Absolute beginners von yamimaru ================================================================================ Kapitel 1: Der Fluch des Erfolgs -------------------------------- Tatsuro starrte auf den Bildschirm seines Computers. Das leere, weiße Dokument brannte sich in seine Retina, während ihn der blinkende Cursor zu verhöhnen schien.   „Kommt raus, verdammt“, knurrte er, beide Hände in sein langes Haar geschoben und an den schwarzen Strähnen ziehend. Es war zum Verrücktwerden. Seit er vor fast einem Jahr seinen Erstlingsroman fertig geschrieben hatte, hatte er kein vernünftiges Wort mehr zu Papier gebracht. Vor seiner Veröffentlichung hatte er sich insgeheim immer über seine Bekannten amüsiert, die er durchs Schreiben kennengelernt hatte und die sich in schönster Regelmäßigkeit über Schreibblockaden beklagten. Ein Tatsuro Iwakami hatte noch nie eine Schreibblockade gehabt – bis jetzt.   „Ich werde noch wahnsinnig“, jammerte er in die Stille seines Appartements. Ein genervtes Schnauben entkam ihm, als er sich ruckartig von seinem Schreibtisch erhob, einige Male wie ein eingesperrter Tiger im Wohnzimmer auf und ab lief, bevor er sich leidend auf das weiche Sofa warf. Seinen frustrierten Aufschrei dämpfte eines der vielen kleinen und großen Kissen, die wild auf der schwarzen Ledercouch verstreut lagen. In Momenten wie diesen wünschte er sich seine schäbige Einzimmerwohnung mit dem hässlich braunen Cordsofa zurück, das am Ende vermutlich nur noch durch die verschmorten Ränder zahlloser Brandlöcher zusammengehalten worden war. Sein Reich war eine miese Absteige gewesen, im schlechtesten Viertel der Stadt gelegen und für das, was sie war, unverschämt überteuert. Aber sie war ehrlich gewesen, nicht dieses konstruierte Stück Schöner-Wohnen, in dem er seit seinem Durchbruch als Autor lebte. Es hatte ihm alles abverlangt, diesen einen Raum damals einigermaßen wohnlich zu gestalten, aber als es ihm endlich gelungen war, hatte er stolz auf seinen Erfolg sein können. Genauso wie er stolz auf seinen ersten Roman gewesen war. Die Betonung lag auf der Vergangenheitsform dieses Satzes, denn Stolz empfand er schon lange nicht mehr. Seinen Zustand mit Verzweiflung zu beschreiben, mochte für den einen oder die andere etwas dramatisch klingen, aber es war das passendste Wort, das ihm einfallen wollte.   Tatsuro drehte sich auf den Rücken und starrte angestrengt nach oben zur Zimmerdecke, als stünden dort die Antworten auf alle Fragen des Lebens geschrieben. Verflucht, wie überheblich er gewesen war. Er, der seit er sich erinnern konnte Geschichten erdachte, sie erst gemalt und dann in kindlichen Zeichen auf Papier gebannt hatte. Er, der bereits Hunderttausende von Wörtern ins Internet gestellt hatte, Menschen zum Gruseln, Mitleiden oder hingerissenen Seufzen gebracht hatte. Er, dessen Erfolg vollkommen unerwartet gekommen war, weil sein Verleger ihn entdeckt und sofort unter Vertrag genommen hatte. Er, der neue Stern am Autorenhimmel. Er war ausgebrannt.   Die Ideen für neue Geschichten stapelten sich in seinem Kopf, drückten und pochten gegen die knochigen Wände seines Schädels, schrien nach Freiheit und blieben doch stur, wo sie waren. Er wollte schreiben, verflucht, er musste schreiben, wenn er nicht alles wieder verlieren wollte, was er sich zwar nie aktiv gewünscht, in den vergangenen Monaten jedoch durchaus zu schätzen gelernt hatte. Eine dieser schätzenswerten Veränderungen in seinem Leben machte gerade mit leisem Gurren auf sich aufmerksam, bevor ein nicht allzu leichtes Gewicht zielsicher auf seinem Magen landete.   „Ugh, Tetochi, ich hab dich auch lieb“, keuchte er und begann, die Glückskatze hinter dem rechten Ohr zu kraulen. Tetochi quittierte seine Aufmerksamkeit mit lautem Schnurren und bohrte ihre Vorderpfoten mit ausgefahrenen Krallen nur noch stärker und mit erstaunlichem Rhythmusgefühl in seinen Bauch. Tatsuro keuchte erneut, ließ den Kopf zurück auf das Kissen sinken und schloss die Augen. Liebe muss wehtun, sagte ein Sprichwort, und auf Katzenliebe traf das definitiv zu.   Doch nicht einmal Tetochis sonst so beruhigende Präsenz schaffte es, die Wogen seines innerlichen Aufruhrs zu glätten. Die Kleine hatte es sich mittlerweile auf seinem Brustkorb gemütlich gemacht und schien eingeschlafen zu sein, während er sich fühlte, als hätte er versehentlich an ein nicht isoliertes Stromkabel gefasst. Wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen glitt sein Blick hinüber zum Schreibtisch, wo an der Wand ein großer Kalender hing. Ein Datum war mit fettem, rotem Marker eingekreist, eine Deadline, die Ende des Monats erreicht sein würde. Dreimal hatte sein Verleger ihm bereits Aufschub eingeräumt, aber bei ihrem letzten Treffen hatte Gara deutlich klargestellt, dass es keine weitere Schonfrist mehr für ihn geben würde.   Wie aufs Stichwort klingelte Tatsuros Handy. Sein Magen wurde zu einem Klumpen Blei, als er vorsichtig die schlafende Katze von seinem Brustkorb hob, sie neben sich auf das Sofa legte und schwerfällig aufstand. Das vibrierende Telefon schien von der Schreibtischplatte direkt in sein Gesicht springen zu wollen und Tatsuro umfasste es so vorsichtig, als könnte es ihn tatsächlich beißen. Wie befürchtet leuchtete der Name seines Verlegers in großen, weißen Zeichen auf dem schwarzen Hintergrund des Displays auf. Eigentlich hätten sie rot sein müssen, rot wie die Flammen der Hölle, die ihn in den nächsten Sekunden verschlingen würden.   „Hey, Gara!“, meldete er sich mit so heiterer Stimme, wie er nur aufbringen konnte. „Wie geht es dir? Was machen die Geschäfte?“   „Das hängt davon ab, was du mir zu sagen hast. Wie weit bist du, Tatsuro?“   „Ah, immer gleich zum Punkt, das ist der Gara, den ich kenne.“ Tatsuro lachte, ein Laut, der wie Tausende Rasierklingen in seine Kehle schnitt. „Es sieht gut aus, wirklich gut. Ich komme voran. Vielleicht nicht ganz so schnell, wie wir beide es gerne hätten, aber wenn du mir nur noch ein wenig mehr Zeit verschaffen könntest …“ Tatsuro zog den Kopf ein, als ein unwirsches Zischen aus der Leitung seinen Redeschwall unterbrach.   „Du hast bereits jeden Aufschub bekommen, den ich für dich herausschlagen konnte, also frage ich dich noch mal, wie weit bist du?“   „Ich, ehm …“ Mit panisch geweiteten Augen starrte er auf das leere Blatt seines Schreibprogramms, glitt vom blinkenden Cursor zum Dateinamen in der linken oberen Ecke. Prolog stand dort unversöhnlich geschrieben und erinnerte ihn an sein Totalversagen. „Ich bin … mit dem Prolog und dem ersten Kapitel fertig und … bin gut im Schreibfluss“, hörte er sich durch taube Lippen hindurch lügen. Seine Gliedmaßen schienen zu Eis zu erstarren und sein Herz schlug so langsam und hart in seinem Brustkorb, dass er das Gefühl hatte, jeden Moment das Bewusstsein verlieren zu müssen.   „Zwei Kapitel also“, echote Gara und Tatsuro hätte nicht sagen können, ob Enttäuschung oder Erleichterung in der Stimme seines Verlegers mitschwang. „Tatsuro, ich brauche handfeste Ergebnisse! Am Freitag trifft sich das Gremium, um über die Veröffentlichungen für das nächste Halbjahr zu entscheiden. Wenn du bis dahin nichts vorweisen kannst, war es das.“   Enttäuschung, eindeutig. „Ich …“ Tatsuros wilder Blick huschte im Raum hin und her, aber die Lösung seines Dilemmas wollte sich nicht zeigen. „Ich bringe dir den Prolog und das erste Kapitel bis spätestens Freitagmorgen editiert und mit den Outlines für den Rest der Story vorbei, wie klingt das?“   „Du weißt also endlich, was in dem Roman passieren soll?“   „Ja, ich habe eben erst das Ende grob skizziert. Meine Schreibblockade ist überstanden, Gara, ich bin hoch motiviert!“ Die Lügen brannten wie heiße Asche auf seiner Zunge. Zwei Kapitel in fünf Tagen zu schreiben und dazu noch einen stichpunktartigen Handlungsstrang für den gesamten Roman zu entwerfen, wäre früher sportlich, aber machbar gewesen. Jetzt jedoch rückte jede Chance, seinen Kopf noch irgendwie aus der Schlinge zu ziehen, in so weite Ferne, dass er sie nicht einmal mehr erkennen konnte.   „Mh“, brummte Gara und ließ ihn für einen unendlich scheinenden Moment zappeln. „Okay.“ Sein Verleger atmete hörbar durch. „Okay, mein Junge, damit können wir arbeiten. Mach weiter so.“!   Tatsuro schloss die Augen – jetzt hieß es pokern, alles oder nichts. Wenn er Gara davon überzeugen könnte, seine Frist nur noch ein einziges Mal zu verlängern, wäre vielleicht noch nicht alles verloren. „Aber du kannst nicht von mir verlangen, einen kompletten Roman in unter einem Monat zu schreiben. Selbst wenn ich Tag und Nacht daran arbeite, wäre das eine utopische Erwartungshaltung.“   „Lass das meine Sorge sein. Solange ich am Freitag Früh besagte Kapitel auf meinem Schreibtisch liegen habe, sollten wir die Deadline noch etwas hinauszögern können.“   „Ehrlich? Da fällt mir jetzt aber ein großer Stein vom Herzen.“ Vermutlich hatte seine Stimme nicht mehr so hoffnungsvoll und naiv geklungen, seit er zum ersten Mal erfolgreich einem seiner Lehrer ins Gesicht gelogen hatte.   „Wir müssen nur die Werbetrommel rühren. Unser Geschäft ist schnelllebig, wie du weißt. Ein knappes Jahr ohne eine Veröffentlichung genügt, um dich aus dem kollektiven Gedächtnis der Leserschaft zu tilgen. Aber dafür hast du ja mich, also enttäusch mich nur nicht noch einmal.“ Gara lachte, wohl um seine harschen Worte abzumildern, doch statt ihn zu beruhigen, schürte dieser Laut in Tatsuro nur noch größere Panik. „Ich verstehe, dass ein Buch zu schreiben, ein Höchstmaß an Kreativität erfordert und es widerstrebt mir, dich unter Druck zu setzen, aber du bist nun einmal der Goldjunge unseres Verlags, das unverbrauchte Gesicht unseres Erfolgs. Alle Beteiligten wollen, dass dein zweites Buch genauso einschlägt wie das Erste.“   Sein eigenes Lachen klang schrill und überdreht in seinen Ohren, als er heftig nickte, als könnte Gara ihn durch das Handy hindurch sehen. „Ja, ja natürlich. Das will ich auch“, plapperte er, ohne überhaupt noch nachzudenken, und schaufelte sich damit sein Grab immer tiefer. „Ich krieg das hin, Gara. Bis Freitag bekommst du auch noch das zweite Kapitel von mir, was hältst du davon?“   „Immer mit der Ruhe, verschieß dein Pulver nicht gleich auf einmal. Es genügt mir, wenn du mir den Prolog und das erste Kapitel vorbeibringst.“   „Ja klar, du hast recht, aber glaub mir, der Rest ist ein Kinderspiel. Du kennst mich. Wenn mich die Kreativität erst einmal gepackt hat, bin ich nicht aufzuhalten!“   „Das ist die richtige Einstellung. Dann will ich dich und deine Kreativität nicht länger von der Arbeit abhalten. Schönen Tag noch.“   „Dir auch.“ Gara hatte bereits aufgelegt, doch Tatsuro hielt das Handy, das nur noch ein Freizeichen von sich gab, immer noch am Ohr. „Ich bin so was von geliefert.“ Wie in Zeitlupe ließ er das Telefon sinken und warf es aufs Sofa. Tetochi hob den Kopf, schaute erst das Wurfgeschoss und dann ihn vorwurfsvoll an, bevor sie sich auf ihren Kratzbaum vor der bodentiefen Fensterfront zurückzog. „Sorry“, nuschelte er und fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar.   Er versuchte gar nicht erst, sich an den Schreibtisch zu setzen; er hatte bis jetzt nichts auf die Reihe gebracht, da würde sich seine Kreativität durch Garas unterschwellige Drohungen nun auch nicht motiviert zeigen. Mit schlurfenden Schritten ging er zur Minibar hinüber, warf drei Eiswürfel aus dem integrierten Kühlfach in ein Glas – eine Spezialanfertigung, von der er nicht einmal wusste, wie viel sie ihn gekostet hatte – und goss zwei Finger breit Whiskey ein. Mit einem einzigen Schluck trank er aus, füllte nach und ging zurück zum Sofa, auf das er sich schwer seufzend sinken ließ. Seine Zigaretten lagen auf dem niedrigen Tischchen vor ihm, ebenso wie die Fernbedienung seines überdimensionierten Fernsehers. Das arme Gerät war sicher unterfordert, als es nicht den aktuellsten Blockbuster zum bestengeben durfte, sondern sich mit einer Dauerwerbesendung über die neusten Küchenhelfer begnügen musste. Aber die stupide Wiederholung der Vorzüge von Messern aus Damaszenerstahl oder die diversen Einsatzmöglichkeiten einer diamantveredelten Hightech-Bratpfanne zu hören, war gerade genau das, was Tatsuro brauchte. Das und eine Zigarette.   Er hatte nicht mitgezählt, wie oft er den Weg zwischen Sofa und Minibar zurückgelegt hatte, nur die verschwommenen Konturen am Rande seines Blickfelds zeugten davon, dass es sicher ein- oder zweimal zu oft gewesen war. Wieder war es sein Telefon, das ihn aus seinem Trott riss, nur diesmal leuchtete kein Name, sondern die Meldung auf, dass er eine Nachricht erhalten hatte. Tatsuro öffnete die App und starrte auf die Worte, die im ersten Moment keinen Sinn ergeben wollten.   Satochi, 19:52 Wo bleibst du?   Erst ein Blick in seinen Terminkalender, der ihm mitteilte, dass für 19:30 Uhr ein SM-Treffen angesetzt war, sorgte für Klarheit. SM; Tatsuro grinste. Dieser Witz wurde wirklich nie alt.   Tatsuro, 19:55 Sorry, hab unser Treffen verpennt. Gebt mir 30 Minuten.   Miya, 19:57 Typisch, die Zeche geht auf dich.   ~*~   Die Writer's Lounge war nur dem Namen nach der perfekte Ort für einen Autor wie ihn, sich dem Schreiben hinzugeben. Weder die generell schummrige Beleuchtung des Klubs noch die vereinzelten grellen Lichtblitze aus Richtung der Tanzfläche luden dazu ein, sich mit einem Laptop an einen der Tische zu setzen und fiktive Charaktere zum Leben zu erwecken. Ebenso wenig trug die ohrenbetäubend laute Musik dazu bei, die eigenen Gehirnzellen anstrengen zu wollen, was nötig gewesen wäre, um verständliche Sätze aneinanderzureihen. Die Inneneinrichtung jedoch war von den Opiumhöhlen des neunzehnten Jahrhunderts inspiriert, in denen es angeblich vor Kreativität nur so gesprüht hatte. Schwere Vorhänge aus dunkelrotem und schwarzem Samt verdeckten Wände und Fenster gleichermaßen und sorgten für eine fast anheimelnde Atmosphäre. Auf geschickte Weise milderten sie so das Lagerhallen-Flair ab, das der weitläufige Raum sonst verströmt hätte. Unterstützt wurde dieser Eindruck von einem nicht zusammenpassenden Sammelsurium an Stühlen, Sesseln und Chaiselongues in sämtlichen Größen, Formen und Stufen an Bequemlichkeit, die um runde Tische verteilt standen. Auf jedem Tisch befand sich eine dicke, brennende Kerze, Kronleuchter hingen von der ebenfalls mit Stoffbahnen bespannten Decke und tauchten ihre Umgebung in gelbliches Licht. Nur direkt über der Tanzfläche zogen Discokugeln und andere Scheinwerfer bunte Ansammlungen aus farbigen Lichtkegeln hinter sich her. Hinter der Bar, die die komplette Längsseite des Klubs einnahm, konnte der geneigte Besucher neben altbekannten und außergewöhnlichen Spirituosen auch Dinge wie Schreibmaschinen, Federkiele und Pergamentrollen entdecken. Dekorative Details wie diese, die sich im ganzen Raum verteilt fanden, waren die perfekte Hommage an den Namen des Klubs.   Er war gerne hier, auch wenn er es noch immer nicht ganz fassen konnte, dass ausgerechnet Miya vor einigen Monaten mit diesem Geheimtipp angekommen war. Aber apropos Miya. Tatsuro hielt nach seinen beiden Freunden Ausschau und erspähte sie wie erwartet oben auf der Empore. Wie ein Laufsteg führte sie an allen vier Wänden der Halle entlang und konnte von zwei Seiten aus über Gittertreppen aus Stahl betreten werden. Ihr Tisch, den sie immer in Beschlag nahmen, wenn sie hier waren, stand verborgen vor neugierigen Blicken und doch perfekt, um die Tanzwütigen ein Stockwerk tiefer im Blick zu haben. Tatsuro nickte knapp, als Satochi ihn entdeckt hatte und ihm unauffällig winkte. Er musste sich am Handlauf der Treppe festhalten, denn obwohl er deutlich länger als die angekündigten dreißig Minuten hierher gebraucht hatte, zeigte der früher konsumierte Alkohol noch immer Wirkung.   „Du siehst so aus, wie ich mich nicht fühlen möchte“, begrüßte ihn Sato, wie immer die Direktheit in Person, während sich Miya damit begnügte, auffällig unauffällig auf seine Armbanduhr zu sehen.   „Ich fühl mich auch so“, seufzte er und ließ sich auf den freien Stuhl fallen.   „Ich schließe aus deiner Antwort, dass sich deine Schreibblockade noch immer nicht aufgelöst hat?“ Miya schob ihm mit gerunzelter Stirn einen giftgrünen Cocktail zu, der, dem Kondenswasser nach zu urteilen, das er auf dem Tisch verteilte, dort schon länger auf ihn warten musste. Tatsuro zog testend am Strohhalm, kräuselte wenig angetan von dem warmen Gebräu die Lippen und trank gleich noch einen größeren Schluck. Alkohol war Alkohol, egal wie er schmeckte.   „Schlimmer noch“, jammerte er, stützte sein Kinn in die Handfläche und schnitt eine gepeinigte Grimasse. „Ich hab mir endgültig meine Karriere versaut.“   „Was ist passiert?“ Die Frage war von Satochi gekommen und wenn er sich nicht täuschte, konnte er ehrliche Sorge in dem markanten Gesicht erkennen. Sato war zu gut für diese Welt, was nicht zuletzt der Grund dafür war, dass sie seit einer gefühlten Ewigkeit befreundet waren. Sie hatten sich während ihres Studiums kennengelernt und sehr schnell festgestellt, dass sie mehr als nur die Vorliebe für kreatives Arbeiten teilten. Satochi war ein begnadeter Maler, der sich hin und wieder an der Bildhauerei versuchte, und der es sich nicht hatte nehmen lassen, das Cover für seinen Roman zu entwerfen. Miya hingegen kannte Tatsuro erst seit etwas mehr als einem Jahr. Er erinnerte sich noch wie heute daran, mit welchen Worten Satochi ihn vorgestellt hatte. „Das ist Miya, die Inspiration für meine besten Werke.“ Ja, so konnte man das natürlich auch nennen. Satochi war in dieser Beziehung schon immer etwas eigen gewesen. Wenn man Tatsuro fragte, musste Miya eine Granate im Bett sein, denn anders ließ sich nicht erklären, warum sein Freund so einen Narren an ihm gefressen hatte. Nicht, dass er den kleinen Kerl nicht mochte, aber im Gegensatz zu Satochis offener, quirliger Art wirkte Miya zugeknöpft und langweilig, also absolut nicht wie der Mann, der zu seinem Freund passte.   Tatsuro seufzte. „Was passiert ist? Ich hab Gara zugesichert, ihm bis Freitag Morgen den Prolog und das erste Kapitel zu liefern.“   „Und wie viel davon hast du schon geschrieben?“   Sato kannte ihn zu gut, sonst hätte er seine Frage anders formuliert. „Nichts.“   „Ach du Scheiße“, hauchte sein Freund und selbst über Miyas Gesicht huschte so etwas wie Mitleid.   „Solltest du dann nicht lieber zu Hause vor dem Computer sitzen?“ Die rechte Braue des kleineren Mannes hob sich fragend und immer, wenn Tatsuro von ihm so angesehen wurde, fühlte er sich wie im tadelnden Blick einer enttäuschten Mutter gefangen.   „Das würde es jetzt auch nicht mehr besser machen. Es ist egal, ob ich mich zum Schreiben zwinge oder nicht, Worte bekomme ich so oder so nicht aufs Papier.“   „Du brauchst eine Muse“, schaltete sich Satochi mit einem eigenartigen Funkeln in den Augen ein.   Tatsuro schnaubte. „Ich brauche einen Mitbewohner. Wenn das so weitergeht, bin ich Ende dieser Woche nicht nur arbeitslos, sondern kann mir die Wohnung nicht mehr leisten, weil meine Ersparnisse die Durststrecke der letzten Monate nicht überlebt haben.“   „Ist das dein Ernst?“   „Ehm, was genau?“ Mit gerunzelter Stirn erwiderte er Miyas Blick, in dem nun der gleiche, eigenartige Glanz zu ruhen schien, der ihm auch bei Satochi eben aufgefallen war. „Leute, ihr benehmt euch heute wirklich noch seltsamer als sonst. Aber um deine Frage zu beantworten, ja, ich hab mir schon länger überlegt, die beiden Zimmer, die ich ohnehin nie nutze, an einen Studenten oder so zu vermieten. Wieso fragst du, kennst du jemanden, der daran Interesse hätte?“   „Wie der Zufall es so will, wüsste ich genau die perfekte Muse für dich.“   „Eh, was?“   „Mitbewohner, sorry, Satochi macht mich noch ganz verrückt mit seinem Gerede.“ Miya verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln, das es schaffte, ihm eine Gänsehaut zu verpassen. Wenn der Kleine lächelte, wusste man nie, ob er ehrlich glücklich über etwas war oder im nächsten Moment zum Massenmörder mutierte. Unheimlich war das.   „Na gut, je weniger ich mich mit dem Thema befassen muss, desto besser kann ich im Selbstmitleid versinken. Du kannst ihm meine Nummer geben, wenn du willst.“   „Er müsste morgen sowieso in der Stadt sein, ich würde ihn einfach gleich bei dir vorbeischicken.“   „Mach das, mach das“, winkte Tatsuro ab, das Thema für sich bereits abgehakt. „Aber jetzt genug von Schreibblockaden und Fehlentscheidungen. Solange ich es mir noch leisten kann, euch einzuladen, sollten wir das ausnutzen, oder?“   „Aber so was von!“ Satochi leerte sein halb volles Bierglas in nur einem Zug, als wollte er ihm so beweisen, dass er zu allen Schandtaten bereit war.   Tatsuro schmunzelte und entschied, dass er seinen eigenen Worten folgeleisten würde. Er hatte heute schon genug Zeit damit verschwendet, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die er ohnehin nicht mehr ändern konnte. Es wurde also höchste Zeit, seinem Denkapparat eine wohlverdiente Auszeit zu gönnen. Er setzte sich gerader hin und reckte den Hals nach der Servicekraft, die er eben noch aus dem Augenwinkel erspäht hatte. So abgelenkt bekam er nicht mit, wie sich Satochi zu Miya beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, was mit einem Nicken beantwortet wurde und ein ausgewachsenes Grinsen auf die Lippen des Kleinsten ihrer Runde zauberte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)