Adventskalender von Ryo-ki ================================================================================ Kapitel 15: 琥珀 (Kohaku) ----------------------- "Du kannst da hinten in der Ecke schlafen." Der ältere Junge - eigentlich war er fast schon ein Mann - deutete auf einen Verschlag am Ende der Mauer. Karyu nickte und ging hinüber. Als er ankam, schlug er die Plane beiseite, um sich zurückzuziehen. Doch er war nicht allein. Verborgen unter einem großen Stück Pappe blickte ihn ein Paar Augen an. Der Rest des Kopfes war mit Kleidung bedeckt. Selbst die Hände, die die Pappe hielten, waren unter Handschuhen verborgen, denen die Fingerspitzen fehlten. "Hi. Ich bin Karyu." Er erhielt keine Antwort. Der Andere rührte sich nicht, nur die Augen folgten jeder Bewegung, die Karyu tat. Hier drinnen war sehr wenig Platz, doch kaum, dass er die Plane fallen ließ, nahm die Intensität des Windes ab. Wärmer würde es dadurch allerdings auch nicht werden. Trotzdem war es besser als ungeschützt draußen zu schlafen. Karyu fand ein weiteres Stück Pappe, legte es in die dem Anderen gegenüber liegende Ecke und ließ sich darauf nieder. "Willst du mir nicht sagen, wie du heißt?" "Wozu willst du das wissen?" Er war jung. Jünger als Karyu. Dennoch klang die Stimme bereits tief und voll. Obwohl der Andere sehr leise gesprochen hatte. "Weil ich dir meinen Namen auch verraten habe." Wieder erfüllte nur Schweigen den kleinen Raum, den sie teilten. Karyu rutschte ein Stück weiter zurück in die Ecke und versuchte eine einigermaßen bequeme Position zu finden. Wenn der Andere nicht mit ihm reden wollte, dann würde er es eben lassen. Lange würde Karyu ohnehin nicht hier bleiben. Höchstens ein paar Tage. So lange der Regen anhielt, war er hier besser dran als allein auf den Straßen der Großstadt. Selbst wenn die anderen Menschen hier ihm nicht helfen würden. Das taten die wenigsten. "Zero." Mit einem Ruck hob er seinen Kopf und nickte dem Anderen zu, der ihn noch immer unentschlossen musterte. Wieso nur war da dieser Wunsch, mehr zu wissen? Mehr von dem Anderen zu erfahren? Eine Woche später war Karyu noch immer hier. Und er dachte nicht mehr daran, zu gehen. Nicht so lange Zero hier war. Sein Magen knurrte und sagte ihm etwas anderes, doch Karyu ignorierte es. Hunger begleitete ihn seit langem, das war nichts Neues. Neben ihm regte Zero sich, doch der Jüngere erwachte nicht. Vorsichtig strich Karyu ihm mit der Hand über den Kopf. "Geh nicht." Es war nicht das erste Mal, dass Zero im Schlaf sprach und Karyu ließ ihn deswegen auch nicht allein. Das wollte er nie wieder, solange sie hier ausharrten. Er wollte mehr. Mehr Sicherheit, wenigstens für Zero. Und genügend zu essen. Schon wieder bewegte der Jüngere sich und schlug die Augen auf. Er zitterte, obwohl er es zu verbergen versuchte. Ohne zu zögern, ließ Karyu sich zurücksinken und zog Zero in eine Umarmung. Das würde nicht sehr viel ändern, diesem aber vielleicht ein bisschen mehr Wärme geben, der Zero sich auch sofort entgegen bewegte. Alles, was er wollte, war, dem Jüngeren zu geben, was dieser sich wünschte. Das bedeutete nicht nur, die Einsamkeit für den Augenblick zu nehmen, sondern für immer. Doch Karyu wusste nicht, wie ihm das gelingen sollte. Wenn sie hier wegkämen, wenn sie einen Platz fänden, wo sie aufgenommen würden, könnte er Zero nicht garantieren, bei diesem bleiben zu können. Er hatte Zero das vorgeschlagen. Sie waren beide nicht volljährig, aber gerade Zero hatte noch so einige Jahre vor sich, die er in einem Heim verbringen könnte. Doch dieser wollte nicht. Dieser hatte Angst davor, dort wieder allein zu sein. "Dort gibt es weitere Jugendliche." "Aber ich kenne sie nicht." "Du wirst sie kennenlernen." Dann hatte Karyu aufgehört gehabt, davon zu sprechen, denn Zero hatte sich von ihm zurückgezogen gehabt. Diese Bewegung hatte dem Älteren mehr von Zeros Angst gezeigt gehabt als Worte es je könnten. Also blieben sie hier. Niemals würde Karyu etwas tun, das Zero nicht wollte. Er wollte nur für den Jüngeren da sein. Diesem die Wärme geben, die dieser brauchte, zumindest solange der Winter anhielt. Im Frühjahr und Sommer war es immer ein bisschen erträglicher. Aber auch dann würde die Einsamkeit bleiben. Deswegen dachte Karyu nicht mehr darüber nach, fortzugehen. Er wusste, dass Zero aufgeben würde. Als sie sich kennengelernt hatten, war der Jüngere nahe dran gewesen, genau dies zu tun. Und Karyu würde das nicht riskieren. Behutsam verstärkte Karyu seinen Halt um Zero und begann zu summen, damit dieser wieder einschlafen konnte. Eines Tages würden sie hier verschwinden. Dann würde es besser werden. "Ich werde dir zeigen, dass es nicht nur die Dunkelheit gibt. Irgendwann werden wir auch das Licht kennenlernen. Gemeinsam. Das verspreche ich dir." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)