Adventskalender von Ryo-ki ================================================================================ Kapitel 24: Screen ------------------ Zero wusste nicht, warum es wieder schlimmer wurde. So viel schlimmer. Er dachte, er hätte sich an die Einsamkeit gewöhnt. Doch er hatte sich getäuscht. Mittlerweile waren so viele Jahre vergangen. Doch bis heute konnte er nicht loslassen. Oder vielleicht ging es auch gar nicht ums Loslassen, sondern darum, einfach nur weiterzumachen. Aber eigentlich tat er genau das seit Jahren. Er machte weiter. Er lebte. Oder existierte. Er arbeitete. Er spielte. Er lachte. Und er weinte. Manchmal. Selten. Er hatte Freunde. Er ging aus. Er machte alles, was zum Leben dazugehörte. Aber dennoch trauerte er. Hieß es nicht, Trauer würde irgendwann enden? Dass es zwar unterschiedlich war, wie lange sie dauerte, aber dass der Prozess irgendwann vorüber wäre? Für Zero fühlte es sich nicht so an. Oder, fragte er sich, wie lange würde dies noch anhalten? Waren zehn Jahre und mehr nicht genug? Alles hatte mit dem Aus der Band begonnen. Hatte es das? Na ja, zumindest war es Zero damals bewusst geworden. Sie hatten sich für das Ende entschieden gehabt, denn sie hatten nicht gewusst gehabt, wann Hizumi wieder würde singen können. Ob überhaupt. Es waren Zweifel dagewesen, diesen Schritt zu gehen, weil er so gewaltig und endgültig gewesen war. Aber er war logisch gewesen. Hatte ihnen anderen die Möglichkeit gegeben, sich frei zu entfalten. Zu Anfang waren sie alle entrückt gewesen. Es war nach den vielen gemeinsamen Jahren so unwirklich gewesen, daran zu denken, nicht mehr zu viert an gemeinsamen Songs zu arbeiten. Doch für Zero war die Hoffnung dagewesen, dies zu dritt zu tun. Und Tsukasa hatte diesen gemeinsamen Weg auch sehr schnell bestätigt gehabt. Damals hatte Zero mehr Zeit mit Tsukasa verbracht als mit Karyu. Dieser hatte sich immer zurückgehalten, wenn sie zu dritt in einem Raum gewesen waren. Wenn sie über mögliche Wege für die Zukunft gesprochen hatten. Eine neue Band, mit einem anderen Vocal. Gezwungenermaßen. Bis zu dem einen Abend. Zero war schon zu Haus gewesen. Er hatte ein bisschen aufgeräumt gehabt, denn mit jedem weiteren Tag, den er hier allein war, bis Karyu am Abend zurückkehrte, war da das Gefühl von Unruhe gewesen. Was der Gitarrist die ganze Zeit machte, hatte Zero nicht einmal gewusst. "Nachdenken", war jedes Mal die Antwort gewesen. An diesem Abend hatte Karyu gar nichts gesagt. Er hatte ihre Wohnung betreten und sich die Schuhe ausgezogen gehabt. Die Jacke aufgehängt. Sich die Hände gewaschen, wie er es immer tat, wenn er nach Hause kam. Danach war er in sein Arbeitszimmer gegangen. Zero hatte ihm angesehen, dass den Größeren etwas beschäftigte. Aber das war die Tage zuvor auch nicht anders gewesen. Was an diesem Abend anders gewesen war, wusste Zero heute nicht mehr, aber er hatte das Schweigen nicht ertragen. Deswegen war er Karyu nach einiger Zeit nachgegangen. Hatte leise die Tür geöffnet. War die wenigen Schritte gegangen. Und hatte eine Hand auf Karyus Schulter gelegt. Trotz der Kopfhörer hatte dieser sich nicht erschrocken. Als hatte er nur auf Zero gewartet. Minuten später hatten sie im Wohnzimmer gesessen. Welche Worte Zero gesagt hatte, damit Karyu ihm gefolgt war, wusste er heute nicht mehr. Zero hatte überlegt, was er zum Einstieg sagen könnte. Doch dies war nicht nötig gewesen. Karyu hatte eigene Worte gehabt. Und sie hatten das Ende endgültig eingeleitet. Wie die Bridge vor dem letzten Refrain. "Ich werde einer Band beitreten." Im ersten Moment hatte Zero gar nicht darauf reagieren können. Überhaupt nicht. In ihm hatte es absolut gar nichts gegeben. "Du denkst darüber nach?" "Ich habe vorhin zugesagt." Und dann war Karyu aufgestanden und zurück ins Arbeitszimmer gegangen. Zero war sitzen geblieben. Nichts hätte den Gitarristen umstimmen können. Das hatte Zero gewusst. Selbst wenn sich nun Überraschung in ihm ausgebreitet hatte, hatte er Karyu gut genug gekannt. Dafür hätte dieser die andere Band hängenlassen müssen. Selbst wenn er bislang noch gar kein Teil derer gewesen war. Eine Zusage war verbindlich. Und die hatte Karyu Tsukasa und ihm gegenüber nie gemacht gehabt. Tief in sich war Zero sich dessen auch bewusst gewesen. Dass Karyu immer nur geschwiegen, aber nie zugesagt hatte. Ab da war alles bergab gegangen. Sie hatten weiterhin nicht viel miteinander gesprochen. Und Zero hatte davon abgesehen, Karyu danach zu fragen, ob dieser es sich nicht noch einmal überlegen wolle. Keinen Druck produzieren. Es wie andere Paare mit unterschiedlichen Arbeitsplätzen angehen. Selbst wenn eine Band dem nur eingeschränkt entsprach. Tsukasa und er hatten weiterhin überlegt und geplant. Alles greifbarer gemacht. Karyu war immer weniger zu Haus gewesen. Nach der offiziellen Ankündigung über seinen Beitritt hatte er zeitweise die Nächte anderswo verbracht. "Bei der Band", hatte er gesagt. Zero hatte es nicht hinterfragt, weil es zu dem Größeren passte. Und dann war der Tag gekommen, an dem Karyu den Schlussstrich gezogen hatte, ohne es direkt zu sagen. "Ich habe eine neue Wohnung gefunden. Näher am Studio." Zeros erste Frage hatte der Größe gegolten. Und daraus hatte er alle Antworten erkannt. Diese Wohnung würde Karyu allein bewohnen. "Warum redest du nicht mit mir? Warum entscheidest du immer wieder, was uns beide betrifft, allein?" Karyu hatte ihm geantwortet, doch Zero hatte vergessen, was. Weil er die Begründung nicht verstanden hatte. Sie war egoistisch gewesen. Nicht, weil Karyu Freiraum gebraucht, Abstand gebraucht hatte, sondern weil er keinerlei Kompromissbereitschaft gezeigt hatte mit diesen Alleingängen. So funktionierte eine Beziehung nicht. An diesem Punkt hatte Zero endgültig erkannt, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben konnten. Heute erinnerte er sich fast immer an die guten Zeiten. Und er vermisste diese. Nicht oft, denn meistens konzentrierte er sich auf anderes. Zu denken, bedeutete entweder diese schmerzhaften Erinnerungen auszugraben oder die schönen zu vermissen. Und er wusste, dass es nicht nur eines davon gab. Natürlich könnte er Karyu kontaktieren. Es war ja nicht so, dass sie nicht mehr miteinander sprachen. Eigentlich taten sie das tatsächlich nicht, aber das lag nicht an Spannungen zwischen ihnen. Sie lebten einfach jeder ihr eigenes Leben. Ohne den anderen. Sie hatten es für das One-Day-Revival-Live vor Jahren getan gehabt. Und bei den wenigen anderen Gelegenheiten, bei denen sie sich begegnet waren. Zero wollte Karyu nicht anrufen oder schreiben. Und er wollte auch keinen neuen Versuch wagen. Karyu müsste ein anderer Mensch geworden sein, um anders zu handeln. Und einen anderen Menschen wollte Zero nicht. Doch das alles erneut erleben, wollte er ebenfalls nicht. Konnte er nicht. Er hatte diese Überlegungen schon in der Vergangenheit gewälzt gehabt. Aber jedes Mal war er zu demselben Ergebnis gekommen. Deswegen verwendete er jetzt auch keine ausführlichen Gedanken daran. Karyu zu vermissen, würde vermutlich immer Teil seines Lebens sein. Die schönen Zeiten mit dem Gitarristen zu vermissen. Die gemeinsamen kreativen. Wenn Karyu vor Ideen nur so übersprudelte und sie diese in perfekter Harmonie ausarbeiteten. Sich ideal ergänzten. Etwas anderes als diese Erinnerungen würde es für Zero nicht mehr geben. Dennoch, eines hatte Karyu ihm damit genommen. Sein Vertrauen. Es war sicher nicht Karyus Absicht gewesen. Trotzdem war dies ein Grund für Zeros Einsamkeit. Er hatte seit damals niemals versucht, einen anderen zu finden. Und Zero hatte irgendwann erkannt, dass er es auch nicht vermisste. Selbst in der Einsamkeit vermisste er es nicht, eine Beziehung zu haben. Seine Einsamkeit war anders. Sie begann auf einer ganz anderen Ebene. Und sie würde auch in einer Beziehung weiter bestehen. Es war, als hätte Karyu diese Ebene damals versiegelt, als er gegangen war. Oder zerstört. Das Ergebnis blieb dasselbe. Keiner von Zeros Freunden wusste von der Einsamkeit. Denn nicht einmal sie ließ er nahe genug an sich heran. Das hatte er bei Karyu getan gehabt. Und hatte deswegen zerbrochen zurückbleiben können. Irgendwann war Zero darüber wütend gewesen. Er hatte sich von Karyu beraubt gefühlt gehabt. Doch das lag hinter ihm. Vielleicht hatte Karyu es wirklich getan, vielleicht auch nicht. Es gab nicht immer nur eine Wahrheit. Und die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Nur die Zukunft. Gekittet hatte diese Erkenntnis Zero dennoch nicht. Sie hatte ihn verändert. Zurückgezogen. Egal wie viel Zeit er mit anderen verbrachte, mit ihnen ausging, lachte und Musik machte. Er selbst, der, der er tief in sich war, blieb verborgen. Geschützt. Und Zero glaubte nicht daran, dass sich das je wieder ändern würde. Auch Karyu gegenüber nicht, wenn sie je wieder Kontakt hätten. Aus Trümmern ließ sich keine Perfektion mehr erschaffen. Und sie alle hatten nur einen Bausatz im Leben. Nur er selbst kannte den Schauplatz, den die Zerstörung zurückgelassen, den er mühsam wieder aufzubauen versucht hatte. Als Bild gliche dieser einer trostlosen Landschaft, dunkel und grau, düster und hoffnungslos. Ohne Grün und Farbe, sondern verdorrt und trüb. Verlassen und einsam. Das war Zeros emotionale Welt. Und zugleich sein einziges Zuhause. Der Ort, an dem er sein Leben zubringen würde, bis der Augenblick kam, in dem die Flamme dessen erlosch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)