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Sam Parker

von

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Bloßgestellt

Am nächsten Tag begann nun auch für mich die Schule. Als ich morgens vor dem Spiegel stand und meine Schuluniform anlegte, fühlte ich mich seltsam, aber erstaunlich wohl.

Es war lange her, dass ich das letzte Mal wirklich in der Schule gewesen war, anstatt nur einige Stunden da zu sein oder ganz zu schwänzen. Sicherlich würde es mir schwer fallen, mich zu konzentrieren, dachte ich. Doch eigentlich freute ich mich darauf. Entgegen der meisten Jugendlichen in meinem Alter hatte ich nie ein großes Problem mit der Schule gehabt. Ich war meistens relativ gerne hingegangen, hatte auch nie Schwierigkeiten mit dem Stoff oder dem Lernen gehabt. Ich war zwar keine herausragende Schülerin, aber in der oberen Hälfte der Klasse war ich immer gewesen.

Ich packte meine Schultasche sorgfältig ein und kontrollierte mehrfach, dass ich nichts vergessen hatte. Gestern hatte ich noch den Stundenplan von Natasha bekommen, heute in der ersten Pause wollte sie mich in die Bibliothek begleiten, damit ich auch meine Schulbücher bekam.

Meine Mitbewohnerin war noch damit beschäftigte, ihrem Make Up den letzten Schliff zu verpassen, als der Gong verkündete, dass der Unterricht in zehn Minuten beginnen würde. Natasha zeigte keine Eile, aber ich saß auf glühenden Kohlen. Dennoch sagte ich nichts. Schließlich brachen wir zwei Minuten vor Schulbeginn auf und kamen gerade noch rechtzeitig im Klassenzimmer an. Zu meiner Überraschung befanden sich dort nur Einzeltische. So etwas war ich nicht gewohnt, aber es störte mich nicht wirklich. Ich fand einen Platz relativ weit hinten in der Klasse. Darüber war ich erleichtert, so konnte ich immerhin meine Mitschülerinnen unbemerkt mustern und mir ein Bild über die Klasse und auch die Lehrer machen. Der Unterricht, das bemerkte ich schon am ersten Tag, war streng und wurde strikt durchgezogen. Störungen wurden nicht geduldet und schon heute wurde ich Zeuge davon, wie eine Strafe hier verhängt wurde. Für eine Mitschülerin, die etwas zu laut geschwätzt hatte und dies wohl auch öfter tat, wurde eine Ausgangssprerre für das kommende Wochenende verhängt. Sie schien einen Moment lang empört aufmucken zu wollen, hielt sich dann allerdings zurück.

In der vierten Unterrichtsstunde lernte ich meine Klassenlehrerin kennen. Sie war eine kleine Frau mittleren Alters mit sehr strengem Gesicht, die sich mir als Mrs. Coleman vorstellte und mich nach der Stunde zu sich bat.

Das Gespräch, das ich mit ihr hatte, war kurz, aber informativ. In recht kühlen Worten, die ihr zueigen schienen, aber einem relativ freundlichen Tonfall hieß sie mich an der Schule willkommen und fragte mich, ob ich mich gut eingefunden hätte. Auch bat sie mich, zu ihr zu kommen, falls es Probleme gäbe. Auch klärte sie mich noch einmal über einige wichtige Regeln auf, die hier herrschten, vor allem bezüglich Ausgang und Kontakt mit Personen außerhalb der Schule, der, offen gesagt, sehr streng gehandhabt wurde. Fremde hatten selbst an Wochenenden keinen Zugang zur Schule, es sei denn, er wurde eine Woche vorher bereits angemeldet und gestattet. Der Besuch musste die Schule bis spätestens 20 Uhr verlassen haben. Und Männerbesuche auf den Zimmern waren selbstverständlich bei Höchststrafe untersagt. Als mir das verkündet wurde, konnte ich mir ein leises, ironisches Lachen nicht verkneifen. Der Blick von Mrs. Coleman sagte mir, dass sie das Lachen eindeutig falsch verstanden hatte und ich hörte schnell wieder damit auf.

Nach dem Gespräch gabelte mich Natasha auf, um mich mit zum Mittagessen zu nehmen. „Die Coleman ist ziemlich streng, ansonsten aber in Ordnung. Sie ist nicht ungerecht und benotet fair. Aber weißt du. Obwohl sie angeblich verheiratet ist, hat diesen Kerl noch niemand zu Gesicht gekriegt. Es geht das Gerücht um, dass sie ihn nur erfunden hat.“

Natasha kicherte bei dem Gedanken und schnappte sich eine große Schale mit Salat zum Mittagessen.

Wieder stand ich vor dem umfangreichen Essensangebot und wusste nicht, was von all dem ich wohl hinunterbringen würde.
 

Langsam aber sicher gewöhnte ich mich daran, in meiner Schule zu leben. Auch wenn mir der Gedanke anfangs seltsam erschien, so begann es bereits am zweiten Tag Gewohnheit zu werden. Es hatte durchaus seine praktischen Seiten. Man konnte ein wenig länger schlafen, hatte einen kurzen Schulweg und konnte zwischen den Stunden kurz aufs Zimmer gehen, wenn man etwas vergessen hatte. Außerdem hatte man immer jemanden in der Nähe, den man wegen der Hausaufgaben fragen konnte. Und gerade hier hatte ich ein Problem. Ich hing, was den Stoff anging, hoffnungslos hinterher, auch mein halbwegs kluges Köpfchen genügte nicht, um das vergessen zu machen.

Natasha war zwar selbst nicht auf den Kopf gefallen, doch zeigte sie wenig Interesse am Lernen. Wie nun sollte ich jemanden finden, der mir half? Für mich stellte es eine schier unüberwindbare Herausforderung dar, einfach zur Nebentür zu gehen, zu klopfen und um Hilfe zu bitten. Auch die Lehrer wollte ich deswegen nicht fragen, zu große Angst hatte ich davor, als dumm abgestempelt zu werden.

Also biss ich mich durch, lieh mir Bücher aus der Bibliothek aus und versuchte, nach und nach, den Stoff nachzulernen.

Die Worte meiner Mutter, die sie mir mit auf dem Weg gegeben hatte, hallten in meinem Kopf wider und wider, während ich meinen Kopf in einem Mathebuch vergrub.

„Weißt du, wie du enden wirst, wenn du dich nicht änderst? Du wirst auf der Straße landen, ohne Job, ohne Bildung, ohne jemanden, der dich wieder vom Boden abkratzt. Raff dich auf, Sam. Ich habe lange genug zugesehen, wie du dein Leben vergeudest. Ich habe dir immer alle Möglichkeiten gegeben, etwas aus dir zu machen. Aber du scheinst das partout nicht zu wollen. Also geh auf diese Schule und sieh selbst, was du daraus machst. Lerne oder lass es sein. Ich habe lang genug geredet.“

Ein schmerzhaftes Ziehen machte sich in meiner Brust bemerkbar, als mir die Tränen in die Augen stiegen. Doch ich ließ nicht zu, dass sie über meine Wangen liefen, verkniff sie mir und paukte weiter die Formeln, die vor meinen Augen verschwammen.
 

„So viel, wie du paukst, musst du ja ein echter Überflieger sein“, war die Aussage, die ich mir am Samstag nach meiner Ankunft von Cat anhören musste, als ich eine Einladung, mit ihnen ins Schwimmbad in der Stadt zu gehen, mit der Ausrede, ich müsse lernen, ausschlug.

Ich hätte, um ehrlich zu sein, gerne etwas mit den anderen unternommen. Ich wollte keine Außenseiterin sein, da war ich lieber ein Mitläuferin. Lieber das als ganz allein. Aber... schwimmen gehen? Das wollte ich nicht.

„Vergiss das Lernen doch mal für nen Nachmittag! Du lernst schon die ganze Woche, da schadet es doch nicht, mal ein paar Stunden Pause zu machen“, fügte Natasha hinzu, die sich wirklich viel Mühe gab, mich zu integrieren. Inzwischen vermutete ich, dass sie sich schlicht und ergreifen gut mit mir stellen wollte, da wir ja gezwungenermaßen noch ein dreiviertel Jahr ein Zimmer teilen würden. Wenn wir uns da nur streiten würden, wäre das für uns beide nur hinderlich.

„Ich... hab nicht mal einen Badeanzug dabei“, versuchte ich, mit einer letzten Ausrede die Verabredung zu umgehen.

„Meine Güte, dann kaufen wir dir halt einen. Wozu gibt’s denn Läden in der Stadt?!“, seufzte Cat und fügte hinzu: „Keine Widerrede. Wir treffen uns um halb drei am Tor.“

Es wurde ja immer schlimmer. Jetzt würde ich auch noch mit ihnen einkaufen gehen und musste zulassen, dass sie mich in Badesachen steckten und mich ins Wasser warfen. In diesem Moment stritten sich zwei Seiten in mir darüber, was ich tun sollte. Einerseits wollte ich mich wirklich gerne integrieren und so übel waren Natasha und ihre Freundinnen wirklich nicht, andererseits war es das letzte, was ich wollte, mich halbnackt im Schwimmbad zeigen zu müssen.

Schließlich sagte ich zu mir selbst, dass ich ja sowieso irgendwann über meinen Schatten würde springen müssen, schnappte mir Geldbeutel, Handtücher und Duschsachen und packte meine Tasche.

Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend stand ich schließlich am vereinbarten Treffpunkt und wartete, dass nach und nach die anderen eintrafen. Als wir schließlich vollzählig waren, nur Sandra fehlte, da sie sich an irgendetwas den Magen verdorben hatte, gingen wir die wenigen Schritte bis zur Bushaltestelle. Das Internat war wirklich wundervoll gelegen. Oben auf einem Hügel etwas außerhalb der Stadt, weit und breit nur Waldgebiet. Die Luft war frisch und kühl, man konnte gar nicht glauben, dass es nur fünfzehn Minuten dauerte, um mit dem Bus in die Innenstadt zu gelangen. Und genau diese war unser Ziel. Sofort wurde ich in einen der offensichtlich angesagteren Läden geschleppt und in eine Umkleide gezerrt. Nach und nach reichten die Mädchen mir, ohne dass ich wirklich Mitspracherecht besaß, einige Bikinis herein, die ich jedoch von vorne herein ablehnte.

„Komm schon, du hast doch ne gute Figur. Du kannst sowas tragen“, versuchte Natasha, mich dazu zu überreden, einen schwarzen, sportlichen Bikini anzuziehen.

„Darin fühle ich mich nicht so wohl“, antwortete ich kleinlaut und nahm stattdessen einen Badeanzug aus Cats Hand. „Das ist besser“, stellte ich fest, als ich ihn angezogen hatte. Die anderen wollten ihn unbedingt sehen. Obwohl ich mich äußerst schlecht dabei fühlte, mich nur so bekleidet zu präsentieren, tat ich es trotzdem und erntete erstauntes und teilweise neidvolles Lob für meine Figur.

Als ich wieder in der Umkleide stand, besah ich mich im Spiegel. War ich denn wirklich so hübsch? Meine Blicke wanderten über meinen Oberkörper. Meine Brüste waren nicht so sonderlich groß. Außerdem war ich zu dünn, viel zu dünn. Ich hatte mich lange nicht mehr so angesehen und musste nun feststellen, dass meine Mutter recht gehabt hatte.. Man könnte glauben, ich wäre magersüchtig. Dabei hatte ich einfach nur keinen Hunger. Meine Beine waren lang und spargeldünn. Ich wirkte alles in allem zerbrechlich wie sprödes Glas. Das konnte man doch nicht als hübsch bezeichnen!

Ohne weiter herumzusuchen, kaufte ich den Badeanzug, den Cat herausgesucht hatte und wir verließen kurze Zeit später den Laden wieder und begaben uns in Richtung des großen Erlebnisbades, das sich hier in der Innenstadt befand. Die anderen zeigten ihre Vorfreude durch reges Plappern und Lachen. Und auch ich begann langsam, mich zu entspannen. Vielleicht würde es ja doch ganz schön werden?

Doch als ich eine halbe Stunde später in meiner Umkleide stand, nur mit meinem Badeanzug bekleidet, änderte sich diese Hoffnung. Nein, es würde nicht schön werden! Es würde grauenvoll werden! Ich löste meine Zöpfe und versuchte, mit meinen langen Haaren und meinem großen Handtuch meine Blöße zu bedecken, bevor ich die Umkleide schließlich mit zittrigen Beinen verließ. Die anderen hatten schon auf mich gewartet und Mia witzelte: „So schüchtern, dass du dich im Handtuch verkriechen musst? Komm schon, dir guckt doch keiner was weg!“ Mit diesen Worten griff sie nach meinem Handtuch und wollte es mir wegziehen, doch ich hielt dagegen. „Bitte... lass doch“, versuchte ich, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, doch vergebens.

„Hab dich doch nicht so“, stimmte auch Sophia ein und schnappte sich meine Handgelenke, sodass Mia mir das Tuch leichter wegziehen konnte. Natasha und Cat lachten, doch mir war ganz und gar nicht danach zu Mute. Mir stiegen die Tränen in die Augen und ein Gefühl der Verzweiflung überkam mich, als mich das Handtuch schließlich nicht mehr bedeckte. Ich fühlte mich in diesem Moment, als würde das ganze Schwimmbad mich anstarren und mir mit den Augen den Badeanzug, meinen letzten mageren Schutz, vom Leib reißen. Meine Stimme zitterte unter den aufkommenden Tränen, als ich mit einem versuchte, meine imaginäre Blöße zu bedecken und die andere nach dem Handtuch ausstreckte: „Bitte...“ Mehr brachte ich nicht mehr heraus.

Die Mädchen sahen mich mit Gesichtern, die eine Mischung aus Spott und Mitleid zeigten, an. Cat ergriff für sie alle das Wort: „Meine Güte, reiß dich doch mal zusammen! Ist doch nicht so, als würde dir hier jemand an die Wäsche wollen.“ Einen Augenblick lang blickte ich ihr ins Gesicht. Ihre eine Augenbraue war hochgezogen, drückte eine gewisse Ungläubigkeit darüber aus, dass sich jemand so sehr zieren konnte, wie ich es gerade tat.

Doch in meinem Herzen keimte die gleiche Angst, das gleiche Panikgefühl auf, das gleiche Gefühl wie damals. Das Gefühl, das mir signalisierte, dass ich so schnell wie möglich weglaufen musste, weg von hier, weg von diesen Mädchen, weg von allem. Im Bett verkriechen, die Musik ganz laut drehen und ein Buch lesen, ein gutes Buch, das mich von all dem ablenken konnte.

Natasha griff nach meinem Handgelenk, wohl um mich mit ihr zu ziehen, ins Wasser vielleicht. Sie wollte sie Situation lockern, sich vielleicht einen Spaß daraus machen, mich ins Wasser zu werfen. Doch in diesem Moment machte sie mir Angst. Mit einer Kraft, die man meinem schmächtigen Körper wohl sonst nicht zutrauen würde, riss ich mich los und rannte davon.

Die Tränen strömten mir übers Gesicht, ich konnte den rutschigen Weg vor mir kaum noch erkennen. Dennoch rannte ich weiter, stieß gegen eine gekachelte Säule, spürte den Schmerz, wie er von meiner Schulter über meinen Oberkörper kroch, stieß mich ab und hastete weiter. Meine Gefühle überschlugen sich, die Angst, die Panik beherrschten mich, ließen keinen klaren Gedanken zu. Wäre ich bei Sinnen gewesen, wäre mir wohl klar gewesen, dass die Mädels es nicht böse gemeint hatten, dass sie nicht hatten wissen können, wie ich reagieren würden, dass sie vielleicht überhaupt nicht so gehandelt hätte, wenn sie mich gekannt hätten. Aber wer konnte schon von sich behaupten, mich zu kennen. Weder meine alten Freunde noch meine Mutter hatten dieses Privileg gekannt.

Plötzlich spürte ich, sehen konnte ich aufgrund der Tränen, die die Welt um mich herum verschwimmen ließen, schon gar nichts mehr, wie ich an den Schultern gegriffen wurde, von zwei Händen mit festem Griff gehalten wurde. „Pass auf, wo du hinrennst. Sonst wirfst du noch jemanden um.“

Eine relativ tiefe Stimme ertönte vor mir und ich blickte auf, blinzelte einige Male, um etwas sehen zu können. Ich zitterte heftig aufgrund der Angst, die mich immer noch in ihren Klauen hielt. Außerdem trug der feste Griff, mit dem ich gehalten wurde, nicht gerade dazu bei, dass ich mich beruhigte, im Gegenteil. Mein Bewusstsein verdrängte langsam aber sicher die Tatsache, dass ich mich in einem öffentlichen Schwimmbad befand und signalisierte mir, dass ich mich in akuter Gefahr befand.

Schließlich hatte ich genug Tränen weggeblinzelt, dass ich wieder etwas erkennen konnte. Vor mir stand eine Frau, allerdings erkannte ich das erst auf den zweiten Blick. Der Körperbau war sehr maskulin, muskulös und durchtrainiert, das Gesicht zeigte erst auf den zweiten Blick weibliche Züge. Die dunkelblonden Haare waren hauptsächlich fransig kurz geschnitten, zeigten hinten jedoch einen relativ dünnen, aber dafür langen Zopf. Erst der sportliche Badeanzug, den die Frau trug, überzeugte mich gänzlich davon, wirklich ein weibliches Wesen vor mir zu haben.

Nun jedoch verzogen sich die Züge des Gesichts, in das ich nun ängstlich starrte, und zeigten einen besorgten Ausdruck: „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Die Stimme, sehr tief für eine Frau, klang beunruhigt, aufrichtig besorgt. Diese Frau schien mir wirklich helfen zu wollen. Mein Zittern beruhigte sich ein wenig und die ersten klaren Gedanken mischten sich unter die blanke Panik in meinem Kopf.

„Ich... es...“ Ich brachte keinen klaren Satz heraus. Als die Frau merkte, dass ich mich ein wenig beruhigte, lockerte sie den Griff um meine Schultern, sodass es sich so anfühlte, als hätte sie mir beschwichtigend ihre Hände darauf gelegt.

Der Blick der Frau wanderte kurz über meine Schulter, sie schien dort etwas zu entdecken und ließ mich gänzlich los. Einen Moment lang vermisste ich die schweren Hände, die mich seltsam beruhigt hatten, dann blickte ich mich ebenfalls um. Die fünf Mädchen, mit denen ich hierher gekommen war, kamen auf uns zu, großteils schuldbewusste, besorgte oder verwunderte Ausdrücke auf den Gesichtern. Selbstverständlich wussten sie nicht, was gerade in mir vorging.

„Hey, Sam. Was war denn das grad?“, fragte Cat, die der Gruppe wie üblich vorausging. Ihre Augenbraue war hochgezogen, ihre Stimme eine Mischung aus vorwurfsvoll und überrascht.

Ich sah das Handtuch in ihren Händen und nahm es wortlos an mich. Schnell hatte ich mich hinein gewickelt. Nun ebbte meine Panik nach und nach gänzlich ab, sodass ich wieder fähig war, zu sprechen. „Tschluldigung... ich... mag es nicht, wenn mich jeder anstarrt...“

Meine Stimme war leise, zitterte noch immer von dem Heulkrampf, den ich soeben gehabt hatte und für den ich mich nun mit hochrotem Gesicht in Grund und Boden schämte.

„Okay?“, erwiderte Cat mit immer noch hochgezogener Augenbraue und zuckte mit den Schultern. Kurz herrschte Schweigen in der Gruppe, dann schlug Natasha vor, um die Stimmung aufzulockern: „Woll'n wir dann endlich mal ne Runde schwimmen?“

Ich nickte zustimmend, zwar verspürte ich eigentlich nicht die geringste Lust darauf, doch war es wirklich eine gute Gelegenheit, um diese peinliche Aktion meinerseits zu vergessen. Auch die anderen stimmten zu und machten sich auf den Weg in Richtung der Liegestühle, um ihre Handtücher abzulegen. Mir jedoch fiel in diesem Moment wieder die Frau ein, die hinter mir gestanden hatte und ich drehte mich um. Sie war nicht mehr dort, doch nachdem ich mich kurz umgesehen hatte, konnte ich sehen, wie sie gerade in eines der größeren Becken sprang und mit kraftvollen und ausdauernden Zügen begann, ihre Bahnen zu schwimmen. Ich hätte mich zwar gerne noch bei ihr bedankt, doch war ich andererseits dankbar dafür, die ganze Situation nicht auch noch erklären zu müssen, also ließ ich es darauf beruhen und gesellte mich zu den anderen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich gänzlich beruhigt hatte, aber letztendlich schaffte ich es sogar, mich dazu zu überreden, ins Wasser zu gehen. Schließlich schwammen wir alle gemeinsam im Wellenbad und alberten herum. So wurde es letztendlich doch noch ein halbwegs passabler Nachmittag, bei dem es mir nach und nach gelang, ein klein wenig aufzutauen und mehr zu sagen als „Hi“ und „Tschuldigung“.
 

Den Sonntag, der auf diesen teilweise sehr schmerzvollen Samstag folgte, verbrachte ich wieder mit Lernen, musste jedoch zwei Stunden lang Kopfhörer dabei aufsetzen, da sich Natasha mit ihrem Freund festgequatscht hatte und ihr Geturtel wirklich äußerst störend war. Als sie schließlich endlich auflegte, tönte ihr „Ich liebe dich, Schatz“, sogar durch die laute Musik, die ich hörte. Mir drehte sich dabei der Magen um und ich drehte am Lautstärkepegel, sodass mir beinahe die Ohren wegflogen. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Natasha nun anfangen würde, mir von ihm vorzuschwärmen. Für so etwas war ich definitiv der falsche Ansprechpartner, auch wenn sie das wohl noch nicht wollte. Glücklicherweise schien sie sich dafür auch nicht zu interessieren, denn sie verließ das Zimmer. Wahrscheinlich wollte sie eine ihrer Freundinnen besuchen und sich bei ihr ausschwärmen. Glücklicherweise. Ich nahm meine Kopfhörer ab, erleichtert, das Dröhnen los zu sein und verschränkte die Arme auf dem Tisch, bettete meinen Kopf hinein und versuchte eine Minute lang, die Tränen zu unterdrücken, die in mir aufstiegen. Glücklicherweise gelang es mir dieses Mal, sodass ich danach mit dem Lernen fortfahren konnte.

Am Nachmittag des Sonntags klingelte das Telefon meines Zimmers erneut. Da Natasha nicht da war, nahm ich, nachdem ich es eine Weile hatte klingeln lassen, den Hörer ab. Es war meine Mutter, die mich fragte, wie ich mich eingelebt hatte und warum ich mich denn nicht gemeldet hatte, dass ich sicher angekommen war. Sie hätte sich Sorgen gemacht. Eigentlich klang ihre Stimme eher erleichtert, dass sie mich endlich los war, dass ich endlich weit weg war, sodass sie meine Leidensmiene nicht täglich sehen musste. Ich wusste nicht, was ich noch tun sollte, um sie zufrieden zu stellen. Dies hier war wohl das Letzte, was ich für sie tun konnte. In den letzten Monaten hatte ich es mir wohl gewaltig mit ihr verscherzt. Verständlich, immerhin hatte ich drei Monate lang das Haus kaum verlassen, obwohl ich zur Schule, zum Musikunterricht oder einmal zum Arzt hätte gehen müssen. Ich hatte mich in meinem Zimmer eingeschlossen, alles abgedunkelt und nichts gegessen. Anfangs hatte sie sich schreckliche Sorgen gemacht, mich gefragt, was passiert war und ob sie mir helfen könne. Nach zwei Wochen wollte sie mich gewaltsam herausziehen und zu einem Arzt bringen, doch ich hielt mich fest, trat sie fest und schloss das Zimmer wieder.

Seit dem Tag hatte sie noch eine Weile lang versucht, mich dazu zu bringen, wieder heraus zu kommen, hatte mir jedoch Essen gebracht und sich Mühe gegeben, mich wieder ein wenig aufzupäppeln. Auch das hatte nicht geholfen. Nach eineinhalb Monaten fragte sie mich das erste Mal, was denn aus meiner Zukunft werden sollte. Nach zwei Monaten hatte sie mich aufgegeben. Und nach drei Monaten hatte sie den Schulwechsel hierher geplant. Sie war überrascht gewesen, dass ich so einfach zugestimmt und meine Sachen gepackt hatte. Ich hatte mein Zimmer verlassen, sogar einen Toast mit Marmelade gegessen, obwohl der so süß war, dass ich beinahe gebrochen hätte, und das Bahnticket entgegengenommen. Dann war sie in den Flieger gestiegen und auf Geschäftsreise gegangen. Ihr war es wohl letztendlich inzwischen doch egal, ob ich nun die Schule beendete oder nicht, ob etwas aus mir wurde oder ob ich weiterhin im Dunkeln von mich hinvegetierte.

Da ich nicht viel sagte und wenig erzählte, legten wir schnell wieder auf. Sie hatte mir kurz von ihrer Geschäftsreise erzählt, die sehr stressig gewesen war und mich danach gefragt, warum ich nicht auf dem Handy zu erreichen gewesen war. Ich antwortete ihr schlicht, dass es weg war.

Weg war ein etwas verharmlosender Ausdruck für das, was mit meinem Handy geschehen war. Ich hatte es damals in meinem dunklen Zimmer mit meiner Gitarre zertrümmert, in Einzelteile zerschlagen, weil es ständig gepiept und geblinkt hatte. Dabei war leider auch die Gitarre zerbrochen. Im ersten Moment fand ich es noch schade, doch gleich darauf war mir aufgefallen, dass ich das Zimmer sowieso nie wieder verlassen würde, also war es ja egal.

Als wir uns knapp verabschiedet hatten, legte ich den Hörer zurück aufs Telefon und streckte die Beine aus. Irgendwo, am Rand meines Herzens tat mir etwas weh, doch ich ignorierte es und brütete weiter über meinem Mathebuch. Mathe war schon immer mein schwächstes Fach gewesen, deshalb war es nur logisch, dass ich hier anfing, meine Versäumnisse nachzuholen. Es war harte Arbeit und abends tat mir mein Kopf weh.



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