Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Ronya − Akt 1, Szene 7 ---------------------- 7 Jahre vor Team Shadows Gründung   Nachdem Ronya ihren ersten Schock überwunden hatte, erwachte sie zu neuem Leben. Noch war Thea mit ihren Freunden und Darleens Ablenkungsmanövern beschäftigt, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis ihre Schwester bemerkte, dass Ronya nirgends zu finden war. Sie steckte den Pokéball in ihre Bauchtasche und riss den zweiten Brief ohne Umschweife auf.   Anweisungen: 1) Klettere durch das Fenster auf die Eiche. In den Ästen wirst du einen Rucksack finden.   Ronya wartete nicht länger. Sie schnappte die Anweisungen, verließ vorsichtig das Gästezimmer und testete die Türklinke, die in ihr ehemaliges Zimmer führte. Verschlossen. Sie atmete tief durch, ließ sich aber nicht beirren. Dies war ihr Weg in die Freiheit. Wenn Thea glaubte, sie würde sich durch ein Schloss aufhalten lassen, kannte ihre Schwester sie schlechter als gedacht. Ronya kehrte in das Gästezimmer zurück. Es lag direkt neben Theas und besaß ebenfalls ein Fenster, das auf den Garten hinausschaute, war aber zu weit von dem Baum entfernt, um Ronya für einen Sprung von Nutzen zu sein. Stattdessen öffnete sie es weit, kletterte auf das Fensterbrett und richtete sich vorsichtig auf, während sie sich nach draußen lehnte. Panisches Herzklopfen hämmerte von innen gegen ihren Brustkorb, als Ronya die kalte Abendluft auf ihrem Gesicht spürte. Sie zwang sich, nicht nach unten zu sehen. Ihre Sprünge auf die Eiche waren immer leicht gewesen, weil sie keine Gelegenheit hatte, über die Höhe nachzudenken, aber als sie jetzt einen Fuß nach dem anderen auf den schmalen Vorsprung vor dem Fenster setzte, wanderte ihr Blick unweigerlich in die Tiefe. Das dichte Gras schien vor ihren Augen zu verschwimmen, als heftiger Schwindel sie überkam. Verzweifelt griff sie nach der Dachrinne über dem Fenster und krallte sich so fest in das schiefergraue Metall, dass ihre Fingernägel quietschend über die Oberfläche schrammten. Das Geräusch ließ Ronya instinktiv die Augen zukneifen und unterbrach ihren Blick in den Garten. Sie konnte das Adrenalin durch ihre Adern pulsieren fühlen. Sie atmete tief ein und aus, während sie sich blind und mit winzigen Schritten auf dem Vorsprung umdrehte und beide Hände fest in die Kante der Regenrinne hakte. Sie durfte nicht ihren Kopf verlieren, nicht so kurz vor ihrer Freiheit. Ein Bild schlich sich in ihre Gedanken, ein Szenario, in dem sie die Rinne nicht mehr zu packen bekommen hatte und vornüber in ihren Tod gestürzt war. Sie schüttelte den Gedanken ab und öffnete ihre Augen. Verbissen tastete sie sich auf dem Fensterbrett vor, bis sie die äußerste Kante erreicht hatte. Langsam, ganz langsam, ließ sie ihre Arme durchhängen und testete die Stabilität der Rinne. Als sie sicher war, dass zumindest ihr Gewicht nicht zu einem Problem werden würde, öffnete sie die Augen und konzentrierte sich auf die raue Steinfassade des Hauses. Nur nicht nach unten schauen. Nur nicht nach unten schauen. Sie holte tief Luft, verließ die Sicherheit des Fensterbretts und hangelte sich an der Regenrinne die Wand entlang. Trotz ihrer Bemühung fanden ihre Schuhe keinen Halt an der Wand. Ihr gesamtes Körpergewicht hing an ihren Armen und bereits nach wenigen Sekunden spürte sie, wie die Metallkante schmerzhaft in ihre Finger schnitt. Sie durfte keine Zeit verlieren. Wenn ihre Kraft nachgab, bevor sie den Fenstersims von Theas Zimmer erreichte, war es aus. Allein der Gedanke, dass sie hier in fünf Meter Höhe an der Außenwand ihres Hauses hing, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Warum musste sie Höhenangst haben? Aus allen Ängsten, die es gab, warum die eine, die ihr den Weg in die Freiheit so erschwerte? Weiterrutschen. Noch ein paar Zentimeter. Ronya biss ihre Zähne zusammen, schnaufte und schnappte nach Luft. Die Schmerzen in ihren Fingern wurden unerträglich, aber sie hatte erst die Hälfte geschafft. Sie konnte nicht mehr umkehren. Sie konnte nur noch vorwärts. Immer weiter, bis sie in Sicherheit war. Das, oder ein Fall in die Tiefe. Als sie das Fensterbrett endlich erreichte, kam es ihr so unwirklich vor, dass sie die Regenrinne umklammert hielt, lange nachdem sie sicher auf dem Sims stand. Erst langsam löste sie ihre Finger und blies vorsichtig gegen die dunklen Einkerbungen und die tiefroten Pünktchen, die sich dort als Vorläufer für winzige Blutergüsse gebildet hatten. Nach einigen Minuten Luftholen war sie bereit für den nächsten Streckenabschnitt. Im Vergleich zu der vergangenen Kletterpartie erschien Ronya der Sprung auf den Baum beinahe leicht, trotzdem klopfte ihr Herz vor dem Absprung schmerzlich in ihrer Brust. Mit einem unangenehmen Aufprall fing sie sich mit Bauch und Armen auf dem breitesten Ast ab und kam vorsichtig auf die Füße. Nicht nach unten gucken, das war die Devise. Der Rucksack musste irgendwo über ihr sein. Ronya tastete sich vorsichtig durch das Gestrüpp zu dem Baumstamm durch und schaute hinauf ins Geäst. Dort, leuchtend rot gegen das frische Grün des Laubs, entdeckte sie einen dicken Reiserucksack mit Schlafsack und Wanderschuhen, der mit einem stabil aussehenden Seil an den Ästen befestigt war. Sie löste den Knoten und ließ den Rucksack Stück für Stück ins Gras sinken, bevor sie folgte. Endlich unten angekommen, erlaubte Ronya sich eine kurze Verschnaufpause. Sie war außerhalb der Sicht eines jeden Fensters und hatte Gelegenheit, ihre durchgelaufenen Sneakers durch die neuen Wanderschuhe zu ersetzen, die so einladend an dem Rucksack befestigt waren. Ihre alten warf sie kurzerhand in einen Busch. Als nächstes überprüfte sie die Sicherheit ihres Pokéballs―noch immer in ihrer Bauchtausche, zum Glück―und kramte den Zettel mit ihren Anweisungen hervor.   2) Begib dich zu dem Briefkasten. Dort ist ein Umschlag mit Reisegeld hinterlegt.   Aufgeregt zog Ronya den Rucksack über und schlich unter den Fenstern entlang zur Eingangstür. Das Fenster der Küche stand auf Kipp. Durch den schmalen Spalt drangen die Geräusche der Feier an Ronyas Ohren. Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich verschwinden sollte, aber eine nagende Neugier hielt sie an die Hauswand gepresst, verzweifelt hoffend, dass niemand die Straße entlangkommen und sie sehen würde. Das Klirren von Geschirr und das laute Lachen einiger Mädchen übertönte fast alles andere, aber gerade als Ronya ihr Lauschen aufgeben wollte, hörte sie Schritte, als jemand die Küche betrat. „Mamaaa“, quengelte Thea und Ronya ging jede Wette darauf ein, dass ihre Unterlippe beleidigt vorgeschoben war. „Wann kommt Ronny wieder runter? So schlecht kann es ihr nicht gehen.“ „Sie hatte starke Kopfschmerzen und wollte sich früher hinlegen“, erwiderte Darleen, ihr Ton so natürlich, dass Ronya ihr auf Anhieb geglaubt hätte, wäre sie nicht selbst Bestandteil der Lüge. „Du solltest sie nicht stören.“ „Aber sie verpasst ja alles“, sagte Thea sofort. „Ich gehe hoch und bringe ihr etwas zu trinken.“ Ronya biss sich auf die Lippen. Warum war ihre Schwester nur nett, wenn sie nicht im selben Raum waren? Aber es änderte nichts an ihrer Situation. Darleen bemühte sich nicht mehr um eine Ausrede. Zu viel Widerspruch hätte Thea nur Verdacht schöpfen lassen und Ronya hatte schließlich genug Zeit gehabt, das Haus zu verlassen. Als Theas Schritte verklangen, huschte Ronya zum Briefkasten und fand wie versprochen ein kleines Kuvert. Kaum war ihre Aufgabe erfüllt, schoss sie davon und lief im Schatten des angrenzenden Waldes die Straße entlang, während sie den nächsten Teil ihrer Anweisungen überflog.   3) Geh zum Pokécenter. Deine ID wurde beantragt und liegt bereit zur Abholung. Überweise die Hälfte deines Reisegelds auf deine ID. Miete dir ein Zimmer für die Nacht.   Ronya nickte zufrieden und sah auf die Uhr. Es war noch nicht zu spät. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es schaffen. Fleetburgs Pokécenter lag am anderen Ende der Stadt, hinter der Zugbrücke, die einige Male pro Tag hochgezogen wurde, um die Schiffe durchzulassen. Die nächste Schiffsdurchfahrt war in nicht mal einer Stunde. Sie konnte nicht länger warten. Theas plötzlicher Schrei ließ Ronya erschrocken zusammenfahren, doch sie fing sich schnell wieder. Ein letzter Blick zurück bestätigte ihre Vermutung. Das Licht im Gästezimmer brannte. Thea musste das offene Fenster und die leeren Schachteln entdeckt haben. Ronya schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Ihre Zeit war endlich gekommen. Thea würde ihr Leben nie wieder bestimmen. Entschlossen schulterte sie ihren Rucksack und rannte los.     „Puh“, stöhnte Ronya und ließ sich erschöpft auf das schmale Pokécenterbett fallen. Die Müdigkeit wich sogleich einem freudigen Schwindelgefühl, das sie von einem Ohr zum anderen strahlen ließ. Sie hatte es geschafft. Nur eine Minute Verspätung und ein sehr freundlicher Wachmann weniger hätten sie gezwungen, zwei Stunden auf der Straße zu warten. So hatte man sie gerade noch die Brücke überqueren und zum Pokécenter laufen lassen. Schwester Joy hatte sich an ihre ID erinnert, wenn auch mit Mühe, und das Geld war ebenfalls auf ihren Ausweis übertragen worden. Alles lief nach Plan. Schwungvoll setzte sich Ronya auf und zog den Pokéball aus ihrer Latzhose. Sie wog das Plastik in ihren Händen, bis es warm wurde und legte den Ball schließlich vor sich auf die Bettdecke. Aus ihrer auf dem Bauch liegenden Position heraus sah sie ihn an. Der Moment, auf den sie mit jedem Buch hingearbeitet hatte, war nun endlich gekommen. Was würde es sein? Welcher Typ? Welches Temperament? Wie würde sie ihr Training am besten beginnen? Ronya fing sich, bevor die panische Vorfreude sie übermannen konnte. Es machte keinen Unterschied, welches Pokémon sie hatte. Was immer es war, sie würde alles tun, um es ideal zu trainieren und all ihr Wissen dazu verwenden, ihren Partner glücklich zu machen. Sie holte ein letztes Mal tief Luft und aktivierte den Pokéball. Der rote Lichtblitz blendete sie. Hastig setzte Ronya sich auf und rieb die bunten Flecken aus ihren Augen. Als sie wieder sehen konnte, saß vor ihr auf dem Bett ein junges Evoli. Fassungslos starrte Ronya das kleine Fellknäuel an, dessen karamellfarbenes Fell im scharfen Licht der Deckenlampe schimmerte. Der bauschige, weiße Fellkragen verdeckte fast seinen gesamten Kiefer und die langen, spitz zulaufenden Ohren zuckten nervös, als es Ronya mit großen Augen inspizierte. Ronyas Kopf war wie leergefegt. Mehrere Sekunden lang starrte sie ihr Pokémon, ihr eigenes Pokémon, einfach nur an. Ein Evoli. Von all den Pokémon, die es gab, hatte ihre Familie ihr eine Art besorgt, die in Sinnoh so gut wie nicht mehr existierte. Wer eines haben wollte, musste zwangsläufig nach Herzhofen gehen, wo der einzige anerkannte Evoli-Züchter der gesamten Region lebte. In Kanto oder Johto waren diese Pokémon öfter vertreten, aber hier war ein Evoli eine Seltenheit. „Hallo, Evoli“, brachte sie schließlich hervor, als ihr langes Schweigen das Pokémon den Kopf schief legen ließ. „Ich bin ab heute deine Trainerin. Ich werde mich gut um dich kümmern, versprochen.“ Evoli quiekte und sprang vom Bett, um das Zimmer zu beschnüffeln. Ronya beobachtete ihr Pokémon sorgfältig. Von dem dunkleren Fell, dem ausgeprägten Halsbausch und der staksigen Art, wie es sich bewegte, handelte es sich eindeutig um ein Männchen. Maxwell Starling hatte in seinem Buch über die fünfundzwanzig Wesen gesprochen, eine grobe Unterteilung der typischsten Temperamente in Pokémon, abhängig von ihren angeborenen Stärken und Schwächen. In ihrer Zeit in der Bibliothek hatte sie sein Buch so viele Male gelesen, dass sie nun fast automatisch nach den Merkmalen in ihrem eigenen Pokémon Ausschau hielt. Evoli hatte nicht lange gefackelt und war schon halb in Ronays Rucksack verschwunden, der geöffnet an die Wand gelehnt stand. Während Ronya zusah, kippte er zur Seite und ließ Evoli verzweifelt und mit den Hinterbeinen strampelnd zurück. Ronya lachte. Sie stand auf, zog Evoli aus dem umgefallenen Rucksack und sah ihm in die Augen. „Was hältst du von dem Namen … Maxwell?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)