Stray Dogs Monogatari von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 10: Epilog: Ein altes Märchen ------------------------------------- Michizo Tachihara war den Tränen nahe. Er stand im Morgengrauen im Büro des Bosses und wog mit zunehmender Panik die ohne Unterbrechung schreiende Gin in seinen Armen hin und her. Sie war so klein geworden, dass sich Tachiharas Brustkorb bei ihrem Anblick schmerzhaft zusammenzog. Die Ärztin aus der Detektei hatte ihnen bei ihrem Treffen gesagt, dass die Existenz derjenigen, die sich zurückentwickelten, irgendwann ausgelöscht würde. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, so war sich Tachihara sicher, dann würde genau dies mit Gin passieren. Und nicht nur mit ihr. Der überforderte und übernächtigte Blick des Rothaarigen ging zu dem Baby, das er auf einem der Sessel abgelegt hatte und dessen Lärmpegel dem von Gin in nichts nachstand. „Hirotsu, nicht wieder herunterrollen!“ Er eilte zum Sessel und schob den brüllenden Säugling zurück auf die Sitzfläche. Sollte er ihn doch auf den Boden legen? War es da nicht zu kalt? Hirotsu war vor einigen Stunden zu einem kreischenden Baby geworden, das sich durch nichts beruhigen ließ, egal, was Tachihara versuchte. Zuvor war wenigstens noch ein Büroarbeiter der Hafen-Mafia bei ihm gewesen, der selber Kinder hatte und ihm geholfen hatte, bevor auch er sich in Luft aufgelöst hatte – so wie der Großteil der Hafen-Mafia. Tachihara wusste nicht einmal, ob überhaupt noch jemand außer ihm da war. Dies war also das unrühmliche Ende einer so stolzen Organisation. Sein Blick ging schlagartig zum Boden, als ihn dort jemand am Hosensaum zog. „Buuu brääh mjem guuh“, klagte das schwarzhaarige Kleinkind dort unten mit unzufriedener Miene. Kurz nachdem Hirotsu zu einem Wickelkind geworden war, hatte auch Mori einen heftigen Sprung rückwärts gemacht und war zu einem Kleinkind geworden, dass nur noch zum Krabbeln und unverständlichem Brabbeln in der Lage war. „Boss, es tut mir leid, ich habe keine Ahnung, was Sie sagen.“ „Brääääh. Brääääh. Bräääääh.“ Der kleine Mori sah mit riesigen Kulleraugen zu ihm hoch, als würde er sich erhoffen, dass dies irgendwie bei der Verständigung helfen könnte – tat es aber nicht. „Bitte seien Sie leise, sonst wird Hirotsu nur wieder laut-“ „WHÄÄÄÄÄ!! WHÄÄÄÄÄÄ!!! WHÄÄÄÄÄÄ!!!“ Hirotsus ohrenbetäubender Lärm ließ auch Gin noch stärker brüllen. Tachihara wog sie mit zitternden Händen weiter in seinen Armen und blinzelte ein paar Tränen weg, die sich in seinen Augen formten. Er hatte schon mehrfach darüber nachgedacht, die Kinder sich selbst zu überlassen und einfach abzuhauen. Doch obwohl er diesen Gedanken in den letzten Stunden so oft gehabt hatte, stand er immer noch hier bei ihnen. Ein sirrendes Geräusch, das mit einem Mal zu hören war und immer lauter wurde, ließ seine Alarmglocken schrillen. Was war das denn nun schon wieder? Tachihara überlegte, ob er sich die Kinder schnappen und sie in Sicherheit bringen sollte, doch da verschwamm vor ihm die Luft, sie flimmerte wie sie es sonst an einem sehr heißen Tag in der Stadt tat, und plötzlich - „Ahhhh!“ Rumms! In einem hohen Bogen fiel Chuuya Nakahara aus dem Nichts in das Büro und donnerte auf den Boden. Keine Millisekunde später flog Higuchi hinterher und landete auf ihm. Nur Akutagawa fing sich elegant mit aus Rashomon geformten Stützen ab und landete sanft auf beiden Beinen. „ … Häh?“, war alles, was Tachihara im ersten Moment sagen konnte. Dann bemerkte er, dass Gin aufgehört hatte zu schreien und seine Augen schnellten zu dem kleinen Bündel in seinen Armen … das wieder gewachsen war. Sein Blick ging zu Hirotsu, der nun wieder ein Kleinkind war und ihn ziemlich verdattert vom Sessel aus anschaute. „Ihr seid wieder da.“ Klein-Mori war ebenso wieder ein bisschen älter und applaudierte mit seinen winzigen Händchen; sichtlich erfreut, sich wieder verständlich machen zu können. Chuuya blickte auf und erhob sich vom Boden, nachdem Higuchi peinlich berührt von ihm heruntergestiegen war. „B-Boss?“ „Ja?“ Mori erwiderte erwartungsvoll Chuuyas Blick, während er – trotz seines niedlichen Äußeren - seine übliche Mimik und Haltung annahm. Das Führungsmitglied jedoch war so sprachlos beim Anblick des Mini-Moris, dass er ihn nur mit offenem Mund anstarren konnte. „Das … das ist nicht wahr … Hirotsu?“ Higuchi hatte währenddessen den kleinen Jungen auf dem Sessel bemerkt, der sie mit gestrenger Miene musterte. „Buh“, war die einzige Antwort, die sie von ihm erhielt. „Hi-higuchi“, stammelte Tachihara mit weit aufgerissenen Augen, als er sich die Vorgesetzte näher besah. „Wie-wie siehst du denn aus?? Und wieso stinkt es hier so entsetzlich nach Weihrauch?? Was in aller Welt ist hier lo-?“ „Tachihara.“ Akutagawa fiel ihm harsch ins Wort. Auch sein Blick war noch unterkühlter als sonst. „Hältst du da gerade meine Schwester im Arm?“ Alle anderen blickten nun verwundert zu dem jungen Mann mit dem Pflaster auf der Nase. Selbst das kleine Mädchen Gin schaute erstaunt zu ihrem Babysitter hinauf. So ruppig war Akutagawa nun auch wieder nicht gewesen, dass Tachihara so heftig darauf reagieren musste. „Hey“, richtete Chuuya tadelnd an ihn, während er seinen verbeulten Hut aus dem Tragetuch auf seinem Rücken nahm, „seit wann bist du denn so eine Heulsuse?“ Tachihara schüttelte den Kopf und versuchte vergebens, seine restlichen Tränen zurückzuhalten.   Vor Angst zitternd beugte sich Kyoka über Kenji und überprüfte, ob er noch atmete. Sie selbst holte erst wieder Luft, als der unruhig schlafende Kenji dies auch getan hatte. Er hatte Aussetzer in seiner Atmung und die am ganzen Körper bebende Kyoka hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun sollte. Bevor Yosano vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war, hatten sie noch darüber gesprochen, dass es nicht viel Sinn machte, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, denn sie alle wussten ja, dass es nur einen Weg gab, das Leben des Freundes zu retten. Ihm blieb kaum noch Zeit und Kyoka fühlte, wie sich vor Angst ihr Brustkorb zusammenschnürte. Sie war ganz allein mit einem sterbenden Kenji und einem immer weiter schrumpfenden Chef. Panisch bemerkte sie plötzlich das Fehlen des Jungen, der eigentlich neben ihr stehen sollte. Die Frau lief in den Flur zurück und riss die Tür zum Büro auf. „Chef!“, keuchte sie atemlos. „Ich hatte Sie doch gebeten, bei mir zu bleiben!“ Der etwa siebenjährige Junge, der dort im Büro stand, guckte sie perplex an. Fukuzawa hatte letzten Endes doch irgendwann den Kampf gegen die Stoffmassen seines Kimonos aufgegeben und Kenjis Kleidung angezogen, aber selbst diese war ihm inzwischen viel zu groß und wie er allein in den übergroßen Sachen Kenjis in der Mitte der Detektei stand, machte er einen vollkommen verlorenen Eindruck. „Mir war nur so, als ...“ Sein Blick schweifte durch den großen, menschenleeren Raum. Dann schüttelte er verzagend den Kopf. „Ich weiß nicht einmal, worauf ich eigentlich warte.“ Der Anblick brach Kyokas Herz. „Kommen Sie“, sagte sie mit erstickter und bebender Stimme, „wir bleiben bei Kenji.“ Am liebsten hätte sie ihn an die Hand genommen, doch auch wenn er aussah wie ein kleines, verlassenes Kind – das war immer noch ihr stolzer und ehrenwerter Chef, der da vor ihr stand. Urplötzlich riss Fukuzawa erschrocken die Augen auf und auch Kyoka erstarrte vor Entsetzen, als ein sirrendes Geräusch aus dem Nichts ertönte. Ihre vorigen Bedenken über Bord werfend, packte sie den überrumpelten Jungen, zog ihn zu sich zurück und stellte sich schützend vor ihn, als die Luft flimmerte und einen Wimpernschlag später Kunikida ausspuckte, der auf den Boden donnerte. Atsushi flog gleich hinterher und landete auf dem Älteren, bevor Dazai wiederum auf alle beide drauf flog und Ranpo schließlich obenauf weich landete. Atsushi traute sich kaum, seine Augen zu öffnen. Wahrscheinlich stand vor ihnen bereits ein gutes Dutzend hungriger Dinosaurier. „Sind wir tatsächlich zurück?“ Bei Kunikidas ungläubiger Frage öffnete der Junge seine Augen doch. Zaghaft. Sehr zaghaft. Eine wunderhübsche Frau mittleren Alters stand vor ihm und starrte ihn entsetzt an. Sie schien den Atem angehalten zu haben. Ein kleiner, silberhaariger Junge im Grundschulalter und in Kenjis Klamotten stand neben ihr und musterte sie alle mit großen Augen. Verwirrt blinzelte Atsushi sie vom Boden aus an. Waren sie hier wirklich richtig? Die Frau schluckte und begann zu weinen. Er beäugte sie näher. Die Frau trug zwei Zöpfe und einen roten Kimo- … nein. Atsushis Kinnlade klappte nach unten, als er endlich begriff, wer da vor ihm stand. Das war nicht … das konnte nicht … und der Junge … nein … oder doch?? „Huh“, machte Ranpo, immer noch auf den drei anderen thronend und den Blick auf den kleinen Jungen gerichtet, „das ist jetzt nicht wahr.“ „Geht ihr endlich von mir herunter??“, schimpfte der zuunterst liegende Kunikida. „Euer Gewicht und Dazais Weihrauchgestank ersticken mich gerade!“ Die drei waren gerade von ihm heruntergestiegen, als es 'Plopp!' machte und Yosano plötzlich wieder im Büro stand. „Was …?“ Verdattert blickte sie sich um und hielt sich eine Hand vor die Nase. „Uargh, was ist das für ein strenger Geruch?“ Ein weiteres 'Plopp' erklang und Naomi saß wieder auf ihrem Platz, um eine Sekunde später ihrem ebenso wieder aufgetauchten Bruder um den Hals zu fallen. „Bruderherz!!“ Sie schmiss sich auf den verdutzten Rothaarigen, der nicht wusste, wie ihm geschah. „Es tut mir so leid! Naomi wird dich nie wieder vergessen!“ „Huh? Was?“ Tanizakis Augen wanderten hastig von einer Person zur nächsten. „Ihr seid wieder da! Ist alles wieder in Ordnu- du meine Güte, ist das der Chef?? Und das Kyoka??“ Die beiden Erwähnten erwachten aus ihrer Schockstarre und tauschten einen erschrockenen Blick aus, den Yosano sofort verstand. „Was ist mit Kenji?!“, fragte sie panisch, während sie bereits auf dem Weg in den Flur war. „Hier war wohl eine Menge los“, bemerkte Dazai. „Kyo-kyoka?“ Atsushi war an die Frau herangetreten und kam sich erstaunlich klein neben ihr vor. Kyoka errötete, als Atsushi sie mit ungläubigen Augen anblickte, aber nichtsdestotrotz überwog ihre Erleichterung und sie drückte ihn in einer Umarmung an sich, die nun wiederum Atsushi erröten ließ. Schnelle Schritte eilten aus dem Flur heran und Haruno stürzte in den Büroraum. „Ah, was für ein Glück! Ihr seid wieder da!“ Sie atmete erleichtert aus, bevor sie Fukuzawa erblickte und ihre Miene entgeisterte Züge annahm. „Chef? Sind Sie das etwa??“ In diesem Moment kam Yosano wieder herein und Fukuzawa und Kyoka hielten von neuem den Atem an - bis die Ärztin lächelte. „Kenji geht es schon besser“, sagte sie sichtlich erleichtert. „Er ist zwar noch im Rentenalter, aber dafür wach. Und gerade hat er mich gefragt, ob ich etwas zu essen für ihn hätte. Das ist bei ihm ein mehr als gutes Zeichen.“ Ein kaum wahrnehmbares Lächeln bildete sich daraufhin auf Fukuzawas Gesicht, als er sich den vier Zeitreisenden zuwandte. „Willkommen zu Hause. Ihr seht so aus, als hättet ihr viel erlebt. Yosano, Kunikida und Atsushi scheinen verletzt zu sein. Kümmere dich bitte um sie. Ist bei euch alles in Ordnung, Dazai und Ranpo?“ „Abgesehen davon, dass mich jeder auf meinen neuen Duft hinweist, ja“, antwortete Dazai achselzuckend. Nur Ranpos Mimik war verkniffen. „Ist dies etwa die hier gebräuchliche Art einen Fürsten zu empfangen?“, fragte er empört. „Fürsten?“, stutzte Fukuzawa. Ihm war Ranpos edle Kleidung nicht entgangen, doch das erklärte die Frage des eigentlich Jüngeren nicht. „Ich, Seine Durchlaucht Fürst Edogawa, habe jawohl deutlich mehr Respekt verdient!“ Die Detektive tauschten verstörte Blicke aus. Was redete Ranpo da nur? Und wie redete Ranpo plötzlich? „Ranpo?“, hakte Kunikida beunruhigt nach. „Du weißt, dass du nicht wirklich ein Fürst bist, oder?“ „Was für ein Frevel! Und das aus dem Munde eines niederen Dieners!“ Tanizaki, Naomi, Haruno und Kyoka tauschten nervöse und fragende Blicke aus, während Yosano eine ihrer Hände aus ihren Handschuhen befreite und Ranpo gegen die Stirn hielt. „Fieber hat er keins.“ Besorgt löste sich Atsushi aus Kyokas Umarmung. „Ist das vielleicht eine Nebenwirkung vom Zeitreisen? Hält er unsere Scharade jetzt für die Realität?“ Niedergeschlagen fasste Kunikida sich mit einer Hand an den Kopf. „Das war so klar! Es musste noch etwas schief gehen!“ Er packte Ranpo an den Schultern und sah ihn eindringlich an. „Du bist kein Fürst, Ranpo. Das war nur gespielt. Du bist einer der bewaffneten Detektive, erinnerst du dich?“ Entrüstet wischte der angebliche Adlige sich Kunikidas Hände von den Schultern. „Einer der bewaffneten Detektive? Mach dich nicht lächerlich!“ Voller Entsetzen beobachtete Atsushi diese Szene und warf Dazai einen hilfesuchenden Blick zu. Dazai jedoch war angesichts einer so kritischen Entwicklung ganz entspannt. Wie konnte er jetzt so ruhig bleiben? Ranpo hatte offensichtlich einen Schaden davon getragen. Wie sollten sie das denn reparieren? Sie konnten Wells schließlich nicht erreichen. Was sollte nun aus Ranpo wer- Bevor er seinen Gedanken zu Ende denken konnte, gab Fukuzawa ein leises Seufzen von sich und ging zu Ranpo hin. Aufgrund seiner kleinen Größe musste er zu dem Schwarzhaarigen aufschauen. „Ranpo“, sagte er streng und es war bemerkenswert und grotesk zugleich, wie er mit seiner hellen Jungenstimme trotzdem einschüchternd wirken konnte, „du bist natürlich nicht nur einer der bewaffneten Detektive, sondern der größte Meisterdetektiv aller Zeiten. Das wolltest du doch hören, oder?“ Die Mimik des vermeintlichen Fürsten blieb ernst. „Und?“ Der Chef seufzte erneut. „Und ich habe nicht vergessen, dass ich dir ein Essen schulde.“ Schier endlos scheinende Sekunden verstrichen, in denen alle Augen gespannt auf Ranpo ruhten. „Ha ha ha!“, rief dieser freudig grinsend aus. „Dann ist alles gut!“ „Was?“, entfuhr es Atsushi. „Das … das war nur …?“ „Hast du von Ranpo etwa etwas anderes erwartet?“, merkte Dazai amüsiert an. „Er liebt die große Bühne eben.“ Erleichtert schüttelte Yosano den Kopf. „Was bin ich auf eure Erzählungen gespannt.“ Sie deutete Atsushi und Kunikida an, ihr ins Arztzimmer zu folgen. „Einen Moment“, entgegnete Letzterer, „ich will endlich wieder meine Brille tragen.“ Er schritt zu seinem Schreibtisch, öffnete eine Schublade, nahm eine Ersatzbrille heraus und setzte sie auf. „Meine alte Brille ist zerbrochen, als der Blitzschlag mich durch die Luft geschleudert hat … was ist denn das?“ Er blinzelte seinen Schreibtisch an. Die gesamte Oberfläche war mit Haftnotizzetteln beklebt, auf denen Dinge über ihn geschrieben standen. Neben seinem Namen und seinem Aussehen fanden sich dort lauter Beschreibungen seines Charakters: „Von Pünktlichkeit besessen“, „Von seinem Notizbuch besessen“, „Von seinen Idealen besessen“, „Von Rachefantasien an Dazai besessen.“ Das war doch Kyokas Handschrift. Er warf ihr einen kritischen Blick zu, worauf sie prompt wieder errötete. „Tut nur so böse, ist in Wahrheit lieb und aufopfernd“, las Kunikida zuletzt und bemerkte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. „Hey, ich habe auch welche“, äußerte Dazai überrascht, als er zu seinem eigenen Tisch blickte und sich die Notizen durchlas. „1. Hobby: Selbstmord, sehr schlecht darin“, „2. Hobby: Kunikida ärgern, sehr gut darin“, „Verstehe ihn nicht ganz“, „Atsushi mag ihn sehr“, „Ist ein guter Mensch.“ Dazai blinzelte den letzten Zettel erstaunt an und deckte ihn mit einer Hand ab. „Anscheinend hat Kyoka mit diesen Merkzetteln versucht, uns nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.“ Ranpo fischte sich eines der Blätter von seinem Platz. „'Süßigkeitenjunkie'“, las er laut vor, „das halte ich aber für übertrieben.“ Er nahm sich zwei Weitere. „'Hat ein ansteckendes Lachen', ja, das ist schon besser. 'Kopf und Seele des Büros', das trifft es sehr gut!“, rief er aus und lachte vergnügt. Atsushi sah in der Zwischenzeit zu seinem Tisch, der über und über voll geklebt war. „Schüchtern, aber auf süße Weise“, „Freundlich und hilfsbereit“, „Tut für seine Mitmenschen alles“, „Hat das reinste Herz der Welt“, „Liebenswertester Mensch auf Erden.“ „Hört bitte auf, sie zu lesen!“, flehte Kyoka mit hochrotem Kopf und Atsushi wandte sich ihr mit seligem Blick wieder zu. „Kyoka, danke. Und nicht nur fürs Nicht-Vergessen.“   Kunikida beobachtete jede Bewegung von Kenji mit Argusaugen. Es war inzwischen mehr als ein halber Tag seit ihrer Rückkehr vergangen und Kenji hatte sich so weit erholt, dass er wieder bei den anderen im Büro sitzen und ordentlich futtern konnte. Immer noch in Kunikidas Kleidung. Nun erneut ein Mann mittleren Alters und mit jeder Stunde, die verging, sich weiter verjüngend, biss Kenji ein übergroßes Stück eines Currybrötchens ab. „Daf fmeckt fo lecker, Kunikida!“, sagte er fröhlich und mit vollem Mund, sodass Krümel und Curry auf die geborgte Kleidung des Idealisten fielen. „Willft du fiffer nifftf?“, ergänzte er kauend, während der Angesprochene flink Servietten auf dem eigentlich Jüngeren ausbreitete. „Nein … danke.“ Kunikida verabschiedete sich gedanklich von seinem Ersatzanzug, als ein großer Tropfen Currysoße sich geschickt an den Papiertüchern vorbei auf die Hose manövrierte. Nach dem, was Yosano und Kyoka allerdings Dramatisches erzählt hatten, konnte er ihm nicht einmal böse sein. Die Hauptsache war, dass Kenji außer Gefahr und wieder frohen Mutes war. Atsushi betrachtete die Szene mit einem Schmunzeln und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Kyoka, die nur wenige Jahre älter als er selbst war, ihn besorgt musterte. „Tun die Verbrennungen noch weh?“, fragte sie und er schüttelte sogleich den Kopf, um sie zu beruhigen. „Es kribbelt noch ein bisschen komisch, aber der Tiger leistet ganze Arbeit.“ „Wie es aussieht“, schaltete sich Yosano ein, „kommen wir alle ohne bleibende Schäden davon.“ Zum Glück hat auch die Gegenwart keine Schäden davon getragen, dachte Atsushi, als ihm plötzlich siedend heiß etwas einfiel. „Tanizaki, kannst du schnell etwas für mich überprüfen?“ „Huh?“ Angesichts der plötzlichen leichten Panik in der Stimme des Silberhaarigen blinzelte Tanizaki ihn verdutzt an. „Ja, natürlich. Was denn?“ „Kannst du etwas zum südlichen Tor des alten Kaiserpalastes in Kyoto herausfinden?“ Tanizaki tauschte bei dieser Anfrage einen irritierten Blick mit seiner Schwester aus und zuckte mit den Schultern, ehe seine Finger über die Tastatur seines Computers flogen. „Hmm, mal sehen … hier habe ich etwas. Es hat wohl mal ein gigantisches Tor am südlichen Teil des Palastgeländes gegeben, aber das ist vor etwa eintausend Jahren bei einem Erdbeben zerstört worden. Hilft dir das weiter?“ „Bei einem Erdbeben?“ Atsushi klang merkwürdig erleichtert, worauf die Geschwister erneut irritierte Blicke austauschten. „Ist das etwas Gutes?“, hakte Naomi nach. „Ja! Ich meine, nein, natürlich nicht, aber es ist besser als die Wahrheit.“ „Muss ich bei dir auch mal Fieber messen?“ Yosano zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. In diesem Moment betrat der Chef wieder das Büro und hielt mit missmutiger Miene sein Handy an sein Ohr. Er war nun etwa Ende 20 und die Detektive hatten sich geschworen, Stillschweigen darüber zu bewahren, dass Haruno vor einer guten Stunde gegen eine Wand gelaufen war, weil sie Fukuzawa im Gehen zu lange angestarrt hatte. „Aha. Nein, dagegen kann man nichts machen.“ Er legte auf. „Wenn Sie so dreinblicken, war das Mori“, schlussfolgerte Yosano. „Bei der Hafen-Mafia normalisiert sich wohl auch alles“, antwortete Fukuzawa knapp. „Außerdem wollte er wissen, was man gegen Akutagawas Weihrauchgeruch unternehmen könnte.“ „Das wüssten wir auch gerne“, warf Kunikida ein und blickte zu Dazai, der am offenen Fenster sitzen musste. „Hast du dich auch wirklich ordentlich gewaschen?“ Der Brünette schnupperte an seinem eigenen Arm. „Ich habe sogar alle Verbände gewechselt. Ich wette, Akutagawa stinkt noch schlimmer, weil er sich bestimmt weigert, seinen Mantel in die Wäsche zu geben.“ Da bemerkte Fukuzawa Ranpo, der erstaunlich ruhig neben einer ungewöhnlich vollen Chipstüte auf einem der Sofas lag und in einem Buch las. Einem Buch. Das allein war schon seltsam genug, sodass der Chef näher herantrat, um den Titel lesen zu können. Als er ihn las, stutzte er heftig. „Ranpo“, sagte er ernst, „fühlst du dich nicht gut?“ „Hmm?“ Der Meisterdetektiv guckte von seiner Lektüre hoch. „Doch, wieso?“ „Du liest eine Gedichtsammlung aus der Heian-Zeit.“ „Darf man hier nicht in Ruhe lesen, was man will?“ Schmollend widmete er sich wieder dem Buch. Verdattert blickte Fukuzawa ihn noch einen Augenblick lang an, bevor er sich Yosano zuwandte. „Siehst du ihn dir bitte mal an?“ „Chef“, flüsterte Yosano und winkte ihn näher zu sich heran, „nach dem, was die anderen erzählt haben, hat Ranpo wahrscheinlich Liebeskummer.“ „Liebeskummer??“ Fukuzawa riss die Augen weit auf. Sie hätte ihm genauso gut gerade gesagt haben können, dass Ranpo beschlossen hätte, Zenpriester zu werden. „Die Hofdame Sei“, erklärte die Ärztin leise. Der Ältere starrte sie noch einige Sekunden lang ungläubig an. „Verstehe“, gab er ihr schließlich zur Antwort. Dann ging er wieder zu dem Meisterdetektiv. „Ranpo.“ „Hmm?“ Der Angesprochene blickte erneut aus dem Buch hoch. „Was denn noch?“ „Ich hätte jetzt Zeit für unser Essen.“ Der Jüngere ließ seine Lektüre etwas sinken. „Wirklich?“ Fukuzawa nickte. „Wirklich.“ „Dann ...“ Ranpo setzte sich auf und legte das Buch auf die Couch. „Dann lese ich das später weiter.“ Leben kehrte wieder in seine Mimik zurück, als er sich seine Mütze aufsetzte, die er sich, wie seine gewohnte Kleidung, von zu Hause geholt hatte. Neugierig hob Atsushi derweil das Buch auf und sah es sich an. „Mir ist eben eingefallen, dass ich, als ich klein war, mal ein Märchen gelesen habe, das in der Heian-Zeit geschrieben worden ist“, erzählte er gedankenverloren. „Es handelt von zwei Prinzessinnen, deren friedliches Reich von einem Schleimfroschdämon bedroht wird.“ „Ein Schleimfroschdämon?“ Dazai stutzte und richtete sich interessiert auf. „Ja“, fuhr Atsushi fort, und wurde leicht nervös, weil alle ihm gespannt zuhörten, „und um den Dämon zu verjagen, kommen ihnen vier Helden von außerhalb zu Hilfe. Ein listiger Fuchs, eine kluge Katze, ein cholerisches Äffchen und ein ...“ Er stockte plötzlich und wurde kreidebleich. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Kyoka alarmiert. „J-ja, a-alles in O-ordnung, d-denke ich“, stammelte Atsushi und seine Augen zuckten. „Ein was?“, fragte Naomi nach. „Wer gehört noch zu der Heldengruppe?“ „Ein listiger Fuchs“, wiederholte der silberhaarige Junge aufgeregt und sah zu Dazai, der süffisant lächelte. „Eine kluge Katze“, sein Blick ging zu Ranpo, der zu grinsen begann. „Ein cholerisches Äffchen“, seine Augen wanderten zu Kunikida, dessen Venen mit einem Mal alle auf seiner Stirn hervortraten. „Und ein … kleiner weißer Tiger!!“, rief Atsushi aus und die restlichen Detektive blinzelten ihn verwundert an. „Aber-aber wie kann das sein?? Ich habe diese Geschichte vor Jahren gelesen! Lange bevor wir Murasaki und Sei begegnet sind!“ „Das ist der Haken bei Zeitreisen“, sagte Dazai dezent amüsiert und mit den Schultern zuckend. „Wir haben die beiden zwar erst vor kurzem getroffen, aber gleichzeitig ist es eintausend Jahre her, dass wir bei ihnen waren. Das Märchen, das du als Kind gelesen hast, gibt es wohl, weil wir durch Wells Murasaki und Sei begegnet sind. Alles, was passiert ist, gehört somit zum Lauf der Geschichte.“ „Ich bin mir nicht sicher, da wirklich durchzublicken.“ Atsushi seufzte und schaute wieder auf das Buch in seinen Händen. „Ich weiß nur, dass ich froh bin, ihnen allen begegnet zu sein.“ Ein Lächeln formte sich auf seinem Gesicht. „Und dass wir jetzt wieder alle hier zusammen sind.“ Eine bedächtige, selige Stille legte sich über das Büro der bewaffneten Detektive – für einen kurzen Moment zumindest. „Genug mit dem sentimentalen Gewäsch!“, plärrte Ranpo in die andächtige Ruhe hinein. „Da wartet ein Essen auf mich!!“ Ja, dachte Atsushi entgegen Ranpos Ausruf gefühlsselig, während er dabei zusah, wie der Meisterdetektiv den Chef aus dem Büro drängelte. Hier und jetzt will ich sein. Er ließ seinen Blick wieder zu den anderen Detektiven schweifen. Hier, bei diesen Menschen, diesen listigen, klugen, cholerischen, sich kümmernden, herzlichen, liebevollen Menschen, wollte er seine Zeit verbringen – und ein Teil ihrer Geschichte sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)