Absolute beginners von yamimaru ================================================================================ Kapitel 5: Du hast wirklich schöne Finger ----------------------------------------- Tatsuro stand unter Strom. Nicht im wörtlichen Sinn, das wäre eher schlecht für seine Gesundheit, aber im Übertragenen. Er hatte die ganze Nacht nicht richtig schlafen können und selbst das morgendliche Laufen mit Yukke durch den Park konnte seine Nerven nicht beruhigen. Bislang waren die Termine, die Gara für ihn geplant hatte, nichts Großartiges gewesen. Ein Interview hier, ein Gespräch mit einem Buchblogger dort, und eine Autogrammstunde in einer großen Buchhandlung, um den ersten Teil seiner Romanreihe wieder in das Gedächtnis der Öffentlichkeit zurückzuholen. Aber heute Abend stand mehr auf dem Spiel. Je nachdem wie die Lesung verlaufen würde, konnte er abschätzen, ob er auch mit diesem Buch den Geschmack der breiten Masse treffen würde oder nicht. Immer vorausgesetzt, es würde überhaupt jemand aufkreuzen. Wäre es nicht auf ironische Weise passend, würde er heute Abend nur für die Handvoll Leute lesen, die Gara und er persönlich eingeladen hatten? Knurrend fuhr er sich durchs Haar – nein, so durfte er nicht denken!   Seit Tagen arbeitete er an nichts weiter als dem Textauszug, den er vortragen wollte. Eine Szene mitten im Buch, die alles hatte; Action, tiefe Gefühle und einen ersten Einblick auf das Übel, das an allem schuld zu sein schien. Eigentlich die perfekte Stelle, um Interesse für seinen Roman zu schüren, die Leser heiß auf mehr zu machen. Trotzdem war er unsicher. War die Szene spannend genug? Hatte er die Gefühle seiner Protagonistin nachvollziehbar dargestellt? Fragen über Fragen und er war kurz davor, alles zu löschen und noch einmal von Neuem zu beginnen.   Genau um sich vor so einer Übersprunghandlung abzuhalten, war er gerade ruckartig von seinem Platz vor dem Computer aufgestanden und lümmelte nun auf dem Sofa herum, als Yukke das Wohnzimmer betrat. Die Haare seines Mitbewohners waren noch feucht vom Duschen, wirkten dunkler als sonst und standen ihm wirr vom Kopf ab, als hätte er eben erst mit einem Handtuch über die Strähnen gerieben.   Tatsuros hysterisch herumflatternde Gedanken hielten plötzlich inne und schienen Yukke mit schief gelegtem Kopf zu mustern, als wären sie Vögelchen, die versuchten, den Menschen vor sich so besser ergründen zu können. ‚Mmmh, er gefällt mir mit wirren Haaren. Ob sie wohl so weich sind, wie sie aussehen?‘ Auf Tatsuros Lippen stahl sich ein kleines Schmunzeln, als er seine Gedankengänge weiterverfolgte und zum Schluss kam, dass seine Finger mit Sicherheit ein hübscheres Chaos auf Yukkes Kopf anrichten konnten, als es das Handtuch geschafft hatte.   „Was genau machst du da?“   Die Worte seines Mitbewohners rissen ihn aus seinen Träumereien, aber dieses feine Kribbeln blieb, was ein deutlich angenehmeres Gefühl war, als die Aufregung, die ihm Übelkeit bescherte. Verdammt, jetzt hatte er doch wieder daran gedacht.   „Ich versuche, meine Nervosität loszuwerden.“ Tatsuros Blick glitt erneut musternd über Yukke, der sich eine Jogginghose und eines seiner heiß geliebten T-Shirts übergezogen hatte, die ihm viel zu groß waren. Die Augen des anderen starrten ihn ebenso entgeistert an, wie seine Frage geklungen hatte. Zu verübeln war es ihm nicht, denn Tatsuro saß nicht wie jeder normale Mensch auf dem Sofa, nein, seine Beine hingen über der Rückenlehne und sein Kopf zeigte dafür in Richtung Boden. Ihm war schon ganz schummrig, weil sein Blut in die verkehrte Richtung floss. Es war ein Versuch gewesen, sich zu beruhigen, aber wirklich geholfen hatte es nicht.   „Alter Spinner, setz dich wieder richtig hin, bevor dir schlecht wird.“   „Ja, Mama.“ Seufzend richtete er sich auf und hielt, wieder in der Senkrechten, für einen langen Moment ganz still, bis die Welt aufhörte, vor seinen Augen zu tanzen. „Mist, jetzt ist mir übel.“   „Sag ich doch.“ Aus den Augenwinkeln sah er, wie Yukke wohl nach Geduld suchend an die Decke starrte, bevor er sich wieder ihm zuwandte. Unwillkürlich schlich sich ein verschmitztes Schmunzeln auf seine Lippen, das jedoch bei den nächsten Worten seines Mitbewohners gleich wieder verschwand. „Hast du wirklich so große Angst vor der Lesung heute? Ich dachte, du hättest dir schon die perfekte Stelle herausgesucht, um die Menge für deinen Roman zu begeistern.“   „Ja, das dachte ich gestern auch noch, aber heute bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Was, wenn sie sich langweilen? Vielleicht sollte ich die Szene noch mal neu schreiben, etwas mehr von allem hineinpacken?“   „Hör bloß auf, jetzt noch daran herum editieren zu wollen. Die Szene ist perfekt, so wie sie ist.“ Yukke ließ sich schwungvoll neben ihn auf die Couch fallen und lächelte ihn von der Seite her an. „Außerdem werde ich im Publikum sitzen und dir so laut zujubeln, dass ich die anderen einfach mitreißen werde.“   „Du kommst also wirklich mit?“   „Na klar, das lasse ich mir nicht entgehen.“   Tatsuro lächelte ehrlich dankbar, aber noch bevor er in die Verlegenheit kam, dieses Gefühl auch in Worte fassen zu müssen, sprang Tetochi auf seinen Schoß. Die Katze schaffte es allein durch ihre Anwesenheit, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Er selbst streckte die Arme vor, um seiner Süßen auf seinen Oberschenkeln Halt zu geben, und Yukke zuckte gleichzeitig ein wenig vor ihr zurück.   „Es ist längst überfällig, dass du dich mit ihr anfreundest, findest du nicht auch?“ Tetochi hatte sich schnurrend eingerollt und genoss es sichtlich, von ihm gestreichelt zu werden, während Yukke ihm lediglich einen skeptischen Seitenblick zuwarf. „Sieh sie dir an, sie kann kein Wässerchen trüben.“   „Schon, aber …“ Der abwägende Blick des Jüngeren glitt von ihm zu Tetochi und wieder zurück.   „Streichle ihr doch einfach mal übers Köpfchen. Ich schwöre dir, sie wird dir nichts tun.“   „Ehrenwort?“   „Großes Ehrenwort.“ Tatsuro lächelte aufmunternd, als Yukke zögerlich die rechte Hand ausstreckte und mit dem Zeigefinger über Tetochis Kopf fuhr. Die Berührung war so zart, dass seine Mieze nicht einmal blinzelte, sondern entspannt weiterschnurrte.   „Mh“, brummte Yukke und schien mutiger zu werden, denn nun waren es bereits zwei Finger, die sich hinter ein Ohr schoben, um dort leicht über das weiche Fell zu kraulen. Tatsuro lehnte sich stärker gegen die Rückenlehne des Sofas und ließ seine schwer gewordenen Lider ein Stück nach unten sinken. Tetochi zu streicheln und ihr Schnurren zu hören, war schon immer beruhigend gewesen, aber nun noch Yukkes Präsenz so nah an seiner Seite zu spüren, nahm ihm einen Großteil seiner Anspannung. Ein schönes Gefühl, zu dem sich Wärme in seinen Magen schlich, als sein Mitbewohner plötzlich den Kopf hob und ihn anlächelte.   „Ich streichle eine Katze.“   „Ja“, Tatsuro gluckste leise. „Das tust du ganz offensichtlich. Und du hast sogar noch alle Finger.“   „Mhmh …“ Yukkes blick ruhte bereits wieder auf Tetochi, die sich etwas anders hingelegt hatte, sodass nun ihr Bäuchlein für alle Streicheleinheiten gut zu erreichen war. Tatsuro folgte dieser stummen Aufforderung im selben Moment, als auch Yukke mutiger wurde. Das Endresultat war jenes, das sich ihre Finger berührten und er nicht anders konnte, als auch einmal kurz über sie zu streicheln.   „Du hast schöne Finger“, murmelte er, ohne groß darüber nachzudenken. Erst als er hörte, wie Yukkes bislang ruhiger Atem ins Stocken geriet, begriff auch er, dass seine ehrliche Feststellung eine Spur zu direkt gewesen sein könnte. Er hätte zurückrudern können, sich irgendwie aus der Affäre ziehen, aber zum einen war das nicht seine Art und zum anderen kannte er sich gut genug, um zu wissen, dass so ein Unterfangen nur in Peinlichkeiten enden würde. So zauberte er lediglich ein schiefes Grinsen auf seine Lippen, als Yukkes Blick zu ihm hoch flackerte und zuckte lapidar eine Schulter. „Hat dir das noch nie jemand gesagt?“   „N… nein.“   „Dann wurde es höchste Zeit, wenn du mich fragst.“ Auf eine Weise, die er sich nicht ganz erklären konnte, genoss er es, Yukke gerade in Verlegenheit gebracht zu haben. Es war schön mitanzusehen, wie sich die Wangen des Jüngeren leicht röteten, ihm sein Kompliment aber gleichzeitig gar nicht so unangenehm zu sein schien.   „Danke“, murmelte er, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Katze gerichtet und nun seinerseits über ihr Bäuchlein und Tatsuros Finger streichelnd. Er sagte nichts dazu, genoss nur die zarten Berührungen und erwiderte sie, wenn ihm gerade danach war. Er versuchte gar nicht erst, zu analysieren, was oder ob etwas zwischen ihnen geschah, viel zu angenehm fühlte sich all das an.   „Hast du für heute Abend etwas anzuziehen?“, erkundigte er sich nach einer nicht näher zu definierenden Zeitspanne und streckte sich gähnend, nachdem Tetochi von seinem Schoß gesprungen war. Yukke sah ihr etwas vorwurfsvoll hinterher, aber daran würde er sich gewöhnen müssen. „Katzen haben ihren eigenen Kopf.“   „Das merke ich … dabei war das gerade so schön.“   Tatsuro lächelte, was sich zu einem Grinsen weitete, als Yukke erst verspätet bemerkte, dass er ihm noch eine Frage gestellt hatte.   „Ehm, sag noch mal, was du wissen wolltest, bitte.“   „Ich hab dich gefragt, ob du etwas anzuziehen hast.“   Sein Mitbewohner schaute ihn entgeistert an, aber hey, seine Frage war berechtigt. Schließlich hatte der andere bei seinem Einzug nichts weiter dabei, als in eine große Reisetasche passte, und seine übergroßen Wohlfühlklamotten waren nicht das, was er zu einem Event wie dem heute Abend anziehen sollte.   „Natürlich hab ich etwas anzuziehen.“   „Ich rede von was Schickem. Einen Anzug oder wenigstens eine Stoffhose und ein Hemd?“   „Ehm … nun ja.“   „Das dachte ich mir. Dann werden wir wohl in die Stadt fahren müssen und etwas für dich einkaufen, was? Etwas Retailtherapy hilft bestimmt gegen meine Nervosität. Damit hätten wir dann gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“   „Retail Terra was?“   Tatsuro lachte. „Ich meine Shopping. Einkaufen. Geld ausgeben. Wie auch immer du es nennen willst.“   „Muss das sein?“   „Absolut.“   ~*~   Tatsuro war vollkommen in seinem Element. Er gab es zwar nicht gerne zu, weil es sich so klischeehaft anhörte, aber er liebte es, durch Boutiquen zu schlendern, sich die neuesten Trends anzusehen und auch zu kaufen, würde sein Kleiderschrank nicht schon aus allen Nähten platzen. Yukke hingegen sah aus, als wären sie beim Zahnarzt und seine Lust, von ihm mit Kleidungsstapeln in die Umkleide geschickt zu werden, hielt sich in Grenzen. Doch Tatsuro kannte kein Erbarmen, im Gegenteil, es machte ihm unheimlichen Spaß, seinen selbst ernannten Trainer auf diese Weise triezen zu können.   „Hast du schon mal auf die Preise geschaut? Wenn ich mir hier ein Hemd kaufe, bin ich für den Rest des Monats pleite“, zischte Yukke von der Seite her in sein Ohr und hielt ihm fast schon vorwurfsvoll das Etikett eines dunkelblauen Hemdes vor die Augen.   „Mmmh, ich glaube, die Farbe würde dir gut stehen. Nimm das gleich mit.“   „Tatsuro!“ Nun war das Zischen energischer und ein eben solcher Griff an seinem Ärmel verhinderte, dass er weitergehen konnte. „Hörst du mir nicht zu?“   „Nein, weil du dir über Dinge Gedanken machst, die absolut unwichtig sind. Lass das Finanzielle meine Sorge sein, okay?“   „Du bist doch verrückt. Nur weil gestern ein Scheck deines Verlegers ins Haus geflattert ist, musst du nicht gleich größenwahnsinnig werden.“   Tatsuro rollte mit den Augen, dirigierte Yukke in eine ruhige Ecke des überschaubaren Geschäfts und beugte sich etwas herab, um nun seinerseits in das Ohr des anderen flüstern zu können. „Könntest du aufhören, dich so aufzuregen, und einfach akzeptieren, dass ich dir was Gutes tun will?“   „Tatsuro, ehrlich mal, das kann ich nicht annehmen.“   „Doch, das kannst du und das wirst du.“   „Aber …“   „Kein aber.“ Tatsuro lächelte und bemerkte erst jetzt, dass er noch immer Yukkes Arm festhielt. Statt ihn jedoch loszulassen, drückte er leicht zu und rieb mit dem Daumen über den Stoff seines Sweatshirts. „Es ist ein Dankeschön, dafür, dass du heute Abend mitkommst.“   „Ich kann das nicht annehmen, ehrlich nicht.“   „Bitte.“   „Ich … o… okay. Aber ich zahl es dir zurück.“   „Jaja.“ Tatsuros Lächeln weitete sich zu einem triumphierenden Grinsen aus. „Dann komm jetzt.“ Er hakte sich bei seinem Mitbewohner unter und schlenderte zwischen den Reihen an Kleiderständern hindurch. Das meiste hier waren Designerstücke, die jedoch leider eher weiblichen Proportionen passen würden. Aber in der Nähe der Auslagen, wo Yukke zufällig dieses hübsche Hemd gefunden hatte, erspähte Tatsuro eine relativ gute Auswahl an Anzügen in den verschiedensten Farben, Schnitten und Qualitäten. „Uh, wie wäre es mit anthrazit? Das wirkt elegant, aber nicht so steif wie schwarz. Oder dunkelrot? Aber dazu passt das Hemd nicht.“   „Mir würde ja dieser hier gut gefallen“, meldete sich Yukke kleinlaut zu Wort und deutete auf einen hellgrau melierten Dreiteiler.“   „Mh.“ Kritisch musterte Tatsuro das Kleidungsstück. Ihm persönlich wäre der Anzug zu steif, aber Yukkes lockere Art würde ihm genau das richtige Maß an Leichtigkeit verleihen. „Du hast ein gutes Auge für Mode. Ich verstehe gar nicht, warum du dich im Alltag immer unter diesen übergroßen Teilen versteckst.“   „Ich mag es halt gemütlich“, murmelte sein Mitbewohner ausweichend und nahm zusätzlich zu seinem dunkelblauen Hemd noch den Anzug entgegen. „Außerdem brauchst du gar nicht reden. Wer meist in Jogginghosen und Tanktops herumläuft, sollte andere nicht verurteilen.“   „Touché.“   „Was wirst du heute eigentlich anziehen?“   Tatsuro schaute sich im Laden um, während sie zu den Umkleiden gingen, fand jedoch nichts, was ihm ins Auge stach. Aber das machte nichts. Schließlich waren sie hier, um Yukke einzukleiden. „Ich hab genug zu Hause, was für die Lesung passend ist.“   ~*~    „Nun komm schon raus, du brauchst länger im Bad als Miya und das soll was heißen.“   „Woher weißt du, wie lange Miya im Bad braucht?“ Kam es gedämpft durch die Tür und ließ Tatsuro grinsend mit den Augen rollen.   „Satos Berichte diesbezüglich schätze ich als sehr akkurat ein, aber jetzt lenk nicht ab, sondern komm endlich raus.“   „Warum bist du denn so ungeduldig?“ Endlich wurde der Schlüssel im Schloss der Badezimmertür herumgedreht und gab den Blick auf seinen Mitbewohner frei. Unwillkürlich pfiff Tatsuro durch die Zähne und machte keinen Hehl daraus, dass der andere in seinem neuen Dreiteiler wirklich, wirklich gut aussah.   „Ich bin so gut!“ Die Rechte zur Faust geballt streckte er sie in die Luft, ganz so, als hätte er gerade seiner Lieblingsfußballmannschaft dabei zugesehen, wie sie den Ball im Tor versenkte. „Ich wusste, dass dir die Kombination stehen wird, und du wolltest schon was anderes nehmen.“   „Ja, weil mir der Preis die Luft zum Atmen genommen hat. Tut er auch jetzt noch, danke der Nachfrage“, versuchte Yukke mürrisch zu entgegnen, aber die zarte Röte auf seinen Wangen machte deutlich, dass ihm Tatsuros bewundernde Blicke nicht entgangen waren. Oh, wie er es liebte, den Jüngeren auf diese Weise aus der Fassung zu bringen.   „Atmen ist überbewertet, wenn du mich fragst, und nachdem das jetzt geklärt ist, werde ich mich um meine Haare kümmern.“   „Du bist schrecklich.“   „Ich weiß.“ Lachend verließ er die Räume seines Mitbewohners und verschwand im großen Bad, um seinen Worten Taten folgen zu lassen. Yukke war ihm ohne Weiteres gefolgt und lehnte nun in der offenen Tür. Ihm entging nicht, wie der interessierte Blick des anderen einmal die Länge seines Körpers maß, bevor sich seine Wangen noch dunkler färbten. Yukke schien zu gefallen, was er sah, und Tatsuro hätte lügen müssen, würde er behaupten, es würde ihm nicht schmeicheln. Er machte in seinem blutroten Hemd und der schwarzen Stoffhose aber auch was her. Leger und dennoch elegant, besonders, nachdem er seine Haare vom Zopfgummi befreit und etwas mit dem Lockenstab bearbeitet hatte. Die tiefschwarzen Strähnen fielen ihm in großen Wellen nun weit über den Rücken und seine schwarz umrandeten Augen verliehen ihm den verwegenen Ausdruck, den seine Fans laut Gara so sehr an ihm mochten. Optisch würde er heute Abend also punkten können, blieb nur zu hoffen, dass sein Text dieselbe Wirkung auf die Anwesenden haben würde. Eigentlich missfiel es ihm, sein Talent hintanzustellen und seinen Erfolg von seinem Aussehen abhängig zu machen, aber gerade nahm er jede Hilfe in Anspruch, derer er habhaft werden konnte. „Na, wie sieht’s aus, schöner Mann, nimmst du mich so mit?“   „Sag so was nicht!“   „Was genau meinst du?“ Da war es wieder, das verschmitzte Grinsen, das sich in Yukkes Gegenwart gar nicht mehr von seinen Lippen lösen wollte. Es war aber auch zu niedlich, wenn ihn der andere, so wie jetzt, ansah, als könnte er nicht fassen, was gerade aus seinem Mund gekommen war.    „Ich werde diese Frage und dein generelles Verhalten nicht mit einer Antwort würdigen. Außerdem bist du es, der mich mitnimmt, aber gut.“ Yukke versuchte sich an einem unbeeindruckten Schulterzucken, stieß sich vom Türrahmen ab und verschwand im Flur. Das kleine, verschämte Lächeln hatte sich jedoch zu plötzlich auf seine Lippen gelegt, als dass er es vor Tatsuro hätte verbergen können.   Gerade überaus zufrieden mit sich gab er sich einen kleinen Tupfen Parfüm hinter jedes Ohr und betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Es war seltsam, doch kaum war Yukke nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe, legten sich die unsichtbaren Finger der Nervosität erneut um sein Herz und begannen, gnadenlos zuzudrücken. Fest presste er die Lippen aufeinander und nickte seinem Spiegelbild zu. Er würde sich nicht unterkriegen lassen. Ruhiger, als er sich fühlte, schlenderte er ins Wohnzimmer. Vom Sofatisch nahm er den Ausdruck der Szene, die er später vorlesen würde, und überflog die Worte erneut, obwohl er sie mittlerweile schon auswendig konnte.   „Kommst du? Das Taxi wartet.“   „Ja!“, rief er und verließ das Wohnzimmer, um sich anzuziehen. Den Ausdruck steckte er in die Innentasche seiner Lederjacke und atmete noch einmal tief durch.   „Du schaffst das.“ Die Hand seines Mitbewohners ruhte mit einem Mal schwer und erdend auf seiner Schulter und der kleinere Mann war ihm so nahegekommen, dass ihn sein ruhiger Atem ganz leicht im Gesicht kitzelte. „Ich hab noch was für dich“, murmelte Yukke und streifte ihm etwas über den Kopf. Sanfte Finger fassten seine Haare zusammen und zogen sie unter dem dünnen Lederband hervor, als das Tatsuro das unbekannte Etwas nun identifizierte. Ein wohliger Schauer rann ihm bei dieser Berührung über den Rücken und wie automatisch richteten sich seine Augen auf den kühlen Gegenstand, der nun etwa zwei Finger breit unter seinem Schlüsselbein ruhte.   „Eine Halskette?“, fragte er überflüssigerweise und hielt den tropfenförmigen Anhänger zwischen Daumen und Zeigefinger vor sein Gesicht, um ihn näher begutachten zu können. Das Licht brach sich in sämtlichen Spektralfarben in dem glatten Kristall, der eine kaum merkliche blaue Einfärbung aufwies.   „Das ist eine Musenträne, sie soll dir Glück bringen.“   „Eine Musenträne?“, wiederholte er, lies das Schmuckstück sinken und sah Yukke an, der noch immer ganz nah bei ihm stand. Ein aufgeregtes Flattern jagte durch seinen Magen und ein Gefühl, das er am ehesten mit verblüffter Dankbarkeit beschreiben konnte, füllte ihn komplett aus.   „Danke, das ist …“, wisperte er, wusste nicht, was er mehr hätte sagen sollen, zu aufgewühlt wirbelten seine Gedanken in seinem Kopf herum.   „Damit bin ich wirklich bei dir.“   „Ja.“ Ihre Blicke verhakten sich ineinander, als er wie in Zeitlupe nickte und sich ebenso langsam weiter vorbeugte. Immer weiter, immer näher, bis …   Das Läuten seiner Türklingel ließ nicht nur ihn zusammenfahren. Beinahe gleichzeitig sprangen Yukke und er auseinander und während sich sein Mitbewohner schwer atmend die Hand auf die Brust presste, entkam ihm ein fast hysterisches Lachen.   „Oh mein Gott“, japste er und wischte sich die Haare hinter die Schultern. „Gut, dass uns gerade niemand gesehen hat, was?“ Er versuchte, nicht zu genau darüber nachzudenken, dass er im Begriff gewesen war, seine ohnehin dürftigen Prinzipien über Bord zu werfen und Yukke zu kü… Nein, halt, nicht weiterdenken. Es genügte schon, dass der andere in den letzten Wochen viel zu viel seiner Gedanken für sich beanspruchte.   „Der Taxifahrer scheint sehr ungeduldig zu sein“, murmelte besagter Inhalt seiner Gedanken etwas kleinlaut und war sich vermutlich gar nicht im Klaren darüber, wie sehr dieses Verhalten und das verschüchterte Lächeln an Tatsuros Herzen zogen.   „Dann sollten wir den guten Mann nicht länger warten lassen.“ Seine Jacke zurechtrückend öffnete er die Wohnungstür und hielt sie fest, bis Yukke hinausgegangen war. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, versuchte, sich zu sammeln, und hörte in seinen Gedanken nichts weiter als Satochis Stimme, die ihm wieder und wieder die Vorzüge seines Mitbewohners aufzählte.   Himmel, er war verloren, wenn das so weiterging.   ~*~   Der Konferenzsaal des Hotels, den Gara für die heutige Lesung gebucht hatte, war brechend voll und noch immer öffneten sich die Doppeltüren und spuckten weitere Interessierte aus. Sitzplätze gab es schon lange nicht mehr und langsam aber sicher wurde auch der Raum zum Stehen eng. Mit jedem neuen Gesicht, das hereinkam, wuchs Tatsuros Nervosität. Obwohl er versuchte, seine Blicke ausschließlich auf Yukke, Satochi, Miya und Gara in der ersten Reihe gerichtet zu lassen, huschten sie immer wieder im Saal herum. Teils, weil er schlichtweg zu neugierig für sein strapaziertes Nervenkostüm war und teils, weil er den Blick seines Mitbewohners nur für eine begrenzte Zeit erwidern konnte. War er vorhin wirklich drauf und dran gewesen, Yukke zu küssen? Nicht, dass Übersprunghandlungen nicht seinem Naturell entsprochen hätten, aber hier war das etwas anderes. Er stand nicht auf Yukke. Der andere war zu jung, zu blond, zu nett … und dennoch war es gerade Yukkes herzliche Art, die sich in seine Seele gefressen hatte und sich dort nun tierisch wohlfühlte. Unfair war das. Hatte er mit der Deadline seines Romans nicht schon genug zu tun? Er hatte keine Zeit für … für, ja für was eigentlich?   Geradeso konnte er sich davon abhalten, sich nervös durch die Haare zu fahren, und biss sich stattdessen auf die Innenseite seiner Unterlippe. Just in dem Moment erhob sich Gara von seinem Sitz und trat ans Rednerpult, das mittig auf der leicht erhöhten Bühne stand. Tatsuro hibbelte von einem Fuß auf den anderen, froh darüber, dass man ihn von seinem Platz seitlich am Bühnenrand nicht sehen konnte.   „Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, liebe Freunde des gepflegten Schauderns“, begann Gara seine Rede und sorgte mit seinen Worten nicht nur für augenblickliche Stille, sondern auch für leises Lachen, nachdem sie verklungen waren. „Es ist mir eine besondere Freude, Sie heute zu dieser Veranstaltung begrüßen zu dürfen.“ Tatsuros eiskalte Finger schlossen sich um den Anhänger seiner Halskette, dem Glücksbringer, wie Yukke ihn genannt hatte. Unwillkürlich glitt sein Blick erneut zu seinem Mitbewohner und für einen Augenblick konnte er Garas Worte und selbst seine Nervosität ausblenden. Yukke würde für ihn jubeln, das hatte er ihm versprochen und er wusste, dass er sich diesbezüglich auch auf Satochi und Miya immer würde verlassen können. Sein Text war gut und er würde alles, was er hatte, in seine Stimme legen, um jeden Gast von sich und seinem Roman zu überzeugen. Außerdem sah es jetzt doch schon besser aus, als er befürchtet hatte, nicht wahr? Immerhin waren deutlich mehr Leute gekommen, als die Handvoll Bekannter, die persönlich von ihm und seinem Verleger eingeladen worden waren. „… und daher begrüßen Sie nun mit mir den Grund, weswegen wir heute alle hier sind, Iwakami Tatsuro!“   Unter lautem Applaus trat Tatsuro aus den Schatten und auf Gara zu, der ihm kurz eine Hand auf die Schulter legte und mit dem anderen Arm eine ausladende Handbewegung machte. ‚Fast, als würde er mir mein Publikum präsentieren wollen‘, dachte er und für einen Augenblick überdeckte tiefe Zufriedenheit sogar das nervöse Flattern seiner Nerven.   „Vielen Dank!“, rief er aus, nickte seinem Verleger zu, der sich auf den Weg zurück zu seinem Platz gemacht hatte, und richtete seine Aufmerksamkeit dann erneut auf die versammelten Gäste. „Vielen Dank auch Ihnen, dass Sie heute so zahlreich erschienen sind!“ Tatsuro legte seinen Ausdruck vor sich auf das Rednerpult, strich die oberste Seite glatt und überflog ein letztes Mal die Zeilen.   „Damit bin ich wirklich bei dir“, kehrten Yukkes Worte zu ihm zurück, über die ihm näher nachzudenken, bislang die Zeit gefehlt hatte. Als er jetzt jedoch erneut den Blick seines Mitbewohners suchte und das aufmunternde Lächeln sah, dass er ihm schenkte, fiel mit einem Mal jede Aufregung von ihm ab. Er atmete tief durch, erkannte mit Freuden Satos erhobene Daumen und das Nicken Miyas, bevor er sich wieder an die Anwesenden wandte.   „Folgen Sie mir in das ehemalige Fischerdorf Ine. Vom Meer her ziehen dicke Nebelschwaden heran, füllen die schmalen Gassen mit undurchdringlichem Dunst. Schnelle Schritte sind zu vernehmen, gehetzter Atem und unheilvolles Knurren.“ Wie aufs Stichwort wurde die Beleuchtung im Saal herabgedreht, bis nur noch ein schwacher Schein ihn und den Text auf dem Rednerpult beleuchtete. Tatsuro zauberte ein verschwörerisches Lächeln auf seine Lippen und begann, seine ausgewählte Szene vorzulesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)