Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Ronya – Akt 3, Szene 5 ---------------------- 7 Jahre vor Team Shadows Gründung   25 Level. Das war die Differenz zwischen Pokémon, ab der Attacken bleibenden Schaden anrichten konnten. Normalerweise wurden Pokémonkämpfe unterhalb dieser Differenz ausgetragen, um Unfälle zu vermeiden. Aber was in der Mine geschehen war, hatte nichts mit einem Pokémonkampf zu tun. Es war ein Angriff gewesen. Ein Hinterhalt. Ronya rieb sich durchs Gesicht und starrte an die Decke des Behandlungszimmers, das Joy ihr für die nächste Zeit zur Verfügung gestellt hatte. Sie schlief auf der Notfallliege, wenn sie es mal schaffte, ein Auge zuzumachen. Die meiste Zeit sah sie jedoch ins Leere oder lauschte auf Geräusche von nebenan, wo Max untergebracht war. Querschnittslähmung, Verlust der Kontrolle über Unterkörper und Hinterbeine. Das war Joys Verdikt. Er hatte die Diagnose ruhig gestellt, genauso wie Ronya sie ganz ruhig angenommen hatte, aber sie hatte ein Gespräch zwischen ihm und Veit belauscht, in dem die beiden völlig außer sich gewesen waren. Ronya lag da und bewegte ihre Beine nicht. Versuchte sich vorzustellen, wie es für Max jetzt sein musste, ihren Wirbelwind, der immer auf Bäume kletterte und durch die Wiesen sprang. 25 Level. Ihre Gedanken blieben immer wieder an diesem Detail hängen. Das Wachstum eines Pokémons verlief in einer abflachenden Kurve. Die ersten Level und Meilensteine in der Stärke waren schnell erreicht, aber je höher der Level eines Pokémons war, umso länger dauerte es, diesen zu erhöhen. Marcus‘ Stahlos, das ihm bis auf weiteres wegen Unzurechnungsfähigkeit und schwerer Körperverletzung eines anderen Pokémon abgenommen worden war, befand sich auf Level 42. Max war Level 12. Wenn sie früher mit dem Training begonnen, oder zumindest mit der Konfrontation noch einige Tage gewartet hätte, dann wäre Max nicht so hilflos gewesen. Wenn sie sofort weggerannt wäre, hätte sie Max in Sicherheit bringen können. Wenn sie auf Meghan gehört hätte, wäre sie nie auf Kaisers Abschussliste gelandet. Wenn, wenn, wenn. Die Kreise in ihren Gedanken raubten ihr den Schlaf. Abbott und Sybill litten genauso unter der Situation. Abbott verbrachte jede Minute mit ihr, um sie abzulenken und zu beruhigen, während Sybill Max nicht von der Seite wich. Es würde noch einige Wochen, vielleicht sogar Monate dauern, bis er entlassen werden konnte. Auch wenn Kaiser nun offiziell aufgelöst und aus Erzelingen verbannt war, wäre Ronya am liebsten sofort aus der Stadt geflohen. Sie wollte Joy nicht sehen, der sein Mitleid hinter einer kühlen Fassade versteckte, wollte nicht von Veit um Entschuldigung gebeten werden oder sich Meghans Versicherung anhören, dass sie nie geahnt hatte, zu was Marcus und Jacob fähig waren. Ronya verließ das Pokécenter nicht. Sie verbrachte ihre Zeit bei Max, wenn er wach war, oder alleine in ihrem Zimmer. Zwei Tage vergingen, dann drei. Dann eine Woche. Dann zwei. Es war morgens. Sie war gerade dabei, zu Max zu gehen, als sich die Tür öffnete und Meghan vor ihr stand. Ihre Augen weiteten sich, als sie Ronya genauer in Augenschein nahm. „Wie siehst du denn aus?“, fragte sie fassungslos. Ronya starrte sie nur an. Wie sollte sie schon aussehen? Was für eine dumme Frage. Als ob sie nichts Besseres zu tun hatte, als sich im Spiegel zu begutachten. Meghan schien ihren Blick bemerkt zu haben, denn sie stemmte die Hände in die Hüften und seufzte. Dann stiegen ihr die Tränen in die Augen. Ronya sah verwirrt dabei zu, wie Meghan sie hastig wegwischte. „Komm“, sagte sie. „Wir gehen jetzt in dein Zimmer.“ „Ich muss zu Max“, widersprach Ronya, aber Meghan blieb hart. „Max geht es gut, ich war gerade mit Joy bei ihm. Er schläft noch. Jetzt zier dich nicht so und komm mit.“ Ronya wollte weiter protestieren, aber plötzlich stand Abbott direkt neben ihr und nickte ihr aufmunternd zu. Und so ließ sie sich mehr oder minder gegen ihren Willen von Meghan zu den Gästezimmern im oberen Stockwerk führen. Ihr Zimmer war noch so, wie sie es vor zwei Wochen verlassen hatte. Einige Klamotten lagen verstreut auf dem Boden, ihre Zahnbürste lag auf dem Waschbeckenrand. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich seit zwei Wochen nicht die Zähne geputzt hatte. Sie schnüffelte an ihrer Achsel und verzog sofort die Nase. Der Schweiß von so vielen durchwachten Nächten bedeckte sie. Kein Wunder, dass Meghan sie so schockiert angeguckt hatte. Sie musste stinken. Sie verspürte einen Moment der Scham, sich nicht besser präsentiert zu haben, aber dann schämte sie sich dafür, dass ihr das überhaupt etwas ausmachte, neben der eigentlichen Scham, die sie wegen Max‘ Zustand verspürte. Am liebsten hätte sie Meghan aus ihrem Zimmer gebeten, aber das Mädchen kam ihr zuvor und umarmte sie fest von hinten. Ihr breites Kinn lag auf Ronyas rasiertem Kopf auf. „Ich weiß nicht genau, was du gerade durchmachst, aber lass mich dir helfen. Max hat in deinem Herzen gerade Priorität, das verstehe ich, aber du kannst ihm nicht helfen, wenn du dich völlig vernachlässigt. Nimmst du meine Hilfe an?“ Ronya ließ Meghans Wärme in ihre Haut sinken. Es war lange her, seit sie das letzte Mal eine Umarmung gespürt hatte. Ihre sorglosen Tage mit Amy in Jubelstadt kamen ihr so unendlich weit weg vor. Max war damals noch durchs Gras getollt und auf die Bäume geklettert. Ihre Kehle schnürte sich zu. „Er wird nie wieder in meine Arme springen“, zwang sie hervor. Meghan drückte sie ein bisschen fester. „Nein, das wird er nicht. Aber du kannst ihn hochheben. Ihr seid immer noch ein Team, und auch wenn er jetzt einige Dinge nicht mehr tun kann und Hilfe braucht, ist das noch nicht das Ende der Welt. Zusammen werdet ihr das schaffen, ganz bestimmt. Und jetzt mache ich dir eine schöne, heiße Dusche an und du wäschst dich, okay? Ich gehe in der Zwischenzeit deine Wäsche waschen und dir etwas zu Essen besorgen. Du hast ziemlich abgenommen.“ Essen. Eine weitere Sache, die Ronya in den letzten zwei Wochen stark vernachlässigt hatte. Aber sie hatte einfach keinen Appetit gehabt. „Okay“, sagte sie. Ronya war nicht sicher, ob sie laut genug gesprochen hatte, aber Meghan löste sich vorsichtig von ihr und verschwand im Badezimmer, wo sie ihr Shampoo, Duschgel und Seife in die Dusche stellte und diese anschaltete. Ein frisches Handtuch zauberte sie auch von irgendwo hervor. Ronya nickte ihr zu und ging ins Bad. Während Meghan wegsah, zog sie sich aus, dann fiel ihr Blick auf ihren eingegipsten Arm. „Ehm“, sagte sie. Meghan schien sofort zu wissen, was los war. „Warte kurz“, sagte sie und verschwand aus dem Zimmer. Nur wenige Minuten später kehrte sie mit Plastiktüten, Tesafilm und Gummibändchen zurück. Ronya hatte sich in ein Handtusch gewickelt und sah belustigt dabei zu, wie Meghan ihren Gipsarm wasserdicht verpackte. „Fertig“, sagte diese stolz und grinste Ronya an, die leicht zurücklächelte. Dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich. Während Ronya in die Dusche stieg, hörte sie, wie Meghan leise mit Abbott sprach. „Sie wird schon wieder, Kleiner, mach dir keine Sorgen. Du hast ihr fantastisch geholfen.“ Ronya schloss die Augen. Als Meghan eine halbe Stunde später mit einem Rasierapparat, einer Schüssel dampfender Suppe und frischer Wäsche zurückkehrte, saß Ronya bereits geduscht und mit geputzten Zähnen in ein Handtuch gewickelt auf dem Sofa. Sie stand neben sich. Es fühlte sich an, als würde all dies jemand anderem passieren. Aber dann stand Meghan hinter ihr, fuhr ihr über den Kopf und begann, ihre Haare nachzuschneiden, und sie fand zu sich selbst zurück. Sie erinnerte sich an ihre Mutter. Ronya brach in haltloses Schluchzen aus.     „Ich biege das wieder gerade“, sagte Ronya zu Max, den Joy vorsichtig mit einem Kissen gestützt in ihre Arme gelegt hatte. „Vertrau mir einfach, okay?“ Sie seufzte. „Das sagt sich so leicht, nachdem ich dich nicht vor Stahlos schützen konnte“ —bei dem Namen des Pokémon zuckte Max zusammen und winselte— „aber ich habe einen Plan.“ Max grummelte und schmiegte sich so gut er konnte an sie. Ronyas Finger fuhren durch das weiche, braune Fell. Sie erinnerte sich an ihr erstes Treffen mit Max, wie er in ihrem Rucksack geklettert und fast nicht mehr herausgekommen war. Sie würde das hinkriegen. Es würde lange dauern, alle Schritte ihres Plans umzusetzen, vielleicht sogar Jahre, aber diese Zeit war es ihr wert. Max war es ihr wert. Jeden Schmerz und jede Anstrengung. Sie würde ihren Partner nie wieder so im Stich lassen.     Zwei Tage später stand Ronya vor der Erzelingenmine. Ihr Herz raste. Sybill, die an ihrer Seite lief, fauchte den Eingang an. Kaiser war fort, das wusste sie. Trotzdem erforderte es jedes bisschen Mut, das sie besaß, um weiterzugehen. Kaum dass sie in der dunklen Mine war und der Geruch der kühlen Erde in ihre Nase stieg, kamen die Erinnerungen hoch. Hier war sie von Jacob niedergeschlagen worden. Dort war Meghans Impoleon angegriffen worden. Hier hatte Stahlos Max zerquetscht. Sie kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. Sie hatte eine Mission. Sybill presste ihre Flanke eng an ihre Wade. „Komm“, sagte Ronya und riss die Augen auf. Dann zückte sie einen leeren Pokéball und stieg in die Minen hinab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)