Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Chris – Akt 1, Szene 5 ---------------------- 8 Jahre vor Team Shadows Gründung   Chris erreichte die Vertania City Arena am frühen Nachmittag. Das klobige Gebäude stand weit am Stadtrand, halb in einem Stück Wald verborgen, das sich hartnäckig der prallen Sonne entgegen stemmte. Die Fassade aus langen Holzplanken war verwittert und aussah, als hätte sie jemand wieder und wieder übermalen müssen, um den Verfall zu verstecken. Während Chris das Gebäude umrundete, entdeckte sie mehrere Anbauten, die wesentlich moderner und gepflegter wirkten. Trotz der Hitze war keins der großen Fenster geöffnet und vor einigen hingen Jalousien, die den Blick ins Innere verdeckten. Es war die erste Arena, die Chris in ihrem Leben zu Gesicht bekam, gleichzeitig jedoch die letzte auf der Reise der meisten Trainer. Chris wusste, dass Blue nach seiner Niederlage gegen Red in der Pokèliga die leerstehende Arena übernommen hatte. Was aus dem alten Arenaleiter geworden war, hatte sie nie erfahren. Wie war noch sein Name gewesen? Geronimo oder so ähnlich. Ein zwielichtiger Mann, wenn sie den Zeitungsartikeln Glauben schenkte. Vorsichtig näherte sie sich dem Eingang. An der hohen Holztür hing eine Kopie des Plakats aus dem Pokémarkt, auf dem die unregelmäßigen Öffnungszeiten der Arena vermerkt waren. Darunter prangte ein kleineres Schild mit der Aufschrift: Bitte Klingeln! Ein Pfeil zeigt auf besagte Klingel, die auf Augenhöhe an der Wand hing. Chris drückte den Knopf durch und ein schrilles Läuten erklang aus dem Inneren. Wenige Sekunden später schwang die Tür auf. Eine junge Frau mit pink gesträhntem Haar und einer blitzenden Zahnspange stand im Türrahmen. An ihrer Hüfte hingen drei Pokébälle. Ihr Blick wanderte zunächst über Chris hinweg, bevor sie den Kopf senkte. Ihre Augen weiteten sich überrascht. „Ach, da bist du! Hab dich fast nicht gesehen.“ Sie runzelte die Stirn. „Willst du die Arena herausfordern? Wir machen gleich zu …“ „Ich möchte mit Blue sprechen.“ Schnaubend verschränkte das Mädchen die Arme. „Wer will das nicht? Wenn du ein Fan bist, verschwinde, er hat zu tun.“ „Ich bin kein Fan.“ „Sicher.“ Chris kniff die Augen zusammen. „Lass mich durch. Ich muss mit Blue reden.“ „Jetzt pass mal auf, du halbe Portion —“ „Larissa!“ Larissas Gesichtszüge erstarrten. Langsam drehte sie sich zu der Gestalt um, die mit verschränkten Armen an den Türrahmen zu ihrer Rechten gelehnt stand. Chris schielte an ihr vorbei zu ihm. Er war klein, kaum größer als Chris selbst, mit strubbligem Haar und einer Stupsnase. "Lass sie schon durch", sagte er grinsend. "Wie oft muss ich es noch sagen?", zischte Larissa. "Nenn mich nicht so. Ich heiße Rissa." "Stell dich nicht so an, Larissa." "Urgh!" Wütend warf sie die Hände hoch und widmete sich wieder Chris. "Siehst du, womit ich mich täglich herumschlagen muss? Und dann kommt noch ein Knirps wie du daher und will mit dem Arenaleiter ein Pläuschchen halten, wenn er mit seiner Arbeit beschäftigt ist." Seufzend fuhr sie sich durch ihr pink-blondes Haar. "Ich mag meinen Namen auch nicht", sagte Chris, die sich Rissa auf Anhieb verbunden fühlte. Wenn sie nur an ihren gegebenen Namen dachte, kribbelten ihre Hände und ihr Kopf unangenehm. "Darf ich jetzt reinkommen oder muss ich durch ein Fenster klettern?" Rissa blinzelte, bevor sie in schallendes Lachen ausbrach. Chris versteifte sich. Hatte sie wieder etwas nicht verstanden? Doch Rissa wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und sah zu dem Jungen zurück. "Hast du das gehört, Harry? Ist die Kleine nicht super? Vielleicht adoptiere ich sie." "Du kannst mich nicht adoptieren", informierte Chris sie. Rissa nickte ernst. "Schade auch. Also dann, komm halt rein. Es ist eh gleich Feierabend, da kann Blue auch ein bisschen früher Schluss machen.“ Chris ließ sich von dem Mädchen in die Arena führen. Was sie auf den ersten Blick für einen düsteren Flur gehalten hatte, erwies sich als Gang, der links um die Ecke in einen großen Raum mündete, in dessen Holzboden zahllose drehbare Platten eingelassen waren, die in unregelmäßigen Intervallen ihre Drehrichtung und Geschwindigkeit änderten. Versetzt standen erhöhte Plattformen am Rand des rotierenden Labyrinths, die wie kleine Kampfplätze aussahen, zum jetzigen Zeitpunkt jedoch unbesetzt waren. Ganz am Ende des Raums entdeckte Chris eine weitere hohe Holztür, an der ein Schild hing, dessen Aufschrift sie aus der Entfernung nicht lesen konnte. „Wir Vortrainer kämpfen auf den kleinen Plateaus“, informierte Rissa sie, während sie ein Passwort auf einer kleinen Schalttafel eingab und wartete, bis die Scheiben im Boden aufhörten, sich zu drehen. „Früher haben wir die gesamte Schicht darauf gestanden und auf Herausforderer gewartet, aber als achte Arena kommen hier fast keine unangekündigten Trainer vorbei, deswegen warten wir meistens im Pausenraum, bis jemand klingelt.“ Sie folgte Rissa über den stillstehenden Boden. Obwohl sie nicht an der Arena interessiert war, konnte sie sich an dem Raum selbst nicht sattsehen. Sie versuchte, die Bewegungsmuster der Scheiben anhand ihres Aussehens zu erraten und hätte Rissa am liebsten darum gebeten, den Mechanismus wieder anzumachen, doch sie hatte wichtigeres zu tun. „Wo ist Blue?“, fragte Chris. „Er wartet gewöhnlich hinten im Kampfsaal“, erklärte Rissa und deutete auf die Tür am Ende der Arena. „Wenn nichts los ist, ist er natürlich in seinem Labor und arbeitet. Zum Glück sind beide Gebäudekomplexe miteinander verbunden, sonst würde er nie mehr hier auftauchen.“ „Ist Harry auch ein Vortrainer?“ „Vortrainer auf Probe“, korrigierte Rissa sie mit einem gefährlichen Grinsen. „Ich soll entscheiden, ob er gut genug ist, dem Team beizutreten. Meistens kämpfen wir den ganzen Tag gegeneinander, aber es ist gutes Training für die Herausforderer, wenn sie denn mal erscheinen. So, da wären wir.“ Sie klopfte dreimal an das alte Holz der Tür. Es dauerte einige Minuten, in denen Chris vor Aufregung kaum die Hände stillhalten konnte. Dann öffnete sich die Tür. Blue sah anders aus, als Chris ihn sich vorgestellt hatte. Auch anders, als in den Interviews, die sie manchmal mit ihrer Mutter im Fernsehen gesehen hatte. Das Weiß in seinen Augen war von aufgeplatzten Adern durchwachsen und dunkle Ringe untermalten die fahle Hautfarbe. Sein hellbraunes Haar hing ihm strähnig aus seinem kleinen Nackenzopf ins Gesicht. Nur der weiße Laborkittel, den er offen trug, schien gepflegt. Sein Blick huschte zu ihr hinunter, dann zurück zu Rissa. „Wen bringst du mir denn hier?“, fragte er. „Das ist Chris“, verkündete Rissa breit grinsend und schob Chris vorwärts. „Sie muss scheinbar ganz dringend mit dir reden. Und sie ist kein Fan, also schieb keine Panik.“ Tatsächlich sackten Blues Schultern erleichtert herab. „Hallo Chris“, sagte er und lächelte. Es sah sehr gezwungen aus. „Komm rein. Willst du einen Kakao oder Tee?“ „Kaffee“, sagte Chris abwesend und trat ihm hinterher in den Kampfsaal. Der Raum war halb so groß wie der, den sie soeben verlassen hatten, aber er enthielt nur eine einzige Kampffläche, die innerhalb der weißen Begrenzungslinien nach unten zu sacken schien. Chris kniff die Augen zusammen und trat an den Rand. Mit der Hand fuhr sie über den Boden. Ihre Finger streiften geradewegs hindurch. Statt aus Holz bestand der Grund hier aus weicher Erde. „Die Idee meines Vorgängers“, erklärte Blue, der hinter ihr stand. Er winkte sie zu sich und führte sie durch einen Vorhang in eine kleine Küche, die gleich neben dem Kampfsaal stationiert war, wo er sich an einem Kaffeekocher zu schaffen machte. „Für einen Bodentyp-Trainer sicher passend, aber ich bevorzuge balancierte Pokémonteams. Ich bin die letzte Barriere zwischen Trainern und der Liga. Wie sollen sie lernen, mit unerwarteten Situationen umzugehen, wenn sie sich vor jeder Arena anhand des Typs eine Strategie zurechtlegen können?“ „Gar nicht“, antwortete Chris und sah zu ihm auf. „Ich möchte gegen Red antreten. Was muss ich dafür tun?“ Blue erstarrte in der Bewegung. „Red?“, fragte er heiser. „Der alte Mann sagte, du würdest es wissen“, sagte Chris und ließ sich auf einem der Stühle an der Sitzecke nieder. „Ihr seid Freunde, oder?“ Blue lehnte sich über die Anrichte, Hände flach auf die Arbeitsplatte gepresst. Der Kaffeekocher brodelte vergessen vor sich hin. Es dauerte einige Sekunden, bevor Chris begriff, dass Blue zitterte. „Warum … warum möchtest du gegen ihn kämpfen?“, fragte er schließlich, ohne sie anzusehen. Chris zögerte. Es war eine gute Frage. Sie war nur nicht sicher, was ihre Antwort war. Oder ob sie Blue davon erzählen sollte. Würde er sie auslachen? „Ich will zeigen, dass ich besser sein kann“, sagte sie schließlich. „Ich will beweisen, dass ich stark bin, stärker als jeder andere Trainer.“ „Und da Red derzeit diese Position innehat, willst du ihn herausfordern“, schlussfolgerte Blue tonlos. „Ich nehme an, es hat keinen Zweck, dich an die Liga zu verweisen?“ „Wenn Red dort nicht mehr kämpft, hat es keinen Sinn, sie herauszufordern.“ Er schnaubte und wandte sich nun endlich zu ihr um. Seine Augen glänzten. „Vielleicht hast du Recht. Aber wem willst du zeigen, dass du die Stärkste sein kannst?“ „Mir selbst.“ „Warum?“ „Weil …“ Sie zögerte. Weil ich nicht weiß, ob ich gut genug bin. Weil ich mir selbst beweisen muss, dass ich etwas gut kann. „Weil ich es eben will.“ Blues Blick sagte, dass er ihre Lüge durchschaute. Lüge. Hatte sie gerade gelogen? Nein, nicht ganz. Aber sie hatte auch nicht die volle Wahrheit gesagt. „Kaffee“, sagte sie leise. Blue goss ihr eine Tasse ein und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, Kinn auf die Hände gestützt. „Um wen geht es wirklich?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. CHRISTINA! Ein Schaudern überkam sie, ihre Ohren rangen laut. Ihre Finger wanderten zu ihrem Rucksack, erfühlten durch den rauen Stoff die Gegenstände darin. Pokédex, Wasserflasche, die zerknitterte Karte, … alles noch da. Erleichtert atmete sie aus. Blue schwieg, bis sie wieder ruhiger atmete. Dann ließ er den Kopf in den Nacken sacken. „Bei mir war es mein Großvater“, sagte er. „Er war Professor, mein Vorbild. Ich wollte so werden wie er. Furchtloser und erfolgreicher Trainer in meiner Jugend, und Wissenschaftler, wenn ich älter wurde. Aber nachdem ich ihn zum ersten Mal kämpfen sah … nachdem ich Red zum ersten Mal dabei beobachtete, wie das Kampffieber in packte, da wollte ich ihn übertrumpfen. Ich wollte ihn besiegen. Ich wollte von ihm wahrgenommen, anerkannt werden.“ Chris sah ihn an. Sie wollte es nicht aussprechen, aber sie wusste, dass sie musste. Sie fühlte, dass Blue sie verstehen würde. Vielleicht war er der einzige. „Mein Vater“, sagte sie leise. „Er denkt— er sagt immer, dass ich unfähig bin. Nutzlos. Behindert. Er glaubt nicht, dass ich es jemals zu etwas bringen könnte. Ich will ihm zeigen, dass ich die Beste in etwas sein kann.“ Sie schwiegen lange. Chris wusste nicht, weshalb, aber die Luft fühlte sich voll an, schwer. Als wäre es keine Luft, sondern all die Wahrheiten, die sie gesagt hatten, und die jetzt auf sie niederdrückten. „Ich würde dir gerne helfen“, sagte Blue schließlich. „Aber ich weiß nicht, wo Red ist. Er ist verschwunden. Bis vor kurzem war er noch auf dem Silberberg in seiner Höhle, wo Gold und ich ihn regelmäßig besucht haben. Aber als ich vor fünf Wochen dort war, gab es von ihm keine Spur. Er ist gegangen. Und er hat mir nicht gesagt, wohin. Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals —“ Seine Stimme brach ab und er rieb sich energisch über die Augen. „Er ist mein bester Freund“, flüsterte er, so leise, dass Chris ihn fast nicht verstanden hätte. Aber nur fast. Sie wusste nicht, warum, aber sie streckte eine Hand aus und tätschelte leicht seinen Arm. Blue ließ die Hand sinken und starrte auf ihre Finger. Ein Lächeln huschte über seine Lippen und er erhob sich. „Komm“, sagte er und wartete geduldig, bis sie die letzten Schlucke Kaffee ausgetrunken hatte. „Es ist schon spät. Ich bringe dich ins Pokècenter.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)