Anfangs gab er sich damit zufrieden, über den Rücken des Blonden zu streichen, doch alsbald glitt er tiefer und bettete sie auf einen Hintern, der sich ihm wohlig entgegenstreckte. Leises Stöhnen drang durch den Raum und paarte sich mit dem steten Brausen der klaren Flüssigkeit. Anschließend ging er dazu über, sein Becken an das Gegenstück zu schmiegen und in sanften kreisenden Bewegungen an ihm zu reiben.

Beide spürten das Verlangen, das sich zunehmend nach Befriedigung sehnte und durch ihre tagelange Distanz kontinuierlich gewachsen war. Kaum hatte ihre Liebe angefangen zu erwachen und zu gedeihen, hatten sie sich gegenseitig nicht mehr berühren können. In diesem Moment konnten sie sich aber fühlen und den anderen erregen; sie konnten jede einzelne Faser des anderen neu entdecken und ihrer Zuneigung freien Lauf lassen.
 

Mit seiner Zunge fuhr der Kleinere seinem Gegenüber den Hals entlang, schmeckte wie sich das Wasser mit Joes Eigengeruch vermengte und schloss dabei besinnlich die Augen. Alsbald bahnte er sich einen Weg zu seiner Brust hinab und neckte sie mit seinen Zähnen, biss sachte in die errötete Haut hinein und hauchte anschließend federleichte Küsse auf sie. Immer wieder stupste er Joes Oberkörper mit seinen Lippen an und verfing sich irgendwann unterhalb des Bauchnabels, wo er zu saugen begann. Das laute Stöhnen, das er damit seinem Freund entlockte, ließ ihn fester an der Haut ziehen und seine Hand noch ein wenig tiefer gleiten. Mit seiner Rechten umgriff er die Männlichkeit, die sich ihm bereitwillig entgegenstreckte und neckte ihre Spitze kurz mit dem Daumen, ehe er sie durch seinen Mund ersetzte.
 

Heftig schluckend würgte Joe ein ’Wow’ hervor und fuhr immer wieder durch Ricks Haare hindurch. Er liebte das Haselnussbraun, ob trocken oder nass, und ließ es immerzu durch seine Hände gleiten. Allmählich warf er dabei seinen Kopf in den Nacken und seufzte wiederholt rau auf.

„Das ist…“

Mehr Worte bekam er nicht über die Lippen, denn Rick versetzte ihn zunehmend in einen Zustand, in dem alles um ihn herum zu verschwinden schien und ein einziges Meer voller funkelnder Sterne zurückließ. Er spürte seine Zunge immer wieder an seinem Glied entlang streifen und den Rhythmus unentwegt beschleunigen.
 

„Ich…“, hauchte Rick in Joes Ohr und schluckte einmal kräftig. „… habe dich so vermisst…“
 

Joe legte seine Hände an Ricks Hinterkopf und verwickelte ihn in einen Kuss, der durch das harmonische Spiel ihrer beiden Zungen geprägt war. Dabei schmeckte er ein wenig von sich selbst, was seiner Gier nach seinem Freund keinen Abbruch tat, sondern ihn noch mehr darin bestärkte, jenen mit all seiner Verführungskunst, die ihm innewohnte, zu verwöhnen. Während er seine Finger nun dazu verwandte, an den Seiten seines Geliebten hinabzufahren, umkreiste er weiterhin in stillem Einvernehmen seine Zunge. Schon nach wenigen Augenblicken konnte er Ricks Erregung deutlich fühlen und fing an, ihn ebenso in den exstatischen Rausch zu treiben, den er gerade selbst erleben durfte. Der Kleinere dankte es ihm durch ein genießerisches Seufzen direkt in seine Mundhöhle hinein. Immer wieder forderte er ihn mit seinen Lippen heraus, die ihn wild umwarben. Stück für Stück versetzte er ihn in ein immer lauteres und genussfreudiges Stöhnen, das bald in einem erstickten Schrei endete.

Noch eine ganze Weile lang küssten sie sich und ließen dem jeweils anderen Streicheleinheiten zukommen. Mit geschlossenen Lidern konzentrierten sie sich auf die sachten Berührungen, die einstweilen etwas bestimmter und neckischer wurden.
 

„Wollen wir heute noch gehen?“, hauchte der Blonde auf Ricks Lippen, wohlweislich seine Stimme mit genug Lüsternheit versetzend.

Zwar wollte auch er nach seinem Vater sehen, aber diese Vertrautheit, die gerade zwischen ihnen herrschte, verringerte den Wunsch in ihm deutlich. Er hatte endlich wieder den Menschen bei sich, für den er all die Strapazen auf sich und sogar in Kauf genommen hatte, selbst von Serrat oder Alexandros mehr als nur als Marionette benutzt zu werden. Wie ein Hund war er all den Knochen gefolgt, mit denen freudig gelockt worden war. Obgleich es sich in der Tat ein wenig danach angefühlt hatte, an hauchdünnen Fäden gehangen zu haben, die ein anderer spann, hatte er doch seinen eigenen Verstand eingesetzt und die Rätsel durch seine Auffassungsgabe und Umsetzungsvermögen gelöst. Durch den Weg, den er durch sein eigenes Handeln heraus eingeschlagen hatte, konnte er nun seinen Freund spüren und berühren.
 

„Willst du mich immer lieben?“
 

Insbesondere weil der Blonde keineswegs mit solch einer Frage gerechnet hatte, stutzte er und räusperte sich anschließend. Dann legte er seinen Lippen sanft auf Ricks.

„Ja ich will“, lächelte er mit geröteten Wangen auf ihnen.
 


 

„Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt in einem Krankenhaus war. Eigentlich habe ich, wenn ich dort war, meist dich besucht.“
 

„So oft war das auch nicht. Die paar Blessuren hätte ich auch ohne Ärzte weggesteckt, schließlich hatte ich ja dich.“

Als die Straße gerade frei war, warf er einen etwas längeren Seitenblick auf Rick.

„Du hast meine Wunden doch immer erstklassig versorgt.“
 

Doch Rick ging nicht darauf ein, sondern starrte nur abwesend durch die Windschutzscheibe. Die Häuser, die die Straße säumten, glichen mehr und mehr einer leblosen, grauen Masse aus Trist und Einfältigkeit.
 

/Je näher wir dem Hospital kommen, desto mehr schleicht sich die Wärme, die Joe in mir eben entfachen konnte, aus meinem Körper. So sehr ich sie auch in mir festhalten möchte, ich vermag es einfach nicht. Diese dunklen Gedanken und auch Gefühle, die mich überkommen, sind so bedrückend und wollen mir das bisschen Glück rauben, das mir gerade zuteil geworden war. Das Licht, so brennend und heiß, flackert und möchte dem eisigen Wind strotzen, gehaucht von Menschen, für die es nur Macht und Gewalt auf Erden gibt.

Immer erhabener türmt sich das Krankenhaus vor meinen Augen auf und bricht in mir den zarten Wall entzwei, den Joes zärtliche Hände eigens errichten konnten. Aber ich will nicht, dass die Steine in sich zusammenfallen, denn dann muss ich erneut daran denken, wie…/
 

Als er Joes Stimme vernahm, schreckte er aus seinen Gedanken auf und brauchte einen Moment, bis er alles klar vor sich sah.
 

/Ich darf die Augen nicht schließen, sondern ich muss mich auf dich konzentrieren, Joe. Vielleicht kann ich so gegen die Finsternis in mir siegen, die deutlich stärker geworden ist seit…/
 

Er griff nach der Hand des Größeren und verflocht ihre Finger ineinander.

„Ist dir das recht?“, fragte er leise und rechnete fast schon mit einem ’ja’.

Nachdem sie aus dem Auto gestiegen waren, kamen ihnen immer wieder Personen entgegen, von denen er meinte sie würden ihnen kritische Blicke zuwerfen.
 

„Wenn du auf die Leute anspielst, du uns deshalb verachten könnten… die sind mir gleichgültig, was du wissen solltest.“

Den Druck seiner Hand verstärkend lief er mit Rick vom Parkplatz zum großen Haupteingang.
 

/Warum beginne ich immer mehr an seiner Liebe zu zweifeln?...

Ich fühle mich befleckt und wer will schon mit einem Menschen zusammen sein, der seine Reinheit an einen Menschen verlor, der an Widerwärtigkeit kaum zu überflügeln ist? Doch Joe ignoriert es… er sieht großzügig darüber hinweg. Doch wie lange? Wie lange kann er mit mir zusammen bleiben, bis er merkt, dass ein anderer Hand an mich gelegt hat?/
 

Zwar war Rick nicht vergewaltigt worden, aber er fühlte sich dennoch in gewisser Weise beschmutzt. Und das trieb immer von neuem Trübsinn in seine Gedanken und in sein Herz. Er war endlich frei und er hatte Joe an seiner Seite und dennoch hatte er nicht das aufrichtige Gefühl es wirklich zu sein. Sein Zugegensein glich mehr einem tranceartigen Zustand, den er sich nur einbildete, um die grausame Wirklichkeit zu verdrängen. Die Realität befand er momentan für beängstigend, weil er jede Sekunde damit rechnete, Alexandros oder Serrat könnten erneut vor ihm stehen und ihm was antun. Oder ihm Joe für ein- und allemal nehmen. Schon wieder merkte er, wie sein Körper zu zittern begann, und egal, wie strikt er sich dazu nötigte, damit aufzuhören, er gehorchte nicht. Sein Körper tat, was er wollte, und projizierte damit wohl lediglich seine Gefühle in physische Reize. Doch es sollte keiner sehen, wie es ihm wirklich ging, welche Furcht er verspürte,… Aber außer Joe nahm es scheinbar keiner wahr, denn es sah ihn keiner merkwürdig an, während sie durch die Krankenhausgänge liefen, niemand warf ihm abschätzige Blicke zu, keiner achtete auf ihn, selbst wenn er sich das kurz zuvor noch eingebildet hatte. Das erleichterte ihn ungemein und doch gefiel ihm die Tatsache nicht, dass es Joe mitbekam und ihn nun zum Stehen bleiben aufforderte.
 

„Sag’ nichts“, presste er zwischen seinen Lippen hervor.
 

Er wollte nun wirklich nicht darüber reden. Niemand sollte je erfahren, wie er sich tief in seinem Inneren fühlte. Wie verraten und denunziert. Bisher konnte er selbst nicht einmal abwägen, ob er es je verkraften würde, dass sich sein Vater als herzloser, rachesüchtiger Mensch entpuppt hat. Während seiner Gefangenschaft hatte er sich eingeredet, dass es ihm in Zukunft sonst wo vorbeiginge und er Joes Familie als die Seinige ansah, doch Vorhaben und seine Umsetzung waren meist zwei paar Schuhe. Und genau das war ihm in dem Moment bewusst geworden, als er zum ersten Mal laut ausgesprochen hatte, wer hinter all diesen absurden Geschehnissen steckte. Serrat mochte die Idee gehabt haben, doch die Einwilligung war eindeutig von seinem Vater gekommen, ein Pakt, der so niemals hätte stattfinden dürfen.

Joe sagte wirklich nichts und lief stattdessen wieder neben ihm her, seine Hand dabei fest drückend. Die Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschte, war viel zu makellos, um wahr zu sein. Irgendwie kam sie ihm grotesk vor; die ganze Zeit hatte er an ihr festgehalten, doch nun, wo er sie leibhaftig wieder verspüren durfte, war sie wie ein Traum, aus dem er alsbald erwachen würde. Ein Fantasiegebilde, das sich mir nichts dir nichts zu gegebener Zeit einfach in Luft auflöste. Doch was war sie wirklich?
 

„Möchtest du wirklich mit reingehen?“
 

Rick sah seinen Freund an und betrachtete ihn sich. Mit einem Mal kam es ihm total absurd vor, dass Joe ausgerechnet mit ihm zusammen war, dass er sich ihn als Partner ausgewählt hatte. Als beste Freunde hatten sie vieles erlebt, doch dass der Blonde wirklich einmal mehr für ihn empfinden würde, war immer so unvorstellbar gewesen, und nun? Nun standen sie sich gegenüber und er spürte, wie zu dem Beben ausgelöst durch die Angst eines hervorgerufen durch tausend Schmetterlinge hinzukam. Immer wenn er Joe sah, verzehrte er sich nach ihm und wollte ihn berühren, ihn überall an seinem Körper fühlen.
 

„Wenn du mich weiter so ansiehst, dann schwöre ich noch einen Polizeiauflauf herauf.“

Grinsend hauchte er dem Dunkelhaarigen einen Kuss auf die Stirn.

„Das von vorhin können wir jederzeit wiederholen“, fügte er um viele Nuancen leiser an.
 

„Klopf schon!“, erwiderte er die Anmache bravourös ignorierend.

Sogleich vernahm er ein Seufzen, das wohl aus zweierlei Gründen aus Joes Mund drang. Zum einen hätte er ihn gerne auf eine Toilette oder in ein leeres Zimmer geschleift, zum anderen würden sie gleich Steven daliegen sehen, verletzt und unfähig, aus eigenem Antrieb aufzustehen.
 

„Wäre auch zu schön gewesen.“

Mit einem Grinsen ließ Joe nun seine Knöchel gegen das Holz gleiten und legte alsbald eine Hand um den Griff, den er hinunterdrückte, und anschließend langsam die Tür aufschob.
 

Gemeinsam betraten sie ein recht dunkles Zimmer, in dem zwei Betten standen, wovon eines leer war und vom anderen immer noch stetes Piepsen drang wie bei Joes letztem Besuch. Außer Steven war keiner anwesend und der Blonde wollte die Tür schon wieder zuziehen, als er eine raue Stimme vernahm: „Ich bin wach.“
 

In Rick löste das einen Schauer aus, der ihm den ganzen Rücken hinabjagte. Auf gewisse Art und Weise war er froh, dass Steven bei Bewusstsein war und ihnen den Einlass gewährte, doch plötzlich kamen ihm Zweifel, ob er wirklich eintreten dürfe, denn schließlich hatte seine Entführung seinen Aufenthalt hier verschuldet.

Joe schien zu merken, dass er zögerte, und zog ihn nun sachte hinein.

Krankenhäuser hatten wahrlich etwas Ehrfürchtiges an sich und genau dieses Gefühl überkam Rick in diesem Moment. Eigentlich war man immer erleichtert, wenn man das Gebäude wieder verlassen hatte.
 

„Wir wollten dich nicht wecken, Dad. Entschuldige.“
 

In der Dunkelheit konnte Rick kaum mehr als die schemenhafte Gestalt von Steven erkennen, doch er erkannte genug, um sich noch intensiver zu wünschen, das Krankenhaus gerne wieder zu verlassen. Nun musste er wohl dem Menschen ins Auge sehen, der sich für ihn sozusagen geopfert hatte. Dank war zwar das Mindeste, was Rick aussprechen konnte, doch eigentlich hatte Joes Vater doch mehr verdient als ein paar Worte. Obgleich er nichts außer einem ’Danke’ parat hatte, hatte er so schnell wie möglich her gewollt. Und nun kam ihm diese seine Idee nicht mehr so rettend und erlösend vor. Vielmehr wollte er wieder zur Tür hinausgehen, sich an sie lehnen und einmal in Ruhe durchatmen. Doch Stevens schier nicht im Mindesten vorwurfsvolle Stimme ließ ihn dort verharren, wo er stand.
 

„Das habt ihr gar nicht. Ich bin froh, nicht mehr allein zu sein, und außerdem…“, er wollte sich ein wenig aufrichten, doch unter einem lauten Stöhnen gingen seine Bemühungen unter, „… möchte ich doch sehen, wie es Rick geht.“
 

Auch wenn Rick nicht sehen konnte, wohin Steven gerade blickte, spürte er seine Augen auf sich und sein Magen zog sich mit einem Mal zusammen. Dass jener nicht einmal imstande war, sich aufzurichten, war wie ein Dolch, der in seinen Bauch gerammt wurde.

„Hallo Steven“, meinte er gepresst. Die Worte wollten erst gar nicht über seine Lippen dringen.
 

„Wo ist Mom?“, erkundigte sich Joe und wollte die Spannung damit von Rick nehmen, denn er bekam natürlich mit, wie jener verkrampft die Arme um sich schlang.
 

„Vorhin meinte sie, sie bräuchte einen Kaffee, doch seitdem ist sie nicht wieder gekommen. Um ehrlich zu sein“, er lachte verschämt auf, „weiß ich gar nicht, wie lange das her ist. Aber sie wird sich sicher wieder blicken lassen, schließlich wissen wir doch, dass sie es nicht lange ohne mich aushält.“

Nun stahl sich ein freudiges Grinsen auf seine Lippen, was die beiden jungen Männer aber nicht sehen konnten.

„Macht doch mal das Licht an!“
 

Als Joe den Schalter dafür betätigte, zuckte Rick kurz in sich zusammen. Nun sah er nicht nur direkt auf Steven, sondern konnte ihn auch überdeutlich erkennen. Allein schon der Verband um seinen Kopf machte seine Unsicherheit nicht besser und doch konnte er seinen Blick nicht von ihm abwenden.

„Danke!“, brach es plötzlich aus ihm heraus, bevor er die wenigen Schritte auf Steven zuging und ihm eine Hand auf eine von ihm legte.

„Ich danke dir wirklich sehr. Und… es tut mir leid, dass du… verletzt wurdest. Das ist alles meine Schuld, ich-“
 

Joe unterbrach ihn jäh, indem er ihm von hinten eine Hand auf den Mund legte und ihm ein “Ganz ruhig“ zuflüsterte.

„Ich habe nicht aufgepasst, das hat nichts mir dir zu tun.“

Langsam nahm er seine Rechte wieder weg.
 

„Von wegen…“, meinte Rick und ließ sich auf dem zweiten unbelegten Bett im Zimmer nieder.
 

„Ihr seid zwei Hohlköpfe! Erst macht sich Joe ununterbrochen Vorwürfe und wollte gar nicht zum Supermarkt gehen, nur um nicht von meiner Seite zu weichen, und nun du, Rick. Ich werde wieder gesund und bald springe ich hier wieder munter und fidel rum. Nur weil ich gerade nicht dazu in der Lage bin aufzustehen, müsst ihr euch doch nicht dermaßen herunterziehen. Ich schiebe keinem von euch beiden die Schuld zu, denn ich habe aus freien Stücken entschieden zu helfen. Nur damit das nun für ein- und allemal geklärt ist. Habt ihr mich verstanden?“

Streng musterte Steven erst den einen, dann den anderen.

„Joe?“
 

„Mhh…“, meinte dieser nur.
 

„Rick?“
 

Das Funkeln in Ricks Augen nahm von Sekunde zu Sekunde zu und die Worte, die gerade gesagt worden waren, kamen erst nach und nach bei ihm an. Nur konnte er sie kaum glauben, denn ohne ihn wären sie alle jetzt gar nicht hier.
 

„Keine Selbstvorwürfe!“, mahnte der Älter noch einmal.
 

/Wie soll ich mir denn nicht dafür die Schuld geben, dass er hier verletzt liegt? Aber seine Mimik ist sehr ernst und er scheint auch seine Worte so zu meinen. Da ist er unfähig sich groß zu rühren und möchte mir auch noch die Last nehmen… Vielleicht sollte ich einfach nicken, damit er zufrieden ist… oder es beherzigen… Vielleicht kann ich es ja wirklich irgendwann glauben… bis dahin darf ich es einfach keinem zeigen, dass ich gerade nur aus purer Höflichkeit meine Bejahung gebe./
 

„Damit ist das von nun an passé.“
 

Wie aufs Stichwort ging die Tür auf und Veronica kam mit einer kleinen Tüte in der Hand herein. Als sie ihren Sohn und Rick erblickte, begann sie zu lächeln.

„Schön, dass ihr euch hierher verirrt habt.“

Kurz nahm sie Joe in den Arm, doch alsbald ging sie dazu über, sich neben Rick zu setzen und ihm einen Arm um die Schultern zu legen. Auch ihn drückte sie herzlich.

„Wir sind froh, dich wieder bei uns zu haben.“
 

Für den Dunkelhaarigen wurde das alles irgendwie zu viel. So sehr er sich selbst darüber freute, derart empfangen zu werden und unter ihnen zu verweilen, musste er raus. Raus an die frische Luft und Abstand gewinnen.

Abrupt stand er auf, schüttelte dabei Veronicas Arm von sich, und hastete hinaus, auch Joe einfach zurücklassend.

Die Gänge glichen mit einem Mal einer endlosen Gerade und der Aufzug wollte anscheinend in Zeitlupe sein Ziel, das Erdgeschoss, erreichen.

Weg… er wollte einfach nur noch weg.

Kapitel 59

Kapitel 59
 

Hatte er sich nicht die ganze Zeit Geborgenheit gewünscht gehabt? Weshalb erdrückte sie ihn jetzt so? Warum hatte er das Gefühl zu ersticken?
 

Nach einer schieren Ewigkeit durchquerte Rick endlich den Eingangsbereich vom Krankenhaus und konnte alsbald frische Luft atmen, die nach Regen roch. Mit dem Rücken lehnte er sich an die Hauswand wenige Meter von der großen Drehtür entfernt und schloss die Augen. Auf einmal hatte er sich oben in Stevens Zimmer viel zu erdrosselt gefühlt, als dass er imstande gewesen wäre, dort länger zu verweilen. Alle hatten ihm Aufmerksamkeit zukommen lassen, hatten ihn trösten wollen, doch er brauchte das nicht! Er wollte so weiter machen wie vor dieser verdammten Entführung! Diese Tätschelei von allen Seiten machten sie auch nicht ungeschehen.
 

„Verdammt, es soll doch nur alles so sein wie vorher!“
 

Verschwommene Bilder, die nach und nach schärfer wurden, tauchten vor seinen Augen auf. Immer wieder sah er entweder auf Alexandros, Serrat oder gar seinen Vater. Und keine dieser Personen rief in ihm gute Erinnerungen wach. Nicht einmal mehr Damon, mit dem er fast neunzehn Jahre lang ein harmonisches Familienleben geführt hatte.

Diese Menschen hatten sein Leben zerstört. Hatten in ihm das Puzzle wieder auseinander geschlagen, das er so mühsam wieder zusammengesetzt hatte. Und obwohl er Joe wieder bei sich hatte, wollte er weg von ihm. Er sollte nicht mitbekommen, wie es in ihm wirklich aussah. Dass er die letzten Tage bisher keinesfalls verkraftete, dass er sich beschämt fühlte und dass er sich wünschte, diese Schmach wäre niemals geschehen.

Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem bitteren Grinsen und seine Lider zuckten die Tränen weg, die sich abermals an dem heutigen Tage ergießen wollten. Er wollte nicht weinen, er wollte nicht preisgeben, wie es ihm ging. Und Joe sollte ihn nicht schon wieder am Boden zerstört sehen! Und als er eine warme Hand auf seiner Wange fühlte, wusste er, dass er ihn nun doch in diesem Zustand sah. Eigentlich wollte er ihn von sich schlagen, ihn wieder hoch zu Steven schicken, doch stattdessen verkrampfte er seine Finger in Joes Kleidung und zog ihn mit noch immer geschlossenen Augen nah zu sich heran. Allein schon der Geruch, der von dem Blonden ausging, war etwas, was er einfach nicht missen wollte, selbst wenn es bedeutete, dass er sich vor seinem Freund offenbaren musste. Aber vielleicht… konnte er sich ja gleich wieder zusammenreißen, dann würde er nicht mitbekommen, wie es wirklich um ihn stand. Gleichzeitig wusste er aber, dass Joe sehr wohl in ihn hineinschauen konnte.
 

/Du weißt immer, wie es mir geht, und dass ich dich brauche. Schon zu der Zeit, wo du lediglich mein bester Freund warst. Und auch jetzt hältst du mich fest und gibst mir das, nach was ich mich verzehre… deine Liebe.

Ich würde dich gerne ständig spüren, denn immer wenn mir deine Nähe zuteil wird, entflammt in mir das Licht und lehnt sich gegen die Finsternis auf, die momentan all mein Denken ergreift.

Vielleicht kann ich ja doch irgendwann… ja vielleicht…/
 

Ein dankbarer Ausdruck schlich sich auf Ricks Gesicht, das er immer tiefer in Joes Halsbeuge vergrub. Nach einer Weile hauchte er einen Kuss auf sie, bevor er ihm zuflüsterte:

„Wie machst du das nur?“
 

„Was?“, kam nur verständnislos zurück.
 

/Mir das Gefühl zu geben, dass du mich ebenso brauchst wie ich dich…/
 

„Ach nichts“, meinte er und schenkte dem Blonden einen weiteren kleinen Kuss auf seine warme Haut.
 

„Gehen wir nach Hause“, kam es etwas später von Joe.
 

Nun hob Rick seinen Kopf an und stahl sich einen leidenschaftlichen und doch gleichzeitig melancholischen Kuss.

„Nein. Wir sollten noch einmal zu deinen Eltern gehen. Schon gut, dieses Mal werde ich-“

Joes Lippen ließen ihn nicht weiter sprechen.
 


 

„Ah…“, entkam es Veronicas Mund, als sie die beiden jungen Männer ins Zimmer kommen sah. Doch alsbald begann sie zu lächeln und wies ihnen Plätze zu.
 

„Der Arzt war eben hier“, meinte Steven sofort, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Er meinte, dass ich in ein paar Tagen entlassen werde.“
 

Insbesondere Joes Miene hellte sich auf. „Das ist eine gute Nachricht.“

Ungemerkt drückte er Ricks Hand, der mittlerweile auch wieder entspannter aussah. Dass Joe ihm nachgegangen war, hatte ihm im ersten Moment völlig missfallen, dennoch konnte er einfach nicht ohne diesen Menschen sein. Aber es sollte bei dieser einen Person bleiben, die in ihn hineinschauen konnte, weshalb er versuchte, nach außen hin wieder lockerer und gefasster zu wirken. Vielleicht spielte er den anderen und sich selbst damit etwas vor, aber es musste sein. Unentwegt mitleidig in den Arm genommen zu werden, konnte schnell negative Auswirkungen haben, die er eben selbst miterlebt hatte.
 

/Ich muss mich zusammenreißen!

Stevens Familie ist wieder vereint, selbst Rebecca kommt morgen hierher, wie ich gerade höre. Und dieses Glück darf ich nicht zerstören… Ich darf mich durch meine Erlebnisse nicht zwischen sie drängen, denn das habe ich schon zu genüge getan. Immerzu lässt Joe alles stehen und liegen, nur um bei mir zu sein. Das kann ich nicht auf Dauer verantworten, so gut es mir tut. Ich kann ihn nicht bis in alle Ewigkeiten derart in Besitz nehmen, denn schließlich lebt jeder auch auf gewisse Weise sein eigenes Leben./
 

„… Ja, sie wollte sich nicht davon abbringen lassen. Aber ich freue mich auf ihren Besuch.“
 

„Seit sie ausgezogen ist, ist es sowieso viel zu ruhig daheim.“
 

„Daran gewöhnt ihr euch schneller als ihr denkt“, kommentierte Joe mit einem Lächeln.
 

Steven warf seiner Frau einen vielsagenden Blick zu. „Dann können wir mal so richtig laut sein, meinst du nicht auch, Schatz?“
 

Obwohl jeder im Raum erwartet hatte, sie würde jetzt rot anlaufen und ihr Gesicht hinter einer Hand verstecken, tat sie keines von beiden. „Da bieten uns ja auf einmal lukrative Orte. Warum haben wir eigentlich nicht eher dran gedacht?“, gab sie schlagfertig zurück und brachte damit sowohl Steven als auch Joe aus der Fassung.
 

„Wenn ich hier raus bin, dann kommt uns lieber nicht zu schnell in Luminis besuchen“, lachte Steven nun und hielt sich dabei mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf.
 

/Selbst im Krankenbett kann er lachen und genau das sollte ich auch tun… Versuchen glücklich zu sein und alles hinter mir lassen, was war. Dann muss es eben so sein! Noch einmal die Gegenwart zur Vergangenheit machen und sie ins tiefste Loch meiner selbst verschließen…

Das Leben ist wie ein ständiges Spiel: man hält die Luft an und versteckt sich, doch am Ende wird man doch gefunden und anschließend beginnt man wieder von vorne,… man sucht sich ein Versteck und egal, wie gut man es sich ausgesucht hat, die Vergangenheit holt einen früher oder später wieder ein…

Also was soll das ganze eigentlich? Weshalb kann man das Geschehene nicht einfach vernichten und es auf ewig ins Nichts verbannen? Warum geht das nicht? Warum muss ich ständig von neuem erleben, wie erschreckend und ironisch das Leben sein kann?

Warum finden die Grausamkeiten und Machtkämpfe denn nie ein Ende? Weshalb müssen sich die Menschen vor anderen beweisen und sich ihnen aufdrängen? Ihnen den Tag zur Hölle machen und mit Füßen nach ihnen treten?/
 

„Warum?“, entfuhr es Rick barsch.
 

Wenig später merkte er drei Augenpaare auf sich ruhen, wodurch er erst registrierte, dass er eben laut gesprochen hatte. Doch er wusste nicht, wie viel er laut von sich gegeben hatte, wie viel die anderen gehört hatten. Zwanghaft rang er sich eine abwehrende Handbewegung ab.

„Ich…“ Er holte tief Luft.

„Ich habe mich nur gefragt, warum wir überhaupt so lange hier sein dürfen. Was ich meine… ähm… normalerweise ist die Besuchszeit sehr knapp bemessen, wenn der Patient erst aufgewacht ist.“

Unruhig schaute er von einem zum anderen, vermied dabei aber direkten Augenkontakt. Dann schüttelte er mit dem Kopf und grinste verlegen. „Tut mir leid, ich mache mir um unwichtige Sachen Gedanken.“

Er wunderte sich sehr darüber, dass er nicht das Gefühl hatte, die Röte würde in sein Gesicht steigen, obgleich er gerade offensichtlich gelogen hatte.

/Sich verstecken, um irgendwann gefunden zu werden…/
 

„Keineswegs, denn du hast völlig Recht. Doktor Zubborn wies mich vorhin an, nicht länger als eine Stunde zu bleiben und die ist ja bereits um.“

Sie wandte sich ihrem Mann zu.

„Und du siehst auch ziemlich müde aus. Dann lassen wir dich nun besser allein, damit du in Ruhe schlafen kannst.“

Vorsichtig küsste sie ihn, darauf bedacht, ihm nicht weh zu tun.

„Ich komme morgen früh wieder.“
 

„Komme nicht auf die Idee, hier im Krankenhaus nach einem Bett zu fragen“, meinte Steven ernst.
 

„Du traust mir eine Menge zu.“
 

„Zurecht, wie ich meine.“

Nun begann er zu grinsen.
 

„Tschüss, Dad.“

Joe stahl sich zwischen seine Mom und Stevens Bett und nahm kurz eine von seinen Händen in seine, drückte sie. Doch der Ältere hielt ihn fest und zog ihn bestimmt zu sich.
 

„Eine kleine väterliche Umarmung ist ja wohl noch erlaubt“, meinte er laut. Als sich ihre Gesichter leicht berührten, fügte er wesentlich leiser an: „Hast du Damon bereits erreicht? Ich weiß doch, dass du diesbezüglich noch nicht abgeschlossen hast.“
 

„Nein“, erwiderte der Blonde ebenso unvernehmbar für alle anderen im Raum.

„Bis morgen! Rick?“
 

„Ja bis morgen.“

Zum Abschied gab er jedem die Hand, doch Veronica ließ es sich nicht nehmen, ihn flüchtig zu drücken.
 

„Viel Erfolg!“, meinte Steven, bevor Joe die Tür hinter ihnen schloss.
 

„Was meint er damit?“, wollte Rick wissen, nachdem sein Freund auf diesen Satz auch noch einen seltsamen Blick zu seinem Vater geworfen hatte.
 

/Warum weicht er mir aus und tut so, als ob er meine Frage nicht gehört hätte? Lediglich seine Hand auf meinem Rücken, die mich durch die Gänge schiebt, zeigt mir, dass er anwesend ist…/
 

Kurz vor den Aufzügen blieb Rick abrupt stehen. „Joe?... Ich möchte nicht, dass du mich für zu neugierig hältst.“
 

Jener sah ihn verblüfft an. „Wie kommst du denn darauf?“
 

„Weil du mir eben nicht geantwortet hast.“
 

„Oh… Du hattest mich was gefragt? Tut mir leid, mein kleiner Romantiker“, er legte seine Hände um Ricks Taille, „ich wollte dich nicht ignorieren.“

Dann kam er ihm immer näher und ließ seine Lippen sachte über das andere Paar streifen, bevor er mit seiner Zunge um Einlass bat.

„Dich zu ignorieren“, keuchte er wenig später, „ist eine Sünde.“
 

/Deine Lippen vernebeln mir immer so die Sinne, dass ich für einen Moment alles um mich herum vergesse. Und wenn ich wie jetzt in deine grüne Augen sehe, glaube ich, zumindest eine Weile gänzlich versinken und alles nebensächlich werden lassen zu können./
 


 

„Wollen wir einen Film schauen?“

Joe hatte nicht einmal die Haustür aufgeschlossen, schon zog er Rick an sich. Als die Tür endlich offen war, schob er ihn mit sich selbst hinein und drückte ihn an die gegenüberliegende Wand, an der ein paar Jacken hingen. Dass dabei eine zu Boden fiel, war vollkommen gleichgültig. Mit seinen Händen hielt er sich an Rick fest und presste seinen Mund auf den des Kleineren.

„Das hatte ich wirklich vermisst“, meinte er atemlos.

Mit einem Fuß stieß er nun die Tür zu und legte seine Stirn auf Ricks Schulter.

„Immer wenn ich dich sehe, überkommt mich diese Leidenschaft und der Drang, dich unentwegt küssen zu wollen. Dabei weiß ich doch, dass ich dich jetzt nicht allzu sehr bedrängen darf. Insbesondere weil ich heute Mittag schon in den Genuss kommen durfte…“
 

„Ich dachte, du wolltest einen Film sehen“, konnte sich der Dunkelhaarige nicht unterdrücken. Dabei war er ebenso erhitzt wie sein Freund, wenngleich noch viele düstere Gedanken sein Denken beherrschten. Joes Nähe war etwas, das alsbald jedwede negative Facette übertrumpfen und alle möglichen Zweifel und Ängste für eine Weile nichtig machen konnte.
 

„Wie wär’s mit ’Der Bettwalzer’?“

Voller Erotik strotzend senkte er mit jeder Silbe die Stimme immer weiter, bis er die Worte zum Schluss nur noch hauchte.
 

„’Dirty Dancing’ wäre mir lieber.“
 

Aufgefordert schmiegte sich Joe noch enger an seinen Freund, legte eine Hand fest an seinen Rücken und eine an seinen Oberschenkel, den er anschließend ein wenig anhob und an seine Hüfte presste.

„Bisher gefällt mir der Film.“
 

Ricks Herz begann immer heftiger zu schlagen, bis es sich fast überschlug. Er fühlte sich von jetzt auf nachher in eine Achterbahn versetzt, die ein Looping nach dem anderen vollführte. Kleine tanzende Schmetterlinge breiteten sich in seinem gesamten Körper aus und ließen ihn von oben bis unten erbeben. Nicht nur sein Atem beschleunigte sich von einer Sekunde zu anderen, auch Joes kam stoßweise.

Allmählich begannen sie damit, in sanften fließenden Bewegungen ihre Becken aneinander zu kreisen. Es fehlte im Hintergrund nur noch die passende Musik, die sich Rick aber ohnehin zu hören einbildete. Während sie sich gleichmäßig und rhythmisch aneinander rieben, fanden sich ihre Lippen alsbald zu einem heißhungrigen Kuss, der für beide in einem recht lauten Stöhnen endete.

Für ein paar Minuten vergaßen sie alles, was passiert war. Verdrängten, dass Steven verletzt war, dass Rick bis vor nicht mal vierundzwanzig Stunden gefangen gehalten worden war, und dass sie sich immer noch mitten in der törichten Falle von machtgierigen Menschen befanden. Die Welt konnte auch ein paar Augenblicke ohne sie auskommen; sich munter weiter drehen, bis sie wieder so weit waren, ein Teil von ihr zu werden. Doch nun waren sie einzig darauf bedacht, den jeweils anderen noch intensiver zu spüren, sich an ihm zu laben und ihn zu schmecken. Ihre Zungen kreisten schon wieder wild umeinander, neckten sich, liebkosten sich, lösten sich und fanden sich immer wieder von neuem. Ihre Leiber kreisten und tanzten zur imaginären Melodie voller Inbrunst und Anrüchigkeit. So lebendig die Töne waren, war auch die Hitze, die sich in ihnen ausbreitete. Eine Welle nach der anderen durchstob ihre erhitzten Gemüter und trieb ihre Ekstase immer weiter voran. Ihr Keuchen wurde lediglich durch das jeweils andere übertönt und ihre Hände gingen allmählich auf Wanderschaft. Rick verfing sich mit seinen Fingern unter Joes Hemd auf seinem Rücken, fuhr ihn unablässig rauf unter runter und konnte nicht umhin, seine Nägel ab und an hineinzukrallen, vor allem immer dann, wenn sich ihre Erregungen sehr eng aneinander pressten. Der Größere hingegen hielt noch immer eines von Ricks Beinen auf Hüfthöhe fest und die andere Hand war mittlerweile an seinem Hintern angelangt, wo sie knetete und massierte. Wenn ihre Lungen nicht bisweilen nach Luft geschrieen hätten, hätten sie ganz vergessen zu atmen. Ihre Sinne waren nur noch auf einen Menschen ausgerichtet, sendeten Signale höchsten Ausmaßes und mit purer Lust getränkt, so dass sie in eine Welt fernab der realen schweiften, die nicht von Trauer oder Wut durchsetzt war, sondern lediglich noch mehr betörende Nähe parat hielt, die einen ins erlösende Nirwana schickte.
 

Laut aufstöhnend kam einer nach dem anderen, obgleich sie nichts weiter taten als miteinander einen der bekanntesten Tänze auf Erden zu tanzen.

Noch eine ganze Weile blieben sie in ihrer Position verharren, ehe Joe Ricks Bein losließ und die Hand dazu verwandte, mit ihr durch das haselnussbraune Haar zu fahren.

„Was schauen wir jetzt?“

Kapitel 60

Kapitel 60
 

Vorsichtig stupste Joe seinen Freund mit seinem rechten Zeigefinger an. Schon seit einer halben Stunde versuchte er ihn wach zu bekommen, denn das Frühstück wartete bereits auf sie. Er war kurz nach neun wach geworden und hatte sich gleich daran gemacht, frische Brötchen beim Bäcker zu holen und Tee zu kochen. Und nun lag er schon über dreißig Minuten neben Rick, der keinen Anschein machte, jemals aufstehen zu wollen. Dabei lag der herrliche Duft von Essen bereits im Schlafzimmer und Joes Magen machte sich lautstark bemerkbar, wohl aber nicht laut genug, um den Kleineren damit wecken zu können.

Er ließ immer wieder eine Hand durch Ricks Haar streichen, hauchte ihm ab und an einen Kuss auf die Wangen oder die Stirn, doch alles war vergebens. Weder regte sich der Dunkelhaarige noch erwiderte er die Berührungen.
 

/Deine Lippen sehen dermaßen einladend aus, dass ich am liebsten die ganze Zeit an ihnen hängen würde. Solch einen Tanz wie gestern können wir gerne jederzeit wiederholen…/
 

Ein süffisantes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und seine Augen waren sofort mit einem glänzenden Schimmer versehen. Langsam legte er seinen Mund auf den des unter ihm Liegenden und leckte alsbald mit seiner Zunge über das Lippenpaar, das sich ihm sichtlich darbot. Zumindest war er der Meinung, dass es nur darauf wartete, liebkost zu werden.
 

/Ich weiß, dass ich mich zurückhalten sollte, um dir erst einmal die Möglichkeit zu geben, dich von all dem Schock zu erholen, aber ich habe noch nie einen Menschen so begehrt wie dich und ich weiß wirklich nicht, wie ich mich auf Abstand halten kann. Verrate mir, wie ich das anstellen soll, wenn mich bereits der Gedanke an dich in eine Sehnsucht versetzt, die unerträglich wird, wenn sie nicht gestillt wird.

Du hast mich dazu gebracht, die weiblichen Reize hinter dich zu stellen, einen Mann zu lieben, obwohl mir das vorher mehr als nur fern gewesen war. Niemals hatte ich damit gerechnet, je homosexuelle Neigungen zu haben und insbesondere auszuleben. Zwar habe ich dich niemals wegen deiner Liebe zu Männern verachtet oder fand das in anderer Weise abstoßend und doch konnte ich nicht ahnen, dass ich einmal derjenige welche sein würde, der mit dir alt und grau werden möchte. Der dich in Sphären schweben lassen möchte, die dich nach mehr lechzen lassen./
 

Gerade als er dabei war, seine Hände unauffällig an Ricks Seiten entlang gleiten zu lassen, knurrte sein Magen. Er verdrehte die Augen und stupste seinen Freund erneut mit einem Finger an die Stirn.
 

„Komm schon, Rick. Sonst verhungere ich noch…“
 

/… denn ich darf nicht mal von dir zehren./
 

Allmählich wurde er ein wenig brummig, denn allerspätestens dann, wenn sich sein Magen zu Wort meldete, brauchte er was zwischen den Zähnen. Doch ohne Rick wollte er nicht mit essen anfangen, denn alles stand für sie beide bereit und wartete nur noch darauf gemeinsam verzehrt zu werden.
 

„Ich kann auch härtere Bandagen auffahren“, meinte er schmunzelnd, auch wenn er es unterlassen würde, da das für eine Besserung des Zustandes des Kleineren gewiss nicht von Nutzen wäre.

Aber allein die Drohung schien gefruchtet zu haben, denn Ricks Lider begannen zu zucken, ehe Joe in ein dunkles Blau blicken konnte, das noch ziemlich verschlafen wirkte.
 

„Guten Morgen, Schlafmütze“, grinste Joe und forderte sogleich einen wilden Kuss ein, der den anderen sichtlich überforderte, denn er fing mittendrin zu gähnen an.

„Na, das ist ja mal eine Begrüßung“, murrte der Blonde und ließ sich rücklings neben seinem Freund auf dem Bett nieder.
 

„Du bist schon angezogen?“, fragte Rick ungläubig und richtete sich ein wenig auf, um sich Joe von oben bis unten ansehen zu können.
 

„Und habe für dich Frühstück gemacht.“
 

Die Augen des anderen wurden immer größer, ehe er zu lächeln begann. „Und die Sonne scheint.“
 

Verwirrt sah Joe aus dem Fenster auf einen Regenschleier, ehe er Rick knuffte. „Nein, im Ernst. Steht schon alles in der Küche bereit.“
 

Wohlig seufzte Rick auf, als er seinen Kopf auf die Brust des Größeren bettete. „Ich danke dir für alles.“
 

Während Joe nicht umhin konnte, eine Hand ständig auf Ricks Rücken auf- und abzustreifen, verwandte er die andere dazu, das Kinn des anderen anzuheben. Alsbald sahen sie sich fest an.

„Bitte, bedanke dich nicht ständig. Weder bei mir noch bei meinen Eltern. Allein aus dem Grund, weil ich dich gern habe, würde ich dir eine Freude machen wollen. Und da du niemand bist, der das als selbstverständlich ansieht oder es nicht würdigt, bist du keineswegs zu Dank verpflichtet. Und nun küss mich endlich richtig.“

Neckisch hob er eine Braue an und wartete darauf, dass sich Rick zu ihm hinabbeugte, um ihm endlich den verdienten Morgenkuss ohne lästige Unterbrechungen zukommen zu lassen. Aber dieses Mal war sein Magen der Störenfried und er seufzte ergeben in Ricks Mund hinein.

„Gewonnen“, stöhnte er dann. „Dann lass uns endlich was essen.“
 

Bevor sie allerdings wirklich in die Küche gingen, genossen sie noch ein paar Minuten lang die einvernehmliche Nähe des jeweils anderen. Gerade als es den Anschein hatte, dass Rick niemals entführt worden war und Joe niemals irgendwelche Rätsel hatte lösen müssen, stand der Dunkelhaarige auf und schlurfte aus dem Zimmer.
 

/Noch steckt die Angst in deinen Gliedern. So gut du sie auch verbergen magst, ich spüre sie dennoch. Zum Glück bist du nicht in dem Moment aufgewacht, wo ich einkaufen war…/
 

Nachdem sich Joe auch in der Küche eingefunden hatte, ließ er sich seinem Freund gegenüber am Tisch nieder und stopfte sich nebenbei gleich ein paar Weintrauben in den Mund. Mit ein paar frischen Brötchen hätte er sich niemals zufrieden gegeben, weswegen er noch schnell einen Zwischenstopp im Supermarkt gemacht hatte.

„Ich habe alles da: Marmelade, Nutella, Honig, Käse, Wurst, Cornflakes, Milch, Tee, Joghurt, Äpfel und Weintrauben.“
 

„Die du schon halb aufgegessen hast“, erwiderte der Dunkelhaarige lächelnd. „So schnell wie du isst, habe ich gar keine Chance, was abzubekommen. Ich frage mich ernsthaft, wie du das machst. Du redest und dennoch schwindet das Essen in Lichtgeschwindigkeit.“
 

Joe griff nach dem letzten Treubel Trauben und zupfte sie feinsäuberlich ab, ehe er mit einer von ihnen zwischen den Fingern vor Ricks Gesicht herumwedelte.

„Mund auf!“
 

„Und was ist, wenn ich keinen Appetit auf sie habe?“

Dennoch gehorchte er dann und spürte alsbald zwei Finger von dem Blonden in seinem Mund, die die Weintraube sachte auf seine Zunge legten. Ehe Joe sie zurückziehen konnte, schlossen sich die Lippen wieder und ließen ihn erst nach und nach wieder hinaus gleiten. Kauend fixierte er ihn.

„Lecker.“
 

„Ich habe hier noch viel mehr Leckereien“, erwiderte der Größere und griff nach dem Glas Honig. „Süß und-“
 

„Wage es ja nicht!“, warf Rick ein und tadelte ihn mit einem abwertenden Blick. „Wenn du es jemals versuchen solltest, schmiere ich dich damit ein und setz’ dich so vor die Tür und hoffe auf einen ganzen Wespenschwarm, der sich auf dich stürzt.“
 

„Das würdest du nicht tun.“
 

„Willst du das wirklich austesten? Dann komm’ her, aber sobald ich einen Tropfen von dem Zeug auf mir habe, kannst du dich gar nicht schnell genug in Acht nehmen.“
 

„Spielverderber.“
 

„War ja klar, dass das jetzt kommt, denn irgendwie musst du ja von deiner Feigheit ablenken.“

Rick nahm sich ein Brötchen aus dem Korb und schnitt es auf, Joe dabei vollkommen ignorierend.
 

/Aber die Idee hatte schon was für sich…

Vielleicht kann ich das doch irgendwann mal ausprobieren./
 

„Vergiss es!“
 

„…“
 

„So wie du mich angeschaut hast, war klar, was du denkst. Dazu brauche ich meine Augen gar nicht auf dich richten, dein verträumter Blick war überdeutlich zu spüren. Und nun iss weiter, sonst muss ich mir Sorgen machen, dass du noch vom Fleisch fällst.“

Endlich begann Rick wieder zu grinsen und baute zwei Brötchen auf Joes Teller.
 

„Jawohl der Herr.“
 

„Sag’ mal…“, begann Rick nach einer Weile. „Können wir heute einen Spaziergang machen? Ich möchte nicht noch einen Tag zwischen Wänden verbringen, die mich einzuengen drohen.“
 

„Wir können ja zum Krankenhaus laufen, denn hätten wir gleich ein vernünftiges Ziel.“
 

„Steven meinte…“

Er brach ab und nippte stattdessen an seiner Tasse Tee.
 

„Ich kann meine Vorwürfe auch nicht einfach abstellen. Das braucht seine Zeit, denke ich, zumal es wirklich mein Fehler war.“
 

„War es nicht.“
 

„Doch war es! Aber lass uns deswegen nicht streiten, ja? Wir können uns beide nicht einfach die Schuld absprechen, denn dazu müssten wir uns selbst verzeihen. Und das ist eben nicht leicht.“

Schulterzuckend biss Joe ein Stück von seinem Brötchen ab.

„Aba du hascht keine Schuld.“

Er räusperte sich.

„’Tschuldige, das kann ich mir wohl wirklich nicht mehr abgewöhnen.“
 

„Hätte ich mich niemals geoutet, würde ich vielleicht jetzt noch zuhause wohnen und hätte keinen gegen mich.“

Die Lippen nun fest aufeinander gepresst, las er mit einem Finger die Brösel auf seinem Teller auf, um sie wenig später wieder auf ihn fallen zu lassen.
 

„Es wird immer Menschen geben, die dir Böses wollen… Und außerdem hättest du niemals glücklich werden können, wenn du deine Neigungen unterdrückt hättest. Nehmen wir mal an, du hättest eine Freundin nach Hause gebracht, vielleicht hätte sie deinem Vater auch missfallen. Wissen wir es? Nein!“

/Aber dass er dich entführt haben soll, ist immer noch eine wagemutige Spekulation…/

„Wir können gerne alle möglichen Konjunktive durchspielen, doch an der Vergangenheit können wir nun mal absolut nichts ändern.“

/Was ich selber gerne täte.

Ich weiß sehr gut, wie du dich fühlst, denn mir ergeht es ja nicht anders. Und doch möchte ich, dass du dir vergeben kannst, damit du dich nicht mehr als Grund für die widerwärtigen Spielchen anderer Leute ansiehst. Wenn es dich nicht erwischt hätte, dann eben einen anderen. Denen ist es doch gleichgültig, wen sie quälen können, Hauptsache, sie können ihre abartigen Triebe ausleben…/
 

„Ich gehe mal ins Bad.“

Gesenkten Hauptes stand der Dunkelhaarige auf und verließ ohne weitere Worte die Küche.
 

/So gerne ich dir hinterher gehen würde, ich sollte dich jetzt mit deinen Gedanken alleine lassen, auch wenn sie mir garantiert nicht gefallen…

Auch du brauchst ein wenig Ruhe, um über die Lage Herr zu werden. Und ich gebe dir so viel Zeit, wie du benötigst. Seien es ein paar Tage, Wochen oder Monate.

Nur hoffe ich, dass du es irgendwann schaffst, mit all dem, was war, leben zu können, ohne ständig neuen Zweifeln zu verfallen./
 


 

„Wir können.“
 

Etwa eine halbe Stunde später kam Rick wieder in die Küche und Joe hatte bisweilen aufgeräumt, um die Zeit totzuschlagen.
 

„Du mutierst ja noch zum Hausmann.“

Stetig kam Rick näher und legte seine Arme um seinen Freund.

„Kann ich das jeden Morgen haben?“
 

Joe küsste ihn auf die Nasenspitze.

„Gewöhne dich nicht dran.“

Noch einen Kuss hauchte er auf seine Stirn.
 

„Ich koche und du putzt hinter mir her. Wie klingt das?“
 

Lachend sah Joe ihm tief in die Augen. „No way.“
 

„Mhh… Vielleicht lass ich mich dann doch mal dazu überreden, nackt zu kochen.“
 

„Vor ein paar Wochen noch hast du das vehement abgelehnt.“
 

„Nunja, ich würde das auch nur tun, wenn du bis zu unserem Lebensende dafür für mich abspülst, die Wäsche wäschst und meine Wohnung sauber hältst.“
 

„Soll ich dir vielleicht auch noch die Schuhe putzen?“
 

„Das würde natürlich auch noch zu deinen Pflichten gehören.“
 

„Dann reiße ich dir lieber die Kleidung vom Leib, während du kochst“, schmunzelte der Blonde.
 

„Gehen wir, bevor meine Dusche eben völlig umsonst war.“
 

Da Joe Rick festhielt, konnte er nicht wie gewollt gehen, sondern spürte sogleich bestimmte Lippen auf sich, die ihn wild umwarben. Atemlos ließ ihn der Größere anschließend stehen und rief ein „Kommst du endlich?“ aus dem Flur hinterher.
 

„Rache ist süß“, meinte Rick beiläufig, als er an Joe vorbei aus der Wohnung trat.
 

„Ich bin schon darauf gespannt, was du dir einfallen lässt.“

Behände schloss er die Tür und eilte ebenfalls wie sein Freund die Treppen hinab.
 

Obgleich es immer noch in Strömen regnete, genoss Rick schon den ersten Atemzug an der frischen Luft. Schnee wäre ihm um einiges lieber gewesen als dieses kalte Nass, doch schon beim Gedanken an die tanzenden Flocken lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
 

/Erst nehmt ihr mir die Freiheit und nun noch die Freude an den herrlichen Eiskristallen. Es war der erste Schnee dieses Herbsts und ich durfte nicht einmal mit ansehen, wie er vor sich hinschmilzt. Immer, wenn ich mich an etwas erfreue, wird es mir genommen./
 

„Das ist nicht fair!“
 

„Was?“, fragte der Blonde.
 

„Dass…“ Er umklammerte den Regenschirm, der groß genug für sie beide war, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Eigentlich hielt Joe den Schirm, doch Rick hatte auf die Schnelle etwas gebraucht, um seine Aggression, die er unvermittelt verspürt hatte, zu mäßigen.

„Dass ich… Verdammt! Immerzu werde ich in irgendeiner Form an diese widerlichen Typen erinnert. Sie nehmen mir alles, was mir lieb und teuer ist, und ich kann nichts dagegen machen!“
 

„Das wird noch eine Weile dauern, ehe du nicht mehr ständig Assoziationen zu ihnen hegst. Aber…“

Aber? Im ersten Moment fielen Joe keine passenden Argumente ein, und im nächsten auch nicht.

„Du hast ja mich“, meinte er dann ein wenig verlegen und legte einen Arm um Ricks Hüfte. Eigentlich sollte das scherzhaft gemeint sein, doch nachdem Rick seinen Kopf an seine Schulter lehnte, kam ihm das selbst nicht mehr humoristisch vor. Denn an sich stimmte seine Aussage ja; der Kleinere hatte vor allem ihn und niemanden sonst, so traurig das sein mochte. Er zeigte auf viele Menschen, insbesondere auf ältere, eine große Wirkung, und doch war er die einzige wahre Bezugsperson.

„Die anderen werden auch noch entdecken, dass du eine wundervolle Person bist. Meine Eltern zum Beispiel haben das bereits erkannt und werden sich gleich freuen dich zu sehen.“
 

/Immerzu versucht Joe mich aufzumuntern und dennoch dringen seine Worte nicht bis in mein Herz hinein. Seine Nähe im Gegenzug hat diesen Effekt, denn sie erfüllt mich mit einer Wärme, die jeden Moment zu einer wahren Hitzeflut ausarten kann. Dazu braucht er mir nur seine Zunge aufzudrängen…/
 

Plötzlich fiel Ricks Herzschlag für ein oder zwei Schläge aus. Kräftig schluckte er, um nicht das Gefühl zu bekommen, sich übergeben zu müssen. Mit zu Fäusten geballten Händen sackte er halb in die Knie und rang schwer nach Atem.

„Versprich mir,“ meinte er schwach zu seinem Freund, „dass mich Alexandros nie wieder derart gierig küssen wird. Dass er mir nie wieder seine ekelhafte Zunge aufdrängt und ich glauben muss jeden Augenblick ersticken zu müssen.“
 

Sorgenvoll blickte Joe Rick an und wusste, dass er es nicht konnte. Ein solches Versprechen konnte er ihm, so gerne er es täte, nicht geben. Keiner wusste, was die Zukunft brachte, und er auch nicht.

„Tut mir leid, das kann ich nicht“, würgte er trocken hervor.

Ricks Körper zitterte in seinen Armen und ohne seinen Halt wäre er zweifelsohne zu Boden gesunken.

Ohnmächtig irgendwelcher probaten Mittel musste der Größere zusehen, wie er mit sich rang und krampfhaft versuchte, die Bilder von Alexandros loszuwerden.
 

„Ich… weiß… dass du das nicht kannst, aber ich hätte es verflucht gerne gehört.“

Ricks Gesichtsausdruck drückte richtige Wehmut aus.

„Es aus deinem Mund zu hören, hätte mich dennoch als Lüge erreicht. Und doch wollte ich es so. Wie töricht von mir.“
 

Der Regen prasselte rundherum um sie hernieder und verjagte viele Seelen, die ansonsten an ihnen vorbeigekommen wären. Im Schutz des Laubs mochten etwaigen ein paar Tiere zu ihnen spähen, aber das war schon das einzige Leben ihrer Umgebung, das sich ihnen darbot. Derart verlassen und kahl hatte der Park selten gewirkt. So trist, als ob er auch sie beide nicht beherbergen wolle.
 

„Nein, das ist es nicht.“

Joes Versuch, ihm die Verzweiflung zu nehmen, wurde abermals abgewehrt.
 

„Du weißt, dass es wahr ist, also streite es nicht ab.“
 

Nun war der Blonde in der Tat ratlos und konnte nichts außer Rick auf den Beinen halten.
 

Scharfer Wind blies ihnen die unangenehme Nässe ins Gesicht. Joe kniff seine Augen fest zusammen, um sich gegen das seltsame Gefühl von Regen in ihnen zu erwehren.
 

/Immer spiegelt die Natur mein Inneres wider… zumindest weint sie immer dann, wenn mir danach zumute ist. Ein Bild nach dem anderen jagt mich und immer dann, wenn ich denke, einmal frei atmen zu können, kommt das nächste und treibt erneute Angst und Wut in meine Glieder. Mein Herz schreit nach Ruhe, nach Frieden… Aber allmählich bezweifle ich, dass es ihn jemals bekommen wird./
 

„Warum kommen solche Menschen wie Serrat oder auch Alexandros fast immer ungeschoren davon?“

Erwartungsvoll hob Rick seinen Blick an und sah kurz in grüne Tiefen, die für einen Moment preisgegeben wurden, ehe der nächste Windstoß heraneilte.
 

„Weil sich Menschen mit nichts zufrieden geben können. Sie streben nach immer mehr Macht, auch wenn das bedeutet, sich kurzzeitig mit ihrem Feind verbrüdern zu müssen.“

Wenngleich Joe noch anfügen wollte, dass diese Männer vielleicht doch noch ihr blaues Wunder erleben durften, verstummte er.
 

„Das heißt, wir haben keine Mittel sie zu brechen.“

Resigniert seufzte der Dunkelhaarige auf.

„Dann möchte ich wenigstens noch einmal hören, dass du mich liebst.“
 

„Das kann ich dir tausend Mal sagen, wenn du das möchtest… Ich liebe dich“, hauchte er in Ricks Ohr hinein, der allmählich zu beben aufhörte.

„Ich liebe dich“, wiederholte Joe noch einmal.
 

Rick brauchte noch ein wenig, ehe sie weiter gingen, doch als er einen Fuß vor den anderen setzte, wirkte er wesentlich entspannter.

„Wollen wir Steven ein Buch mitbringen?“, fragte er, als sie die Innenstadt durchquerten.
 

„Du hast wie immer gute Ideen“, zwinkerte der Blonde und zog ihn schon am Arm in die nächste Buchhandlung hinein.
 


 

„Ich hoffe, es wird ihm gefallen.“

Unschlüssig blieb Rick vor Stevens Zimmertür im Krankenhaus stehen, die Augen auf den braunen Einband in seinen Händen gerichtet.
 

„Er bildet sich gerne weiter, also wird das schon das Richtige sein. Und nun mach schon auf, er beißt dir wohl kaum den Kopf ab, wenn es nicht nach seinem Geschmack sein sollte.“
 

„Nicht?“ Ganz naiv schaute er zu ihm.
 

Grinsend überwand Joe die wenigen Zentimeter und küsste ihn sanft. „Und wenn, dann flicke ich dich wieder zusammen.“
 

„Das will ich auch hoffen“, meinte der Dunkelhaarige nun auch lächelnd und klopfte sogleich an.

Eine lebendige Stimme bat sie um Einlass und als sie das Zimmer betraten, konnten sie wahrlich einen recht munteren Steven erblicken.

„Hey, du strahlst heute ja förmlich.“
 

„Dazu habe ich auch genug Anlass, denn nun ist die Familie wieder vereint.“
 

Joe sah sich nach allen Seiten hin um. „Wo ist denn der Rest?“
 

„In der Cafeteria, aber sie dürften demnächst zurückkommen.“
 

„Hallo Steven“, meinte Rick nun und trat auf ihn zu. „Wir haben dir eine Kleinigkeit mitgebracht.“

Er überreichte ihm das kleine Buch, das vom anderen interessiert inspiziert wurde.
 

„Der weiß grad nicht, ob er weinen oder lachen soll“, flüsterte Joe seinem Freund ins Ohr.

„Habe ich Recht, Dad?“
 

„Bitte?“

Mit einem seltsamen Blick sah er auf.
 

Joe lachte. „Und, ist das was nach deiner Fasson?“
 

„Meint ihr wirklich, dass ich alter Mann noch Latein lernen sollte?“

Dennoch blätterte er bereits in dem Buch herum.
 

„Naja…“, versuchte sich Rick zu erklären, wurde aber jäh vom Größeren unterbrochen.
 

„Sieh es doch mal so: Dir fällt hier doch die Decke auf den Kopf, du hast gerne ein breites Grundwissen und genau darum ist das das perfekte Geschenk.“ Neckend fügte er noch an: „Und so alt bist du nun auch noch nicht, als dass du dir keine Vokabeln mehr einverleiben könntest.“
 

„Einer toten Sprache!“
 

„Was macht das schon? Vielleicht kommst du ja mal in die Situation, hochintellektuell mit jemandem Konversation betreiben zu müssen, wer weiß. Und spätestens dann wirst du uns dankbar sein, dass wir dir den Einstieg ermöglicht haben.“
 

Alle drei begannen herzhaft zu lachen.

„Ja sicher“, meinte Steven mittendrin und schmunzelte weiter.
 

„Ich wusste doch, wir hätten den Krimi nehmen sollen“, brummelte Rick kleinlaut.
 

„Ach was“, erwiderte Steven. „Davon hatten wir in der letzten Zeit doch alle genug, oder nicht? Zudem finde ich eure Intention gar nicht mal schlecht, denn ich bin wirklich immer auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Und ich nehme sie an.“
 

Erleichtert lehnte sich Rick an seinen Freund und wollte ihm etwas zuraunen, doch genau in diesem Moment ging die Tür auf, hinter der laute Stimmen rege miteinander sprachen.

„Joe!“, rief Rebecca, als sie ihren Bruder erkannte, und lief stürmisch auf ihn zu.
 

„Hey.“

Er erwiderte ihre Umarmung.
 

„Hi Rick“, meinte sie dann zu dem Kleineren. „Schön, dass es dir gut geht.“
 

Ein wenig verlegen gab er ihr die Hand. „Hi Rebecca.“

Dass ihm wirklich keiner die Schuld zusprach oder zumindest sich nicht anmerken ließ, dass er eventuell sauer oder wütend auf ihn war, war ihm groteskerweise unangenehm. Irgendwie hätte er besser damit umgehen können, wenn ihn wenigstens Joes Schwester verbal konfrontiert hätte, denn dann hätte er sich einmal aufrichtig entschuldigen können oder was auch immer. Aber dieses immense Verständnis und die Sorge, die ihm entgegengebracht wurden, berührten ihn schlichtweg peinlich, da er nicht wusste, ob alles nur gespielt war oder sie ihm wirklich nichts vorwarfen. Und wenn letzteres der Fall war, dann entsprach das zu viel Behaglichkeit auf einmal.

Überhaupt diese ganze familiäre Atmosphäre stand dermaßen im Gegensatz zur Trostlosigkeit und Abscheu seiner Entführung. Fünf Tage lang hatte er nur Grausamkeiten erlebt; er war von jetzt auf nachher seinem Leben entrissen, sexuell belästigt worden und hatte keinerlei Freiheiten oder andere Selbstverständlichkeiten gehabt. Und nun fand er sich plötzlich in solch einer Idylle wieder. Es glich fast schon beschönigender Fantasie, entsprungen aus Angst vor der Wahrheit. Nur bildete er sich nichts von all der Harmonie ein, die ihn umgab. Sie war echt und keinem Hirngespinst entfleucht, um sich am Leben zu erhalten.

Ein wenig benommen besah er sich jeden einzelnen – die frohen Gesichter, die lebhafte Gestik und die unfassbare Leichtigkeit, regelrechte Beschwingtheit, die einen mitriss.

Mit geschlossenen Lidern kuschelte er sich dann an Joe und schlang sich beide Arme von jenem um seinen Körper.
 

„Möchtest du raus?“, hauchte der Blonde, so dass nur er ihn verstehen konnte.
 

„Ganz im Gegenteil“, flüsterte Rick zurück.
 

In leichtem Klang des Herzens das Weiß der Schwingen entfacht,

hinauf, hinab, nahe dem ersehnten Ziel der seligen Pracht.

In beflügelter Harmonie des Herzens ein Licht zum Lodern gebracht,

von neuem wurde ein Docht zum unbändigen Feuer gemacht.
 

In kurzweiligem Frieden des Herzens Luft zum Atmen erhascht,

nach und nach vom süßlichen Aroma des Lebens genascht.
 

In steter Ruhe der Gegenwart den Kuss der Freiheit erlangt,

sicherlich nicht für immer die Zunft des Herzens gebannt.
 


 

„Hast du meinen Schlüssel irgendwo gesehen?“

Hektisch eilte Joe von einem Zimmer zum nächsten, dabei immer wieder einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr werfend. Die Arbeit rief und er war ohnehin schon zu spät dran.

„Wo habe ich den denn hingelegt?“
 

„Ich habe ihn!“, drang es laut aus der Küche.
 

„Gott sei dank“, keuchte Joe und nahm Rick den Schlüsselbund ab. „Du bist mein Retter.“

Leidenschaftlich drückte er seine Lippen auf das andere Paar.

„Kann ich dich denn wirklich alleine lassen?“, fragte er dann leise.
 

Mit den Augen rollend schob der Dunkelhaarige ihn zwei Meter gen Tür. „Ich bin kein kleines Kind mehr. Außerdem bist du mir das ganze Wochenende über nicht von der Seite gewichen. Allmählich wird es Zeit, dass ich wieder aus eigener Kraft Spaß am Leben bekomme.“
 

„Mmhhh…“
 

„Wolltest du nicht schon vor zehn Minuten weg sein?“
 

„Mist… Mach’s gut, mein kleiner Romantiker.“

Joe holte sich noch einen kleinen Abschiedskuss ein, bevor er aus der Wohnung eilte.
 

Seufzend ließ sich Rick auf einem Stuhl nieder und starrte eine ganze Zeit lang zur Tür, durch die sein Freund gerade entschwunden war. Seit seiner Befreiung waren das mitunter die ersten Minuten, die er ganz allein verbrachte. Joe war ihm in der Tat die letzten Tage auf Schritt und Tritt gefolgt; es hätte nur noch gefehlt, dass er ihm auf die Toilette nachgegangen wäre, doch das hatte er sich glücklicherweise gerade noch verkneifen können.

Rick hatte diese Aufmerksamkeit und Nähe sehr genossen, doch irgendwann wurde selbst die größte Liebe einmal zu viel. Laut atmete er stetig ein und aus und erfreute sich daran, mal wieder gänzlich allein zu sein. Seine Gedanken waren bei Weitem noch nicht wieder geordnet, obgleich ihm die Zeit mit Joe sehr viel von dem zurück gebracht hat, was er so schmerzlich vermisst hatte und was ihm auf brutalste Art und Weise zerstört worden war. Doch mit ihm konnte er nun mal nicht vollkommen in sich gehen und sich selbst danach fragen, ob es ihm wahrlich gut ging oder er sich das nur vormachte. Am Vorabend hatte er Joe immer wieder versichert, dass er arbeiten gehen solle und ihn für ein paar Stunden verlassen könne, dass das kein Problem sei. Und nun musste er herausfinden, ob dem auch so war. Ob er wirklich schon so weit war, wie vorher leben zu können und selbst bald wieder arbeiten zu gehen.

Eines wusste er bereits sicher: Der Mensch von vor der Entführung konnte er nicht mehr sein noch werden. Es hatte ein neuer Lebensabschnitt begonnen, doch über seinen Inhalt und seine Form musste er sich noch gewahr werden.
 

/Ich kann mich aber nicht auf ewig in Joes Wohnung verkriechen und ihm auf diese Weise gar zur Last fallen. Es ist für mich an der Zeit, mich wieder in meinen gewohnten Ablauf einzufinden, zumindest was meinen Job und das Zugehen auf andere Menschen anbelangt.

Wenn ich mich von nun an vor jedem verschließe, mich von anderen Personen distanziere, dann kann ich mich gleich von allem lossagen…/
 

„Herumsitzen bringt doch nichts…“
 

Entschlossen erhob er sich und schaute anschließend orientierungslos umher. Was sollte er tun? Womit sollte er beginnen, um sich in die Realität zurückzuversetzen?
 

/In drei Tagen ist auch meine Krankmeldung passé und dann heißt es für mich, den Alltag wieder aufzunehmen. Vielleicht sollte ich mich einfach darauf freuen…/
 

Freuen…
 

Hatte er sich gefreut, als er Joe in dem Haus dieser Wahnsinnigen gesehen hatte? Hatte er sich gefreut, dass Steven ihm keinerlei Schuld zugesprochen hatte? Hatte er sich gefreut, dass ihn Joes gesamte Familie mit offenen Armen empfangen hatte?

Was war es denn in Wahrheit gewesen, das er gefühlt hatte?
 

Er glaubte, es war Erleichterung gewesen. Eine Erlösung, dass er endlich den Fängen kranker Kerle und eigenen Vorwürfen entkäme. Aber zu ernsthafter Freude war er nicht wirklich imstande gewesen.

Ein leichtes Zucken umspielte nun seine Mundwinkel. Sollte er lachen oder weinen? Zu was war ihm eher zumute?
 

Er konnte es schlichtweg nicht beantworten. Einerseits gab es freudenähnliche Züge in seinem Inneren, die auf Entspannung und die Anfänge von neuem Glück hinwiesen, und andererseits wallten ausgewachsene Zweifel in ihm, ob er sich je wieder wahrhaft frei fühlen konnte – frei bezüglich der entwundenen Tragik.

Dass er sich nicht darüber freuen konnte, dass Joe ihm so viel Liebe gegeben hatte, ließ ihn in seiner eben noch erlangten Entschlossenheit verzagen. Mit in Falten gelegter Stirn schlurfte er durch den Raum und begann damit, den Frühstückstisch abzuräumen. Wie in Trance stellte er Teller und Tassen in die Spüle, räumte Butter und Marmelade in den Kühlschrank. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Joe wegzuschicken…
 

Nach einer halben Stunde legte er sich zurück ins Bett, wo er sofort von Joes Geruch umgeben wurde. Jeglicher Tatendrang war aus seinen Gliedern gewichen und er wusste nicht recht, wie er ihn zurückbekommen sollte. Motivation, einmal erlangt, wurde doch sowieso meist wieder im Kern erstickt. Ebenso die Hoffnung, die man sich mühsam einredete.

Mit leeren Augen starrte er zur Decke und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Eigentlich wollte er sich nicht der Melancholie hingeben, die immer wieder sein Herz umwarb, aber gerade konnte er sich ihr nicht erwehren. Mit Joe hatte sich auch das Strahlen, das in ihm entfacht war, verabschiedet. Und diese seine Abhängigkeit war erschütternd. Er musste lernen, auch ohne Joe wieder Fuß zu fassen.
 

„Irgendwie…“, hauchte er in die kalte Luft hinein, die durch das gekippte Fenster ins Zimmer drang.

Kapitel 61

Kapitel 61
 

Nach einem Blick auf die Uhr stöhnte Rick laut auf. Er lag nun schon über zwei Stunden im Bett ohne richtigen neuen Antrieb erlangt zu haben. Natürlich wusste er, dass es nicht so weiter gehen konnte, aber jeder Schritt nach vorne bereitete ihm wirklich Kopfzerbrechen. Wie auflehnend er gegenüber Alexandros auch gewesen sein mochte, diese Seite konnte nicht auf Bestellung in ihm erweckt werden. Dazu bedarf es mehr als der bevorstehende Job. Gearbeitet hatte er schon vor dem ganzen Schlamassel mit der Entführung, es war keine Herausforderung an sich, denn diese lag ganz woanders. Die Herausforderung war, ohne irgendwelche Ängste allein aus dem Haus zu treten und sich ins Leben zu stürzen. Mit Joe war das etwas anderes. Wenn er mit ihm unterwegs war, rückte die reale Welt in eine Ferne, die so unerreichbar schien, dass sie ihm nichts anhaben konnte. Allein seine Gegenwart ließ ihn die dunklen Straßenecken, die lauernden Augen nicht sehen.

Aber er musste sich endlich dazu zwingen, hinaus zu gehen. Er musste sehen, wie es war, nach all dem wieder ohne Schutz durch die Straßen zu laufen. Es ging nicht, sich auf ewig einzukerkern, denn das würde ihn niemals glücklich machen. Er wollte hinaus und er musste es irgendwie bewerkstelligen, das ganz allein in die Tat umzusetzen.
 

„Augen zu und durch“, brummte er vor sich hin.

Das Motto mochte altgedient sein, aber sich selbst Mut zuzusprechen konnte niemals verkehrt sein.
 

Ihm oblag es seit jeher wie ein nasser Sack herumzulungern und rein gar nichts zu tun. Insbesondere war er dazu in diesem kargen Loch verdammt gewesen und hatte er sich nicht die ganze Zeit gewünscht gehabt, wieder raus in die Natur zu können?
 

Einen Versuch musste er starten.
 

„Koste es, was es wolle!“
 

Er realisierte nicht einmal, dass er allmählich wieder denselben Kampfgeist entwickelte wie bei der Auflehnung gegen Alexandros Ornesté. Lediglich die Vitalität, die sich peu a peu in seine Glieder schlich, nahm er als angenehmes Gefühl wahr. Immer näher rückte er dem Entschluss, den er am frühen Morgen gefasst hatte.

Langsam richtete er sich auf und stieg aus dem großen Bett, dabei einen Pullover vom Boden greifend. Mit einer Hand fuhr er sich durchs relativ kurze Haar und anschließend über die Augen, rieb sich all die Lethargie weg, die bis jetzt in ihnen geschlummert hatte. Das dunkle Blau fing an zu leuchten und die Lebendigkeit in sich zu tragen, die es ansonsten ausmachte. Behände streifte er sich das Stück Stoff in seinen Händen über, zog sich ein paar bequeme schwarze Halbschuhe an und nahm noch eine Jacke zu sich, ehe er die Wohnung verließ. Je schneller er es tat, desto weniger würde er darüber nachdenken und in die Eventualität des Kneifens geraten.

Wenig später trat er aus dem Gebäude und lief ziellos los. An zwar bekannten, aber dennoch gänzlich unvertrauten Fassaden vorbei, Gärten, von der Jahreszeit fast vollkommen karg, passierend. Stetig setzte er einen Fuß vor den anderen und er vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit verging, ehe er sich im Park wiederfand. Dieser Ort übte anscheinend eine derartige Anziehungskraft auf ihn aus, dass er ihn früher oder später aufsuchte. Auch hier hatten die Bäume all ihre Blätter verloren, die verstreut auf dem Boden lagen, teils braun verfärbt, teils noch rötliche Nuancen beherbergend. Recht viele Menschen gingen ihrem Spaziergang nach, führten Hunde aus oder schoben einen Kinderwagen vor sich her. Rick war nur einer von vielen, der sein Gesicht ab und an gen Himmel wandte oder zum See blickte. Aufgrund der Kälte hatte er seine Hände tief in den Taschen vergraben und seine Schultern angezogen. Aber die klare Luft, die ihn umgab, ließ ihn immer wieder tief einatmen, seine Lungen füllen und leeren. Das Stimmengewirr, das von allen Seiten her zu ihm drang, untermalte lediglich die wohlige Atmosphäre, die bisweilen auch sein Herz erreichte. Etwaigen mochte der erste Schritt in die neu erlangte Freiheit schwer gewesen und würde es beim nächsten Mal wieder sein, doch nun genoss er sie mit jeder Faser seines Körpers. Derart frei hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt und er empfand dies als Besonderheit, die wahrlich nicht alltäglich war.
 

„Entschuldigen Sie?“
 

Als eine Hand seine Schulter berührte, zuckte er zusammen. Etwas zögerlich wandte er sich um und sah in zwei freundliche, hellbraune Augen.
 

„Ja?“, erwiderte er ein wenig irritiert.
 

Die Frau, die ihn angesprochen hatte, lächelte verlegen und hielt eine Karte vor sein Gesicht.

„Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie ich zur Kathedrale komme?“
 

Rick assoziierte die Kirche sofort mit den Rätseln, die sein Freund zu lösen gehabt hatte, doch ließ sich von seinem plötzlichen Gefühlschaos nichts anmerken. Gerade noch hatte er sich unbeschwert gefühlt, doch nun schlichen sich wieder die alten, depressiven Emotionen hinzu.

„Sie gehen einfach diesen Weg dort entlang, bis der Park endet. Dann rechts in die Fußgängerzone und dann sozusagen immer der Nase nach. Alsbald dürften sie die Spitze der Kathedrale erblicken, dann können Sie sie gar nicht mehr verfehlen.“
 

Erleichtert schenkte sie ihm ein herzliches Lächeln. „Dankeschön.“
 

„Keine Ursache. Genießen Sie den Ausblick.“
 

Das erwiderte sie nur noch mit einem Kopfnicken und eilte davon. Rick sah ihr nach und bemerkte, wie taub er sich mit einem Mal fühlte. Sowohl seine Beine als auch seine Arme schienen auf einmal zentnerschwer zu sein und ihn zu Boden ziehen zu wollen. Die Kirche war lediglich ein kleiner Teil des ganzen Ausmaßes seiner Entführung gewesen, aber sie hatte damit zu tun und genau dieser Fakt reichte aus, dass er sich nun wie aus Blei gegossen fühlte. Eigentlich wollte er sich nicht wegen solch einer Lappalie herunterziehen lassen, zumal er schon genug Melancholie durchlebt hatte, aber er schaffte es nicht, sich gegen den Trübsal zu erwehren, der ihn schon wieder heimsuchte und wohl nie damit aufgehört hatte. Waren die schönen Momente nicht nur dazu da, sich kurzzeitig aus der Dunkelheit emporzuheben und einmal aufzuatmen, um die nächsten Tage, Wochen und sogar Monate zu überstehen?

Obgleich ihn die Schwere, die ihn befallen hatte, zu erdrücken drohte, zweifelte er nicht an, dass es richtig gewesen war, Joes Wohnung verlassen zu haben. Allein schon die sympathische Frau von eben bestärkte ihn so zu denken, selbst wenn sie der Auslöser für seine jetzige Zwiespältigkeit war. Nicht sie als Person, sondern das, was sie sagte.
 

/Die Kathedrale ist nur ein Gebäude… Sie ist nichts weiter als ein Gemäuer, das von Mistkerlen schändlich missbraucht wurde. An so einem Ort solch ein derbes Spiel zu treiben ist taktlos und auch gotteslästernd.

Ich sollte die Kirche deshalb nicht verachten, trotz ihrer jetzigen Bedeutung für uns. Und doch fühle ich mich wie fest genagelt…/
 


 

Immer nervöser werdend lief Joe im Büro hin und her. Schon am Morgen, als er Rick verlassen hatte, hatte sich ihm erneut die Frage aufgedrängt, ob Damon nun wirklich in seine Entführung verwickelt war oder nicht. Irgendwas tief in ihm drin wollte das nicht wahrhaben und auch jetzt konnte er es nicht glauben.
 

„Madeleine?“
 

Eine stämmige Frau mittleren Alters sah von ihrem Schreibtisch auf.
 

„Hat sich für heut noch ein Kunde angemeldet oder kann ich ausnahmsweise schon gehen?“
 

„Sind Sie heute nicht erst aus dem Urlaub zurückgekommen!?“, erwiderte sie mit einem geringschätzigen Blick, ging aber den Terminkalender, der vor ihr lag, durch. „Nur Fredericson, aber den übernimmt ohnehin Derrick. Also können Sie gehen.“

So schnell konnte sie gar nicht schauen, wie Joe seine Jacke holte und zur Tür des Büros stürmte.

„Lassen Sie das nicht zur Gewohntheit werden!“, rief sie ihm dennoch mürrisch hinterher.
 

„Jaja“, meinte Joe leise, als er die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte.
 

Zielstrebig lief er zur Bushaltestelle und musste feststellen, dass er den Bus zum Krankenhaus um wenige Augenblicke verpasst hatte, weshalb er sich ein Taxi rief. Er wollte seine Mutter um zwei Gefallen bitten. Zum einen um das Auto und zum anderen, dass sie den Abend und eventuell auch die Nacht bei Rick verbrachte. Da er wusste, dass sein Freund niemals damit einverstanden wäre, dass er vorhatte nach Luminis zu fahren, musste er das eben heimlich tun und Rick über Veronica darüber in Kenntnis setzen. Persönlich konnte er das dem Dunkelhaarigen nie und nimmer sagen, denn er kannte sich und schätzte sich selbst so ein, dass er dann nicht fahren würde. Aber er musste herausfinden, was hinter Damons Reise stecke und ob er der Serrat und Alexandros sozusagen angeheuert hatte. Selbstverständlich war er sich darüber im Klaren, dass das nicht richtig war, was er tat, und doch gab es für ihn keinen anderen Weg.

Als er das große Hospital erblickte, festigte sich sein Entschluss. Er musste derart handeln.

Nachdem er den Fahrer ausbezahlt hatte, lief er eilig über den Parkplatz und geradewegs zu den Fahrstühlen, die ihn in die achte Etage brachten. Energisch, aber dennoch leise, klopfte er an Stevens Tür, der ihn hereinbat.
 

„Heute ganz alleine?“, fragte Veronica sogleich, die am offenen Fenster stand und ein Kissen ausschüttelte.
 

„Rick ist zuhause und ich bin früher von der Arbeit gegangen.“
 

„Und da bist du nicht erst zu ihm?“
 

Joe biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf.

„Dann könnte ich nicht zu Damon fahren.“
 

Nun hatte er zwei Augenpaare starr auf sich gerichtet.

„Also weiß er wirklich nichts davon?“

Eigentlich war es mehr eine Feststellung, die Steven von sich gab.
 

„Nein, denn er würde es nicht zulassen. Darum habe ich eine Bitte an dich, Mom.“

Er ging auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern, sah sie alsbald fest an.

„Kannst du dich um ihn kümmern? Ich weiß, dass ich viel verlange, aber ich muss ihn in guten Händen wissen.“
 

„Natürlich wird sie nachher zu ihm fahren.“

Es war Steven, der antwortete.
 

„Seit wann nimmst du meine Entscheidungen ab?“, meinte sie unwirsch und doch liebevoll an ihren Mann gewandt, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Sohn richtete. „Ich werde es machen, wenngleich ich von deinem Vorhaben nicht angetan bin. Zum einen ist Rick erst ein paar Tage wieder zurück, zum anderen gehst du einfach ohne ihm Bescheid zu geben. Er hängt an dir…“
 

„Denkst du, es fällt mir leicht?“

Joes Miene verfinsterte sich und er richtete seinen Blick hinauf auf die Stadt. Er konnte den Wind hören, der sich in den Bäumen der Krankenhausanlage verfing.
 

„Mach dir keine Sorgen um ihn. Wir passen auf ihn auf.“

Während Steven redete, richtete er sich in seinem Bett auf.

„Ich habe dir schon einmal viel Erfolg gewünscht und ich werde es nun wieder tun, zumal ich sehr hoffe, dass du Recht behältst.“
 

Entgeistert lief Veronica auf ihren Mann zu.

„Sag bloß, du wusstest davon!“
 

„Manchmal gibt es eben Geheimnisse zwischen Vater und Sohn.“

Er meinte das mit solch einer Selbstverständlichkeit, dass ihr die Sprache wegblieb.
 

„Könnte ich euer Auto haben?“
 

Obwohl seine Mutter immer noch voller Skepsis war, hatte sie ihm die Autoschlüssel überreicht und ihm nochmals versprochen, Rick alles schonend beizubringen und bis er wieder zurück war, bei ihm zu bleiben. Joe verabscheute sich selbst, während er die Autobahn entlang raste, aber je näher er seinem Geburtsort kam, desto mehr verstärkte sich in ihm das Gefühl, dass es kein Zurück mehr gab.
 

/Jetzt oder nie… Damon hatte lange genug Zeit, sich zu überlegen, was er mir erwidern wird. Vielleicht schon zu viel, dass ich keine Chance habe, ihn aus der Reserve zu locken. Aber ich muss es auf einen Versuch ankommen lassen, sonst würde ich es auf ewig bereuen. Solange es eine Möglichkeit gibt, Rick in irgendeiner Form helfen zu können, werde ich sie nutzen, auch wenn das bedeutet, ihn vorher zu verletzen… Irgendwann wird er verstehen, weshalb ich mich so entschieden habe…/
 


 

Rick war erleichtert, als er sich gegen die verschlossene Wohnungstür lehnen konnte. Seitdem er das Bild der Kathedrale vor Augen gehabt hatte, hatte er sich ununterbrochen beobachtet gefühlt und die Schwere seines Körpers war mit jeder Minute unerträglicher geworden.

Mit einer Faust schlug er nach hinten an das Holz und presste seine Lippen fest aufeinander. Er konnte es nicht ertragen, dass er diese Angst vor einer erneuten Entführung in sich trug. Konnte er denn alles nicht einfach hinter sich lassen?

Als er spürte, dass seine Wut zur schieren Verzweiflung werden wollte, sackte er zu Boden und schlang seine Arme um seine Beine, bettete seinen Kopf auf seine Knie. Partout wollte er sich gegen all die Emotionen in ihm wehren, doch wie führte man einen Kampf, der von Beginn an als verloren galt?

Minuten vergingen, in denen er mit den Tränen, die in ihm aufsteigen wollten, haderte. Letztendlich blieben sie unergossen und doch fühlte er sich geschlagen. Mit leerem Blick zog er sich auf seine Füße zurück und streifte sich seine Schuhe und Jacke ab. Weshalb er gerade ins Schlafzimmer ging und sich auf den Drehstuhl vor dem Computer niederließ, wusste er nicht, aber ohne zu zögern schaltete er den Rechner an und alsbald lag seine Hand auf der Maus, deren Zeiger immer wieder über den Icon des Internetexplorers fuhr. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte er nach keinen Mails mehr gesehen, aber gerade in diesem Moment sehnte er sich danach, Amelia ein paar Zeilen zu schreiben. Sie war es schließlich gewesen, die ihn einmal gefragt hatte, wohin er fliegen würde, wenn er könnte. Und gerade war ihm nach fliegen… Er schüttelte über sich selbst den Kopf ob seiner Resignation und doch loggte er sich in seinem Email-Account ein. In seinem Postfach befand sich lediglich Werbung, die er löschte, ehe er zu schreiben begann:
 

’Hallo Amelia,
 

ich weiß, es ist egoistisch, dir jetzt zu schreiben, aber ich kann mich dafür nicht einmal entschuldigen. Wenn ich dir berichten würde, was mir widerfahren ist, würdest du vielleicht Verständnis zeigen können…

Können wir Menschen durchs Fliegen eine Sphäre erreichen, die fernab von jeglicher Grausamkeit existiert? Können wir uns aus den Fängen der Dunkelheit befreien und ein neues Leben beginnen, nur indem wir hoch in die Luft steigen? Können wir durchs Fliegen unsere Ängste besiegen?

Falls ja, dann wäre ich nun bereit dafür. Ich hasse mich selbst für meine Worte und schaffe es nicht, sie zu verbergen oder sie zu löschen. Obwohl ich den Menschen gefunden habe, der meine Liebe ebenso stark erwidert, lassen es die Umstände nicht zu, dass ich wahres Glück empfinden kann. Sobald ich von ihm nicht in eine Welt versetzt werde, die mich all das Geschehene vergessen lässt, umgibt mich eine Finsternis, die mich gänzlich einspinnen möchte… Und ich bekomme das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. So sehr ich auch nach Luft giere, erreicht mich nur stickiger Qualm, der mich zu Boden zwingen möchte.

Ich schrieb dir, dass ein jeder ein Licht in sich trägt. Selbst wenn ich davon immer noch überzeugt bin, glaube ich, dass es erlischen kann. Nur ein Hauch und es brennt nicht mehr. Noch spüre ich es glimmen, aber ich weiß nicht, wie lange ich es noch aufrechterhalten kann. Joe kann nicht immer bei mir sein und ohne ihn fühle ich mich wehrlos.
 

Verzeih’ mir, dass ich dir keine Hoffnung geben kann.
 

Gezeichnet,

Rick.“
 

Mit geschlossenen Augen sendete er die Mail ab und schämte sich im selben Moment dafür. Und doch hätte er die Mail nicht revidiert, wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte.
 

Irgendwann klingelte es an der Wohnungstür und er schreckte auf. Bis dahin hatte er starr vor dem Bildschirm gesessen und sich nicht geregt. Wie aus einem Alptraum erwacht schlurfte er zur Tür und machte sie erst auf, als er sich durch einen Blick in den Spiegel vergewissert hatte, dass er nicht wie der Tod höchstpersönlich aussah.
 

„Du?“, entkam es ihm verwirrt.

Doch Veronica brauchte noch gar nichts sagen, da fiel ihm bereits das Herz in die Hose. Heftig schluckend sah er sie an und wisperte ein paar Worte, die er selbst nicht verstehen konnte, aber so viel bedeuten sollten wie ’Joe ist doch nichts passiert!?’
 

Beschwichtigend strich sie ihm kurz über die Wange, „Mir wurde eine undankbare Aufgabe zuteil,… Aber lass uns doch erst einmal hineingehen.“

Ihre Stimme war vollkommen sanft, eben die einer Mutter.
 

Zögerlich ließ er sich von ihr in die Küche ziehen. Weiß wie eine Wand spürte er das immer schneller werdende Schlagen in seiner Brust. In seinem Verstand erschien ein Horrorszenario nach dem nächsten, obgleich ihm die Mimik und Gestik von Veronica in keinster Weise total erschüttert erschien. Eine Mutter, deren Sohn etwas zugestoßen war, sah in der Regel anders aus. Aber was war es dann, das sie ihm sagen sollte?
 

„Also es ist so…“

Sie stockte und rieb ihre Hände gegeneinander, wohingegen Rick fast zu einer Salzsäule mutierte. Sein ganzer Körper schien sich verkrampfen zu wollen, so dass er nicht mal mehr imstande war, seinen kleinen Finger zu rühren. Die Dunkelheit, die ihn schon die letzten Stunden über umwoben hatte, legte sich immer enger um ihn und tauchte ihn in eine Welt, von der jegliches Gefühl der Liebe abprallte.

„Joe ist nach Luminis gefahren und kommt wohl erst morgen zurück.“
 

Rick glaubte zu zerbersten. Sein Freund, der in ihm das Licht am Leben erhalten konnte, war auch gefahren ohne ihm Bescheid zu geben geschweige denn mitzunehmen. Für was hatte er sich selbst gehasst, eine derart verzweifelte Mail an Amelia geschrieben zu haben?
 

Fahrig fuhr sich Veronica übers Gesicht und versuchte ihrem Gegenüber ein Lächeln zu schenken, das aber im ersten Moment ziemlich gequält aussah.

„Manchmal ist er ein ganz schöner Hitzkopf, aber er tut das für dich.“
 

„… mich?“

Mehr brachte der Dunkelhaarige nicht hervor. Sein Verstand setzte immer wieder aus und er hatte Mühe, klar denken zu können.
 

Sie nickte. „Er möchte dir ein Stück deiner Vergangenheit wiederbringen.“
 

Wut legte sich auf Ricks Gesichtszüge und er begann leise zu lachen, das in einem wilden Seufzkonzert endete.

„Die, die ich ständig versuche zu vergessen?“, fragte er tonlos.
 

„Gib die Hoffnung nicht auf, Rick.“
 

Allmählich empfand er ihre sanfte, mitfühlende Art als lästig. Konnte sie ihrem Sohn nicht sagen, dass er zurückkommen solle, weil er alles nur noch schlimmer machte?

„Welche denn? Die, die einen innerlich zerfrisst, weil man sich an etwas Surrealem festhält, an etwas Unerreichbarem, das sich immer mehr von dir entfernt je mehr du dich bemühst?“
 

Alles, was sie tat, war eine Hand nach ihm auszustrecken, doch er wich zurück und stand abrupt auf. Voller Zorn schob er den Stuhl gegen den Tisch. Scheppernd stieß Holz auf Holz aufeinander.

„Ich brauche ihn und sonst nichts!“, schrie er dann.
 

Hastig stürmte er aus der Küche direkt ins Schlafzimmer, wo er sich aufs Bett schmiss und sein Gesicht in den Kissen vergrub.
 

/Mehr als ihn verlange ich doch gar nicht…

Aber warum kann ich nicht einmal mehr diesen Wunsch erfüllt bekommen?

Dieses Loch in mir weitet sich unaufhaltsam aus. Ich spüre, wie es von dem Teil Besitz ergreift, das einzig Joe gehört…

Joe?

Bitte beeile dich…/
 

Vage vernahm er wie Veronica sich ihm näherte und alsbald eine Hand über seinen Kopf strich. Diese Berührung kam fast der Joes gleich, wenn er ihm durchs Haar fuhr. Obgleich Rick sich das nicht von Anfang eingestehen wollte, entspannte er sich allmählich wieder trotz der düsteren Gedanken, die stetig in seinem Kopf kreisten.
 

„Hätte ich ihn denn mit Gewalt aufhalten sollen?“
 

„…“
 

„Wenn ich ihm nicht mein Auto gegeben hätte, dann hätte er den nächsten Zug genommen. Du solltest am besten wissen, dass er das, was er sich in den Kopf gesetzt hat, durchzieht, egal was dabei auf dem Spiel steht. Nur…“ Sie stockte und nahm die Hand von Rick. „Nur glaubt er wirklich, dass er dir damit helfen kann. Weißt du…“ Erneut hielt sie den Atem für eine Weile an.

„Er würde alles für dich tun, ist aber momentan jedweder Möglichkeit beraubt. Wie ich ihn kenne, macht ihn das wahnsinnig, weshalb er überstürzt ging.“
 

„Er hätte mich mitnehmen können“, murmelte Rick.
 

„Würdest du…“

Schmerzhaft biss sie sich auf die Lippe. Sie durfte ihm nicht sagen, dass Joe zu Damon gehen wollte, auch wenn es auf der Hand lag. Wenn es Rick schon herausfand, dann wenigstens nicht durch sie.
 

„Was?“, fragte er eine Weile später nach.
 

„Würdest du Joe in Gefahr begeben wollen?“
 

Unwirsch drehte sich im Bett um und funkelte sie an. „Was denkst du von mir? Natürlich nicht!“
 

/Nur kann ich dieses Gefühl der schieren Verzweiflung in mir nicht stoppen und das bereitet mir mehr Angst als ich ertragen kann. Immerzu jagen mich Bilder, die mich vollkommen erbeben lassen würden, wenn ich diesen Drang meines Körpers nicht mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte./
 

Lange sahen sie sich an und doch durch den jeweils anderen hindurch.
 

„Wie ich Joe kenne, bleibst du hier.“
 

„Wenn es dich nicht stört?“, fragte sie vorsichtig.
 

Rick schüttelte nur den Kopf und legte seinen Kopf wieder zurück. Er wartete, bis sie das Schlafzimmer verlassen hatte und begab sich dann an den Rechner, der immer noch ein stetes Rauschen durch den Raum hallen ließ. Nach ein paar Sekunden des Verharrens schaltete er ihn aus. Für diesen Tag hatte er genug seines Inneren in Worte gefasst, zumal die wenigen Silben mit Sicherheit bereits fatal gewesen waren.
 

„Verzeih’ mir“, hauchte er in die kalte Luft der angebrochenen Nacht hinein, als er sich dem geöffneten Fenster lehnte.

Kapitel 62

Kapitel 62
 

Mit stetig schneller werdendem Herzschlag stellte Joe den Motor ab. Er parkte das Auto seiner Eltern direkt hinter Damons. Ricks Vater war also zurück. Er hatte wirklich den Mut, nach dem, was er seinem Sohn angetan hat – selbst wenn er nicht den Befehl dazu gegeben hatte, hatte er wohl von Serrats Plänen gewusst – nach Luminis zurückzukehren, wo ihn alle Welt finden konnte.

Schon auf der ganzen Fahrt hatte Zorn in Joe gewütet, den er trotz Gegenwehr gegen diesen Mann zu hegen begann. Je näher er seinem Haus gekommen war, desto mehr Verachtung hatte er ihm gegenüber empfunden. Doch er durfte sich nicht von ihr leiten lassen, wenn er ihm gleich gegenüber träte. Galant stieg er aus dem Wagen und lief geradewegs zur Haustür, bei der ohne zu Zögern die Klingel betätigte. Er hörte das laute Schallen, das im Flur ertönte und bis zu ihm nach draußen drang. Kalter Wind blies ihm um die Ohren und die Nacht kündigte Werte unter dem Gefrierpunkt an. Licht flammte von innen auf, das hell durch die kleine Glasscheibe am oberen Rand der Tür fiel. Anschließend wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür ging auf.
 

Es war Damon höchstpersönlich, der Joe aufmachte. Letzterer hatte alle Mühe, dem anderen nicht sofort an den Hals zu springen, denn diese völlige Sorglosigkeit, die jener ausstrahlte, war zu viel des Guten. Wenigstens ein wenig Reue hätte er zeigen können, ein wenig Einsicht, dass er Rick weh getan hatte. Sie musste sich nicht einmal auf die Entführung beziehen, denn Joe wusste ja noch nicht, inwiefern er in sie verwickelt war, doch zumindest der Rauswurf, wenngleich dieser bereits zwei Jahre her war. Doch mehr als einen verblüfften Gesichtsausdruck untersetzt mit purer Unbekümmertheit hatte Damon nicht zu bieten.
 

„Hallo“, meinte Joe gepresst. Er hatte wirklich alle Hände voll damit zu tun, nicht übermütig zu werden.
 

„…“
 

„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, entkam es dem Blonden nun doch ziemlich barsch.
 

„So freundlich heute?“ Damons Augen begannen zu funkeln. Unhöflichkeiten ihm gegenüber konnte er noch nie ausstehen. Joe wusste das, aber gerade war ihm das vollkommen gleichgültig. Sollte dieser Mann doch von ihm denken, er sei rüpelhaft, das war doch letztendlich nicht von Belang. Vielmehr als ein paar Worte mit ihm wechseln wollte er ohnehin nicht
 

„Die letzten Wochen haben mich gelehrt, dass zu viel Freundlichkeit nur Schaden mit sich bringt.“

War Rick denn nicht immer bemüht gewesen, es seinem Vater in allerlei Hinsicht Recht zu machen? Und was war das End vom Lied? – Leid! Nichts als Leid!

„Hast du einen Augenblick Zeit?“, fügte Joe eilig an, um die Tür nicht vielleicht sofort vor der Nase wieder zugeschlagen zu bekommen.

In Damons Augen war nicht zu lesen, was er gerade dachte, und so konnte Joe auch nicht sagen, was dieser als nächstes tun würde. Unberechenbarkeit war seit jeher eine Eigenart dieses Mannes, der ihm gerade unvermuteterweise seine Rechte entgegenstreckte. Gehörte das zu diesem abartigen Spiel oder war die Geste ehrlicher Natur?

Mit allem rechnend ergriff Joe sie, doch mehr als ein gewöhnliches Händeschütteln folgte nicht. Ein wenig irritiert folgte er Damon, der ihn hereinbat.

Das Innere des Hauses hatte sich merklich verändert. Seit seinem letzten Besuch erschien es wesentlich kälter und trister. So als ob hier niemals ein Kind gelebt hätte. Joe spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Der Flur hatte nicht viel mehr als ein paar Haken für Jacken und einen gesonderten Teppich für Schuhe zu bieten. Das Wohnzimmer war auch nicht viel wohnlicher eingerichtet. Dunkle Kirschholzschränke und eine gänzlich uneinladende grüne Couch waren der gemütlichen Sofagarnitur und dem hellen Buchenholz gewichen. Nur die Wände waren ebenso weiß wie früher, haben aber aufgrund des Verlustes der Familienfotos an Attraktivität eingebüßt. Eigentlich war es einfach nur traurig, dass sie alles, was mit Rick in Verbindung gebracht werden konnte, eliminiert haben. Ob es damals eine Kurzschlussreaktion von Damon gewesen war oder sie das kürzlich erst arrangiert hatten, wollte Joe gar nicht in Erfahrung bringen.
 

„Magst du was trinken?“
 

Zunächst blickte Joe Damon irritiert an, doch dann nickte er. „Gerne. Einen Tee, wenn es keine Umstände bereitet.“

Er glaubte, ein seltsames Funkeln in dem anderen Augenpaar zu erkennen.
 

„Wir haben keinen da. Eine Cola?“
 

Selbst die von Rick geliebten Getränke hatte sie nicht vorrätig. Joe musste sich einen bissigen Kommentar verkneifen und bedankte sich stattdessen schlicht. Als er kurz allein gelassen wurde, ließ er seinen Blick einmal quer durch den Raum schweifen.
 

/Wie können sich Menschen nur derart verweigern? Alles, was ihnen einmal selbst lieb und teuer gewesen war, haben sie verbannt. Doch ich glaube nicht daran, dass sie das auch tief in ihren Herzen tun konnten. Dann hätten sie Rick niemals geliebt!/
 

In Joes Körper wallte mittlerweile eine schier unbändige Wut. Er konnte das, was sich vor ihm auftat, einfach nicht begreifen. Eltern, die ihr einziges Kind ins Verderben schicken und anschließend alles ausrotten, was sie an es erinnern könnte.

Das war erbärmlich!
 

Mit einem Tablett kam Damon zurück, das er auf dem einfachen Couchtisch abstellte.
 

„Setz dich doch“, forderte er Joe auf, der bisweilen nicht einmal ansatzweise ans Setzen gedacht hatte, doch er ließ sich auf dem nicht nur unschön aussehenden, sondern auch unbequemen Sofa nieder.

„Machen wir es kurz, da dir sicher nicht nach einem harmlosen Kaffeekränzchen zumute ist: Was führt dich zu mir?“
 

Rick?

Wer sonst?
 

„Das kannst du dir denken, oder nicht?“
 

Wollte Damon andeuten, dass dem nicht so sei? Denn er schaute ein wenig fragwürdig.
 

„Dein Sohn?“, meinte Joe nun und betonte das zweite Wort so außerordentlich, dass es selbst der dümmste Mensch verstanden hätte.
 

Damon senkte für einen Moment den Blick und verleibte sich währenddessen einen Schluck klarer Flüssigkeit ein. Joe tippte beinahe schon auf weißen Rum oder dergleichen, doch es konnte sich ebenso um harmloses Mineralwasser handeln.

„Das wirst du mir niemals vergeben, da gehe ich doch Recht der Annahme?“
 

Natürlich war die Frage rein rhetorisch und dennoch konnte sich Joe darauf keine Antwort verkneifen: „Ob ich das kann, getan habe oder tun werde ist doch nicht wichtig!“

Rick ist der Entscheidende, Rick, Rick und nochmals Rick.
 

„Wie geht es Rick denn?“

Nun sah er Joe fest an. Dieser versuchte zu erwägen, ob die Erkundigung aus Zwang erfolgte oder wenigstens etwas ernsthafte Neugier innehatte.
 

Der Blonde überlegte fieberhaft, wie er Damon nahe bringen konnte, was geschehen war, ohne ihn dabei nicht mehr aus der Reserve locken zu können. Er konnte ihm wohl kaum an den Kopf werfen, dass er gepeinigt war und seit seinem Outing lange Zeitphasen des Leids durchlebt hatte. Obendrein konnte er ihm nicht mir nichts dir nichts sagen, dass sie sich liebten und er derjenige war, an den sich Rick klammerte wie ein Tier an einen Grashalm vor dem Ertrinken.

„Den Umständen entsprechend gut.“

Das hoffte er zumindest. Aber seine Mutter war bei ihm, was ihn ein wenig beruhigte.
 

„Ich verstehe bis heute nicht, wie es damals dazu kommen konnte.“
 

Joes Mund klappte weit auf. Dass Rick schwul war? Dass er sich dazu bekannt hatte? Oder meinte er doch seine Überreaktion des unwiderruflichen Rausschmisses!?
 

„Was ist daran so schlimm, eine Person gleichen Geschlechts zu lieben?“

Und wie er sich selbst an diesen Gedanken hatte gewöhnen müssen. Doch Rick war ein wunderbarer Mensch, dem einfach nur der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, so dass er seine guten Seiten nicht über alle Maßen zeigen konnte. Aber Joe kannte seinen Freund und wusste, woran er war.
 

Minuten eisigen Schweigens vergingen, in denen man den Wind rauschen hören konnte und ein paar undefinierbare Geräusche aus der oberen Etage, in der sich vermutlich Dea aufhielt. Ricks Mutter, die beteuert hatte, dass sie alles bereue und ihm einen Brief mitgegeben hatte. Doch wo er gerade daran dachte: Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatten sie sich draußen unterhalten. Hatte Damon davon nichts mitbekommen dürfen? War er vielleicht doch da gewesen, obwohl sie es verneint hatte?

Plötzlich wurde Joe gänzlich misstrauisch. War selbst der Brief ein Teil des ihm verhassten Planes? Dass Rick freiwillig nach Luminis käme und die Entführung noch effektvoller wäre? Oder überhaupt erst die neu aufgekeimte Liebe zerstören könnte?

Ein dicker Kloß machte sich in seinem Hals breit und er räusperte sich ein paar Mal. Konnte das denn der Realität entsprechen?

Sollte er Damon nun wirklich befragen oder würde ihm ein Bär nach dem anderen aufgebunden werden?
 

„Wenn man so lange verheiratet ist wie ich, dann kann man solch eine Liebe nicht nachempfinden“, begann Damon, ehe Joe sich dazu entschließen konnte, einfach aufzustehen und wieder zu gehen.

„Ich kann sie mittlerweile…“
 

Ja, was?

Verachten? Verabscheuen? Oder gar schänden?

Um seinen Emotionen die Möglichkeit zu gewähren, einen Weg nach draußen zu finden, ließ er sein Bein unkontrolliert auf- und abwippen. In dem Kopf des Jüngeren fügten sich das Erlebte, das Gehörte und das eigen Empfundene zusammen und je mehr sie ein einziges Gebilde formten, desto mehr befürchtete er, einen großen Fehler damit begangen zu haben, her gekommen zu sein. Vielleicht sollten sie Ricks Eltern für immer meiden, jedweden Augenkontakt und jedwede Gedanken an sie.
 

„… tolerieren. Ja das ist, denke ich, das richtige Wort.“
 

„Wow…“, entfleuchte Joes Mund. Was für ein Fortschritt. Toleranz! Nachdem er ihm Alexandros an den Hals gehetzt hat?

Er sollte sich beruhigen, doch allein schon der Umstand, was aus dem einst farbenfrohen Haus gemacht wurde, ließ ihn darin verzagen. Die ganze Zeit über hatte er sich an dem Strohhalm seiner Vernunft festgehalten, an dem Glauben, dass Damon nicht der Drahtzieher war. Aber ihm schien, dass dieser Halm, den er so fest umklammert hatte, entzwei gerissen war und er nun nicht wusste, an welchem Ende er sich befand.

„Ich habe hier nichts verloren.“

Abrupt erhob sich Joe und funkelte Damon an.

„Und du sollst Rick erzogen haben? Kaum zu glauben, wenn man sich im Gegenzug die liebenswerte Person betrachtet, die dein Sohn ist. Dein Sohn – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen!“
 

Nun stand auch Damon auf und hob eine Hand zur Faust geballt hoch. Die Atmosphäre konnte gespannter kaum sein und Joe wich keinen Zentimeter.
 

„Willst du gewalttätig werden?“, provozierte er ihn weiter.

Sollte er doch! Dann hatte er den Beweis, dass dieser Mann doch zu allem fähig war.
 

Die Rechte von Damon zitterte gewaltig und erste Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Seine Miene war hart und ziemlich herrisch.

„Du kommst hierher und greifst mich ununterbrochen an!“, schrie er schon fast. „Du magst hier früher ein- und ausgegangen sein, doch diese Zeiten sind vorbei! Wir leben nicht in der Vergangenheit und du hast nicht das Recht, mich derart anzufahren!“
 

„Wie Recht du doch hast. Früher hast du dich auch um Rick gekümmert!“
 

Während Damon einen Schritt auf Joe zumachte, traten die Knöchel seiner Hand weiß hervor. Er schien seine Finger mit aller Kraft in seine Handfläche hineinzudrücken.
 

„Das hätte ich auch weiterhin getan! Aber er musste ja unbedingt auf Männer stehen! Dabei hatte ich doch nur einen einzigen Wunsch…“ Zum Ende hin verebbte seine Stimme und er begann am ganzen Körper zu beben.
 

„Da gibt es andere Wege und Mittel! Die Technik und die Medizin sind sehr fortgeschritten. Aber nein, du sahst nur einen Menschen, der dir nicht das gibt, wonach du begehrst! Weißt du, wie das auf mich wirkt? Dümmlich! Gänzlich bescheuert!“
 

„Ein Wunsch…“, meinte der Ältere leise und visierte mit seinem Blick irgendeinen Punkt an der gegenüberliegenden Wand an. Doch alsbald fokussierte er wieder Joe. „Du mit deinen zweiundzwanzig Jahren glaubst, über mich urteilen zu können? Ja? An sich bist du nichts weiter als ein dahergelaufener Bengel, der nicht weiß, was das Leben schreibt! Ihr Kinder von heute denkt doch nur an euren Spaß, den ihr euch anscheinend durch Sex mit Gleichgeschlechtlichen holt!“
 

Das Maß war eindeutig überschritten. Joe schüttelte nur noch mit dem Kopf und wandte Damon den Rücken zu. Mit solch einer Art Mensch brauchte er nicht länger Konversation betreiben. Als er die Tür zum Flur erreicht hatte, hörte er einen lauten Knall. Obgleich er nicht den Drang verspürte, Ricks Vater noch einmal zu sehen, drehte er sich dennoch schon allein aus dem Affekt heraus um.

Joe traute seinen Augen nicht, denn Damon kauerte auf allen vieren und vergoss stumme Tränen. Mit einem Mal fühlte er sich vollkommen versteinert.

Als sich die erste Taubheit gelegt hatte, konnte er nicht sagen, ob der Ältere einfach nur ein verzweifelter Mann war, der zum ersten Mal sein wahres Ich erkannt hatte, oder ob das alles zu dem widerwärtigsten Spiel aller Zeiten gehörte. Unsicher näherte er sich ihm.
 

„Geh’ schon!“, rief der am Boden Liegende verzagt.
 

Damon musste schon ein guter Schauspieler sein, um derart kümmerlich zu erscheinen. Indem Joe ihm einen Arm von der Seite um die Brust legte, half er ihm auf. Der Mann in seiner unmittelbaren Gegenwart zitterte unaufhaltsam und ließ sich auf die Couch ziehen. Der Blonde war nun gänzlich verwirrt. Die Wut, reinstes Chaos in seinem Inneren und nun das. Was würden sie sich nun gegenseitig an den Kopf werfen? – Dass er für seinen Zustand verantwortlich war?
 

„Ich habe ihn einfach weggejagt, ihn aus meinem Leben gestrichen, als ob er nur ein Objekt wäre, dessen man sich ohne weiteres entledigen kann.“

Starr schaute Damon vor sich hin, die Arme resigniert auf den Beinen liegend.

„Niemals habe ich auch nur ansatzweise daran gedacht, ihn zurückzuholen oder einen Versuch zu unternehmen, mich ihm wieder zu nähern… Gerade eben…“

Mitleidserregend wandte er seinen Kopf Joe zu und hauchte kaum wahrnehmbar:

„Erst jetzt habe ich erkannt, was ich gemacht habe. Armselig, nicht wahr?“
 

Weder nickte Joe noch verneinte er die Frage. Er saß einfach nur neben ihm und versuchte das zu realisieren, was sich direkt vor ihm abspielte.
 

Unnachgiebig sprang der Uhrzeiger im Kreis. Der Zeit war es egal, was zukünftig passieren würde, Hauptsache, sie konnte wie gewohnt gleichmäßig vergehen. Ihren Lauf nehmen und alles andere für nichtig erklären.

Nur war sie für einen Menschen begrenzt. Er konnte es nicht ungeschoren hinnehmen, sie an sich vorbeiziehen zu lassen. Manchmal war jede Sekunde wertvoll. Jede noch so kleine Millisekunde, wenn es darum ging, ein Zeichen zu setzen.
 

„Hast du darum Serrat freie Hand gelassen?“
 

Damons Gesicht drückte Verständnislosigkeit aus. Das salzige Nass hatte Spuren auf seine fahlen, stoppeligen Wangen hinterlassen.

„Bitte?“
 

Fest sah Joe ihn an, verschmälerte seine Augen so weit wie möglich. Sein Misstrauen war noch immer nicht verschwunden.

„Hast du ihn deshalb auf Rick gehetzt, damit er sich eingesteht, wie widerwärtig es ist, einen Mann zu lieben?“
 

Plötzlich verhärtete sich Damons Miene wieder und er nahm wie zuvor auch Haltung an. Stramm saß er da und presste seine Lippen aufeinander.
 

Als er nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nichts erwiderte, brach in Joe eine Welt zusammen. Keine Antwort war in den meisten Fällen auch eine Antwort. Die erhoffte Gegenwehr blieb aus; kein nervöses Zucken, keine reumütige Geste, kein Schock. Nichts. Außer dieser Härte, die ihn lediglich feindselig erscheinen ließ.

Der Blonde schluckte schwer. Es war also wahr.
 


 

Obgleich die Nacht kalt war, konnte sich Rick nicht vom Fenster lösen. Die frische Luft, die sein Gesicht umspielte, nahm ihm ein wenig von der Schwere, die sich in seine Glieder geschlichen hatte. Wie gerne würde er sich jetzt umdrehen und Joe sich im Bett räkeln sehen. Nackt und nur mit einem Hauch Stoff der Bettdecke bedeckt, ihm einen kecken Blick zuwerfend. Doch sein Freund war einfach gefahren, ohne jedweden Abschied. Irgendwie verstand er das ja, aber es war der erste Tag, den er ohne ihn verbracht hatte, seit… Seit diesen verdammten Tagen in Alexandros respektive Serrats Keller.

Müde rieb er sich die Augen und schlang dann wieder beide Arme fröstelnd um seinen Körper. Die Kälte hatte ihn mittlerweile gänzlich in ihren Fängen, doch er hatte nicht vor, das Fenster zu schließen und ins Bett zu gehen, wo er niemanden vorfand. Außerdem ließ ihn ein weiterer, mürber Gedanke nicht los: Amelia. Seit Wochen hatte er nichts von ihr gehört. Und dann hatte er ihr dennoch schon wieder sein Leid aufgedrängt.
 

/Sie forderte mich auf, mich niemals der Dunkelheit hinzugeben und nicht denselben Fehler zu begehen wie sie.

Habe ich sie nun enttäuscht?/
 

Er reckte seinen Kopf gen Himmel und sog die Luft tief ein und stieß sie langsam wieder aus. Aufgrund der dichten Wolken konnte er weder Sterne noch den Mond sehen. Irgendwie hatte der Himmel dadurch ziemliche Ähnlichkeit mit seinem Befinden. Das Licht war existent, nur wurde es auf erbarmungslose Weise verdeckt.
 

Nach geraumer Zeit, als er begann seinen Körper vor lauter Eiseskälte nicht mehr zu spüren, begab er sich doch ins Bett. Tief vergrub er sein Gesicht in der Decke und versuchte jedweden Geruch von Joe, der irgendwo festhing, zu erhaschen. Er musste aufhören, sich an einen Menschen derart zu klammern, aber wider dieses Vorhabens griff er nach dem T-Shirt, das am Boden neben dem Bett lag, und legte es direkt neben seinen Kopf.
 

„Eigentlich geht es mir ja gut“, hauchte er vor sich hin.
 

/Mir wird so vieles zuteil, was andere nicht haben. Ich habe einen Freund, der zu mir steht, sich um mich kümmert und dem ich wichtig bin. Das ist doch genug… oder nicht?

Auch wenn er nicht körperlich bei mir ist, so ist er es in meinem Herzen. Und auf die Art bin ich auch bei ihm… und das weiß er.

Ich weiß genau, was er vorhat, und dennoch würde ich ihn nicht davon abhalten, selbst wenn ich es könnte. Zwar bezweifle ich, dass er neue Wahrheiten entdeckt, denn die Botschaft, die ich erhalten hatte, war genug, um davon überzeugt zu sein, dass er – mein Vater, kaum zu glauben – alles veranlasst hatte. Aber wenn er sich davon eigens überzeugen muss, dann muss er das tun. Jedweder Versuch ihn davon abzubringen würde nur bewirken, dass er aus Trotz heraus geht…

Ich habe erst vor kurzem nicht gewusst, wo er steckte… Dieses Mal ist es anders. Er hat Veronica zu mir geschickt und das beweist mir seine Aufmerksamkeit mir gegenüber./
 

Schläfrig rollte er sich zusammen.
 

Es war bereits hell, als er allmählich wieder erwachte und sogleich eine angenehme Wärmequelle wahrnahm. Doch als er die Augen aufschlug, erblickte er nicht Joe, wie er es sich erhofft hatte. Eigentlich sah er nichts weiter als das leere Zimmer wie auch in der Nacht. Aber als er die Decke zurückschlug konnte er den Ursprung der wohltuenden Wärme ausmachen. Veronica hatte ihm wohl heute Morgen eine Wärmflasche gebracht. Er fragte sich, woher sie gewusst hatte, dass er halb durchgefroren gewesen war. Und doch schlich sich seit Stunden das erste Lächeln auf sein Gesicht.

Ein wenig gerädert stand er auf und sein erster Weg war der zum Computer. Innerlich war er überhaupt nicht entspannt. Seinem Körper mochte es dank Joes Mutter gut gehen, aber das Herz konnte eine einfache Wärmflasche nicht heilen. Wie sehr er sich auch eine Mail von Amelia wünschte, er hatte keine bekommen. Zumindest nicht von ihr. Er klickte auf den dunklen Balken, der auf dem Monitor erschienen war.
 

’Hi Kleiner!’
 

Die Worte waren wie ein Messer, das sich tief in seine Brust bohrte. Er hatte sich den Absender doch angesehen und ein weiterer Blick auf die E-Mail-Adresse war wie ein Dolch, der sich regelrecht unbarmherzig in ihn hinein rammte.
 

„Das ist dreist!“, stieß er förmlich hervor.
 

Alexandros hatte es in der Tat gewagt, die Adresse von seiner Chefin zu verwenden. Lediglich das letzte ’r’ von Romee Trither hatte er weggelassen. Dieser Kerl schien seine Finger wirklich überall im Spiel zu haben. Obwohl Rick gut und gerne auf Spott und Hohn verzichten konnte, las er gezwungenermaßen weiter. Denn er ahnte schlimmes.
 

’Erzürne mich nicht noch mehr, denn bei einem weiteren Wiedersehen werde ich keine Gnade mehr walten lassen. Ich habe ohnehin viel zu wenig von dir gekostet und deine Lippen sehnen sich sicher nach meinen…’
 

Jede Silbe war wie eine Faust, die in seinen Magen gerammt wurde. Er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Mit zittrigen Beinen wankte er zum Bett zurück und griff in seine Hose hinein, die neben ihm auf dem Boden lag. Er wählte Joes Nummer an.
 

/Geh’ ran!/
 

„Hi Rick.“
 

Es tat so gut, Joes Stimme zu vernehmen.
 

„Geht es dir gut?“, fragte der Dunkelhaarige holprig. Die Schweißperlen, die allmählich seinen gesamten Körper verdeckten, zeugten von der Angst, die ihn befallen hatte.
 

„Ich wollte gerade weiterfahren“, erwiderte Joe.

Das war nicht die Antwort, die Rick hatte hören wollen.

„Tut mir leid, dass ich mich gestern nicht mehr bei dir gemeldet habe. Wenn ich dich damit-“
 

„Joe!!!“, schrie Rick nun ins Telefon. Seine Augen waren weit aufgerissen und in seinem Kopf herrschte nur noch ein Chaos ohne irgendeinen klaren Gedanken.

„Alexandros…“, wisperte er.
 

Am anderen Ende der Leitung war es plötzlich still. Man konnte beinahe die letzten Vögel des Jahres zwitschern hören.
 

„Ich verstehe das nicht…“
 

„Was?“, kam es verwirrt zurück.
 

Als Rick zum Flachbildschirm sah, rieb er sich die Schläfen.

„Weshalb er mich warnt.“
 

„Ich bin bald da“, meinte Joe sanft.
 

„Pass auf dich auf.“

Mehr brachte Rick nicht mehr hervor. Er war vollkommen irritiert.

Kapitel 63

Kapitel 63
 

„Serrat…“ meinte Damon mehr zu sich selbst.
 

Joe sah ihn zerknirscht an. Das, was er nicht geglaubt hatte, war nun doch die Wirklichkeit. Und dieser Mann erdreistete sich auch noch, Serrats Namen in seiner Gegenwart auszusprechen. Ihm war danach, Ricks Vater grob an den Schultern zu packen und ihm anschließend eine Faust in den Magen zu rammen. Er hatte sich vor einer halben Ewigkeit das letzte Mal geprügelt, aber jetzt war ihm wieder einmal danach.

Barsch schob er den Couchtisch weg und legte nun wirklich Hand an Damon an, zog diesen jäh hoch, auch wenn ihm das viel Kraft kostete. Er funkelte ihn an und hasste mittlerweile diese Kälte gepaart mit Verzweiflung, die ihm entgegenblickte.
 

„Was wird das?“, knurrte der Ältere.
 

„Vielleicht sollte ich dir das ganze Leid zurückgeben, das Rick wegen dir ertragen musste. Wie kann man als Vater nur auf die Idee kommen, einen Kerl wie Alexandros auf ihn zu hetzen? Wie krank muss man dafür sein. Ich glaube, dafür brauche ich nur in deine Visage blicken. Und du willst jetzt eingesehen haben, was du angerichtet hast. Wirklich brillant!“

Joe war so aufgebracht, dass er die Worte förmlich ausspie. Unwirsch riss sich Damon los und starrte ihn an.
 

„Kannst du das wiederholen?“
 

Die Frage kam nicht aus Wut und nicht aus Spott, was den Blonden zunächst den Wind aus den Segeln nahm. Doch anschließend fühlte er sich gelinkt.
 

„Ich nehme dir die Tour des Unschuldsengels nicht ab!“, schrie er. Seine Hand zitterte bedrohlich.
 

„Was… Oh mein Gott!“

Plötzlich wurde Damon ganz blass.

„Das war doch nur… betrunkenes Gewäsch…“

Fassungslos blickte er Joe an, der kurz davor war, ihn erneut zu packen.
 

Doch bevor er Ricks Vater tatsächlich eine verpasste, drangen die letzten zwei Worte auch zu ihm durch.

„Soll das heißen…“, er stutzte. Fahrig fuhr er sich durchs Haar und merkte, wie schnell sein Herz in seiner Brust schlug. „Du willst mir hier nicht gerade weismachen, dass Serrat ohne deine Einwilligung gehandelt hat!?“
 

„Wir hatten einmal ein wenig philosophiert…“
 

Wie das klang! Und schon war Joe wieder wütend.
 

„So nennt man das also, wenn man seinen eigenen Sohn an andere verkauft, ja?“
 

„Geld war gar nicht im Spiel!“
 

„Grrr, du machst mich ganz krank. Hast du nun was mit Ricks Entführung zu tun oder nicht?“
 

„Ich weiß es nicht.“

Er sackte auf die Knie, zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten.

„Damals hielt ich das selbst für einen grandiosen Einfall“, fügte er leise an, noch immer die Kühle nicht gänzlich verloren.

„Also muss die Antwort ’ja’ lauten.“
 

Da Joe gar nicht mehr wusste, was er noch sagen sollte, verharrte er und sah auf den Menschen, der vor ihm kniete hinab. Ob er nun Hass oder einfach nur Zorn gegen ihn hegte, konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Jedenfalls brodelte es noch immer in ihm.
 

„Ich saß wie so oft in der Kneipe und ließ mich voll laufen. Das hatte ich irgendwann angefangen, nachdem Rick mit dir weggezogen war“, erzählte Damon völlig in Gedanken versunken. „Des Öfteren traf ich dort Serrat, doch an jenem Abend unterbreitete er mir etwas, das für mich Balsam war. Rick diese Liebe auszutreiben war wie eine Erlösung…“
 

Unentwegt hielt Joe seine grünen Augen auf Damon gerichtet, ohnmächtig sich zu rühren. Es war einfach nur erbärmlich, was sich da eben abspielte. Und er fühlte sich wie versteinert. Als ob jemand einen Schalter in ihm umgelegt hätte, der ihn dazu zwang, seinen Körper lediglich als Hülle wahrzunehmen, die er nicht steuern konnte.
 

„Je ausführlicher Serrat wurde, desto mehr ging ich darauf ein. Wir kippten dabei ein Bier nach dem anderen und heizten uns mit neuen Details immer weiter an. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Stunden vergangen waren, bis sich die Welt zu drehen begann…

Und ich dachte immer, ich hätte seine letzten Worte nur eingebildet.“

Damons Blick klärte sich und bedeutungsvoll sah er nun auf.

„Er wird euch erst in Ruhe lassen, wenn…“
 


 

„Wenn was?“, fragte Rick aufgebracht. Die ganze Zeit über hatte er Joe zugehört, seine Hand fest in seinen gehalten.
 

Seit der Blonde zurück war, hatte er darauf beharrt zu erfahren, was er herausgefunden hatte. Doch bevor er zu erzählen begonnen hatte, hatte er seine Mutter verabschiedet und Rick erst einmal innig geküsst. Insbesondere aber als er nicht damit aufgehört hatte, ihn niedergeschlagen zu betrachten, hatte der Dunkelhaarige die Spannung nicht mehr ertragen können.

Wie jetzt auch hatte er ihn ernst angesehen.
 

„Er hat nur eine vage Andeutung gemacht, doch selbst diese sollte unausgesprochen bleiben.“

Dass Joe damit nur die halbe Wahrheit von sich gab, wusste der andere nicht.
 

„Das kannst du nicht machen, Joe! Erst lässt du mich allein und nun möchtest du mir das verschweigen? Tu mir das nicht an… bitte…“
 

Langsam schlossen sich die Lider des Größeren und er seufzte auf. „Du würdest ihn abhalten.“
 

„Von was?“

Rick zerquetschte Joes Hand regelrecht.

„Sag mir bitte, von was!“
 

Alsbald gab Joe das dunkle Grün wieder preis. „Ich habe doch Recht, wenn ich behaupte, dass du ihn aufhalten würdest? Auch wenn du die ganze Zeit dachtest, du würdest ihn bis zum Ende deines Lebens hassen.“
 

„Joe?“, wisperte Rick.
 

„Du bist einfach zu gut für diese Welt“, lächelte Joe bedauernd.
 

„Warum sollte ich ihn von irgendetwas abhalten? Er hat sich doch auch nicht um mich gekümmert.“

Als Rick das sagte, konnte er den Blicken des anderen nicht standhalten. Er biss sich anschließend auf die Unterlippe, weil er dieses Gefühl in sich, das Joes Worte bejahte, nur allzu deutlich verspürte.
 

„Aber nun weißt du, dass Serrat von sich aus gehandelt hat.“

Zärtlich strich Joe ihm mit einer Hand durchs haselnussbraune Haar. Hauchte einen Kuss auf seine Stirn.

„Für ihn gibt es kein Zurück.“
 

„Er…“

Bebend löste sich Rick von seinem Freund.

„Was hat er vor?“, fragte er kurze Zeit später scharf.
 

Als Joe immer noch nicht mit der Antwort rausrücken wollte, entfernte er sich ein paar Schritte gen Tür.
 

„Dann finde ich es eben selbst heraus!“
 

„Rick, warte!“, rief der Blonde ihm hinterher und sprang vom Bett auf, auf dem sie beide gesessen hatten.

Im Flur bekam er ihn zu fassen.
 

„Lass mich los!“, schrie Rick und riss seinen Arm los.
 

„Jetzt sei doch vernünftig.“
 

Der Kleinere wandte sich ihm zu und funkelte seinen Freund an.

„Ach, weil du das immer bist, oder was!? Warum sollst immer nur du das Recht haben, einfach zu gehen, wenn es dir beliebt? Hast du dich einmal gefragt, wie es mir dabei geht? Gestern Nacht zum Beispiel wollte ich in deinen Armen einschlafen, aber der werte Herr hatte es nicht nötig, mich mitzunehmen! Allmählich habe ich keine Lust mehr, immer nur Verständnis zu haben. Es reicht für ein- und allemal. Entweder du sagst mir jetzt, was er macht oder ich verschwinde augenblicklich von hier!“
 

Derart aufgelöst hatte Joe den Dunkelhaarigen noch nie erlebt, aber seine Worte hatten gesessen. Er schluckte und streckte eine Hand nach ihm aus, die grob weggestoßen wurde. Anschließend machte Rick die Wohnungstür auf und ging. Erst als Joe die Halle der Schritte auf der Treppe vernahm, löste er sich endlich aus seiner Starre und rannte seinem Freund hinterher. Rick war bereits aus dem Haus gestürmt.
 

„Jetzt warte doch!“, rief der Blonde ihm hinterher, doch er reagierte nicht.
 

Er hatte Mühe, Rick einzuholen, schaffte es letztenendes nach ein paar hundert Metern aber doch. Zwanghaft brachte er ihn zum Stehen.

„Du darfst das nicht mit ansehen!“, meinte er keuchend.
 

„Entweder lässt dich mich auf der Stelle los oder ich werde zur Furie.“
 

„Okay, dann geh’.“

Er lockerte den Griff.
 

Rick war dermaßen irritiert, dass er gar nicht realisierte, dass er jederzeit weiterlaufen konnte.

„Gut…“

Mehr Worte drangen nicht über seine Lippen. Dann setzte er sich wie in Trance doch wieder in Bewegung.
 


 

„Er wird euch erst in Ruhe lassen, wenn…“ Damon schwieg einen Moment. „Wenn ich mich für seiner statt opfere.“
 

In Joe schnürte sich alles zusammen und konnte nichts weiter als den Worten des anderen zu lauschen.
 

„Früher war er einmal mein Freund gewesen, doch als seine Frau mit der gemeinsamen Tochter abgehauen ist, hat er sich verändert. Er hatte es selbst zu verschulden gehabt… Nur habe ich seine Veränderung auch noch gutgeheißen. Die gewaltige Härte und Skrupellosigkeit, die er plötzlich an den Tag legte, waren genau das, was ich alsbald an ihm schätzte. Wir wurden regelrecht zu Verbündeten, die ein Ziel hatten: Rache! Etwas gegen die unternehmen, die uns verpönt hatten.

Als wir an dem Abend in der Kneipe saßen und ich eindeutig zu viel Alkohol intus hatte, wollte er wissen, ob ich wirklich so weit gehen würde im Verrat meines Sohnes. Ich hatte mir vorgestellt, wie Rick eine Schwiegertochter nach Hause brächte, und erwiderte voller Inbrunst der Überzeugung, dass ich es würde. Es hatte sich in dem Rausch auch verdammt gut angehört gehabt.

Er wollte testen, ob ich nur ein verweichlichter Taugenichts war oder ein die Liebe verachtender Mensch wie er. Als ich mit dem Kopf nickte, zählte ich mich wahrlich zu den letzteren und es war toll. Ich spürte auf einmal die Macht, die mir zuteil werden konnte respektive die ich schon hatte…

Ich kann deinen entsetzten Blick auf mir spüren, Joe. Aber ich muss auch heute noch bestätigen, dass Macht mir etwas gibt, was selbst die größte Liebe zu meiner Frau nicht übertreffen kann.“
 

Langsam richtete sich Damon auf und nahm sich sein Glas vom Tisch. Als er seine Kehle mit Flüssigkeit benetzte, begann er zu lächeln.

„Ich bin abstinent“, meinte er, als er das Glas wieder abgestellt hatte.
 

Joe stand immer noch wie angewurzelt da und sagte nichts. Mitternacht rückte immer näher und er hörte in Gedanken bereits die Turmuhr zwölf Mal schlagen. Dumpfe Laute, die von weit her an seine Ohren drangen.
 

„Und jetzt?“, brachte er irgendwann mühsam hervor.
 

Was würde nun geschehen?

Was würde er tun, um Alexandros und Serrat ein- für allemal Rick vom Leib zu halten?
 

Bisweilen wollte Joes Verstand nicht recht verarbeiten, was er eben alles erfahren hatte. Wie ein Mensch derart von sich sprechen konnte, ohne sich dabei auch nur annähernd verteidigen zu wollen. Tatsachen darzulegen, die mit Vernunft nichts mehr zu tun hatten.

Unkontrolliert fuhr er sich mit einer Hand seinen einen Arm auf und ab. Er konnte es einfach nicht begreifen, wie sich Damon nun wie aus heiterem Himmel völlig gelassen sein Wasser oder was es auch immer einverleiben konnte. Es war schlichtweg skurril.
 

„Serrat hat ganz dicht hinter mir gestanden, als er die Bestätigung dafür hatte, dass ich bis zum Äußersten gehen würde“, fuhr der Ältere nun fort, während er das Glas wieder füllte. „Und in diesem Moment habe ich die Macht gespürt, die von ihm ausging. Ob sie mich in Schrecken versetzte oder mich nach selbiger streben ließ, kann ich dir heute nicht sagen, aber sie zog mich zweifelsohne in ihren Bann. Ob durch eine Starre der Angst veranlasst oder durch die Faszination des Erreichten…“

Damons Augen fingen seltsam zu glänzen an und er fuhr sich bedächtig übers Kinn.
 

Allein diese Geste war Joe vollkommen zuwider, doch er zwang sich zur Beherrschung. Gerade jetzt musste er sich zügeln.
 

„Seine Lippen kamen meinem Ohr stetig näher und ich fühlte seinen heißen Atem in meinem Nacken. Jede Silbe war wie ein Nadelstich in mein vom Alkohol betäubtes Fleisch.“

Nachdenklich sah er gen Fenster.

„’Sobald du zauderst, gehörst du mir.’… Nun, Joe. Jetzt weißt du, was ich zu tun habe.“
 


 

/Das kann ich Rick doch niemals ins Gesicht sagen!/
 

Joe focht einen inneren Kampf aus und Minuten später kam er noch immer zu keinem Entschluss. So gerne er Rick gegenüber offen sein wollte, das konnte er ihm gewiss nicht ohne weiteres auf die Nase binden. Zumindest nicht unverblümt und gerade heraus.
 

„Gefällt es dir, mir nachzuschleichen?“, murrte der Dunkelhaarige, der natürlich gemerkt hatte, dass ihm sein Freund folgte. Dafür brauchte er nicht einmal dessen Schritte auf dem Asphalt vernehmen, denn allein schon seine Präsenz genügte, die er auch ohne Hör- oder Sehsinn wahrnahm.
 

„Meinst du wirklich, ich lasse dich einfach so gehen!?“
 

Umsonst war er nicht wie in Trance weitergelaufen, aber das musste Rick ihm nicht hier und jetzt gestehen.
 

„Jetzt bleibe doch mal stehen!“, wurde er aufgefordert, doch er dachte nicht daran. Obgleich er nicht wusste, was sein Vater vorhatte, war er sich sicher, dass es nicht mit Belanglosigkeiten in Verbindung gebracht werden konnte.

Rick rechnete damit, dass Joe ihn am Arm packen würde, doch jedwede Berührung zwischen ihnen blieb aus. Der Blonde holte lediglich so weit zu ihm auf, dass sie nun nebeneinanderher liefen. Ja, er konnte Joes Augen auf sich spüren, wenngleich er nicht zu ihm blickte. Einen sorgenvollen Blick, den er schon so oft wegen ihm innegehabt hatte.
 

„Warum sollte ich hier und jetzt stehen bleiben? Um damit meinem Vater einen weiteren Vorsprung zu gewähren? Ihn ziehen lassen, damit er… ja was?“

Wütend funkelte Rick seinen Freund nun an.

„Was möchtest du mir denn nicht sagen? Denkst du, ich könne es nicht ertragen in meinem derzeitigen Zustand? Wie geht es mir denn überhaupt?“

Nachdem er tief Luft geholt hatte, fuhr er gereizt fort: „Nur weil ich ein paar Tage sozusagen nicht am Leben teilnehmen habe dürfen, bin ich noch lange kein sentimentales Wrack, das die Wahrheit nicht erträgt!“

Obgleich er seine Gefühle der vorigen Nacht damit auf den Punkt gebracht hatte, verstärkte er seine Worte, indem er Joe fest in die Augen blickte. Vielleicht mochte er ein niedergeschmettertes Stück Elend sein, aber das gab keinem das Recht, ihn derart zu behandeln. Schnaubend setzte er einen Fuß vor den anderen.
 

Rick bemerkte erst sehr spät, dass aus Joes Gesicht jedwede Farbe gewichen war.

„So denkst du also“, meinte der Blonde irgendwann leise und blieb anschließend stehen.
 

Für einen Moment war der Kleinere vollkommen über sich selbst entsetzt, weshalb er ebenfalls stehen blieb und eine Hand auf Joes Wange legte.

„Nein… nicht direkt“, hauchte er. Das Volumen seiner Stimme war plötzlich nicht mehr präsent.
 

„Wie dann?“, fragte Joe an, der unter der sachten Berührung die Augen schloss.
 

Viel war in den letzten Stunden geschehen, dass sogar die kleinste Nähe eine Wohltat war.
 

„Ich kann diese ständige Besorgnis nicht mehr ertragen“, erklärte Rick leise.
 

Joes Miene verfinsterte sich immer weiter, was dem anderen nicht entging. Deshalb fügte er an: „Auf mich muss nicht immerzu Rücksicht genommen werden. Manchmal ist eine Holzhammernarkose eben besser als der Samthandschuh.“
 

„Du brauchst dich nicht rechtfertigen“, meinte der Größere, hielt dabei die Augen immer noch geschlossen, nachdem Ricks Hand nicht gewichen war. Blind tastete er nach dem Kinn des Dunkelhaarigen und zog ihn in einen langen Kuss, umspielte in leidenschaftlicher und doch melancholischer Manier dessen Zunge.
 

/Auch du darfst mal aus deiner Haut fahren. Nur hatte ich angenommen, dass es nicht mich treffen würde, dem du an den Kopf wirfst, was in Wahrheit in deinem Inneren vor sich geht./
 

„Setzen wir uns in ein Café, dann erkläre ich dir, weshalb du ihn nicht aufhalten darfst“, meinte Joe ein wenig atemlos. Anschließend richtete er das satte Grün seiner Augen auf seinen Freund, der noch auf eine Reaktion warten ließ.
 

„Einverstanden“, erwiderte er aber dann und verschränkte eine seiner Hände mit Joes.
 

Als sie heißen Tee vor sich stehen hatten, wuschelte Joe dem Kleineren einmal kurz durchs Haar. Er konnte einfach nicht anders. Es war eine Geste, die ihm seit einer kleinen Ewigkeit zuteil war und wohl immer zu ihm gehören würde.
 

„Halte deine Abmachung ein!“, mahnte Rick gehetzt. In ihm schlugen die Emotionen Purzelbäume, insbesondere die Unruhe, die er wegen seinem Vater hegte. Eigentlich sollte er ihn abgrundtief hassen für das, was er in die Wege geleitet hatte, und doch tat er es nicht. Zumindest nicht in der Intensität, die ihm zustand. Was er gegenüber Damon empfand, konnte er bisher nicht einmal vage in Worte fassen; nur wusste er, dass er es ihm niemals verzeihen könnte, wenn ihm etwas wegen solch einer Freundschaft zu Serrat etwas zustieße.
 

„Ich habe sie nicht vergessen, keine Sorge. Nur fällt es mir nicht gerade leicht, das wiederzugeben, was er mir mitteilte.“

Entschuldigend hob Joe seine Schultern an und drückte eben diese reumütige Haltung auch durch seine Mimik aus.
 

Daraufhin sagte Rick nichts. Stattdessen saß er einfach nur da und blickte ihn unverwandt an; durchbohrte ihn regelrecht mit seinen meerblauen Augen. Nichts konnte ihn hier und jetzt noch daran hindern zu erfahren, was Sache war.

„Mach’ schon!“, forderte er ihn dann doch auf, als Joe nach drei Minuten immer noch nichts erzählte.
 

„Ja, ja“, seufzte er ergeben.

„…“
 

„Ja?“
 

„… Dein Vater meinte, dass er ihm gehöre, wenn er einen Rückzieher machen würde. Und anscheinend hat er eben diesen in Anspruch genommen. Er war im Urlaub, während du in Serrats Gewalt warst.“

Joe konnte beobachten, dass hinter Ricks verhärteter Miene vollkommene Unruhe herrschte, aber er stoppte nur kurz in seiner Berichterstattung, sofern man das so nennen konnte. Vielmehr war er der Überbringer der Hiobsbotschaft per excellence, was ihn sichtlich zermürbte, wenngleich er sich das im Gegenzug nicht anmerken lassen wollte.

„So angeheitert wie Damon war, kann er sich heute nicht mehr an jedes Detail erinnern, das Serrat ihm zuletzt zugeraunt hatte. Womöglich hat dieser schmierige Kerl diese Situation schamlos ausgenutzt!“

Wütend nahm Joe seine Tasse in die Hand und genehmigte sich einen Schluck. Er musste den Zorn in sich hinunterschlucken, bevor er Gefahr lief bald seine Zunge nicht mehr zügeln zu können und am Ende im Café haltlos herumzuschreien. Eigentlich war ihm danach, den einen oder anderen Stuhl zu Kleinholz zu verarbeiten; nicht nur, weil die Welt derart grausam sein konnte, sondern auch weil es schon wieder Rick traf. Die Person, die ihm wie kein anderer am Herzen lag und die wahrlich schon genug Leid im Leben erfahren hatte. So sehr er auch die Ungerechtigkeit auf Erden verfluchte, er musste sich unter Kontrolle halten, egal wie.

„Kurz gesagt, er geht nun zu ihm und gibt ihm das, was er verlangt.“
 

Der Blonde hatte nicht das Bedürfnis, das Kommende auszuschmücken und näher zu erläutern, doch egal, wie sehr er sich dagegen sträubte, es kam die wohl unabdingbare Frage:

„Und ausführlich gesagt?“
 

Ricks Augen drückten so vieles auf einmal aus, so dass Joe wahrlich Mühe hatte, ihn nicht in eine Umarmung zu ziehen und ihm tröstend über den Rücken zu streichen. Zu gut wusste er, dass das sein Freund nicht wollte. Zumal er es ihm vor ein paar Minuten erst deutlich gemacht hatte. Aber war das nicht früher das gewesen, was sie derart miteinander verbunden hatte? - Durchs Haar wuscheln, ein paar aufmunternde Worte sagen… Die Zeiten hatten sich geändert. Je mehr einem widerfuhr, desto schwieriger war es wohl, ihn wieder aufzubauen.

Allmählich zweifelte Joe seine Entscheidung noch mehr an, alleine nach Luminis gefahren zu sein. Das hatte in Rick vermutlich den Schalter zum Kippen gebracht.
 

/Ich hätte nicht ohne dein Wissen fahren dürfen. Nun weiß ich dafür nicht mehr, wie ich das Chaos in dir ein wenig ordnen kann. Meine Anwesenheit allein reicht wohl nicht mehr aus, um dich das Geschehene vergessen zu lassen. Diese Gabe – ja, ich denke, es war eine - hat sich mit meinem Entschluss im Wohlgefallen aufgelöst… Zumindest merke ich nicht mehr viel von ihrer Existenz./
 

„Ausführlich…“, wiederholte Joe gedehnt. In erster Linie, um Zeit zu schinden. Zeit, die Rick ins Hintertreffen brachte. Ihn vielleicht auf diese Weise schützten.

„Serrat möchte all das haben, was ihm Einfluss und Macht verleiht. Ihm das nehmen, was ihm etwas bedeutet. Wenn er dich schon nicht haben kann, provisorisch ausgedrückt, dann möchte er wenigstens das Leben von deinem Vater… zerstören. Er hatte es sich zum Ziel gemacht, Rache zu üben, da ihn seine Familie verlassen hatte. Und in Damon sah er darin den perfekten Protagonisten. Nur, dass er in seinen Augen verzagte, als er nach Monaten immer noch nichts für ’ihren Plan’ tat.“

Joe war der Meinung, dass er schon zu viel gesagt hatte, doch Ricks Gesichtsausdruck forderte ihn erhitzt auf, weiterzusprechen. Obwohl er nicht wollte, sah er sich gezwungen, nichts mehr zu verbergen.

„Auch wenn es mir schwer fällt…“, seufzte er. „Dein Vater wird wohl ohne einen Cent zurückkehren, dazu geschieden… ja, völlig verärmt. Serrat will alles. Und wenn ich sage alles, dann schließe ich nur sein Leben und das deiner Mutter aus. Er möchte jedwede Kontrolle über Damon erlangen, indem er ihm insbesondere Dea nimmt. Wie weit er geht, konnte nicht einmal dein Vater sagen.“

Nun verstummte Joe, nachdem seine Stimme ohnehin immer leiser und gebrechlicher geworden war.
 

„Und was sitzen wir noch hier?“, brachte Rick ihm nach einer kleinen Weile aufgebracht entgegen.
 

„Wir müssen ihm vertrauen“, meinte Joe sofort und legte eine Hand auf die von Rick, die dieser auf dem Tisch liegen hatte.
 

„So wie ich es einmal getan hatte?“, spottete der Dunkelhaarige.
 

„Soll ich dich etwa direkt in die offenen Arme Serrats laufen lassen?“

Joe war außer sich. Genau das war es doch, was dieser Mistkerl wollte. Am liebsten alles in Stücke zerreißen, was sich ihm darbot. Ihm freiwillig darbot!

„Darauf wartet dieser Mistkerl doch!“, presste er zwischen seinen Lippen hervor.

Ihm war gerade mehr nach Schreien als er vermutlich unterdrücken konnte. Lange würde er unter Garantie nun nicht mehr an sich halten können.
 

„Sollen wir alles meinem Vater überlassen?“
 

Das war eine gute Frage. Eine wirklich gute. Joe sah Rick an und er fühlte sich vollkommen unbeholfen.

„Das müssen wir wohl“, entgegnete er ohnmächtig einer besseren Antwort.
 

„Und am Ende verrät er mich erneut!“ Es war an Rick, der als erster schrie. Auch er konnte die Gefühle nicht mehr im Zaum halten, die ihn übermannten.
 

Viele der Gäste drehten sich nun nach ihnen um, aber das war sowohl dem Dunkelhaarigen egal als auch Joe. Ohnehin waren sie es gewohnt, im Mittelpunkt der Schaulustigen zu stehen. Dazu brauchten sie sich nur in aller Öffentlichkeit zu küssen. Die Menschen fanden doch immer einen Grund, dümmlich zu starren und sich den Mund zu zerreißen.
 

„Möchtest du dich ernsthaft persönlich davon überzeugen, indem du ihm auf der Stelle folgst? Glaube mir, Serrat spechtet nur darauf. Solch eine Person bekommt doch nie genug! Und wenn er dich gleich mit haben kann, dann leckt er sich doch vor lauter Wonne die Finger!“
 

Selbst die Augenpaare der Angestellten ruhten unablässig auf ihnen. Sie waren mittlerweile so laut, dass man sie vermutlich sogar auf der Straße hören konnte. Und doch funkelten sie sich verzweifelt an und Joe hielt verzagt Ricks Hand. Die Luft zwischen ihnen brodelte nahezu.
 

„Und wenn er zu feige ist, sich alles nehmen zu lassen? Grrr, das will ich doch gar nicht!“

Wild schüttelte der Kleinere den Kopf.

„Wir müssen ihn abhalten, überhaupt dorthin zu gehen“, fügte er hilflos an.
 

„Zu spät“, meinte Joe nun leise.
 

Schließlich war er es gewesen, der Damon hatte wegfahren sehen.
 

Ricks Augen leuchteten qualvoll. „Nein…!“
 

„Doch, Rick, leider. Und wir müssen darauf hoffen, dass er nicht zögert.“
 

Vollkommene Entrüstung zierte nun die Gesichtszüge des Dunkelhaarigen. „Du willst ernsthaft, dass mein Vater seine Existenz aufgibt?“

Das wollte selbst er nicht verantworten müssen!
 

„Ich wüsste gerne einen anderen Weg.“

Erneut fühlte Joe die Unbeholfenheit. Jedes Wort erschien ihm falsch und doch erwiderte er immer wieder von neuem etwas. Warum, wieso, weshalb…vielleicht weil er nicht aufgeben wollte, Rick eine Stütze zu sein. Zumindest irgendwie. Wenngleich er geradezu überzeugt war, alles nur noch schlimmer zu machen. Den Hass, die Aggression auf seine Person zu projizieren. Aber was sollte er denn tun?
 

„Wir können doch nicht einfach tatenlos herumsitzen und abwarten, was passiert?“, warf Rick halb hysterisch ein.
 

Das oblag auch Joe, aber er hatte sich vier Stunden lang am Stück den Kopf darüber zerbrochen, was sie tun könnten. Und? Nur um zu der tollen Weisheit zu kommen, dass ihm nichts einfiel. Dass ihnen nichts blieb, wie törichte Menschen herumzusitzen und Tee zu trinken. Genau das, was sie gerade taten.

„Dann sage du mir, was sinnvoll wäre?“
 

„Wie kannst du hier noch Sinn und Unsinn unterscheiden, Joe?“

Mit schierer Verzweiflung fuhr er sich selbst mit einer Hand durchs Haar.
 

„Dürfte ich Sie bitten, ihren Disput draußen fortzusetzen?“

Wie an seidenen Fäden gezogen warfen beide ihren Kopf in die Richtung, aus der die bemüht ruhige Stimme gekommen war.
 

„Ist es Ihnen derart unangenehm, dass wir hier lediglich unseren Tee trinken?“, erwiderte Joe ebenso laut wie das vorher Gesprochene.
 

„Sie können froh sein, dass ich Sie bisher gewaltfrei darum bitte“, entgegnete der Mann in seiner schwarzen Robe scharf.

Der dunkelblonde Kellner und wohl gleichzeitig Besitzer des Cafés wandte sich nun Rick zu.

„Würden Sie nun die Güte haben und Ihren Streit draußen fortsetzen?“
 

„Wir streiten nicht“, erwiderte der Dunkelhaarige ernst, was ein Schnauben des anderen als Folge hatte.
 

„Dennoch bitte ich Sie ein letztes Mal in aller Höflichkeit zu gehen.“
 

„Ich wusste ja, dass die Gesellschaft immer noch nicht gelernt hat, über ihren Schatten zu springen. Aber dass sie nicht einmal akzeptieren kann, dass ihre Idylle ohne viel Zutun einfach zerplatzen kann, da sie ohnehin nicht mehr als eingebildeter Schein ist, um sich gegen die Realität abzuschirmen, ist einfach nur bizarr. Denn sie weiß doch, dass das, was sie erschaffen hat, nur durch ihre Hand wieder zerstört werden kann. Komm’ Joe, wir gehen!“

Rick schoss von seinem Platz hoch und zerrte den Blonden, der ihn ja noch an der Hand festhielt, mit sich aus dem Café.
 

„Reife Leistung“, meinte Joe, wurde aber jäh von dem anderen zum Schweigen gebracht. Dazu brauchte Rick ihn nur anzuschauen. So viel Wildheit hatte er vorher noch nie in den meerblauen Iriden gesehen.
 

„Wir werden nun zu Serrat gehen und wenn ich sage wir, dann meine ich wir!“
 

„Dieses Temperament möchte ich das nächste Mal im Bett erleben“, raunte Joe dem anderen ins Ohr.

Obgleich er selbst vollkommen aufgebracht war, konnte er sich diesen kleinen Satz nicht verkneifen. Außerdem hatte er den positiven Effekt, dass Rick für einen Moment all die Wut vergaß, die in ihm hauste und dafür sogar rot wurde.
 

„Joe!“, entfuhr es ihm vom Donner gerührt.
 

Bevor er ihn allerdings erneut hinter sich herzog, berührte er kurz seine Lippen mit den Seinigen. Nur flüchtig, aber dennoch völlig begehrend.
 

„Und nun komm’!“, meinte er, als er ihn schon ein paar Meter weitergeschleift hatte.
 

Der Weg zu Serrats Anwesen kam dem Gang zum Schafott gleich, doch Rick biss die Zähne fest zusammen und versuchte, jedweden Gedanken an Alexandros zu verdrängen. Dieses Mal würde er nicht von diesem Mistkerl betatscht werden!

Er warf immer wieder einen heimlichen Blick auf Joe, der bisweilen freiwillig neben ihm herlief. Jener war ebenso in Gedanken versunken wie er selbst und der Dunkelhaarige konnte die Anspannung spüren, die auch in dem anderen stetig anwuchs.

Es schien ihm, als ob es von Minute zu Minute kälter werden würde. Vielleicht lag es nur an dem Wind, der sie eisig umhüllte… Doch immerhin regnete es nicht. Große Tropfen, die vom Himmel stoben, hätten ihnen gerade noch gefehlt.
 

/Je näher ich dir komme, desto mehr möchte ich dich heil wiedersehen. Es ist schon lange her, dass wir uns einander in die Augen sahen und dabei keine wutentbrannten Worte an den Kopf warfen. Eigentlich hattest du diese auch nur für mich parat. Ich war viel zu gelähmt gewesen, um deinen Worten mit gleichem Zorn zu begegnen. Diesen spürte ich erst im Nachhinein, als… als mir bewusst wurde, welche Konsequenzen der Rausschmiss haben würde. Doch da war ich bereits mit Joe unterwegs hierher nach Veneawer gewesen.

Allein schon der Reichtum, der mich an diesem Ort willkommen heißt, ist mir zuwider. Nichts als Villen und halbe Pärke anstatt Gärten. Überall protzen der Prunk und der Luxus. Ist das das Leben, das du führen wolltest, nachdem du in mir die reinste Enttäuschung sahst?/
 

„Warte mal kurz, Rick“, riss Joe ihn aus seinen Gedanken.
 

Wie gefordert blieb er stehen und sah den Blonden fragend an. Sein Herz fühlte sich noch schwerer an als gerade eben. Und es lag insbesondere an dem Ausdruck in den grünen Tiefen, die starr auf ihn gerichtet waren.

Vollkommen unerwartet fiel Joe vor ihm auf die Knie und schaute ihn nun von unten herauf an.

’Steh wieder auf’, wollte Rick sagen, doch er brachte keine einzige Silbe über seine Lippen.
 

„Bevor wir uns dort hinein begeben, möchte ich, dass du Folgendes weißt:…“
 

Während er in dem satten Grün versank, begann das Blut in ihm mächtig zu wallen. All seine Sinne waren auf Joe gerichtet. Auf seinen Freund, der tatsächlich vor ihm kniete. Die Situation war für ihn so seltsam, dass er nicht anders konnte als stumm auf ihn herab zu sehen.
 

„Seit ich begriffen habe, dass ich dich liebe, wuchs das Gefühl in mir unentwegt an, dich beschützen zu wollen. Rick, ich möchte dich nicht noch einmal verlieren… Und ich möchte dich auf immer bei mir haben… mit dir den Rest meines Lebens verbringen.“

Langsam erhob sich Joe und brachte sein Gesicht ganz nahe dem seines Gegenübers.
 

Rick schluckte.
 

„Möchtest du auch mich bis zu deinem Tode und darüber hinaus bei dir haben?“, hauchte der Blonde.
 

Ihre Lippenpaare waren nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt. Ricks Herz überschlug sich bereits und sein gesamter Körper war von einem Kribbeln befallen, das dermaßen intensiv war, dass er glaubte, nur noch aus Gänsehaut zu bestehen.
 

„Ja, das möchte ich“, drang nach einer gefühlten Ewigkeit aus seinem Mund. Bis dahin hatte er sich bestimmt schon hundert Mal gedacht gehabt.
 

Joe begann zu grinsen und überbrückte die letzte Distanz, bis er Ricks Lippen unter seinen spüren konnte. Ihre Zungen fanden sich alsbald und spielten das Spiel der Leidenschaft, das, das im krassen Gegensatz zu dem Spiel stand, das Serrat für sie angedacht hatte.

Kapitel 64

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Von:  Zeckchen
2007-06-09T19:00:31+00:00 09.06.2007 21:00
boo, bis hier hin bin ich bis jetzt gekommen. und ich muss sagen auch wenn es zur zeit etwas zeh wird, was aber wohl daran ligt das ich schon den ganzen tag lese, ist es echt ne richtig gute geschichte. taucht eigentlich einsame seele noch mal auf oder hast du sie in der wieteren geschichte vergessen?
selbst wenn, mir gefellts^^
morgen les ich weiter
Von:  Zeckchen
2007-06-09T09:19:40+00:00 09.06.2007 11:19
so, bis hierhin habe ich es bereits geschaft und ich muss echt ´sagen das mir deine geschichte unheimlich gut gefelt ricvk ist so süss und joe zimmlich dumm das er nicht mehrkt oder beziungsweise nicht wirklich merkt wie viel ihm der kleine bedeutet.
ich find es echt toll das du da diesen bullen typ eingebaut hast der rick so durcheinander bringt und auf dem kionoklo geküsst hat,ich bin ja maöl gesüannt ob der noch mal auftaucht

ich muss jetzt erstmal mein zimmer aufraumen und dann lese ich gleich weiter. ich wollt nur eben schnell bescheit sagen das mir deine gescchichte echt gefelt und ich mich schon auf den rest freue und auf andere von deinen geschichten^^
Von:  inulin
2007-06-06T15:33:08+00:00 06.06.2007 17:33
*heul*
*flenn*
Es is zu Ende. *schnief*
Aber... mein Gott... Rick... was tut er da? Er tut nichts... Und ich hab mich schon darauf gefreut, dass sich Vater und Sohn irgendwie... nicht unbedingt in die Haare kriegen, aber das Rick kein einziges böses Wort fallen lässt. Eine Umarmung hätte mich auch nicht überrascht. Und dann kommt da so nen unpersönlichen Handschlag. Tse... Wobei ich den ja schon fast wieder lustig fand. ^^
Du hast mich mit diesem Kapitel völlig aus den Socken gehaun. Zum ersten Mal ist es viel Dialoglastiger als alle anderen bisher. Was aber nicht schlecht ist. Nur ist man es von dir nicht gewöhnt. Die Gefühle kamen aber auch nicht zu kurz.
Also wie du Joe beschrieben hast, wie er da so stand und Rick alles mit ihm hätte machen können... das hat mich fast wahnsinnig gemacht. Manchaml verfluche ich meine Fantasie... @_@ Das 'sah' unglaublich erotisch aus. Da hast du mein Blut Richtung in Wallung gebracht. ^^
Die Mail von Amelia wiederrum hat mich wieder runtergeholt. Die war traurig. Auch wenn ich es schön fand, dass sie Rick geantwortet hat... Und dann unterschreibt sie auch noch mit 'einsame Seele'. T_T
Alles in allem ein gelungener Schluss. Wobei die Stelle ja nicht entgültig sein müsste... *gg*
Aber ich fands wirklich toll. Es hat Spaß gemacht 'Heilloser Romantiker' zu lesen.
Ich bin ein Fan deines Stils geworden. Deine Art so viele Gefühle wie irgend möglich reinzupacken ohne dass es schwülstig klingt.
Ich freue mich auf weitere Projekte von dir. Die werd ich mir mit Sicherheit nicht da durchgehen lassen. ;-)
LG
Von:  Zeckchen
2007-06-05T16:18:15+00:00 05.06.2007 18:18
geil, schreib bitte bitte schnell weiter^^
Von:  inulin
2007-05-31T11:41:56+00:00 31.05.2007 13:41
Ich hab tatsächlich ein Tränchen im Auge. ^^
Also mit nem Antrag hätt ich ja jez weiß Gott nich gerechnet. Und was für ein unpassender Moment, in meinen Augen... XD
Aber wirklich schön. Das spiegelt Joes Angst wider Rick nochmals zu verlieren.
Ich bin so froh darüber, dass Joe auf dem Heimweg nichts passiert ist. *heul*
Dafür muss ich dich einfach mal knuddeln. *flausch*
Ich fand Ricks Gefühlsausbruch wirklich gelungen. Der war eh hinfällig. Die ganze Zeit wurde er umsorgt und betüttelt und er hatte gar keine wirkliche Chance sich mal richtig Luft zu machen.
Wirklich wieder ein sehr schönes Kapitel.
Auch wenn ich traurig bin dass jez nur noch eins kommt. T~T
Wobei ich mich trotzdem auf das große Finale freue. ^^
Von:  inulin
2007-05-26T08:13:04+00:00 26.05.2007 10:13
*heul*
Ich hab dir gestern so nen schönen langen Komi geschrieben und dann verreckt mir das Internet.
Mal schauen ob ichihn noch so weit zusammenbekomme... *denk*

Erstmal möcht ich m ich beschweren. Du machst das mit Absicht, oder? Ich hatte mich schon so darauf gefreut, dass es Rick langsam wieder besser geth und dann haust da so nen Dingen bei raus.
Warum meldet sich Alexandros denn jez schon wieder? Was bezweckt er damit?
Lass Joe bitte heile nachhause kommen.

Also das Verhalten Ricks Vater verwirrt mich zunehmend. Erst scheint er wirklich überrascht über Joes Besuch, aber auf der anderen Seite weiß er ganz genau was er angerichtet hat, als Joe ihn darauf anspricht.
Der Mann is wirklich seltsam.

Und wenn Joe widererwarten doch was passiert... les ich nicht mehr weiter. *trotz*
Haste davon. XD

Hmm... *nach oben schiel*
Es kommt dem gestrigen Kommi recht nah...
Bis denn *winke*
Von:  inulin
2007-05-21T19:19:25+00:00 21.05.2007 21:19
Du bist echt ne Dramaqueen.
Geschaffen für Geschichten mit tiefgehenden Gefühlen.
Unglaublich was du da wieder fabriziert hast.
Schön zu lesen, dass Rick es versucht sich der Außenwelt zu stellen. Nur schade, dass ihn das Ganze wieder einholt, nur weil ihn jemand nach dem Weg gefragt hatte. *seufz*
Aber überraschen tut es mich nicht, dass sich Joe nach Luminis aufgemacht hat. Er saß ja eh schon die ganze Zeit wie auf heißen Kohlen.
Ich will nur hoffen, dass er nicht in die nächste Misere rutscht und mit Antworten und vorallem heil wieder bei Rick daheim ankommt.
Ich bin gespannt, was du dir für den nächsten Teil einfallen lässt. ^^
Von:  inulin
2007-05-14T14:36:46+00:00 14.05.2007 16:36
Wie geil. XD
Joe küsst Rick inbrünstig und Rick gähnt. *lach*
Ich hab mich fast weggeschmissen. Wetten ich muss da jedes Mal dran denken, wenn ich gähne? X3

Also, du hast in diesem Kapitel wieder mit Worten gespielt, find ich... Unglaublich. Vor allem dann auch noch der Spruch dazwischen. Total schön.
Sicher dass du Mathe studierst und nicht irgendwas mit Lyrik, oder so? ^^
Ich freu mich auf den nächsten Teil. ^^
Von:  inulin
2007-05-09T14:46:01+00:00 09.05.2007 16:46
Wow. Das ist... rrr *schnurr*
Also, das nenn ich doch mal ne elektrisierte Atmosphäre.
Ich liebe dein Talent, dich mit Worten auszudrücken. Du hast so richtig mit ihnen gespielt und jongliert. Wahnsinn.
Ich bin von diesem Kapitel total begeistert.
Vor allem dann noch der letzte Satz. XD
Das is nen herrlichen Abschluss. *gg*
Von:  inulin
2007-05-07T09:54:27+00:00 07.05.2007 11:54
Kennst du die Obstgartenwerbung, wo die einen Brötchen essen und denen das schwer im Magen liegt...?
So geht es mir grad mit dem Kapitel. Versteh das nicht falsch, das Kapitel war total klasse. Du hast Ricks Gefühlswelt wieder super rübergebracht. Wie er anfängt an der Idylle zu zweifeln, nachdem er so ein Leid erfahren musste. Aber ich sollte mir abgewöhnen so was Gefühlslastiges nicht nach dem Aufstehen zu lesen. Q_Q Da bin ich noch 'unverbraucht' und zugänglicher für sowas. *heul*
Ich hoffe das Rick und Joe diese Zeit bald überstanden haben. Ich finde gelitten haben se beide allmählich genug.
Ich bin gespannt auf den nächsten Teil. ^^


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